Basel Al Refaee, Asylbewerber aus Syrien, hat bereits eine Bezahlkarte. „Damit kann ich fast alles kaufen“, sagt der 29-Jährige, der in Hannover lebt. Und er kann damit an jedem Geldautomaten Bargeld abheben. Die niedersächsische Landeshauptstadt hat im Dezember zu Testzwecken eine Bezahlkarte für Asylbewerber eingeführt. Dem Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) ist es wichtig, "geflüchteten Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zu bargeldloser Zahlung zu ermöglichen". Überweisungen ins Ausland sollen mit der Karte nicht möglich sein. Über einige offene Punkte zur bundesweiten Einführung der Bezahlkarte muss abschließend der Bundestag entscheiden.
Wenn Ärzte Menschen mit Migrationshintergrund behandeln, haben sie manchmal ein spezielles Problem: Der Patient spricht kein Deutsch. „Wie soll eine Behandlung funktionieren, wenn sich Arzt und Patient nicht miteinander verständigen können“, fragt Kathrin Speck vom Paritätischen in Würzburg eher rhetorisch. Ihr Verband vermittelt deshalb bei Bedarf für Arztbesuche ehrenamtliche Dolmetscher. Fachleute forderten bei einer Anhörung des Gesundheitsausschusses im Bundestag eine verbindliche Übernahme der Kosten für Dolmetscherdienste durch die gesetzlichen Krankenkassen.
Suchtkranke Frauen, die vor der Gewalt ihres Partners in ein Frauenhaus fliehen wollen, werden in der Regel nicht aufgenommen. Denn viele Frauenhäuser können die Versorgung von drogenabhängigen Frauen nicht leisten. In Mannheim wurde nun für diese besondere Klientel ein Modellprojekt gestartet, bei dem der Drogenverein Mannheim und das Frauenhaus SEGEL als Kooperationspartner betroffenen Frauen und ihren Kindern eine Betreuung bieten, die sowohl auf Gewalt als auch auf Sucht spezialisiert ist. Die Landesregierung will mit dem "deutschlandweiten Leuchtturmprojekt Gewalt- und Suchtkreisläufe durchbrechen".
Krankenhäuser können auch für Patienten, die sie nur wenige Minuten behandelt haben, einen vollen Tag abrechnen. Das hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in einem Fall entschieden, bei dem ein Notfallpatient nach 16 Minuten auf der Intensivstation gestorben war. Bedingung für die Abrechnung eines vollen Tagessatzes ist laut LSG allerdings, dass ein hoher Einsatz von Klinikressourcen erforderlich war.
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Ihr Markus Jantzer
Hannover, Heiligenstadt (epd). Bevor er zur Supermarkt-Kasse geht, kramt Basel Al Refaee erst einmal einen Zettel aus der Jackentasche und checkt die Geheimnummer. Sicher ist sicher, es soll nichts schiefgehen mit seiner neuen „Social Card“ für Asylbewerber in Hannover. Dann packt der 29-jährige Syrer die Lebensmittel auf das Laufband: Tiefkühlpizza, Milch, Kaffee, Apfelsinen. Er schiebt die Prepaid-Karte ins Lesegerät, tippt die vier PIN-Ziffern ein. Es piept, es surrt, ein Kassenzettel - fertig. „Mit der Karte kann ich fast alles kaufen“, erzählt Al Refaee. Nur bei Bahntickets bereite sie manchmal Probleme.
Seit Wochen wird in ganz Deutschland heiß darüber diskutiert, ob und in welcher Form künftig Bezahlkarten wie diese an Asylsuchende ausgegeben werden sollen, statt ihnen Bargeld zu geben. Am 5. April einigten sich die Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen und FDP auf eine Gesetzesänderung zur Einführung einer solchen Karte. Details werden auf Länderebene beschlossen. Viele Politiker verbinden mit dem Projekt auch die Hoffnung, dass Flüchtlinge künftig kaum noch Geld aus staatlicher Unterstützung an Angehörige in ihren Herkunftsländern oder an Schlepper schicken können.
Basel Al Refaee kauft schon seit drei Monaten mit der Karte ein, denn Hannover hat sie bereits im Dezember eingeführt. Zusammen mit den Landkreisen Eichsfeld und Greiz in Thüringen gehört die Stadt zu den ersten Kommunen, die das neue System erproben. „Wir verfolgen das Ziel, geflüchteten Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zu bargeldloser Bezahlung zu ermöglichen“, sagt Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne). Inzwischen testen auch Hamburg und Magdeburg sowie Landkreise in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen eigene Karten-Systeme.
Ausgegeben werden die Karten an Asylbewerber oder an Menschen mit einer Duldung, die noch kein eigenes Bankkonto haben. Die Behörden überweisen dann die ihnen zustehenden Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz an Banken, die damit die Karten aufladen. Das sind bei alleinstehenden Erwachsenen zurzeit 460 Euro im Monat. Wer in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt wie Basel Al Refaee, bekommt 413 Euro.
Im Supermarkt hat Al Refaee heute 34,51 Euro ausgegeben. „Das reicht wieder für ein paar Tage“, sagt er, schiebt den Einkaufswagen zurück und schnappt sich die Tasche, in der er die Lebensmittel verstaut hat. Am Abend wird er in der Unterkunft mit anderen wieder etwas Leckeres kochen. Über sein Geld kann der Syrer mit der „Social Card“ weitgehend frei verfügen, solange sein Konto gedeckt ist. Bundesweit kann er damit überall dort zahlen, wo Kreditkarten akzeptiert werden: im Jeansladen ebenso wie im Restaurant. Und an jedem Geldautomaten kann er Bargeld abheben.
Das ist nicht in jeder Kommune so. Denn zwischen den Karten-Systemen gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede. So ist die Bargeld-Auszahlung beim bayerischen Modellversuch sowie in Magdeburg auf 50 Euro begrenzt. Hier kann die Karte auch nur in bestimmten Postleitzahl-Gebieten eingesetzt werden.
Solche Einschränkungen rufen die Kritik der Flüchtlingsräte auf den Plan. Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen etwa sieht die Freizügigkeit der Geflüchteten in Gefahr, wenn die Karte nur in einem einzigen Landkreis genutzt werden kann. Es sei ein Rückschritt, wenn durch die Hintertür wieder die sogenannte Residenzpflicht eingeführt werde. Auch Einschränkungen beim Bargeld hält Weber für problematisch: „Es gibt eine Fülle von ganz praktischen Situationen, in denen Bargeld gebraucht wird, sei es beim Kopiergeld für die Kinder in der Schule oder auf dem Flohmarkt.“
So verschieden wie die einzelnen Karten-Systeme sind auch die Motivationen der Kommunen und Landkreise. In Hannover will die Stadt in erster Linie die Verwaltung vereinfachen. Hier wurden bereits rund 240 Karten ausgegeben. Dadurch seien bereits sechs Mitarbeiter von Verwaltungsaufgaben entlastet worden, berichtet Oberbürgermeister Onay.
Im thüringischen Landkreis Eichsfeld hingegen geht es vor allem darum, Geflüchtete in Arbeit zu bringen. „Das Leben in Deutschland geht nur über Arbeit“, betont Landrat Werner Henning (CDU). Und wer sich selbst eine Arbeit suche, entlaste den Staat. Henning hat sich deshalb ein Bonus-System überlegt: Dabei fließen 55 Prozent der Sozialleistungen auf die Karte, die hier „Sachleistungskarte“ heißt. Die restlichen 45 Prozent, das sind 204 Euro, werden in bar ausgezahlt. Wer aber selbst etwas hinzuverdient, bekommt alles in bar. Das Echo sei positiv, sagt Henning. Allerdings seien rund 35 Personen daraufhin zurück nach Nordmazedonien gereist.
Basel Al Refaee findet es gut, Bargeld zu haben, weil er damit flexibel ist. Andererseits muss er jetzt mit der „Social Card“ nicht immer Schlange stehen wie früher bei der Geldausgabe. „Es hat alles seine positiven und negativen Seiten“, sagt er. Irritiert ist er über die Diskussion über Geldtransfers in die Herkunftsländer: „Was ist so schlimm daran, wenn man alle sechs Monate einen kleinen Betrag nach Hause schickt, wenn die Familie in Not ist?“
Solche Transfers machten aber ohnehin nur diejenigen, die schon eine Arbeit hätten, erzählt er. Und arbeiten, das will auch er so bald wie möglich. Ein Job im Restaurant, das kann er sich fürs Erste gut vorstellen.
Berlin (epd). Die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP haben sich nach wochenlangem Streit auf eine Gesetzesänderung zur Einführung einer Bezahlkarte für Flüchtlinge geeinigt. Wie die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Dagmar Schmidt (SPD), Andreas Audretsch (Grüne) und Lukas Köhler (FDP) am 5. April mitteilten, werde damit der Wunsch der Länder umgesetzt, die eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert hatten.
„Bezahlkarten waren bisher auch schon möglich, aber wir haben nun noch einen gemeinsamen, rechtssicheren Rahmen geschaffen“, sagte Schmidt. Sie erklärte, der angestrebte Rechtsrahmen sichere, dass alle notwendigen Bedarfe vor Ort gesichert werden können - mit der Karte oder als Geldleistung. Überweisungen ins Ausland sollen mit der Karte nicht möglich sein.
Grünen-Politiker Audretsch unterstrich, Dinge wie Taschengeld für den Schulausflug, das Busticket für den Weg zum Ausbildungsplatz oder Strom- oder Internetanschluss müssten bei der Einführung der Bezahlkarte garantiert werden. Dies sei nun gewährleistet. Die Grünen hatten immer wieder die Sorge geäußert, dass eine drastische Bargeldbeschränkung dazu führen könnte, dass Flüchtlinge bei Kiosken oder im Second-Hand-Geschäft kaum bezahlen können.
Bund und Länder hatten sich im November auf eine möglichst bundeseinheitliche Bezahlkarte für Flüchtlinge geeinigt. 14 Bundesländer planen ein gemeinsames System. Bayern und Mecklenburg-Vorpommern wollen eigene Bezahlkarten. Die Karte soll im Wesentlichen wie eine normale Geldkarte funktionieren, zugleich aber Überweisungen ins Ausland ausschließen und den Bezug von Bargeld beschränken.
Für Rechtssicherheit bei der Einführung hatten die Länder eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert, das bislang zwischen Geld- und Sachleistungen unterscheidet, die Bezahlkarte aber nicht nennt. Die Grünen fanden die Änderung zunächst nicht notwendig.
Anfang März hatte sich das Bundeskabinett dann auf einen Entwurf für die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes verständigt. Er sieht vor, dass die Bezahlkarte als Form für den Empfang von Sozialleistungen künftig ausdrücklich im Gesetz genannt wird. Zugleich soll die Einsatzmöglichkeit erweitert werden, indem auch Asylsuchende, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften leben, bevorzugt die Karte statt Geldleistungen erhalten können.
Einige Punkte blieben dabei offen, die im Bundestag abschließend geklärt werden sollten. Dazu gehört die Frage, ob bei Personengruppen wie Erwerbstätigen, Auszubildenden oder Studierenden eine Ausnahme von der Bezahlkarte gemacht wird.
Brüssel (epd). Nach jahrelangen Verhandlungen hat das EU-Parlament die umstrittene EU-Asylreform final gebilligt. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte am 10. April in Brüssel für alle zehn Gesetzesvorschläge der Reform. Die neuen Regeln sollen die Migration in die EU begrenzen und steuern.
Im Kern geht es um einheitliche Verfahren, schnellere Abschiebungen und mehr Solidarität unter den EU-Staaten. Über viele der Vorschläge streitet die EU bereits seit 2016, ausgelöst durch die Migrationskrise 2015.
Die Abstimmung im EU-Parlament wurde von Protestrufen unterbrochen. Demonstrierende auf den Zuschauerrängen riefen auf Englisch „Der Pakt tötet. Stimmt dagegen!“ Parlamentspräsidentin Roberta Metsola musste die Abstimmung unterbrechen. Einige Abgeordnete applaudierten den Demonstrierenden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begrüßte die Zustimmung des EU-Parlaments. Die Reform werde die irreguläre Migration wirksam begrenzen und zu einer Entlastung der Kommunen führen, erklärte sie in Berlin. Mit der Einigung habe Europa „eine tiefe Spaltung“ überwunden. „Die heutige Entscheidung zeigt auch: Wir überlassen dieses zentrale Thema nicht den Rechtspopulisten, die Menschen in Not für ihre Stimmungsmache missbrauchen“, sagte sie.
Innerhalb des EU-Parlaments fällt die Bewertung der EU-Asylreform sehr unterschiedlich aus. „Das heutige Votum ist ein historischer Moment für Europa und ein Meilenstein für ein gemeinsames europäisches Asylsystem“, erklärte die CDU-Europaabgeordnete Lena Düpont. Ähnlich sieht es die FDP. „Endlich schaffen wir klare Regeln für die ankommenden Menschen und schnellere Verfahren an den Außengrenzen. Damit bringen wir mehr Ordnung in das europäische Migrationssystem“, sagte der FDP-Parlamentarier Jan-Christoph Oetjen.
Die Sozialdemokraten betrachten die Reform mit gemischten Gefühlen. Die Europaabgeordnete Birgit Sippel (SPD) erklärte, um einen Kompromiss zu erzielen, habe ihre Fraktion „hohe Zugeständnisse“ machen müssen. Sie wolle Kritik nicht verschweigen. So seien etwa verpflichtende Grenzverfahren für Familien eines der „hochproblematischen Elemente“.
Die Grünen im Europaparlament sehen das Paket als eine „Verschlechterung der aktuellen Situation“ und stimmten gegen eine Mehrheit der Gesetzesentwürfe, wie die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen (Grüne) erklärte. Auch die Linke äußerte heftige Kritik. Der Beschluss „ebnet den Weg für einen beispiellosen Rechtsruck in der EU-Asylpolitik“, sagte die Abgeordnete Cornelia Ernst.
Das Gesetzespaket sieht unter anderem vor, dass Asylsuchende mit geringer Bleibechance schneller und direkt von den EU-Außengrenzen abgeschoben werden. Für die Schnellverfahren sollen die Menschen bis zu zwölf Wochen unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden. Während der Verfahren gelten die Menschen juristisch als nicht eingereist („Fiktion der Nicht-Einreise“). Das bedeutet, sie haben nicht dieselben Rechte wie Asylbewerber. Deutschland wollte, dass Kinder von diesen sogenannten Grenzverfahren ausgenommen werden, setzte sich mit dieser Forderung aber nicht durch.
Die sogenannte Krisenverordnung ist ein weiterer Baustein des Reformpaketes. Sie sieht Sonderregeln für EU-Staaten vor, die unter besonders hohem Migrationsdruck stehen. Zum Beispiel können sie Schutzsuchende dann noch länger an der Außengrenze festhalten. Deutschland hatte auch diese Regelung zunächst wegen humanitärer Bedenken abgelehnt.
Gemäß den neuen Regeln ist grundsätzlich weiterhin das EU-Land für einen Asylbewerber zuständig, in dem dieser zuerst europäischen Boden betreten hat. Zusätzlich ist ein EU-Solidaritätsmechanismus geplant. Dieser soll insbesondere die EU-Staaten an der Außengrenze entlasten und Schutzsuchende innerhalb der EU umverteilen. Länder, die keine Personen aufnehmen wollen, sollen aber auch Ausgleichszahlung leisten können.
Nach dem EU-Parlament muss noch der Rat der EU-Mitgliedstaaten der Reform zustimmen. Dies gilt als Formsache. Anschließend haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit für die Umsetzung.
Brüssel (epd). Die Europäische Union (EU) will das Asylsystem grundlegend reformieren. Am Mittwoch billigte das EU-Parlament dazu ein Gesetzespaket. Ein Überblick über Ziele, Vorhaben und Zeitplan:
Was ist das Problem?
Die EU streitet seit Jahren über die Ausgestaltung der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik, besonders über die Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) soll diesen Streit beenden, Migration in die EU begrenzen und steuern.
Was ist Grundlage der EU-Asylreform?
Für die Reform legte die aktuelle EU-Kommission unter Ursula von der Leyen 2020 ein umfassendes Gesetzespaket vor, den „Neuen Pakt für Migration und Asyl“. Viele der darin enthaltenen Vorschläge liegen aber bereits seit der Migrationskrise 2015/2016 auf dem Tisch, nur konnte sich die EU bisher nicht darauf einigen.
Was umfasst dieses Reformpaket?
Die Abgeordneten stimmten über zehn Vorschläge ab. Sie regeln alle Etappen im Umgang mit Geflüchteten und Migranten: Erfassung, Erstaufnahme, Asylverfahren, Abschiebungen und den Umgang mit Drittstaaten. Grundsätzlich werden die Regeln für Asyl und Migration restriktiver.
Bei vielen der Regeln handelt es sich um EU-Verordnungen. Was ist das?
EU-Verordnungen müssen nicht mehr in nationales Recht umgewandelt werden, sondern sie gelten unmittelbar in allen EU-Staaten. Verabschiedet die EU also die Asylreform, ersetzen die EU-Verordnungen die deutschen Gesetze zu Asyl und Migration.
Was soll mit Ankommenden an der Grenze passieren?
Jeder Schutzsuchende muss zunächst ein Screening durchlaufen: Die Identität wird festgestellt, biometrische Daten werden gespeichert und Sicherheitsprüfungen vorgenommen. Dafür müssen die Menschen zunächst in Zentren an der Grenze festgehalten werden. Kritiker befürchten daher systematische Haft an den Außengrenzen. EU-Staaten können das Screening nicht nur an der Grenze durchführen, sondern auch innerhalb ihres Hoheitsgebiets. Kritiker fürchten, das könnte zum sogenannten Racial Profiling führen, bei dem Menschen anhand äußerer Merkmale wie der Hautfarbe von Behörden kontrolliert werden.
Was passiert danach?
Nach dem Screening werden die Menschen entweder in das Asylverfahren weitergeleitet oder in die sogenannten Grenzverfahren. Letztere sind ein zentrales Element der Reform. Asylbewerber mit geringer Bleibechance sollen damit schneller und direkt von der EU-Außengrenze abgeschoben werden. Betroffen sind Menschen, die eine Staatsangehörigkeit haben, deren Anerkennungsquote für Asyl bei unter 20 Prozent liegt. Mit den Schnellverfahren an der Außengrenze geht eine erneute Inhaftierung einher. Deutschland wollte, dass Kinder von den Grenzverfahren ausgenommen werden, setzte sich mit dieser Forderung aber nicht durch. Während der Verfahren gelten die Menschen juristisch als nicht eingereist („Fiktion der Nicht-Einreise“). Das bedeutet, sie haben nicht dieselben Rechte wie Asylbewerber.
Was ist die umstrittene Krisenverordnung?
Die sogenannte Krisenverordnung ist ein weiterer Baustein des Reformpaketes. Sie sieht Sonderregeln für EU-Staaten vor, die unter besonders hohem Migrationsdruck stehen. Zum Beispiel können sie Schutzsuchende dann noch länger an der Außengrenze festhalten. Deutschland hatte auch diese Regelung zunächst wegen humanitärer Bedenken abgelehnt. Kritiker fürchten, die Ausnahmeregeln könnten eine Art Blankoscheck für die Aussetzung der Rechte von Schutzsuchenden sein sowie ein Freibrief für Zurückweisungen an der Grenze, sogenannte Pushbacks.
Ein großer Streitpunkt innerhalb der EU ist die Verteilung von Schutzsuchenden. Was ist hier geplant?
Innerhalb Deutschlands richtet sich die Aufnahmequote für ein Bundesland nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel. Auf europäischer Ebene fehlt ein solches Instrument. Daran ändert auch die aktuelle EU-Asylreform nichts. Gemäß den neuen Regeln ist grundsätzlich weiterhin das EU-Land für einen Asylbewerber zuständig, in dem dieser zuerst europäischen Boden betreten hat. Zusätzlich ist ein EU-Solidaritätsmechanismus geplant. Dieser soll insbesondere die EU-Staaten an der Außengrenze entlasten und Schutzsuchende innerhalb der EU umverteilen. Länder, die keine Personen aufnehmen wollen, sollen aber auch Ausgleichszahlung leisten können.
Wie ist der Zeitplan?
Ziel ist es, die EU-Asylreform vor der Europawahl 2024 zu verabschieden. Diese findet im Juni statt. Nach der Abstimmung im EU-Parlament müssen die Gesetzestexte noch durch die EU-Staaten bestätigt werden. Das gilt normalerweise als Formalität. Anschließend haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit für die Umsetzung.
Berlin (epd). Um eine Wende auf dem Wohnungsmarkt herbeizuführen, fordert das Bündnis Wohnungsbau Milliardenförderungen vom Staat und Schritte zur Senkung der Baukosten. Der Neubau bezahlbarer Wohnungen müsse angekurbelt werden, erklärten die Verbände der Wohnungswirtschaft und Bauindustrie, die IG Bau und der Mieterbund am 11. April in Berlin. Der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten, sagte: „Es geht nicht ohne Neubau.“ Der Wohnungsbau müsse von der Politik so ernst genommen werden wie der Klimaschutz oder Investitionen in die Verteidigung.
In Deutschland fehlen nach Angaben der Immobilienbranche inzwischen 800.000 Wohnungen. Das sind 100.000 mehr als noch im vorigen Jahr, wie die Verbände auf dem diesjährigen Wohnungsbau-Tag mitteilten. Das Bündnis verlangt von Bund und Ländern eine „sofortige Sonderförderung“ in Höhe von 23 Milliarden Euro, davon 15 Milliarden Euro für 100.000 neue Sozialwohnungen und 8 Milliarden Euro für den Bau von 60.000 bezahlbaren Wohnungen.
Die Bundesregierung werde auch 2024 ihr Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr verfehlen, kritisierte das Bündnis. Siebenkotten erklärte, die Mieten seien im Vergleich zum Vorjahr prozentual fast zweistellig gestiegen. Jeder dritte der 21 Millionen Mieterhaushalte zahle mehr als 30 Prozent seines Einkommens für die Wohnung. Mehr als ein Drittel des monatlichen Budgets für die Miete aufbringen zu müssen, gilt als finanzielle Überlastung und Gefährdungsfaktor für Armut. Rund 9,5 Millionen Menschen leben in überbelegten Wohnungen. Ihre Zahl ist in drei Jahren um eine Million gestiegen.
Dem Chef der IG Bauen-Agrar-Umwelt, Robert Feiger, zufolge rechnen die Verbände in diesem Jahr mit einem Rückgang der Gesamtinvestitionen in den Wohnungsbau um knapp 5,5 Prozent. Preistreiber bei den Baukosten sei vor allem die Gebäudetechnik. Die Verbände fordern deshalb eine Senkung der Standards, damit einfacher, günstiger und schneller gebaut werden kann. Auch die Bodenpreise und gestiegene Kreditzinsen sorgten dafür, dass Bauherren und Wohnungsunternehmen ihre Neubauvorhaben auf Eis legen, hieß es. In der Folge seien die Aufträge eingebrochen, und es habe ein Abbau an Kapazitäten in der Bauindustrie eingesetzt.
Der Präsident des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, Axel Gedaschko, erklärte, die Unternehmen hätten ihre Investitionen in Neubauten um 50 Prozent reduziert. Diese hätten aber schon in den vergangenen Jahren nicht ausgereicht, um den Bedarf zu decken. Er kritisierte die Förderpolitik: „Wenn die staatliche Förderung teure Wohnungen fördert, kommen teure Wohnungen raus“, sagte er: „Es kommt aber darauf an, nicht Zuckerbrot zu fördern, sondern das bezahlbare Schwarzbrot.“
Deutschland sei meilenweit von seinen Zielen im sozialen Wohnungsbau entfernt, obwohl Bund und Länder die Zuschüsse erhöht hätten, bilanzierte das Verbändebündnis Wohnungsbau. Die Ampel-Koalition hatte 400.000 neue Wohnungen im Jahr in Aussicht gestellt, davon sollten 100.000 Wohnungen Sozialwohnungen sein. Gebaut wurde dem Bündnis zufolge im vergangenen Jahr 25.000 neue Sozialwohnungen. Auch die Gesamtzahl neuer Wohnungen blieb in den vergangenen beiden Jahren deutlich hinter den Zielen zurück.
Berlin (epd). Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin empfiehlt eine Legalisierung der Eizellspende in Deutschland. Die Begründung, auf die der Gesetzgeber das Verbot der Eizellspende im Embryonenschutzgesetz gestützt hat, „muss heute als überholt und nicht mehr überzeugend gelten“, heißt es im Kurzbericht der Kommission, der dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Eine Legalisierung sei zulässig, wenn der Schutz der Spenderinnen und das Kindeswohl gewährleistet seien. Deutlich skeptischer sehen die Fachleute einer Legalisierung der Leihmutterschaft.
Als überholt sieht die Kommission das Argument der sogenannten gespaltenen Mutterschaft zur Begründung des Verbots der Eizellspende an. Die Befundlage deute an, dass die sozio-emotionale Situation der Kinder, die auf diese Weise gezeugt wurden, unauffällig ist, heißt es im Bericht.
Im Gegensatz zur Samenspende ist in Deutschland die Eizellspende, bei der einer Frau mit Kinderwunsch die unbefruchtete oder befruchtete Eizelle einer anderen Frau übertragen wird, nicht erlaubt. In vielen anderen europäischen Ländern ist sie zulässig.
Die Kommission hält für eine Erlaubnis in Deutschland eine gesetzliche Grundlage für erforderlich und nennt zwei Optionen, die sie für rechtlich und ethisch vertretbar hält. Als Erstes nennt sie Spenden von Eizellen, die im Zuge von Kinderwunschbehandlungen entnommen wurden, aber nicht mehr benötigt werden, sowie die Eizellspende an die Partnerin in einer lesbischen Beziehung.
Zum Zweiten hält sie aber auch die Spende von Eizellen, die nur für diesen Zweck entnommen werden, für zulässig. Bei diesen „rein fremdnützigen“ Spenden fordert sie aber Bedingungen, unter anderem eine unabhängige Beratung, eine angemessene Aufwandsentschädigung für die Spenderin und Vorkehrungen, damit das Kind sein Recht auf Kenntnis seiner Abstammung verwirklichen kann. Ein weiteres Verbot der Eizellspende schließt die Kommission nicht komplett aus, sollte der Gesetzgeber bei Abwägung aller Auswirkungen und Interessen dies begründen können.
Prüfen sollte die Kommission auch, ob die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft, bei der eine Frau für ein anderes Paar ein Kind austrägt, erlaubt werden sollte - zumindest in Fällen, in denen kein kommerzielles Interesse im Vordergrund steht. Ihr Votum fällt hier deutlich differenzierter aus. Die Leihmutterschaft werfe eine Reihe ethischer, rechtlicher und praktischer Fragen auf, heißt es dazu im Kurzbericht der Kommission: „Sie birgt selbst in altruistisch angelegten Modellen ein Potenzial für Umgehung und Missbrauch.“
Es liege im Ermessen des Gesetzgebers, am Verbot festzuhalten, schreibt die Kommission. Für die Zulassung formuliert die Kommission Bedingungen, die insbesondere den Schutz der Leihmutter garantieren sollen.
Die Bundesregierung hatte die Kommission vor einem Jahr mit zwei Arbeitsgruppen eingesetzt. Die erste Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der Frage, ob Schwangerschaftsabbrüche künftig außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt werden sollten. Wie bekannt wurde, empfiehlt sie eine vollständige Entkriminalisierung von Abtreibungen zumindest für die ersten Schwangerschaftswochen. In der Spätphase der Schwangerschaft, konkret ab dem Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Uterus, „sollte der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich nicht erlauben“, heißt es im Kurzbericht. In der mittleren Phase sieht die Kommission einen Gestaltungsspielraum, bei dem zumindest Abbrüche aus medizinischen Gründen oder nach Vergewaltigungen erlaubt sein sollten.
Duisburg (epd). Die Daten einer neuen Umfrage sind frappierend: Ein knappes Drittel der Bürgerinnen und Bürger ist nach eigener Aussage nicht in der Lage, Geld für die eigene Alterssicherung anzusparen. Das lässt Rückschlüsse auf das individuelle Sparverhalten zu und spiegelt auch fehlendes Wissen, wie und wo private finanzielle Vorsorge möglich ist, sagt der Sozialforscher Dirk Hofäcker. Die Fragen stellte Stefanie Unbehauen.
epd sozial: Herr Professor Hofäcker, laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov können immer weniger Menschen Geld fürs Alter sparen. 32 Prozent geben sogar an, überhaupt keine Rücklagen bilden zu können. Woran liegt das Ihrer Einschätzung nach?
Dirk Hofäcker: Bemerkenswert an den Zahlen ist, dass zwar etwa ein Drittel der Befragten derzeit keine monatlichen Rücklagen für das Alter bildet, jedoch ein deutlich geringerer Anteil der Ansicht ist, dass man keine Rücklagen bilden sollte. Diese Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Notwendigkeit zu sparen und der persönlichen Möglichkeit, dies zu tun, konnten wir auch im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes für das Sparverhalten junger Menschen in der EU belegen. Auch hier zeigte sich, dass junge Menschen angesichts der gegenwärtigen Rentendebatten grundsätzlich durchaus wahrnehmen, dass man eigene Rücklagen bilden sollte, sich dazu aber selbst nicht in der Lage sehen.
epd: Was sind die Gründe hierfür?
Hofäcker: Unsere Analysen zeigten, dass sich das unzureichende Sparverhalten junger Menschen zum einen darauf zurückführen lässt, dass unsichere Beschäftigungsformen es bestimmten Gruppen unmöglich machen, neben dem alltäglichen Konsum und kurzfristig notwendigen Ausgaben langfristige Rücklagen zu bilden. Insbesondere bei Jugendlichen mit geringeren Bildungsabschlüssen in prekären Beschäftigungsverhältnissen war dieses Phänomen zu beobachten. Zum anderen erschweren aber auch ein unzureichendes Wissen über die Möglichkeiten privater Rücklagen und - insbesondere in Deutschland - ein sehr komplexes und schwer überschaubares Angebot an privaten Sicherungsoptionen individuelles Sparen.
epd: Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders häufig von Altersarmut betroffen?
Hofäcker: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2021 etwa 18 Prozent älterer Menschen, das heißt im Alter von 65 Jahren und älter, von Altersarmut betroffen. Die Quote hat in den vorangegangenen Jahren erkennbar zugenommen. Altersarmut bringt eine materielle Mangellage mit sich. Sie kann Menschen auch dazu bringen, ihren geplanten Ruhestandseintritt zu verschieben und länger - teilweise über das Rentenalter hinaus - erwerbstätig zu sein. Dieses Muster unfreiwilliger Weiterarbeit findet sich besonders häufig bei benachteiligten Arbeitsmarktgruppen mit niedrigen Bildungsabschlüssen.
epd: Bildung ist also ein entscheidender Faktor ...
Hofäcker: Ja, man muss allerdings sehen, dass das Risiko, von Armut betroffen zu sein, auch zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt ist. Frauen weisen dabei mit über 20 Prozent ein höheres Armutsrisiko auf als Männer mit knapp 16 Prozent. Dies gilt insbesondere in den alten Bundesländern.
epd: Das Armutsrisiko für Frauen ist im Westen also höher als im Osten. Wie lässt sich das erklären?
Hofäcker: Eine naheliegende Erklärung für diese regionalen Unterschiede ist, dass Erwerbsverläufe von Frauen in Ostdeutschland kontinuierlicher und durch eine höhere Stundenzahl geprägt waren. Staatliche Arbeitsmarkt- und Familienpolitik förderten hier stärker kurze Erwerbsunterbrechungen und eine umfangreichere Erwerbstätigkeit beider Ehepartner. Heutige Rentnerinnen in Westdeutschland waren in ihrer mittleren Erwerbsphase stärker durch das sogenannte „Ernährer-Modell“ geprägt. Frauen unterbrachen meistens länger die Erwerbstätigkeit und kehrten häufiger in Teilzeit auf den Arbeitsmarkt zurück. Hieraus ergeben sich meist niedrigere Rentenansprüche, die sich in einem höheren Altersarmutsrisiko widerspiegeln.
epd: Kindererziehung und Teilzeitarbeit sind also zwei zentrale Risikofaktoren für Armut im Alter. Würden Sie sagen, dass Altersarmut somit nach wie vor überwiegend ein „Frauenproblem“ ist?
Hofäcker: Altersarmut ist nicht ausschließlich ein „Frauenproblem“, auch weitere Risikofaktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit von Altersarmut. Frauen sind aber durchschnittlich betrachtet deutlich häufiger von Altersarmut betroffen als Männer. Von Bedeutung sind hier unter anderem die am Arbeitsmarkt weiterhin vorherrschenden Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen, der „Gender Pay Gap“, der sich mit der Familiengründung meist nochmals verschärft. Dies führt dazu, dass infolge des geringeren Einkommens meistens auch die Rentenhöhe von Frauen deutlich geringer ausfällt als die von Männern. Die Aufteilung von Hausarbeits- und Betreuungsaufgaben „traditionalisiert“ sich im Zuge der Familiengründung, Frauen übernehmen also zunehmend häufiger diese Aufgaben. Entsprechend finden sich Frauen häufiger in unbezahlter „Care-Arbeit“ wieder, die durch Anrechnungszeiten im Rentensystem nur bedingt aufgefangen werden kann.
epd: Wie gut gelingt es Männern, Geld fürs Alter zurückzulegen?
Hofäcker: Männer können deutlich häufiger als Frauen auf Leistungen außerhalb der staatlichen Rentenversicherung zurückgreifen. Sie verfügen öfter über Betriebsrenten und private Rücklagen. Diese ungleiche Verteilung zusätzlicher Alterssicherung vergrößert die bereits in der gesetzlichen Rentenversicherung angelegten Geschlechterunterschiede. Aus meiner Sicht sind es in beträchtlichem Maße strukturelle Ungleichheiten in Rentensystem und Arbeitsmarkt, die dazu führen, dass Frauen geringere gesetzliche Rentenhöhen und weniger Zugang zu ergänzender Alterssicherung aufweisen.
epd: Viele gaben in der bereits erwähnten YouGov-Befragung an, das Vertrauen in die Politik verloren zu haben, wenn es um die Alterssicherung geht. Welche Gefahren für die Gesellschaft sehen Sie in dieser Entwicklung?
Hofäcker: Das Phänomen der Altersarmut stellt in Deutschland in der wissenschaftlichen Diskussion ebenso wie in der öffentlichen Debatte ein ausgesprochen präsentes Thema dar. Die Wahrnehmung zunehmender Sicherungsrisiken und der in der YouGov-Studie unterstellte Vertrauensverlust in die Politik beim Thema Alterssicherung muss aber auch im Kontext der aktuellen rentenpolitischen Entwicklungen gesehen werden: Deutschland ist ein Land, in dem die gesetzliche Rentenversicherung lange die zentrale Säule der Alterssicherung darstellte, die bereits allein existenzsichernd wirken und einen angemessenen Lebensstandard im Alter garantieren sollte. Ähnlich wie andere europäische Länder hat die Politik in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auf eine „Verbreiterung“ der Rentenbasis hingearbeitet, um die Alterssicherung auch in Zeiten des demografischen Wandels sicherstellen zu können. Staatliche Rentenleistungen sollen in Zukunft nicht mehr den alleinigen Bestandteil des Alterseinkommens ausmachen, sondern zunehmend durch betriebliche Renten und private Rücklagen ergänzt werden.
epd: Das klingt ja erstmal positiv.
Hofäcker: Problematisch ist daran aber, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise in der Lage sind, zusätzliche Rücklagen zu bilden und damit die wachsende „Rentenlücke“ zu füllen. Es käme dann also zu einer selektiven Verschlechterung der Einkommenssituation im Alter bei bestimmten, benachteiligten Gruppen, die nicht ausreichend sparen können. Dies ist meiner Einschätzung nach ein politisches Problem, das noch stärker adressiert werden müsste, um die Legitimität der Rentenpolitik zu erhöhen.
epd: Wie könnte eine geeignete Maßnahme aussehen, um diesen Trend abzufedern?
Hofäcker: Vorstellbar wäre hier beispielsweise eine spezielle Sicherungsleistung für benachteiligte Gruppen und allgemein mehr Bildung über Möglichkeiten einer breiten Altersvorsorge in Schulen.
Gütersloh (epd). Die Bevölkerungsentwicklung bis 2040 in Deutschland wird laut einer Prognose der Bertelsmann Stiftung in den Bundesländern mit großen Unterschieden ausfallen. Insgesamt könnte die Bevölkerungszahl im Vergleich zu 2020 bis 2040 um 0,6 Prozent steigen, erklärte die Bertelsmann Stiftung bei der Vorstellung der Bevölkerungsvorausberechnung des Datenportals „Wegweiser Kommune“ am 9. April in Gütersloh. Die Stiftung plädiert für Strategien, um eine geeignete Infrastruktur für die älteren Generationen aufzubauen.
Der Prognose zufolge liegt die Bevölkerungsentwicklung in den 13 Flächenländern zwischen einem Plus von 4,6 Prozent in Baden-Württemberg und einem Minus von 12,3 Prozent in Sachsen-Anhalt. Deutliche Bevölkerungszuwächse gebe es in den Stadtstaaten Berlin (plus 5,8 Prozent) und Hamburg (plus 3,5 Prozent). Für die Städte Leipzig, Potsdam und Bamberg wurden Bevölkerungszuwächse von mehr als 10 Prozent prognostiziert. Am unteren Ende der Skala stünden Kreise und kreisfreie Städte aus den östlichen Bundesländern mit Rückgängen von mehr als 17 Prozent.
Laut der Prognose nimmt der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung stark zu. So steige der Anteil der Menschen ab 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung von 2020 bis 2040 der Prognose zufolge von 22 Prozent auf fast 28 Prozent.
Die zunehmende Alterung der Gesellschaft zeige sich in fast allen Kommunen, sagte der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Ralph Heck. „Es braucht jetzt gezielte Strategien, um eine geeignete Infrastruktur für die älteren Generationen aufzubauen und die dabei entstehenden wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen“, erklärte Heck. Ohne finanzielle Unterstützung durch Förderprogramme von Bund und Ländern werde dies für viele Regionen nicht zu schaffen sein.
Basis für die Bevölkerungsvorausberechnung der Bertelsmann Stiftung sind den Angaben zufolge alle Kommunen in Deutschland mit mehr als 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Das entspreche rund 3.000 Gemeinden, in denen 89,6 Prozent der Bevölkerung in Deutschland lebten.
Wiesbaden (epd). Im Schnitt sind Väter in Deutschland im Jahr 2022 bei der Geburt ihrer Kinder deutlich älter als Väter im Jahr 1991 gewesen. Damals lag das Durchschnittsalter bei 31,0 Jahren, bis 2022 ist es auf 34,7 Jahre angestiegen, wie das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) am 9. April in Wiesbaden mitteilte. Dieser Trend sei weltweit in vielen Ländern zu beobachten und werde „von Teilen der Wissenschaft mit Sorge gesehen, da Kinder älterer Väter ein höheres biologisches Risiko haben, gesundheitlich beeinträchtigt zu sein“, teilte das BiB mit. Eine gemeinsame Studie von BiB-Forschern und der Universität Oldenburg zeige aber erstmals, dass das heute verzeichnete Alter der Väter bei Geburt ihrer Kinder im historischen Vergleich nicht ungewöhnlich sei.
Trotz hoher Anstiege in den letzten Jahrzehnten liege das heutige Alter von Vätern bei der Geburt von Kindern im Schnitt unter oder nur leicht über den Werten vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Darin ähnelten sich alle Länder, für die Daten über die letzten 100 Jahre vorliegen. Demnach waren, beispielsweise in Frankreich, die Väter um 1900 bei der Geburt ihrer Kinder im Schnitt 34 Jahre alt, was dem heutigen Niveau entspreche. Bis in die 1970er Jahre sei das Durchschnittsalter dann bis auf etwa 30 Jahre stark zurückgegangen. Ab 1980 sei es dann wieder angestiegen.
Ähnliche Verläufe haben sich laut BiB für Schweden, die USA, Japan und weitere Länder gezeigt. Für Deutschland seien Aussagen zu Langzeitentwicklungen nicht möglich, da entsprechende Daten erst seit 1991 durchgängig vorlägen.
Die hohen Durchschnittsalter zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklären sich dem BiB zufolge unter anderem durch wirtschaftliche Gründe. Später, in den industriell geprägten Gesellschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hätten Erwerbstätige früh im Arbeitsleben höhere Einkommen erzielen können. Dies sei „für eine frühzeitige Familiengründung förderlich“ gewesen, erklärte das BiB.
Ab den 1970er Jahren hätten sich auch die Rollenverständnisse von Frauen und Männern geändert. Außerdem hätten höhere Anforderungen an die berufliche Qualifikation und bessere Bildungsangebote zu längeren Ausbildungszeiten geführt. Diese und andere Faktoren haben laut Bundesinstitut letztlich zu einem steigenden Alter bei der Geburt von Kindern beigetragen.
Berlin (epd). Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) hat nach dem Start ihres neuen Service „Digitale Rentenübersicht“ eine erste positive Bilanz gezogen. Seit dem Beginn des Regelbetriebes im Januar wurden 1,7 Millionen Besucherinnen und Besucher auf der Plattform verzeichnet, wie die DRV am 8. April mitteilte. Zudem wurden nach den Angaben mehr als 152.000 Anmeldungen registriert.
Mit der Digitalen Rentenübersicht könne sich jeder einen Überblick über seine individuellen Ansprüche im Alter aus den drei Säulen der Altersvorsorge (gesetzliche, betriebliche und private Altersvorsorge) verschaffen. Seit Anfang des Jahres befindet sich das neue System im Regelbetrieb. Auf Grundlage des Rentenübersichtsgesetzes aus dem Jahr 2021 wurde der Online-Service innerhalb von drei Jahren entwickelt und stand den Bürgerinnen und Bürgern seit Mitte 2023 in einer Pilotphase zur Verfügung.
Neben der steigenden Nutzerzahl konnte laut Rentenkasse auch die Anzahl der angebundenen Vorsorgeeinrichtungen kontinuierlich erhöht werden. Deren Zahl liege aktuell bei 288 und werde bis zum Jahresende weiter steigen.
Ziel der Digitalen Rentenübersicht sei es, eine gute Informationsgrundlage zu schaffen, bei der alle Altersvorsorgebausteine eingesehen werden können. Bisher werden die Informationen zum Stand der individuellen Rentenansprüche, die sogenannten Standmitteilungen, von jedem Anbieter per Post verschickt.
Frankfurt a. M. (epd). Ihr Mann fiel im Krieg in der Ukraine. Sie lebt nun alleine in Deutschland. Und sie ist schwanger. „Sie hat Angst, dass sie das finanziell nicht schafft“, sagt Adriane Baute. Gerade war die 80-jährige Sprach- und Kulturmittlerin, die fließend Russisch und Bulgarisch spricht, mit der Ukrainerin bei Pro Familia in Würzburg. Dort hat sie bei der Schwangerschaftskonfliktberatung übersetzt.
Adriane Baute ist eine von 65 ehrenamtlichen, geschulten Sprach- und Kulturmittlern, die von Yuliya Zhinova vom Paritätischen Wohlfahrtsverband an Einrichtungen im Raum Würzburg vermittelt werden. Die rüstige alte Dame wird sehr häufig für Gespräche bei Ärzten oder Gesundheitseinrichtungen angeheuert. In diesem Feld werden Dolmetscherdienste immer wichtiger, sagt Kathrin Speck, Geschäftsführerin des Paritätischen in Würzburg. „Wie soll eine Behandlung auch funktionieren, wenn sich Arzt und Patient nicht miteinander verständigen können?“
Fachleute befürworten Angebote für eine professionelle Sprachmittlung in der Gesundheitsversorgung. Sprachbarrieren verhinderten in vielen Fällen eine effiziente medizinische Versorgung, erklärten Sachverständige im Mai 2023 bei einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestags. Bernd Meyer, Kulturwissenschaftler an der Universität Mainz, erklärte dort, Sprachbarrieren sorgten für Reibungsverluste und benachteiligten Personen mit geringen Deutschkenntnissen. Eine gesetzliche Regelung und eine verbindliche Übernahme der Kosten für Dolmetscherdienste seien daher dringend geboten.
Für Sprachmittlung als Kassenleistung kämpft auch das Aktionsbündnis Patientensicherheit. Denn ohne Sprachmittlung erhöhe sich das Risiko von Behandlungsfehlern, sagt Joachim Maurice Mielert, Generalsekretär des Bündnisses.
Die Dolmetscherinnen und Dolmetscher gehen mit zum Hausarzt, Facharzt, Kinder- oder Zahnarzt. So begleitete Adriane Baute, die aus Bulgarien stammt, in der Schule Russisch und Deutsch lernte und sechs Jahre in Moskau studierte, eine ältere Ukrainerin zu einer ambulanten Augenoperation. Sie übersetzte bei der Anmeldung, half der Seniorin, den Anamnesebogen auszufüllen, dolmetschte während des Aufklärungsgesprächs und erklärte nach der OP auf Russisch, was der Arzt empfiehlt.
Die Zuwanderung nach Deutschland mache Sprach- und Kulturmittler erforderlich, sagt Monika Schröder von den psychiatrischen Kliniken des Landschaftsverbands (LVR) Rheinland. Beim LVR hätten es die Ärzte und Therapeuten häufig mit traumatisierten Flüchtlingen zu tun. Ohne Sprach- und Integrationsmittler, wie die Dolmetscher beim LVR genannt werden, sei eine Behandlung nur schwer möglich. Im vergangenen Jahr seien sie beim LVR rund 5.500 Mal im Einsatz gewesen. Die Sprachmittlerinnen und Sprachmittler müssten nicht nur sprachlich fit sein. Auch Kultursensibilität sei wichtig, sagt Schröder.
Der LVR investiert nach eigenen Angaben jährlich 600.000 Euro in die Sprachmittlung. Er hofft, dass Sprachmittlung, wie es der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vorsieht, Kassenleistung wird.
Der Berliner Sprachmittlungsdienst Triaphon bietet telefonische Übersetzungsdienste in neun Sprachen an. „Wir haben 2.000 Anrufe im Monat, die Gespräche dauern durchschnittlich sieben bis acht Minuten“, berichtet Geschäftsführer Kim Thanh Vo. Triaphon kooperiert mit rund 45 medizinischen Einrichtungen. Zu Stoßzeiten sei die Triaphon-Zentrale fünffach besetzt. Deutschlandweit seien mehr als 130 Sprachmittler im Einsatz.
Ein Kunde von Triaphon ist die Psychiatrische Institutsambulanz der Klinik Alexianer St. Joseph Berlin-Weißensee. Das Krankenhaus trägt nach eigenen Angaben die Kosten für die Dolmetscherdienste selbst. Zu Buche schlage auch, dass Arzt-Patient-Gespräche mit Übersetzung etwa doppelt so lange wie eine normale Konsultation dauern.
In Stadt und Kreis Osnabrück übernimmt das Netzwerk SPuK (Sprach- und Kommunikationsmittlung) der Caritas Präsenztermine. Video- und Telefon-Übersetzungen werden landesweit angeboten. Im Gesundheitsbereich fallen monatlich knapp 70 Stunden Sprachmittlung an, berichtet SPuK-Leiterin Marika Steinke. Sie kritisiert eine „erhebliche Unterversorgung“ an Sprachmittlung im Gesundheitswesen. „Eine umfassende Anamnese ist hier wesentlich schwieriger.“
Wie die im Koalitionsvertrag erklärte Absicht, Sprachmittlung künftig auf GKV-Kosten anzubieten, praktisch umgesetzt werden soll, „wurde im Bundesgesundheitsministerium umfassend eruiert“, teilte die Pressestelle des Ministeriums dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit. Es werde eine „zeitnahe Umsetzung“ angestrebt.
Berlin (epd). Das Ausscheiden der Babyboomer-Generation aus dem Job könnte künftig die Situation der beruflichen Pflege verschärfen. Der neue DAK-Pflegereport belegt, dass bereits in fünf Jahren in den ersten Bundesländern die professionelle Pflegeversorgung wegen Fachkräftemangels auf der Kippe steht. „Die soziale Pflegeversicherung droht ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm am 9. April bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Wir brauchen eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung, um die Pflege mit neuen Versorgungskonzepten zukunftsfähig zu machen.“
Doch damit, rügte Storm, sei in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Die Ampel sei aufgrund unterschiedlicher Positionen offensichtlich nicht in der Lage, sich auf eine grundlegende Reform der sozialen Pflegeversicherung zu verständigen. Er gehe deshalb nicht davon aus, dass das Bundesgesundheitsministerium, wie angekündigt, am 31. Mai Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der Pflegeversicherung vorlege.
Das Problem der nahen Zukunft: Immer mehr Pflegebedürftige und beständig abnehmende Personalressourcen strapazieren das Versorgungssystem. Mit den nahenden Renteneintritten der geburtenstarken Jahrgänge zwischen Ende der 50er und Mitte der 60er Jahre werde auch die Zahl der Pflegefachkräfte signifikant sinken - und zugleich die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich anwachsen.
In der Pflegeversorgung drohen in den meisten Bundesländern bei der Personalversorgung schon zum Ende dieses Jahrzehnts „Kipppunkte“, an dem der Pflegenachwuchs die altersbedingten Berufsaustritte der Baby-Boomer nicht mehr auffangen kann. In Bremen und Bayern wird das den Berechnungen zufolge bereits 2029 der Fall sein. Zu vermeiden seien diese Engpässe nur, wenn weiterhin genügend Nachwuchskräfte gefunden würden und die Ausbildungszahlen nicht wieder sänken. „Aufgrund des sehr lokal geprägten Arbeitsmarktes variieren die Kipppunkte stark auf der Landkreis- und städtischen Ebene innerhalb der Bundesländer“, sagte Studienautor Thomas Klie vom Freiburger Sozialforschungsinstituts AGP. Selbst in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Thüringen, die rechnerisch weiterhin über eine Personalreserve verfügten, sei der Arbeitsmarkt praktisch leer gefegt.
Laut DAK-Pflegereport müssen in den nächsten zehn Jahren fast in jedem Bundesland 20 Prozent Pflegepersonal ersetzt werden. Der Bedarf variiert zwischen 19,7 Prozent in Sachsen und 26,5 Prozent in Bremen. Dieser Ersatzbedarf beschreibt dabei ausschließlich, wie groß die Lücke netto ist. Der tatsächliche Bedarf dürfte vor dem Hintergrund einer kontinuierlich wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen noch weitaus größer sein. „Wir schätzen, dass in den nächsten 25 Jahren rund 2,3 Millionen Menschen mehr als heute auf pflegerische Unterstützung angewiesen sein werden“, sagte Klie.
Die Daten seien besorgniserregend, so Klie: „Für 2025 liegt die Prognose bei 9.664 Renteneintritten, denen 36.004 Berufseinsteiger gegenüberstehen. Das entspricht einer Arbeitsmarktreserve von 2,0 Prozent.“ Bis 2030 sinkt sie laut Knie jedoch auf 0,5 Prozent ab.
Auch finanziell ist die Pflegeversicherung unter Druck: Die DAK-Gesundheit rechnet spätestens im Jahr 2025 mit einem weiteren Anstieg der Beiträge für die gesetzliche Pflegeversicherung. Bereits für das vierte Quartal 2024 zeichneten sich deutliche Finanzierungslücken ab, „die voraussichtlich Beitragssatzerhöhungen noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr erforderlich machen“, heißt es in dem Bericht. Die DAK geht von einer Steigerung um 0,2 Prozentpunkte aus.
Das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im vergangenen Jahr abgegebene Versprechen einer zumindest kurzfristigen Stabilisierung der Pflegefinanzen bis zum Ende der laufenden Wahlperiode sei wohl nicht mehr zu halten", sagte Storm. Nach seinen Worten ist die gesetzliche Vorgabe, eine Monatsausgabe aller Pflegekosten als finanzielle Mindestreserve vorzuhalten, nicht mehr gewährleistet.
Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) betonte, man werde nie wieder so viel Pflegepersonal zur Verfügung haben wie jetzt. Aber entgegen dem, was der Begriff „Kipppunkt“ suggeriere, sei die Versorgungskrise abwendbar, sagte Präsident Thomas Greiner in Berlin. Er forderte einen flexibleren Personaleinsatz in der Altenpflege.
Eugen Brysch, der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, forderte, bevor über eine weitere Beitragserhöhung nachgedacht werde, müsse die Pflegeversicherung erst von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden. Dann stünden immerhin zusätzlich sieben Milliarden Euro für die Pflege der fünf Millionen betroffenen Menschen zur Verfügung.
Der Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), Bernd Meurer, sagte, die generalistische Pflegeausbildung müsse endlich ideologiefrei auf den Prüfstand. „Die eigenständige Altenpflege hat innerhalb von zehn Jahren für einen Zuwachs von mehr als 60 Prozent gesorgt. Warum glaubt die Politik, auf diesen Jobmotor inzwischen verzichten zu können?“
Mannheim, Stuttgart (epd). Besuch beim Drogenverein Mannheim: „Ich lebte 46 Jahre mit einem Narzissten zusammen“, sagt Frau Müller. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, zu groß ist die Furcht vor Verfolgung durch ihren Ehemann. „Ich durfte zuletzt gerade zwei Stunden am Tag das Haus verlassen“, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Um die psychische Gewalt zu bewältigen, griff sie zur Flasche. „Mein Freund war der Alkohol“, erinnert sie sich. Zur Gewalt kam dann die Sucht hinzu. Irgendwann fasste Müller Mut und floh aus der häuslichen Gefangenschaft. Geschämt habe sie sich: „Ich war ein Häufchen Unglück, mit zwei Einkaufstaschen stand ich auf der Straße.“
Sie ist eine von ungezählten Frauen, die häusliche Gewalt erfahren und dabei eine Suchterkrankung entwickeln. Das Problem: Suchterkrankungen sind fast immer ein Ausschlusskriterium für die Aufnahme in einem Frauenhaus. Hilfe fand Müller bei SEGEL in Mannheim - einem Frauenhaus, das auch suchtkranke Frauen und deren Kinder aufnimmt. Träger des Modellprojektes sind das Mannheimer Frauenhaus und der Drogenverein Mannheim. Es wird im Rahmen des „Landesaktionsplans gegen Gewalt an Frauen“ vom Sozialministerium Baden-Württemberg gefördert und von der Fakultät für Soziale Arbeit an der Mannheimer Hochschule wissenschaftlich begleitet.
Die baden-württembergische Staatssekretärin Ute Leidig (Grüne) spricht von einem „deutschlandweiten Leuchtturmprojekt, um Gewalt- und Suchtkreisläufe zu durchbrechen“. Die bundesweit einmalige Einrichtung bietet betroffenen Frauen und ihren Kindern gesonderte Schutzräume und eine pädagogische Betreuung, die sowohl auf Gewalt als auch auf Sucht spezialisiert ist.
„Gewalt und Sucht sind eng miteinander verbunden“, betont Katrin Lehmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg. Zahlen belegten, dass Frauen mit einer Suchterkrankung weitaus häufiger von Partnerschaftsgewalt betroffen seien als andere, sagen die Kooperationspartner.
Die Dunkelziffer der Fälle ist hoch. Viele Frauen wagen nicht den Schritt aus der Abhängigkeit heraus, weiß Philip Gerber vom Drogenverein Mannheim. Gerade wenn minderjährige Kinder im Haushalt leben, sei die Angst vor Inobhutnahme durch das Jugendamt groß, sagt Gerber. Der Personenkreis kann laut der Geschäftsführerin beim Mannheimer Frauenhaus, Nazan Kapan, durch das bisherige Angebot der Frauenhäuser nicht adäquat versorgt werden. Für die zweifache Problematik, Sucht und Gewalt, brauche es Expertise und ein Netzwerk. Kapan und Gerber verweisen auf „gut eingeführte Trägerstrukturen“ wie medizinische Hilfen oder die Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für seelische Gesundheit ZI in Mannheim.
Dort steht ein Notbett für Frauen bereit, die eine Entziehungskur machen wollen. Eine Voraussetzung für die Aufnahme bei SEGEL sei eine Entziehungskur jedoch nicht, sagt Gerber. Im Schutzhaus dürften allerdings keine Drogen konsumiert werden.
Frau Müller hat sich für eine Entziehungskur entschieden. „Von dem Moment an ging es aufwärts“, erinnert sie sich. „Ich bin heilfroh, dass ich hier gelandet bin“, sagt sie heute, sieben Monate nach dem Einzug in das Schutzhaus.
Oldenburg (epd). Wo einst Soldaten strammstanden und das Vaterunser beteten, duftet es an diesem Abend nach Szegedinger Gulasch. Vor dem Altar der Oldenburger evangelischen Garnisonkirche stehen sieben festlich eingedeckte Tische mit weißen Tischdecken und Blumen. Um Platz zu schaffen, wurden die Kirchenbänke in den hinteren Teil der Kirche verschoben. Für ein paar Stunden ist die Kirche zu einer Vesperkirche geworden, die bedürftige Menschen an den gedeckten Tisch einlädt und ihnen einen schönen Abend bereiten will. „Kommt herein und esst euch richtig satt“, sagt Ruhestandspastor Andreas Thibaut, der zusammen mit den Johannitern die Aktion ins Leben gerufen hat.
Zunächst zögerlich kommen die ersten Gäste in die Kirche. „Die Medienvertreter schrecken die Leute ab - das müssen wir beim nächsten Mal berücksichtigen“, sagt Anja Siegert. Sie ist die Vorsitzende der Johanniter-Hilfsgemeinschaft Oldenburg. Wie alle Helferinnen und Helfer trägt sie eine knallrote Schürze mit dem Motto der Aktion „Oldenburger Vesperkirche - Für Leib und Seele. Für Alle.“ Mit als Helfer dabei ist auch Jörg Bohlken, der das Team des Kältebusses der Johanniter-Unfall-Hilfe leitet. Im Winter werden vor dem Hauptbahnhof vom Bus aus heiße Getränke und Mahlzeiten verteilt. Er wird von einigen Gästen mit großem Hallo begrüßt.
Nach und nach füllt sich die Kirche: Ein Mann sucht noch einen Platz für seinen riesigen Rucksack mit seiner gesamten Habe. Am Nachbartisch hat sich eine junge Frau mit ihren vier kleinen Kindern niedergelassen. Eher am Rand sitzen Ralf, Klaus und Sascha. „Für heute Abend haben wir uns alle etwas feiner gemacht“, sagt Ralf uns schmunzelt. Tatsächlich wirken alle drei, als hätten sie sich noch kurz vor dem Festmahl frisch rasiert.
Ralf hat vor einigen Jahren seinen Job verloren. „Seitdem gings bergab.“ Um die Sorgen zu betäuben, trank er, dann kam der Abstieg. Nun steht er kurz vor dem Rauswurf aus seiner Wohnung. „Aber seit einem Monat bin ich trocken“, sagte er. Jetzt müsse er einiges aus seiner Vergangenheit wiedergutmachen. „Aber so ein Abend mit gutem Essen lässt einen ein wenig herunterkommen. Es ist hier echt entspannend.“
Klaus und Sascha sind gekommen, „weil wir neugierig sind“. Klaus hat 25 Jahre als Lastwagenfahrer für die Post gearbeitet, bis es nicht mehr ging. „Nun fehlen mir fünf Jahre für die Rente, da wird das Geld zum Leben knapp.“ Sascha fügt hinzu: „Da ist so ein Abend mit warmen Essen einfach schön“- allerdings dürften es beim nächsten Mal schon etwas mehr Fleisch und Kartoffeln sein. Dass das Essen in einer Kirche stattfindet, sei „ganz okay“ und „eben mal etwas anderes“, finden sie.
Verantwortlich für das festliche Essen ist Michael Niebuhr, Koch und Besitzer des „Norderholzer Hofs“ in Hude. „Normalerweise arbeite ich mit Steinbutt oder Trüffeln“, sagt er. „Szegediner Gulasch habe ich seit sicher 15 Jahren nicht mehr gekocht.“ Er selbst habe im Leben viel Glück gehabt. „Davon will ich der Gesellschaft etwas zurückgeben.“
Am diesem Abend sind gut 40 Menschen der Einladung gefolgt. Gekocht wurde für bis zu 70 Gäste. Pastor Thibaut: „Wenn es sich herumspricht, werden mehr Menschen kommen. Wir werden mit unserer Aktion nicht alle Probleme der Welt lösen. Nicht, solange es so viele Menschen gibt, die zu wenig haben, um würdevoll zu leben“, sagt er „Aber wir können ihnen ein paar schöne Stunden auf Augenhöhe schenken.“ Bis Pfingsten seien, jeweils an den Donnerstagen, sechs Vesperkirchen in der Garnisonkirche geplant, erläutert der Pastor. Danach werde ausgewertet, ob und wie das Projekt weitergehen kann.
Die inzwischen verbreitete Tradition der Vesperkirchen stammt aus Süddeutschland. Überwiegend evangelische Kirchengemeinden in Baden-Württemberg und Bayern bieten dort jährlich unter diesem Titel vor allem in den Wintermonaten soziale Projekte zugunsten von armen und bedürftigen Menschen an - oft in Form von kostenlosen Mahlzeiten in Kirchenräumen. In Niedersachsen gab es in den vergangenen Jahren ähnliche Initiativen unter anderem in Hannover, Braunschweig, Hildesheim, Helmstedt und Lüneburg.
Berlin (epd). Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch sieht die Arbeit von Wohlfahrtsverbänden zunehmend durch rechtsextreme Diffamierungen unter Druck. Längst stehe dabei nicht mehr nur die Arbeit mit Geflüchteten, die Migrationsberatung und Integrationsförderung im Fokus, sagte Schuch am 9. April beim traditionellen Wichernempfang der Diakonie in Berlin.
„Diffamierungen und bisweilen auch offene Anfeindungen von rechts außen erleben wir in einer großen Bandbreite in unserer Arbeit mit Menschen mit Behinderung, mit von Armut Betroffenen, in der Arbeit mit langzeitarbeitslosen Menschen oder mit Wohnungslosen“, sagte der Theologe. Die Vorwürfe lauteten „Verschwendung von Steuergeldern“, „ideologische Einseitigkeit“, „undemokratisches Verhalten“ oder gar „Linksextremismus“.
Schuch nahm für seinen Verband deutlichen Widerspruch gegen rechtsextreme Positionen in Anspruch. „Rechtsextreme behaupten, soziale Organisationen müssten sich politisch neutral verhalten, wenn sie öffentliche Fördergelder erhalten“, sagte er. Auf diese Weise solle Kritik an rassistischen, antisemitischen, antimuslimischen, minderheitenfeindlichen und antidemokratischen Positionen und Äußerungen delegitimiert werden. "Richtig ist, dass deutliche Kritik an solchen menschenverachtenden Positionen geradezu geboten ist.
Wir verhalten uns gegenüber diesen Parolen nicht neutral„, sagte er. Man müsse deutlich machen, “welche verheerenden Folgen ein weiterer Zugewinn an Einfluss und an politischer Macht der extremen Rechten für unser demokratisches Gemeinwesen hätte".
Der Präsident des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz, Stephan Kramer, warnte als Gastredner eindringlich vor den Folgen für die Demokratie bei einem Wahlerfolg der AfD in den anstehenden Landtagswahlen. Wenn es dieser Partei, die im Frühjahr 2021 in Thüringen als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft wurde, gelinge, Regierungsverantwortung zu übernehmen, „dann wird es ernst mit der Frage, wie geht es mit unserem Rechtsstaat weiter“, sagte Kramer. Das Gleiche gelte für die unabhängige Justiz, die Demokratie, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
In Thüringen wird im September ein neuer Landtag gewählt. Auch in Sachsen und Brandenburg finden im September Landtagswahlen statt. In allen drei Ländern kann die AfD Umfragen zufolge hohe Wahlergebnisse erreichen. Kramer warnte davor, zu glauben, die AfD als Regierungspartei entzaubern zu können. „Ich glaube, dass der Versuch, die AfD in politischer Verantwortung zu demaskieren, gründlich schiefgehen wird“, sagte Kramer, den die Diakonie als Gastredner eingeladen hatte.
Er sei zuversichtlich, dass dieses Wahlergebnis nicht zustande komme. „Ausgezählt wird am Wahlabend“, sagte Kramer und ergänzte: „Bis dahin haben wir alles zu tun, um ein möglichst anderes Ergebnis zu erreichen, nämlich dass die auf dem Boden der Verfassung stehenden Parteien die Zukunft unseres Landes gestalten und nicht die Alternative, die keine Alternative ist.“ Er rief dazu auf, rechtsextremen Positionen im Alltag zu widersprechen. Die Weimarer Republik sei seinerzeit „nicht an zu vielen Nazis gescheitert“, sondern an zu wenigen Demokraten, die täglich das Wort für die Demokratie ergriffen hätten.
Die Weichen für eine neue Drogenpolitik sind mit dem Gesetz zur Teillegalisierung von Cannabis nun gestellt. Seit dem 1. April gehört Cannabis nicht mehr zu den nach dem Betäubungsmittelgesetz verbotenen Substanzen. Erwachsene ab 18 Jahren können künftig bis zu 25 Gramm Cannabis zum eigenen Verbrauch bei sich haben, im Eigenanbau sind drei Pflanzen erlaubt. Von Juli an dürfen Cannabis-Clubs die Droge anbauen und an ihr Mitglieder weiterreichen. Für 18- bis 21-Jährige sollen monatlich 30 Gramm mit höchstens zehn Prozent Tetrahydrocannabinol (THC) zulässig sein. Der öffentliche Konsum wird beschränkt erlaubt. In Sichtweite von Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie Sportstätten ist er nicht gestattet. In Fußgängerzonen darf ab 20 Uhr gekifft werden. Für Minderjährige bleibt Cannabis verboten. Soweit im Wesentlichen der gesetzliche Rahmen.
Als Diakonie Sachsen haben wir uns im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens intensiv mit der Frage beschäftigt, ob Cannabis künftig als Droge oder als Genussmittel einzuordnen ist. Das geschah auch unter dem Aspekt, welche gesellschaftlichen Konsequenzen und sozialen Kosten damit verbunden sind.
Es war ein komplexer interner Prozess, in dem schwerwiegende Argumente auf beiden Seiten gegeneinander abgewogen worden sind. Denn naturgemäß kam die Suchtkrankenhilfe zu einer anderen Einschätzung als die Straffälligenhilfe: Erstere will grundsätzlich die Suchtgefahr in der Gesellschaft so niedrig wie möglich halten und befürchtet bei einer Legalisierung von Cannabis zwangsläufig eine Zunahme des Konsums und damit mehr Folgestörungen. Dazu zählen das Risiko einer psychischen Abhängigkeit, die Gefahr von depressiven Störungen, Angststörungen, Psychosen sowie nachhaltige und nicht mehr aufholbare Entwicklungsrückstände bei Jugendlichen durch hirnorganische Schäden. Zudem sollte neben der ohnehin viel zu großen Zahl von Alkohol- und anderen Suchtmittelabhängigen nicht noch zusätzlich eine Population von Cannabisabhängigen erzeugt werden.
Eine andere Sicht vertrat die freie Straffälligenhilfe: Eine legale, kontrollierte Abgabe von Cannabis bewahrt viele Menschen vor einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung und Freiheitsstrafen. Zudem entlastet es Polizei und Justiz merklich. Es ist richtig, dass Polizei und Justiz durch die bisherige Kriminalisierung viel zu tun hatten, weil fast jedes zweite verfolgte Drogendelikt ein Cannabisdelikt gewesen ist - und aufgrund von Kleinstmengen letztlich häufig eingestellt werden musste.
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes werden jetzt Ermittlungs- und Strafverfahren beendet, die nach dem neuen Recht keine Grundlage mehr haben. Es verwundert daher nicht, dass die bisherigen Ausgaben für Repressionen hierzulande neunmal höher sind als die für Hilfeangebote oder präventive Angebote. Welche Argumente wiegen schwerer?
Als evangelischer Wohlfahrtsverband sind wir mit von Sucht betroffenen Menschen solidarisch und setzen uns engagiert für Wege aus dem lebenszerstörenden Verhalten ein. Wir sehen uns auch in der Verantwortung, jeglicher Suchtentwicklung gerade bei jungen Menschen vorzubeugen. Gleichzeitig muss unsere Solidarität auch jenen Menschen gelten, die wegen eines Drogendelikts unverhältnismäßig oft in Haft gekommen sind und damit aus ihren gesamten Lebensvollzügen gestoßen wurden - mit teilweise lebenslangen Folgen.
Als einer der wenigen Wohlfahrtsverbände haben wir uns daher bereits vor einem Jahr mit einer Positionierung zur Legalisierung von Cannabis aus der Deckung gewagt - und das aus unserer Sicht gesetzgeberisch und gesellschaftlich Notwendige gefordert, wenn die Teilfreigabe von Cannabis nicht für viele - vor allem junge - Menschen zum Verhängnis werden soll.
Neben einem deutlich restriktiven Zugang zum Angebot - hier sind die jetzt vorgesehenen Vorkehrungen weder überwachbar noch ausreichend - scheinen uns flächendeckende und dauerhafte Aufklärungs-, Präventions- und Hilfeangebote, für Kinder, Jugendliche und das erwachsene Umfeld (vor allem Eltern und Lehrkräfte) am wichtigsten. Es muss klar werden, dass Cannabis nicht harmlos ist - schon gar nicht für Gehirne junger Menschen.
Diese wichtige Aufklärungsarbeit, aber auch sich daraus anschließende Hilfeangebote, müssen zu 100 Prozent finanziert werden. Ihren Auftrag, notwendige Aufklärungs- und Präventionsangebote bezüglich Drogen- und Alkoholkonsum beispielsweise an Schulen zu entsprechen, können Suchtberatungsstellen aus Gründen der Unterfinanzierung ohnehin schon seit langem nicht oder nur sehr sporadisch nachkommen.
Auch Menschen mit Lernbeeinträchtigung dürfen mit ihrem speziellen Bedarf dabei nicht vergessen werden. All das muss jetzt zwingend und umgehend im Jugendschutzgesetz verankert werden. Analog zu den Bestimmungen zur Abgabe und Konsum von Alkohol und Tabak muss dies für Cannabis geregelt werden.
Die Kontrolle des 100-Meter-Radius zu Kitas und Schulen, innerhalb dessen Abgabe, Besitz oder Handel von Cannabis weiterhin illegal und eine Ordnungswidrigkeit bleiben sollen, halten wir für kaum leistbar. Auch die mit dem Gesetz verbundene Hoffnung, die Teillegalisierung könnte den Schwarzmarkt schwächen und gleichzeitig dafür sorgen, dass Konsumenten und Konsumentinnen ein reineres und sichereres Produkt bekommen, muss sich nicht erfüllen.
Denn Menschen, die Cannabis konsumieren wollen, haben letztlich nur die Möglichkeit, entweder selbst anzubauen oder Club-Mitglied zu werden. Wer das nicht will oder nur spontan am Wochenende einen Joint rauchen will, dem bleibt nach wie vor nur der Schwarzmarkt.
Wir befürchten, dass mit der Teillegalisierung eine deutliche Mehrbelastung des Suchthilfesystems einhergehen wird. Diese kann mit den bisherigen finanziellen Mitteln keinesfalls kompensiert werden. Daher fordern wir, die Suchtkrankenhilfe insgesamt durch die Minderbelastung von Justiz und Polizei finanziell zu stärken.
Zudem halten wir eine umfassende Begleitforschung, die die Folgen der kontrollierten Abgabe akribisch erfasst, für wichtig, damit notwendige Korrekturen unverzüglich und unabhängig von folgenden Regierungskoalitionen erfolgen können. Der Ausbau von Drogen- und Gesundheitsmonitoring und eine entsprechende Versorgungs- und Therapieforschung sind dazu unerlässlich. Dabei sind die Suchtkrankenhilfe sowie die Suchtselbsthilfe zu beteiligen.
Berlin (epd). Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat Empfehlungen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität von Kita-Trägern beschlossen und veröffentlicht. „Ohne einen verantwortungsbewussten und qualitativ gut aufgestellten Kita-Träger kann die Qualität in den Einrichtungen weder gesichert noch weiterentwickelt werden. Kita-Träger sind zentrale Akteure im kompetenten System für eine qualitativ hochwertige Bildung, Erziehung und Betreuung unserer Kinder“, sagte Irme Stetter-Karp, die Präsidentin des Deutschen Vereins, am 4. April in Berlin. Deshalb richte man den Blick erstmals explizit auf die Kita-Träger, ihre Verantwortung und ihre Qualität.
Die Qualität von Kindertageseinrichtungen und die Qualität von Kita-Trägern seien zwei Seiten einer Medaille. Bislang richtet sich laut Stetter-Karp bei den Debatten um die Qualität im System der Frühen Bildung, Erziehung und Betreuung der Fokus vor allem auf die Kindertageseinrichtungen und die Fach- und Leitungskräfte. Aber die Qualität von Kindertageseinrichtungen und ihrer Träger bedingen sich gegenseitig, erklärte die Präsidentin.
Die vorliegenden Empfehlungen beschreiben die Verantwortung und Aufgaben von Kita-Trägern für den Betrieb und das Management einer Einrichtung, für die Qualitätssicherung und Bedarfsermittlung sowie für ihre Rolle als Arbeitgeber und die Ausbildung von zukünftigen Fachkräften. Zugleich formuliert der Deutsche Verein die dafür erforderlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, um gegenwärtige, aber auch zukünftige Kita-Träger in ihrer Qualität zu stärken.
Stuttgart, Kassel (epd). Ein Krankenhaus kann für einen bei laufender Reanimation auf die Intensivstation eingelieferten und nach 16 Minuten verstorbenen Patienten einen vollen Behandlungstag abrechnen. Die Krankenkasse darf die Vergütung nicht mit dem Argument verweigern, der Patient sei nicht für einen vollen Tag im Krankenhaus aufgenommen worden und es habe kein für die stationäre Aufnahme erforderlicher Behandlungsplan vorgelegen, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 3. April veröffentlichten Urteil.
Im entschiedenen Rechtsstreit ging es um einen Versicherten, der am 26. September 2018 wegen massiver Atemnot den Rettungsdienst gerufen hatte. Aufgrund einer Lungenembolie und eines Rechtsherzversagens musste der Rettungsdienst Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten. Unter laufender Reanimation wurde der Mann um 22.18 Uhr ins Krankenhaus gebracht, wo er zehn Minuten später auf der Intensivstation aufgenommen wurde. Als auch dort die anhaltenden Reanimationsversuche erfolglos blieben, wurde um 22.34 Uhr der Tod festgestellt.
Das Krankenhaus stellte für die stationäre Aufnahme einen vollen Behandlungstag in Rechnung. Wegen der kurzen Aufnahme wurde ein Abschlag vorgenommen, so dass die Krankenkasse noch 1.382 Euro zahlen sollte.
Doch die Krankenkasse stellte fest, dass gar keine stationäre Krankenhausbehandlung vorgelegen habe. Voraussetzung für eine stationäre Aufnahme sei, dass „nach dem Behandlungsplan des aufnehmenden Krankenhausarztes eine Tag- und Nachtleistung geplant“ sei. Hier sei es aber wegen des Todes des Patienten gar nicht mehr zu einer Aufnahmeentscheidung gekommen.
Es sei zudem davon auszugehen, dass der Versicherte bereits im Rettungswagen verstorben sei. Der Rettungsdienst habe den Versicherten nur deshalb noch in das Krankenhaus eingeliefert, um die Fahrt vergütet zu bekommen. Im Fall eines im Rettungswagen festgestellten Todes wären außerdem umfangreiche Hygienemaßnahmen erforderlich gewesen, die man sich offensichtlich habe sparen wollen.
Das LSG urteilte, dass der Versicherte trotz der nur 16-minütigen Behandlung vollstationär aufgenommen worden sei und das Krankenhaus die Vergütung für einen Behandlungstag verlangen könne. Zwar sei grundsätzlich nur von einer vollstationären Aufnahme auszugehen, wenn der Patient mindestens einen Tag und eine Nacht im Krankenhaus ununterbrochen versorgt worden sei.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann jedoch auch bei einer nur kurzzeitigen Notfallbehandlung eine stationäre Aufnahme vorliegen, wenn der Patient unter intensivem Einsatz der personellen und sächlichen Klinikmittel behandelt werden musste, heißt es in dem BSG-Urteil vom vom 29. August 2023.
Im vom BSG entschiedenen Fall ging es um die notfallmäßige Aufnahme eines Patienten mit Schlaganfallverdacht in die Kreiskliniken Gummersbach-Waldbröl. In der zertifizierten Schlaganfallstation wurde innerhalb von 60 Minuten das Blut des Patienten untersucht, eine Computertomografie und ein Ruhe-EKG erstellt und mit der Feststellung eines Hirninfarkts die medikamentöse Auflösung des Blutgerinnsels veranlasst. Danach wurde der Patient in ein anderes Krankenhaus verlegt.
Mit der kurzzeitigen Notfallbehandlung habe eine stationäre Aufnahme vorgelegen, so dass die Kreiskliniken einen vollen Behandlungstag abrechnen können, urteilte das BSG. Denn es seien mit hoher Intensität die besonderen personellen und sachlichen Mittel im erstangegangenen Krankenhaus genutzt worden. Davon sei bei der Behandlung in einem Schockraum oder auf einer Schlaganfallstation regelmäßig auszugehen.
Diese Rechtsprechung ist auf die Notfallbehandlung in einer Intensivstation übertragbar, stellte im aktuellen Fall das LSG fest. Bei der Behandlung auf der Intensivstation sei regelmäßig von einem intensiven Einsatz sächlicher und personeller Klinik-Ressourcen auszugehen. Ein umfangreicher Behandlungsplan habe angesichts des Zeitdrucks und der lebensbedrohlichen Situation nicht erstellt werden können. In akuten Notfallsituationen trete daher an die Stelle des Behandlungsplans ein für solche Fälle entwickeltes standardisiertes Verfahren.
Für den Verdacht der Krankenkasse, dass der Patient bereits im Rettungswagen verstorben und nur aus finanziellen Erwägungen in die Klinik eingeliefert worden sei, gebe es keine Belege, urteilte das LSG. Im Gegenteil: Denn hier habe der Versicherte wegen der Lungenembolie blutgerinnungshemmende Medikamente erhalten. In solch einem Fall würden die Reanimations-Leitlinien des Deutschen Rats für Wiederbelebung Reanimationsmaßnahmen von mindestens 60 bis 90 Minuten vorsehen. Diese Frist sei hier vom Rettungsdienst und dem Klinikpersonal eingehalten worden.
Az.: L 4 KR 1217/22 (LSG Stuttgart)
Az.: B 1 KR 15/22 R (BSG)
Karlsruhe (epd). Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechte leiblicher Väter gestärkt. Sie müssen laut einem am 9. April verkündeten Urteil eine von einem anderen Mann übernommene rechtliche Vaterschaft anfechten können. Es verstoße gegen das Elterngrundrecht, wenn ein biologischer Vater zu seinem Kind eine sozial-familiäre Beziehung aufgebaut habe, ihm wegen eines neuen Lebensgefährten der Mutter aber verwehrt sei, selbst rechtlicher Vater zu werden, entschieden die Karlsruher Richter. Dem Gesetzgeber sei es verfassungsrechtlich nicht verwehrt, allen drei Personen die rechtliche Elternschaft zuzuerkennen.
Im konkreten Fall ging es um einen unverheirateten Mann aus Sachsen-Anhalt, der sich nach eigenen Angaben seit der Geburt seines Sohnes im April 2020 intensiv um das Kind gekümmert hat. Die Beziehung mit der Mutter zerbrach kurz nach der Geburt. Der neue Lebensgefährte zog in den Haushalt der Frau mit dem Sohn und weiteren fünf Geschwistern ein.
Als der biologische Vater seine Vaterschaft anerkennen lassen wollte, erschien die Mutter nicht zum vereinbarten Termin am Standesamt. Der Ex-Partner leitete daraufhin ein gerichtliches Vaterschaftsfeststellungsverfahren ein. Die Mutter kam einer gerichtlichen Entscheidung zuvor, mit ihrer Zustimmung erkannte ihr neuer Partner die rechtliche Vaterschaft an. Damit war ein Sorgerecht des biologischen Vaters ausgeschlossen. Ihm steht nur ein sehr eingeschränktes Umgangsrecht zu. Er kann seinen Sohn derzeit nur alle zwei Wochen für jeweils drei Stunden sehen.
Das Oberlandesgericht Naumburg bestätigte, dass der neue Partner der Frau als rechtlicher Vater gelte. Der Mann habe bereits eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind aufgebaut und sogar Elternzeit genommen. In solch einem Fall sei es ausgeschlossen, dass der biologische Vater die rechtliche Vaterschaft des anderen Mannes anfechten könne.
Damit werde jedoch das Elterngrundrecht des biologischen Vaters in verfassungswidriger Weise verletzt, urteilte das Bundesverfassungsgericht nunmehr. Dieses Grundrecht stehe biologischen Vätern auch dann zu, wenn sie nicht rechtliche Väter sind.
Sei ein anderer Mann rechtlicher Vater, „muss dem leiblichen Vater ein Verfahren zur Verfügung stehen, das ihm grundsätzlich die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft ermöglicht“. Dies gelte erst recht, wenn der biologische Vater bereits eine sozial-familiäre Bindung zum Kind aufgebaut oder sich frühzeitig darum bemüht habe. Dem Gesetzgeber sei es nicht verwehrt, beiden die rechtliche Elternschaft zuzuerkennen.
Die Karlsruher Richter kippten eine Bestimmung zur Vaterschaftsanfechtung, die allerdings bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber bis zum 30. Juni 2025 in Kraft bleibt. Bis dahin können Betroffene die Aussetzung ihres bereits eingeleiteten Anfechtungsverfahrens beantragen.
Die Ampel-Koalition hat sich bereits eine Reform des Abstammungs-, Familien- und Sorgerechts vorgenommen. Im Januar präsentierte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) Eckpunkte, wonach leiblichen Vätern die Anerkennung der Vaterschaft erleichtert werden soll - in Konstellationen, in denen die Mutter des Kindes mit einem anderen Mann und nicht dem leiblichen Vater verheiratet ist.
Bislang ist automatisch der Ehemann rechtlich der Vater und selbst bei Einigkeit aller Beteiligten ist ein Scheidungsantrag oder ein aufwendiges Gerichtsverfahren notwendig, um den leiblichen Vater zum rechtlichen Vater werden zu lassen.
Eine Anfechtung soll nach Buschmanns Plänen künftig zudem auch nicht mehr zwingend ausgeschlossen sein, wenn eine sozial-familiäre Beziehung des Kindes zum rechtlichen, aber nicht leiblichen Vater besteht.
Az.: 1 BvR 2017/21
Kassel (epd). Jobcenter müssen tatsächlich angefallene und angemessene Heizkosten voll übernehmen und dürfen sie nicht mit einem Stromkostenguthaben verrechnen. Andernfalls müssten Bürgergeldbezieher einen Teil der vom Jobcenter zu bezahlenden Heizkosten rechtswidrig aus ihrem eigenen Regelbedarf finanzieren, urteilte am 10. April das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.
Im konkreten Fall ging es um ein Ehepaar aus Schleswig-Holstein, das von Dezember 2017 bis Ende 2018 Hartz-IV-Leistungen bezogen haben. Strom für den Haushalt und Gas für die Heizung erhielten sie von ein und demselben Energieversorger. Als dieser von den Klägern eine Heizkostennachzahlung forderte, verrechnete er den Zahlbetrag mit einem bestehenden Stromkostenguthaben, sodass für den Monat Februar 2018 rund 45 Euro zu zahlen waren.
Das Jobcenter Schleswig Flensburg wollte dann nur die vom Energieversorger tatsächlich gemachte Forderung in dieser Höhe bezahlen und nicht den Betrag, der für die Gasheizkosten real angefallen war.
Das Sozialgericht Flensburg urteilte zuvor, dass die Kläger Anspruch auf die Deckung weiterer Heizkostenbedarfe in Höhe von je 92 Euro und rund 25 Euro für Strom zum Betrieb der Heizungsanlage haben. Das Jobcenter dürfe das Stromkostenguthaben nicht mit der Nachforderung beim Gas aufrechnen.
Das BSG verwies nun den Fall wegen fehlerhafter Einkommensberechnung an das Sozialgericht zurück, gab den Klägern aber dem Grunde nach recht. Das Jobcenter müsse die tatsächlich angefallenen Heizkosten in voller Höhe übernehmen, damit der Heizbedarf gedeckt werden kann. Haushaltsenergie, also hier die Stromkosten, seien nach dem Gesetz aus dem Regelbedarf zu finanzieren. Gas und Stromkosten seien getrennt voneinander zu betrachten. Würde das aus dem Regelbedarf finanzierte Stromkostenguthaben auf die Heizkostennachforderung angerechnet, würden die Kläger anstelle des Jobcenters einen Teil dieser Belastungen selbst zahlen, erklärte das Bundessozialgericht.
Az.: B 7 AS 21/22 R
Bremen, Dortmund (epd). Im Prozess um den Tod zweier Bewohner eines Altenpflegeheimes in der Bremer Bahnhofsvorstadt hat das Landgericht der Hansestadt den Angeklagten wegen versuchten Mordes und Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Schwurgericht stellte am 8. April bei dem heute 44-jährigen Altenpflegehelfer außerdem die besondere Schwere der Schuld fest und sprach ein lebenslanges Berufsverbot aus. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz in Dortmund forderte „eine Kultur des Hinschauens“.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, eine Revision der Verteidigung ist wahrscheinlich. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Angeklagten vorgeworfen, dass er im Februar und im April 2019 zwei Pflegeheim-Bewohnern größere Mengen von Medikamenten ohne medizinische Notwendigkeit gegeben und dabei ihre Wehrlosigkeit ausgenutzt hatte. Dabei handelte es sich in einem Fall um eine Überdosis Insulin, im zweiten Fall um das Herzmedikament Metoprolol.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er auf diese Weise Notfälle herbeiführen wollte, um sich anschließend im Kollegium als Retter profilieren zu können. Das Vorgehen erinnert insofern an den Serienmörder Niels Högel, der 2019 vom Landgericht Oldenburg wegen 85-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er hatte Patienten mit Medikamenten vergiftet, um sie anschließend reanimieren zu können.
Im Bremer Fall blieb es bei der Insulin-Überdosis bei versuchtem Mord, weil nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass der Bewohner daran gestorben war. Bei der Vergiftung durch Metoprolol stand das nach Auffassung des Schwurgerichts außer Frage.
Mit Blick auf das Pflegeheim insgesamt kritisierte der Vorsitzende Richter Björn Kemper in seiner Urteilsbegründung gravierende Missstände, die zum Tatzeitraum in der Pflege der Einrichtung geherrscht hätten. Der Angeklagte war als Mitarbeiter einer Zeitarbeitsfirma in dem Haus beschäftigt.
Vorstand Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz warnte, Einzeltäter hätten in der Pflege leichtes Spiel, denn hier gehörten Krankheit und Tod zum Alltag. „Deshalb braucht es in Kliniken und Heimen eine Kultur des Hinschauens und bundesweit für alle Einrichtungen externe Whistleblower-Systeme. Dabei ist jeder gefragt, vom Pflegehelfer bis zur Geschäftsleitung.“ Ebenso müsse der Einsatz von Künstlicher Intelligenz geprüft werden. Algorithmen könnten helfen, Auffälligkeiten im Schichtsystem zu identifizieren.
Brysch ergänzte, überdies sei eine lückenlose, standardisierte und elektronische Kontrolle der Medikamentenabgabe notwendig. Amtsärztliche qualifizierte Leichenschauen seien verbindlich vorzuschreiben. „Es wird Zeit, dass in allen Ländern endlich Schwerpunktstaatsanwaltschaften und zentrale Ermittlungsgruppen für Delikte in Pflege und Medizin eingerichtet werden.“
Unabhängig von einer Revision ist es sehr wahrscheinlich, dass gegen den Bremer Pflegehelfer weiter prozessiert wird. So liegen dem Gericht nach Aussage seines Sprechers zwei weitere Anklagen aus früheren Jahren vor, die noch geprüft werden. Dabei gehe es um zwölf Taten, darunter auch um drei Todesfälle.
Der Mann stand nicht zum ersten Mal vor Gericht. Er wurde bereits 2020 vom Bremer Landgericht wegen zwei ähnlicher Fälle verurteilt. Allerdings überlebten die betroffenen Bewohnerinnen damals. Die Opfer waren ebenfalls wehrlos: Eine der beiden Frauen war zur Tat 92 Jahre alt, nahezu blind und dement. Die andere war 75 Jahre alt und konnte nach einem früheren Schlaganfall nur noch über Laute kommunizieren.
Az.: 21 Ks 250 Js 60302/19
Berlin (epd). Das Landgericht Berlin hat am 8. April in einem Sterbehilfe-Fall einen pensionierten Arzt wegen Totschlags zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der 74-jährige Mediziner hatte im Juli 2021 einer 37-jährigen, unter Depressionen leidenden Frau todbringende Medikamente zur Verfügung gestellt.
Aus Sicht des Gerichts war die Frau wegen ihrer Krankheit nicht in der Lage, frei verantwortlich zu handeln. Eine objektive Abwägung des Für und Wider ihrer Suizidentscheidung sei nicht mehr möglich gewesen. Der Mediziner habe deshalb die Grenzen des Zulässigen überschritten. Das Gericht hielt den pensionierten Hausarzt wegen mittelbarer Täterschaft für schuldig. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Revision ist möglich.
Der Angeklagte hatte eingeräumt, der Patientin zunächst im Juni 2021 auf deren Wunsch hin todbringende Tabletten zur Verfügung gestellt zu haben. Diese erbrach die Frau aber und überlebte. Daraufhin wurde sie den Angaben zufolge zunächst in ein Krankenhaus eingeliefert und anschließend in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht.
Bereits während ihrer Unterbringung habe sie erneut Kontakt zu dem Angeklagten aufgenommen. Obwohl die Kranke schwankend in ihrem Entschluss zu sterben gewesen sei, habe der Angeklagte ihr dann knapp drei Wochen nach dem ersten Suizidversuch, unmittelbar nach Entlassung aus der Psychiatrie, eine Infusion mit einer tödlichen Dosis eines Medikaments gelegt. Die Frau habe die Infusion durch Aufdrehen des Rädchens selbst in Gang gesetzt und sei binnen Minuten gestorben.
Az.: 540 Ks 2/23
Nürnberg (epd). Einem behinderten Flüchtlingskind darf der erforderliche Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte wegen dessen Herkunft aus der Ukraine nicht verweigert werden. Denn es ist davon auszugehen, dass sich ukrainische Flüchtlinge voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten und sie damit Anspruch auf heilpädagogische Maßnahmen im Rahmen der Eingliederungshilfe haben, entschied das Sozialgericht Nürnberg in einem am 2. April veröffentlichten Beschluss.
Im konkreten Fall ging es um eine ukrainische Mutter mit ihren beiden Töchter, die wegen des russischen Angriffskriegs im März 2022 nach Deutschland geflohen waren. Bei der Antragstellerin, der jüngeren Tochter, besteht eine Trisomie 21. Das Kind besucht vormittags eine Förderschule. Wegen eines „erhöhten sonderpädagogischen Förderbedarfs“ empfahl eine Gutachterin auch den nachmittäglichen Besuch der an der Schule angeschlossenen heilpädagogischen Tagesstätte.
Der zuständige Eingliederungshilfeträger lehnte ab. Denn bei der Mutter und ihren Töchtern sei nur von einem vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland auszugehen. Ausländer könnten dann aber nur im Einzelfall Eingliederungshilfe erhalten. Hier sei der Förderbedarf des Kindes durch den Schulbesuch gedeckt.
Die Mutter, die in Deutschland als Dolmetscherin arbeitete, führte ohne Erfolg an, dass ohne Besuch der Tagesstätte die vollständige soziale Integration ihrer Tochter gefährdet sei.
Das Sozialgericht gab ihnen recht und verpflichtete den Eingliederungshilfeträger bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die erforderlichen Hilfen zur Teilhabe an Bildung und damit auch die heilpädagogischen Maßnahmen, zu gewähren. Nach dem Gesetz könnten Ausländer in Deutschland Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt sei. Keine Einschränkung bestehe aber für Ausländer mit einer Niederlassungserlaubnis oder einem befristeten Aufenthaltstitel, sofern sie sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten.
Dies sei hier der Fall. Angesichts des ungewissen Endes des Russland-Ukrainekrieges sei mit einem dauerhaften Aufenthalt der Familie in Deutschland zu rechnen. Dieser Prognose stehe auch nicht entgegen, dass Mutter und Töchter nur über einen befristeten Aufenthaltstitel verfügen. Hinzu komme, dass die Mutter angesichts ihrer sehr guten Deutschkenntnisse und ihrer beruflichen Qualifizierung einen Aufenthaltstitel zum Zweck der Erwerbstätigkeit anstrebe.
Az.: S 13 SO 166/23 ER
Berlin (epd). Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz hat erstmals einen Armutsbeauftragten ernannt. Die Aufgabe übernimmt der langjährige Armutsbeauftragte des Kirchenkreises Neukölln und des Diakoniewerkes Simeon, Thomas de Vachroi. Der 64-Jährige sagte anlässlich seiner Berufung in Berlin, es sei wichtig, Armut in den Vordergrund zu stellen und nicht mehr als Schande zu sehen.
Der evangelische Berliner Bischof Christian Stäblein würdigte Vachroi als jemanden, „der mit unterschiedlichsten Menschen kann“. Armut sei ein strukturelles Phänomen, das immer wieder sichtbar gemacht werden müsse. Das treffe im Besonderen auf Kinderarmut zu. Ohne eine klare, deutlich vernehmbare Stimme verschwinde das Problem aus dem Bewusstsein.
Thomas de Vachroi leitet seit 2011 eine barrierefreie Wohnanlage des Diakoniewerkes Simeon, das Haus Britz. In dieser Funktion unterstützt er auch die Tee- und Wärmestube Neukölln und engagiert sich für Obdach- und Wohnungslose. Seit 2017 ist er Armutsbeauftragter des Diakoniewerkes Simeon, seit 2021 auch des Kirchenkreises Neukölln.
Aus dieser Position heraus versuche er, die Lage der wohnungslosen Menschen durch Vernetzung mit dem Bezirk, mit kirchlichen und sozialen Trägern zu verbessern, sagte Vachroi. Dabei verstehe er sich als Ansprechpartner sowohl für Betroffene und Helfende sowie als Dialogpartner für die Politik. Er wolle insbesondere den Dialog mit den Landesregierungen von Berlin und Brandenburg ausbauen, sagte der Armutsbeauftragte weiter. Dabei verwies er darauf, dass die Zahl der obdachlosen und wohnungslosen Menschen steige. Vor diesem Hintergrund sei es vorrangiges Ziel, Wohnraum zu finden. Dafür sei auch die Hilfe von Wirtschaftsverbänden nötig.
Vachroi betonte, das Niveau der Armut in Deutschland sei nicht tragbar. Überdies mangele es an Aufklärung. „Es ist wichtig, bereits in den Grundschulen über Armut und Migration zu sprechen.“ Es müsse erklärt werden, was es bedeute, arm und in Not zu sein. Vachroi forderte überdies die Berufung von Armutsbeauftragten in allen Landeskirchen, da das Phänomen regional sehr unterschiedlich sei.
Der Geschäftsführer des Diakoniewerkes Simeon, Oliver Unglaube, sagte zur Ernennung des Armutsbeauftragten der Landeskirche, es brauche jemanden, „der immer wieder den Finger in die Wunde legt“. Vachroi werde künftig nicht nur nach innen in die kirchlichen Gremien wirken, sondern seine Stimme auch nach außen als Lobbyist erheben.
Vergangenes Jahr wurde der im sächsischen Meerane geborene Vachroi für sein Engagement von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geehrt und zum Neujahrsempfang des Staatsoberhauptes in das Schloss Bellevue eingeladen. Er wurde als Krankenpfleger und später als Heimleiter und Kaufmann im Gesundheitswesen ausgebildet. Wegen Verbreitung staatsfeindlicher Schriften verbrachte er zwischen 1980 und 1986 eine Haftstrafe in der damaligen DDR, um im Anschluss nach Westdeutschland abgeschoben zu werden.
Andreas Becker hat die Leitung des Arbeitsbereiches Altenarbeit und Pflege und die Geschäftsführung des Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflegerische Dienste (EVAP) in der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz übernommen. Der Diplom-Sozialpädagoge folgt auf Friederike von Borstel, die zum Februar 2024 in den Ruhestand getreten ist. Becker war zuletzt als Referent für Hospize, Palliativpflege und Angebote für ältere Menschen im EVAP tätig. Zuvor war er Sozialberater bei der Stiftungsfamilie Bahn-Sozialwerk und Eisenbahn-Waisenhort. Von 2011 bis 2013 war er Sozialarbeiter im ProCurand Pflegeheim Berlin.
Ursula Störrle-Weiß ist nach gut vier Jahren als stellvertretende Geschäftsführerin des Agaplesion Diakonieklinikums Hamburg zur Geschäftsführerin aufgestiegen. Seit Monatsbeginn hat sie das Amt inne und wird die Geschicke des Hauses künftig mit Geschäftsführer Jörn Wessel lenken. Vorstandschef Markus Horneber, sagte, sie sei ein „versierte Krankenhausmanagerin mit großem Know-how“. Störrle-Weiß ist ausgebildete Apothekerin und hat ein MBA-Studium in Health Care Management absolviert. Vor ihrem Einstieg bei Agaplesion leitete sie als Geschäftsführerin die ambulanten Geschäftsfelder des Medizinischen Versorgungszentrums eines Hamburger Klinikums. Das Haus liegt in Hamburg-Eimsbüttel und verfügt über 388 Betten. Rund 1.000 Beschäftigte versorgen laut Agaplesion jährlich 19.000 Patienten stationär und 23.000 ambulant.
Karl-Josef Laumann (CDU) ist mit dem diesjährigen Regine-Hildebrandt-Preis der Bielefelder Stiftung Solidarität ausgezeichnet. Der nordrhein-westfälische Sozialminister wurde von der Stiftung als Initiator des bundesweit einmaligen Landesförderprogramms „Gemeinsam gegen Armut“ gewürdigt. Laumann stellt das Geld des Preises im Wert von 10.000 Euro der Hilfsorganisation Stützpfeiler.org zur Verfügung, die damit unter anderem einen Kältebus für Obdachlose finanziert. Die schwarz-grüne Landesregierung hatte im vergangenen Jahr das Förderprogramm „Stärkungspakt NRW - gemeinsam gegen Armut“ aufgelegt. Kommunen in Nordrhein-Westfalen konnten rund 150 Millionen Euro zur Unterstützung von Menschen, die etwa durch hohe Inflation und steigende Energiepreise in sozialen Notlagen geraten sind, abrufen. Die Mittel aus dem NRW-Stärkungspakt gegen Armut waren im November 2023 weitgehend ausgeschöpft.
Anne Kristina Vieweg (42) ist neue Geschäftsführerin des Verbandes der Privaten Krankenversicherung (PKV). Sie übernimmt die Leitung des Geschäftsbereichs Pflege von Andreas Besche (65), der in den Ruhestand geht. Vieweg betreut beim PKV-Verband bereits seit 2011 die pflegepolitischen Themen, zuletzt als Stellvertreterin des Geschäftsführers. Die in Wuppertal aufgewachsene Volljuristin ist Expertin für Pflegeversicherungsrecht.
Richard Auernheimer, ehemaliger rheinland-pfälzischer Sozialstaatssekretär, ist tot. Er starb im Alter von 81 Jahren. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) äußerte sich tief betroffen über den Tod ihres langjährigen Weggefährten. Er habe sich um die Verbesserung der Situation behinderter Menschen verdient gemacht und „maßgeblich zur Schaffung des Landesgesetzes zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen beigetragen“. In den Jahren nach der Jahrtausendwende hatte Rheinland-Pfalz eine bundesweite Vorreiterrolle bei der Inklusionspolitik übernommen. Der promovierte Philosoph war seit 1990 war im Landessozialministerium tätig, ab 1999 als Staatssekretär und Landesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderung unter dem damaligen Minister Florian Gerster (SPD) und bis zu seiner Pensionierung 2007 auch unter dessen Nachfolgerin Dreyer.
17.4. Mannheim:
Grundlagenseminar „Arbeitsrecht für Führungskräfte“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
22.-24.4. Mülheim an der Ruhr:
Fortbildung „Häusliche Gewalt erkennen - Professionell handeln“
Tel.: 030/26309-139
23.4.:
Online-Fortbildung „Hinweisgeberschutzgesetz - Die Pflicht zur Umsetzung aus datenschutzrechtlicher Sicht“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
25.4.:
Online-Seminar „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“
der Akademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0174/3154935
26.4. Berlin:
Fachkongress „Frühkindliche Medienbildung“
der Stiftung digitale chancen und der Stiftung Ravensburger Verlag
Tel.: 030/437277-41
29.4. Nürnberg:
Seminar „Schlanke Prozesse in Einrichtungen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft“
der Akademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/2883106
Mai
2.5.-5.12.:
Webinar-Reihe „Nachhaltigkeit in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft“
Tel.: 0221/98817-0
6.-8.5. Freiburg:
Fortbildung „Fach- und Führungskräfte als Vermittelnde bei Konflikt und Mobbing“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
8.5.:
Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Kinder- und Jugendhilfe“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/2758282-27
13.5. Berlin:
Basiskurs (mehrteilig) „Organisationen systemisch gestalten und entwickeln“
der Akademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
14.-15.5. Fulda:
Seminar „Arbeitszeit, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
22.-24.5. Frankfurt a.M.:
Fortbildung „Aufsuchen anstatt Abwarten - Grundlagen Streetwork“
der Akademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0174/3154935
24.5. Köln:
Seminar „Pflegesatzverhandlungen in der stationären Altenhilfe - Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“
der Solidaris Unternehmensberatung
Tel.: 02203/8997-519