Berlin (epd). Das Ausscheiden der Babyboomer-Generation aus dem Job könnte künftig die Situation der beruflichen Pflege verschärfen. Der neue DAK-Pflegereport belegt, dass bereits in fünf Jahren in den ersten Bundesländern die professionelle Pflegeversorgung wegen Fachkräftemangels auf der Kippe steht. „Die soziale Pflegeversicherung droht ihre Funktionsfähigkeit zu verlieren“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm am 9. April bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Wir brauchen eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung, um die Pflege mit neuen Versorgungskonzepten zukunftsfähig zu machen.“
Doch damit, rügte Storm, sei in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Die Ampel sei aufgrund unterschiedlicher Positionen offensichtlich nicht in der Lage, sich auf eine grundlegende Reform der sozialen Pflegeversicherung zu verständigen. Er gehe deshalb nicht davon aus, dass das Bundesgesundheitsministerium, wie angekündigt, am 31. Mai Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der Pflegeversicherung vorlege.
Das Problem der nahen Zukunft: Immer mehr Pflegebedürftige und beständig abnehmende Personalressourcen strapazieren das Versorgungssystem. Mit den nahenden Renteneintritten der geburtenstarken Jahrgänge zwischen Ende der 50er und Mitte der 60er Jahre werde auch die Zahl der Pflegefachkräfte signifikant sinken - und zugleich die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich anwachsen.
In der Pflegeversorgung drohen in den meisten Bundesländern bei der Personalversorgung schon zum Ende dieses Jahrzehnts „Kipppunkte“, an dem der Pflegenachwuchs die altersbedingten Berufsaustritte der Baby-Boomer nicht mehr auffangen kann. In Bremen und Bayern wird das den Berechnungen zufolge bereits 2029 der Fall sein. Zu vermeiden seien diese Engpässe nur, wenn weiterhin genügend Nachwuchskräfte gefunden würden und die Ausbildungszahlen nicht wieder sänken. „Aufgrund des sehr lokal geprägten Arbeitsmarktes variieren die Kipppunkte stark auf der Landkreis- und städtischen Ebene innerhalb der Bundesländer“, sagte Studienautor Thomas Klie vom Freiburger Sozialforschungsinstituts AGP. Selbst in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Thüringen, die rechnerisch weiterhin über eine Personalreserve verfügten, sei der Arbeitsmarkt praktisch leer gefegt.
Laut DAK-Pflegereport müssen in den nächsten zehn Jahren fast in jedem Bundesland 20 Prozent Pflegepersonal ersetzt werden. Der Bedarf variiert zwischen 19,7 Prozent in Sachsen und 26,5 Prozent in Bremen. Dieser Ersatzbedarf beschreibt dabei ausschließlich, wie groß die Lücke netto ist. Der tatsächliche Bedarf dürfte vor dem Hintergrund einer kontinuierlich wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen noch weitaus größer sein. „Wir schätzen, dass in den nächsten 25 Jahren rund 2,3 Millionen Menschen mehr als heute auf pflegerische Unterstützung angewiesen sein werden“, sagte Klie.
Die Daten seien besorgniserregend, so Klie: „Für 2025 liegt die Prognose bei 9.664 Renteneintritten, denen 36.004 Berufseinsteiger gegenüberstehen. Das entspricht einer Arbeitsmarktreserve von 2,0 Prozent.“ Bis 2030 sinkt sie laut Knie jedoch auf 0,5 Prozent ab.
Auch finanziell ist die Pflegeversicherung unter Druck: Die DAK-Gesundheit rechnet spätestens im Jahr 2025 mit einem weiteren Anstieg der Beiträge für die gesetzliche Pflegeversicherung. Bereits für das vierte Quartal 2024 zeichneten sich deutliche Finanzierungslücken ab, „die voraussichtlich Beitragssatzerhöhungen noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr erforderlich machen“, heißt es in dem Bericht. Die DAK geht von einer Steigerung um 0,2 Prozentpunkte aus.
Das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im vergangenen Jahr abgegebene Versprechen einer zumindest kurzfristigen Stabilisierung der Pflegefinanzen bis zum Ende der laufenden Wahlperiode sei wohl nicht mehr zu halten", sagte Storm. Nach seinen Worten ist die gesetzliche Vorgabe, eine Monatsausgabe aller Pflegekosten als finanzielle Mindestreserve vorzuhalten, nicht mehr gewährleistet.
Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) betonte, man werde nie wieder so viel Pflegepersonal zur Verfügung haben wie jetzt. Aber entgegen dem, was der Begriff „Kipppunkt“ suggeriere, sei die Versorgungskrise abwendbar, sagte Präsident Thomas Greiner in Berlin. Er forderte einen flexibleren Personaleinsatz in der Altenpflege.
Eugen Brysch, der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, forderte, bevor über eine weitere Beitragserhöhung nachgedacht werde, müsse die Pflegeversicherung erst von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden. Dann stünden immerhin zusätzlich sieben Milliarden Euro für die Pflege der fünf Millionen betroffenen Menschen zur Verfügung.
Der Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), Bernd Meurer, sagte, die generalistische Pflegeausbildung müsse endlich ideologiefrei auf den Prüfstand. „Die eigenständige Altenpflege hat innerhalb von zehn Jahren für einen Zuwachs von mehr als 60 Prozent gesorgt. Warum glaubt die Politik, auf diesen Jobmotor inzwischen verzichten zu können?“