nicht nur alte Menschen sind einsam. Gefährdet sind laut Experten auch junge Menschen am Anfang ihres Berufslebens und Studierende. „Sie ziehen sich stärker zurück“, sagt die Psychologie-Professorin Maike Luhmann. Sie sieht dieses Verhalten auch als Folge zunehmender Online-Aktivitäten. Der 73-jährige Werner Köhler sagt über seine Nachbarn: „Die schauen alle nur auf ihr Handy.“ Das Gefühl der sozialen Isolation hat Studien zufolge massiv zugenommen - und es macht krank.
Der Arbeitsmarktforscher Ulrich Walwei sieht zwar durch den Arbeitskräftemangel "die Marktmacht von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen verbessert„. Dennoch bräuchten Menschen mit unsicheren oder gering entlohnten Jobs “weiterhin besondere Aufmerksamkeit und arbeitsmarktpolitische Förderung", sagt der Vizedirektor des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit im Interview. Es sei schwer, Menschen aus ihrer prekären Lage herauszuführen, unterstreicht der Nürnberger Experte.
Die junge Frau macht einen ungewöhnlichen Job: Selly Demirok arbeitet als Security-Kraft im „Kontaktladen Mecki“ der Diakonie am Rande von Hannovers Innenstadt. Die Aufgabe der türkisch-stämmigen Frau ist es, bei Konflikten unter Besuchern des Tagestreffs deeskalierend einzugreifen und auch Drogenkonsum in den Räumen zu unterbinden. Zu ihrer eigenen Sicherheit ist sie mit einer Stichschutz-Weste ausgestattet. Körperliche Gewalt setzt die geschulte Security-Frau nur im Notfall ein.
Zugelassene private Pflegeeinrichtungen haben nach einem Urteil des Bundessozialgerichts Anspruch auf eine „angemessene und realistische Gewinnchance“. An diesem Maßstab müssen sich Schiedsstellen in der Pflegebranche bei der Festsetzung von Entgelten orientieren. Außerdem ist ein Vergleich mit den Sätzen anderer Einrichtungen erforderlich.
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Ihr Markus Jantzer
Hannover (epd). Werner Köhler (Name geändert) hat sich schick gemacht: Unter seinem Blazer trägt er ein weinrotes Hemd mit Pullunder, der Knoten der grau-rot gestreiften Krawatte sitzt perfekt, ebenso das Einstecktuch. Er bestellt Kaffee und Quarkbällchen, lächelt und beginnt zu erzählen. Von seinem Leben - und seiner Einsamkeit. Zwischendurch hält er inne. „Ich hoffe, ich rede nicht zu schnell“, sagt er. „Wenn man sonst niemanden zum Reden hat, will man viel unterbekommen.“
Köhler ist einsam, schon lange. Der Hannoveraner ist seit zwölf Jahren Rentner, nicht verheiratet, kinderlos. Zu seinen Eltern hatte er ein inniges Verhältnis, auch zu Tante und Onkel, zu seiner ganzen Familie. Aber von ihnen lebt niemand mehr. Es gibt einen alten Schulfreund: „Den treffe ich manchmal.“
So wie dem 73-Jährigen geht es vielen Menschen. Einer wiederkehrenden repräsentativen Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge waren in Deutschland 2017 rund 14 Prozent der Menschen zumindest gelegentlich einsam, 2021 sagten das 42,3 Prozent über sich. Pandemie und Lockdowns verstärkten das Problem.
Einsamkeitsgefühle würden vor allem junge Erwachsene sowie Senioren kennen, erklärt das „Kompetenznetz Einsamkeit“, das vor rund einem Jahr gegründet wurde und vom Bundesfamilienministerium im Rahmen einer „Strategie gegen Einsamkeit“ gefördert wird. Besonders gefährdet seien Menschen in Übergangssituationen wie dem Einstieg in die Ausbildung oder die Rente. Ferner litten Singles, Alleinerziehende, Migranten sowie arme, kranke und sehr alte Menschen häufiger unter Einsamkeit als andere.
Die Folgen sind gravierend. Chronische Einsamkeit erhöht dem WDR-Wissenschaftsmagazin Quarks zufolge unter anderem die Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Angsterkrankungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Demenz. „Soziale Isolation wirkt sich negativer auf die Gesundheit aus als Rauchen, Alkohol und Fettleibigkeit“, schreibt sogar Yvonne Wilke, Expertin für Alter und Einsamkeit beim Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main, in einer Analyse für das „Kompetenznetz Einsamkeit“.
Corona und digitale Kommunikation haben nach Einschätzung von Theologin Helene Eißen-Daub die Einsamkeit in der Gesellschaft verstärkt. „Die Menschen haben verlernt, von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren, soziale Phobien nehmen zu“, sagt die Pastorin, die in Hannover für den kirchlichen Besuchsdienst zuständig ist. Einsamkeit sei ein Tabuthema und werde oft nur zufällig entdeckt, etwa wenn Kirchenmitarbeiterinnen und Kirchenmitarbeiter zu einem Geburtstag gratulierten. „Kaum einer gibt zu, dass er einsam ist, vor allem die ältere Generation hat verinnerlicht, sich selbst und ihre Bedürfnisse nicht so wichtig zu nehmen.“
Werner Köhler möchte über seine Einsamkeit reden, er möchte sie verstehen. Die digitalen Medien sind auch für ihn Teil einer Erklärung. Er wohne seit Kindertagen im gleichen Haus, aber die Menschen kenne er nicht mehr, sagt er: „Die schauen alle nur auf ihr Handy.“ Früher habe man viel mehr miteinander gesprochen, da sei immer mal jemand vorbeigekommen. Ein Schnack auf der Straße, im Treppenhaus, das alles gebe es nicht mehr. „Die Menschen sind in Eile und gleichgültig.“
Menschen kennenlernen, Freundschaften schließen - das geschieht oft im beruflichen Umfeld. Köhler hat als Großhandelskaufmann und Betriebswirt gearbeitet. Warm geworden ist er mit seinem Beruf nie. „Ich bin nicht der Typ, der die Ellbogen ausfährt oder sich anbiedert.“ Etwas Handwerkliches wäre vielleicht eher was für ihn gewesen. „Das habe ich aber zu spät gemerkt.“
Psychologie-Professorin Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum definiert Einsamkeit als „eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen“. Dass unter diesem Gefühl auch junge Menschen leiden, bestätigt Reinhard Mack, Leiter der psychotherapeutischen Beratungsstellen des Deutschen Studierendenwerkes. „Unser Eindruck ist, dass Studierende weniger aufeinander bezogen sind, sich mehr zurückziehen“, sagt er.
Mack verweist außerdem auf Erfahrungen aus den Wohnheimen: Der Wunsch nach Einzelappartements nehme zu - die Bereitschaft, sich in Wohngemeinschaften zu engagieren, dagegen ab. Den digitalen Wandel sieht auch Mack in diesem Zusammenhang kritisch. Der Vergleich mit anderen durch Social Media, „die vermeintlich toller leben, besser im Studium und überall beliebt sind“, verstärke das Problem. „Viele meinen, nicht mithalten zu können und wählen den Rückzug.“
Einsamkeit ist nicht allein ein deutsches Problem. Japan hat vor zwei Jahren einen Minister für Einsamkeit und soziale Isolation ernannt, in Großbritannien existiert seit 2018 eine nationale Strategie gegen Einsamkeit, auch die WHO will sich dem Thema „Social Connection“ widmen.
Eine charmante Idee stammt aus den Niederlanden: Eine Supermarktkette hat in ihren Filialen „Chat-Kassen“ für einsame Menschen eingerichtet. An den Plauderkassen, die es inzwischen auch als Pilotprojekt im bayrischen Schweinfurt gibt, darf an der Kasse geklönt werden. So wie früher im Tante-Emma-Laden - Werner Köhler wäre hier sicher gerne Stammkunde.
Berlin (epd). Wer sich einsam fühlt und Hilfe sucht, kann aus verschiedenen Angeboten wählen. Im Folgenden eine Auswahl des „Kompetenznetzwerks Einsamkeit“ der Bundesregierung:
KRISENCHAT.DE: krisenchat.de bietet kostenfreie Beratung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren via Chat an. Sie können sich ohne Anmeldung und Registrierung rund um die Uhr über WhatsApp und SMS an ehrenamtlich tätige, psychosoziale Fachkräften wenden. krisenchat.de berät auch auf Ukrainisch und Russisch.
NUMMER GEGEN KUMMER: Die Nummer gegen Kummer berät kostenlos und anonym sowohl Kinder und Jugendliche als auch Eltern. Das Telefon für Kinder und Jugendliche ist unter 116111 von Montag bis Sonnabend zwischen 14 und 20 Uhr erreichbar, das Telefon für Eltern unter 0800/1110 550 montags, mittwochs, freitags von 9 bis 17 Uhr sowie dienstags und donnerstags von 9 bis 19 Uhr.
SILBERNETZ: Silbernetz bietet Menschen ab 60 Jahren anonym und kostenlos täglich von 8 bis 22 Uhr unter 0800/4708090 ein offenes Ohr. Für einen tiefergehenden telefonischen Kontakt gibt es „Silbernetz-Freundschaften“: Interessierte Seniorinnen und Senioren werden mit Ehrenamtlichen vernetzt, die dann einmal pro Woche für ein persönliches Telefongespräch anrufen.
REDEZEIT FÜR DICH: Redezeit für Dich ist eine Plattform mit mehr als 350 ausgebildeten ehrenamtlichen Coaches, Therapeuten und Psychologen, die Menschen wertfrei und kostenlos zuhören. Sie unterstützen bei Belastungen wie Unsicherheiten, Selbstzweifeln, Einsamkeit, Wut, Hilflosigkeit, Frust, Unruhe und Überforderung. Die Zuhörenden verstehen und sprechen Deutsch sowie diverse Fremdsprachen.
U25: U25 ist ein kostenfreies Online-Hilfsangebot für Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren in suizidalen Lebenskrisen. Die Beratung erfolgt ausschließlich anonym per Mail im Caritas-Beratungssystem durch ehrenamtliche Gleichaltrige („Peerberater“). Unterstützt werden die Ehrenamtlichen durch pädagogische Fachkräfte.
JUGENDNOTMAIL.DE: Auf jugendnotmail.de können Kinder und Jugendliche von ihren Sorgen berichten - vertraulich, kostenlos und datensicher. Rund 230 ehrenamtliche Psychologen und Sozialpädagogen mit Zusatzausbildung beantworten die Notrufe der jungen Menschen per Mail und Chat.
PSYCHOLOGISCHE BERATUNG DER STUDIERENDENWERKE: Die Psychologische Beratung der Studierendenwerke hilft Studierenden, die sich einsam fühlen oder anderweitige Probleme haben, auf lokaler Ebene. Der Dachverband der Studierendenwerke bietet im Netz eine Suchfunktion für Beratungsangebote in 46 Städten.
TELEFONSEELSORGE: Die Telefonseelsorge Deutschland ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Sie bietet allen Menschen in jeder Lebenssituation bei Problemen und Krisen Hilfe an. Die Telefonnummern sind 0800/1110111, 0800/1110222 und 116 123. Auch ein Kontakt per Chat und E-Mail ist möglich: www.telefonseelsorge.de
Frankfurt a.M. (epd). Mila Köhler (Name geändert) versteht bis heute nicht, wieso jeder weggesehen hat, als ihre Mutter sie Jahre lang misshandelt hat. „Niemand hätte gedacht, dass die kleine, charmante Frau so aggressiv sein kann. Meine Mutter wurde von jedem gemocht“, erinnert sich Köhler.
Die heute 32-jährige Tochter aus dem Ostalbkreis, die anonym bleiben möchte, erinnert sich: „Ich war sieben Jahre alt, als meine Mutter sich von meinem Vater scheiden ließ.“ Ihre Mutter zog mit ihrem neuen Lebensgefährten von Bayern nach Ostholstein. Dort habe der Psychoterror begonnen. „Ich wurde als Ventil benutzt. Ich war nur da, um Frust abzulassen“, sagt die Studentin. Sie wurde geschlagen und gedemütigt. „Das Leben bestand aus Hausarrest, Umzügen und Mobbing in der Schule“, resümiert sie. Im Alter von neun Jahren wollte sie sich zum ersten Mal umbringen. „Zu diesem Zeitpunkt fing auch meine Borderline-Persönlichkeitsstörung an.“
Im Jahr 2020 gab es laut Bundeskriminalamt nachweislich fast 5.000 Opfer von Kindesmisshandlung in Deutschland. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher.
Die psychischen Misshandlungen zogen sich bei Mila Köhler bis zu ihrem 18. Lebensjahr durch. Hinzu kamen Essensstrafen. „Manchmal durfte ich mehrere Tage lang nichts essen“, sagt sie. Wenn ihre Mutter mit ihrem Freund wegfuhr, habe sie sogar die Türklinke von der Küchentür entfernt.
Im Alter von 19 Jahren entwickelte sie eine Binge Eating-Störung und erreichte mit dem damit verbundenen exzessiven, übermäßigen Essen ein Gewicht von 125 Kilogramm. Doch es blieb nicht bei den Essensstrafen. „Ich erfuhr Körperverletzungen und Missbrauch.“ Mit 15 kamen selbstverletzendes Verhalten sowie Selbstmordversuche und Alkoholmissbrauch hinzu. Ein aktueller Arztbericht über die psychosomatischen Diagnosen der jungen Frau sowie ihr richtiger Name liegen der Redaktion vor.
Der Kassler Diplom-Psychologe Klaus Ritter ist Experte auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Fälle wie die von Köhler sind für ihn keine Seltenheit. „Psychische und körperliche Misshandlung haben schwerwiegende Auswirkungen auf die weitere Lebensführung des Kindes“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) und erklärt weiter: „Die Erfahrung zeigt: Das Risiko für die Entwicklung von psychischen Störungen ist um ein Vielfaches höher als bei normal entwickelten Kindern.“
Das liege an der unsicheren Bindungsstruktur des Kindes. Konkret bedeutet das: „Es fällt ihm häufig schwer, beständige und vertrauensvolle Bindungen einzugehen.“ Enttäuschungen und Konflikte können nicht ausreichend bewältigt werden. Das drücke sich häufig in Suchterkrankungen, Persönlichkeits- und Essstörungen aus.
Mila Köhler berichtet, ihre Großmutter, der sie sich anvertraut habe, habe mehrmals das Jugendamt kontaktiert, um ihrer Tochter Einhalt zu gebieten. Ohne Erfolg. „Wenn die Mitarbeiter des Jugendamts kamen, suchte meine Mutter ihr bestes Geschirr heraus und kochte festliches Essen. Mich schminkte sie und machte mir meine Haare“, sagt die 32-Jährige. Zudem wurde ihr gedroht. „Sie sagte mir: Wenn ich mich nicht vorbildlich benehme, würden sie mich mitnehmen und ins Heim schicken, wo ich von Kinderhändlern abgeholt werde.“
Das Jugendamt habe sich blenden lassen. „Sie haben nie das Gespräch mit mir allein gesucht“, kritisiert Köhler. In den Berichten hieß es, von ihrer Mutter gehe keine Gefahr aus. Das Kind habe es gut.
Als Jugendliche, berichtet Köhler, habe sie sich der Mutter einer Freundin anvertraut. „Sie wusste es nicht besser und ging zu meiner Mutter, suchte das Gespräch“, sagt sie. „Sie teilte mir mit, dass sie mit meiner Mutter gesprochen habe und nun denke, dass ich lüge. Eine Mutter könne nicht so sein“, sagt sie.
Für Ritter ein weiteres Problem. „Das Gefühl, mit den eigenen Beschwerden in der Kindheit nicht ernst genommen zu werden, kann zu einer Verstärkung der psychischen Probleme im Erwachsenenalter beitragen“, sagt er. Besonders emotionaler Missbrauch, der ohne äußere Gewalt auftrete, werde von Fachkräften oder Bezugspersonen des Kindes häufig nicht erkannt.
Nach dem Vorfall bezog sie zu Hause Prügel. Ihre Mutter habe sie am Hals gepackt und gegen die Tür gedrückt, bis sie keine Luft mehr bekommen habe. „Sie drückte so fest zu, dass alles vor meinen Augen verschwamm“, sagt Köhler. Plötzlich habe sich der Griff gelöst. „Meine Mutter fing an zu lachen und äffte mich nach. Mein Stiefvater, der im Hintergrund alles sah und auf dem Sofa saß, fing ebenso an zu lachen. Sie machten sich über mich lustig“, erzählt die junge Frau.
„Wie auf Autopilot ging ich in mein Zimmer, legte mich ins Bett und starrte die Wand an, bis ich irgendwann einschlief“, sagt sie. In ihren Ohren hallte der Bericht des Jugendamts wider, in dem es hieß, von ihrer Mutter gehe keine Gefahr aus.
Nürnberg (epd). Die Lage von Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist regelmäßig Gegenstand politischer Diskussionen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst erklärt Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, was prekäre Beschäftigung und Biografien sind und welches Ausmaß sie aktuell hat. Die Fragen stellte Susanne Rochholz.
epd sozial: Wie genau definieren Fachleute den Begriff „prekäre Arbeit“?
Ulrich Walwei: Prekäre Arbeit bedeutet einerseits eine unsichere Beschäftigung, weil damit das Risiko besteht, mit Verlust der Arbeit auch die materielle Lebensgrundlage zu verlieren. Wenn das dann auch noch gepaart ist mit niedriger Entlohnung, dann haben wir in aller Regel eine Situation, die man als prekär bezeichnen kann - wobei es immer stark auf den Kontext ankommt: Ist es eine Übergangssituation oder besteht die Konstellation auf Dauer? Denn wenn mit der Zeit ein Aufstieg am Arbeitsmarkt gelingt, dann ist das eine ganz andere Situation als wenn sich eine Person über längere Zeit in einer prekären Situation befindet. Als Zweites sind auch Partnereinkommen von Bedeutung, denn dann muss ein individuell niedriges Einkommen keine prekäre Lebenssituation bedeuten. Ich benutze häufig auch den Begriff der „prekären Biografie“, denn daran muss in jedem Fall gearbeitet werden. Leider gibt es für Deutschland viele Befunde, die zeigen, dass es Schwierigkeiten gibt, Menschen da herauszuführen.
epd: Sie haben keine Verdienst-Schwelle genannt, unter der ein Arbeitsverhältnis als prekär anzusehen ist. Gibt es eine solche Untergrenze?
Walwei: Da steckt der Teufel im Detail. Der Mindestlohn beispielsweise ist auf die Stunde festgelegt - aber trotzdem kann ich in einer schwierigen Einkommenssituation sein, vor allem dann, wenn ich ein Arbeitsverhältnis mit nur wenigen Stunden habe. Das kann mir sogar passieren, wenn ich einen relativ hohen Stundenlohn habe! Deswegen sind Stunden- wie Monatslohn von Bedeutung. Es gibt eine sogenannte Niedriglohnschwelle, die auch in der ganzen Verteilungsdiskussion eine Rolle spielt: Das sind in der Regel Zweidrittel des mittleren Stundenlohns - also etwa 10 Euro. Das heißt, der Mindestlohn von 12 Euro liegt darüber.
epd: In Deutschland gilt ein bundesweit einheitlicher Mindestlohn, egal ob jemand eher günstig in ländlichen Gegenden oder in teuren Ballungsräumen wie München wohnt. Warum?
Walwei: Die Lebenshaltungskosten vor Ort spielen beim bundeseinheitlichen Mindestlohn keine Rolle. Das Wohngeld bietet in solchen Situationen eine gewisse Unterstützung, aber nicht immer einen kompletten Ausgleich! Dazu haben wir vor ein paar Wochen eine Studie gemacht, die das nochmal eindrucksvoll herausarbeitet. Sie zeigt, dass der Mindestlohn in München nicht so viel wert ist wie in Mecklenburg-Vorpommern abseits der großen Touristenorte. Der Autor argumentiert auch in Richtung eines regional gestaffelten Mindestlohnes, der sich stärker an den Lebenshaltungs- und Mietkosten in der jeweiligen Region ausrichtet. Demnach würde Arbeit je nach Region und Lebenshaltungskosten unterschiedlich bezahlt. Wissenschaftlich ist das eine Option, die sich aus der Fragestellung ableitet. Aber die Politik muss natürlich auch andere Aspekte berücksichtigen.
epd: Seit den rot-grünen Arbeitsmarktreformen zu Beginn der 2000er Jahren gibt es die Klage, dass diese Reformen vor allem einen Niedriglohnsektor geschaffen hätten. Deckt sich das mit Ihren Zahlen?
Walwei: Die Aussage ist sehr stark vereinfacht. Die Entwicklung des Niedriglohnbereichs hat deutlich vor den Arbeitsmarktreformen eingesetzt. Vor allem seit Mitte der 90er Jahre hatten wir ein Wachstum der Lohnungleichheit. Das hielt an bis zum Ende der Nuller-Jahre. Seitdem - und da haben die Arbeitsmarktreformen schon gewirkt - hat sich die Lohnungleichheit sogar eher etwas verringert. Wir haben eine Untersuchung von 2018, die auf einen Wert von ungefähr zehn Prozent der Erwerbstätigen kommt, die in prekärer Arbeit und Lebenssituation sind. Den Rückgang führen wir stark darauf zurück, dass sich der Arbeitsmarkt verbessert hat. In Teilen haben wir echte Knappheiten, selbst in Helferbereichen! Da gibt es Aufholeffekte.
Wir haben sogar einen Rückgang der Selbstständigkeit, auch bei den Ein-Personen-Selbstständigen. Das hat auch damit zu tun, dass der Arbeitsmarkt für Erwerbspersonen mehr Möglichkeiten bietet. Und es gibt Hinweise, dass die Arbeitsmarktreformen mit dazu beigetragen haben, dass der Arbeitsmarkt sich erholt hat. Aber die Reformen sind natürlich ambivalent, sie haben mehr Möglichkeiten am Arbeitsmarkt geschaffen, aber auch teilweise mehr Druck - gar keine Frage!
epd: Wie sind die Aussichten?
Walwei: Wir haben jetzt eine Situation, in der sich die Marktmacht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbessert. Aber für Personen, die in irgendeiner Weise schwierige Biografien haben, wird es nicht automatisch leichter. Diese Menschen bedürfen weiterhin einer besonderen Aufmerksamkeit, auch einer arbeitsmarktpolitischen Förderung. Hier kann es dann auch ein Erfolg sein, wenn sie in eine auch nur prekäre Beschäftigung kommen, weil das immer noch besser sein kann als Arbeitslosigkeit. Daraus kann dann auch ein Aufstieg gelingen. Die ganzen Reformen abzuschaffen, würde alles sehr, sehr stark wieder einschränken. Arbeitsmarktpolitische Instrumente müssen genutzt werden für Aufwärtsmobilität, um den Menschen Perspektiven zu bieten.
epd: Bekommen Sie mit, welche sozialen oder anderen Probleme Menschen mit prekären Lebensläufen aus ihrer eigenen Sicht vor allem belasten?
Walwei: Zunächst mal ist die Situation, dass sie sich vieles nicht leisten können. Das ist Einkommensarmut. Da sind tatsächlich auch Erwerbstätige mit niedrigen Einkommen dabei, das zeigen Untersuchungen. Oft geht Niedriglohnbeschäftigung einher mit sehr belastenden Arbeitsbedingungen. Da kann es Stress und körperliche Belastungen geben. Und nicht zuletzt gibt es Sorge um die Zukunft, etwa um die Alterssicherung. Das treibt die Leute schon sehr um und macht das Leben in solchen Beschäftigungsverhältnissen schwer. Umso wichtiger sind sogenannte Sprungbrett-Effekte. Die Leute haben den ersten Schritt gemacht, aber es ist wichtig, dass ein zweiter oder dritter folgt.
Berlin (epd). Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat für sein Pflegereform-Gesetz im Bundestag Kritik von allen Seiten einstecken müssen. Auch aus den Reihen der Ampel-Koalition kamen bei der ersten Beratung am 27. April Forderungen nach erheblichen Nachbesserungen. Der Gesetzentwurf sieht Beitragserhöhungen ab Juli dieses Jahres vor. Sie sollen helfen, das Defizit der Pflegeversicherung zu decken. Außerdem soll es Leistungsverbesserungen geben, durch die Heimbewohner und pflegende Angehörige entlastet werden.
Die Vize-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Maria Klein-Schmeink, kritisierte, das Gesetz komme verspätet. Der langwierige Vorlauf innerhalb der Regierung habe der Reform „nicht gutgetan“, urteilte die Grünen-Politikerin. Sie bezog sich damit auf Interventionen von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), denen beispielsweise das im Koalitionsvertrag verabredete Entlastungsbudget für pflegende Angehörige zum Opfer gefallen ist. Klein-Schmeink forderte für die Pflege den „Rückhalt des ganzen Kabinetts“.
Dass die pflegenden Angehörigen im Vordergrund stehen müssten, verlangte auch der Unions-Gesundheitspolitiker Erich Irlstorfer (CSU). Eine Erhöhung des Pflegegeldes und der Sachleistungen für die häusliche Betreuung um fünf Prozent reiche nicht. Die Verbraucherpreise seien seit 2017 um 17 Prozent gestiegen, dem Jahr, in dem das Pflegegeld zuletzt erhöht worden war. Der allergrößte Teil der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland, rund vier von insgesamt fünf Millionen, werden durch Angehörige und Pflegedienste versorgt.
Pflegende Angehörige können nach dem vorliegenden Entwurf zudem erst 2024 mit der Erhöhung des Pflegegeldes und der Sachleistungen rechnen. Die Leistungen sollten eigentlich schon seit dem vergangenen Jahr regelmäßig erhöht werden. Auch Heimbewohner sollen ab 2024 bei den weiter gestiegenen Eigenanteilen etwas stärker unterstützt werden.
Lauterbach verteidigte das Gesetz, räumte aber ein, dass es keine langfristige Lösung für die Sicherung der Pflege bedeute. Es werde mehr Geld gebraucht, weil immer mehr Menschen versorgt und Pflegekräfte besser bezahlt würden. Die geplanten Beitragserhöhungen seien notwendig, um die Ausgabensteigerungen zu decken und das Defizit der Pflegeversicherung auszugleichen. Außerdem würden die Leistungen weiter verbessert, versicherte Lauterbach.
Dem Entwurf zufolge soll der Beitragssatz Anfang Juli von 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens auf 3,4 Prozent steigen, für Kinderlose von 3,4 auf vier Prozent. Eltern mit mehreren Kindern zahlen künftig geringere Beiträge. Damit wird ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt.
Die Einnahmen der Pflegeversicherung steigen durch die Beitragserhöhungen um 6,6 Milliarden Euro pro Jahr, das sind etwa zehn Prozent des gegenwärtigen Budgets der Pflegeversicherung. In den Corona-Jahren waren die Ausgaben stark angestiegen. Dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen zufolge betrug das Defizit der Pflegeversicherung zum Jahresende 2022 rund 2,2 Milliarden Euro.
Die Linke kritisierte, Pflege mache arm, egal ob man in der Pflege arbeite, auf Pflege angewiesen sei oder pflegebedürftige Angehörige habe. Die geplanten Beitragserhöhungen träfen zudem vor allem Gering- und Normalverdiener, sagte der pflegepolitische Sprecher der Fraktion, Ates Gürpinar. Wohlhabende seien privat versichert und zahlten weniger.
Berlin (epd). Die geplanten Erleichterungen für die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland haben im Bundestag zu einer kontroversen Debatte geführt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) verteidigten am 27. April bei der ersten Beratung ihren Gesetzentwurf gegen Kritik. „Der Fachkräftemangel schadet unserem Land“, sagte Faeser.
Er bremse bei wichtigen Zukunftsthemen, etwa beim Klimaschutz. Allein für den Ausbau von Solar- und Windenergie fehlten im Moment mehr als 200.000 Fachkräfte, vor allem Elektriker, Klimatechniker und Informatiker. Das dürfe nicht so bleiben, sagte Faeser. Der Fachkräftemangel gefährde Wirtschaft und Wohlstand.
Die Union kritisierte dagegen die Pläne der Koalition von SPD, Grünen und FDP. Der Gesetzentwurf habe „punktuell durchaus Positives“ und man brauche auch eine gezielte Anwerbung von Fachkräften aus Drittstaaten, räumte der Innenpolitiker Alexander Throm (CDU) ein. Er bemängelte aber, die Bundesregierung wolle die Anforderungen an die Qualifikation der Zuwanderung reduzieren. Er befürchtet eine „Einwanderung von Minderqualifizierten“.
Der Vize-Fraktionsvorsitzende der Union, Hermann Gröhe (CDU), ergänzte, Deutschland habe bereits ein modernes Einwanderungsrecht, müsse aber in der Praxis schneller und besser werden. Dazu leistet das Gesetz keinen Beitrag, sagte er. Die Union schlägt unter anderem die Gründung einer neuen Agentur für die Fachkräfteeinwanderung vor. „Wir wollen für die Qualifizierten einladender werden. Sie wollen die einladen, die nicht qualifiziert sind“, sagte Gröhe.
Auch die Arbeitsmarktpolitikerin der AfD-Fraktion, Gerrit Huy, warf der Regierung davor, um Minderqualifizierte zu werben, weil Deutschland für Hochqualifizierte nicht mehr attraktiv sei. Das werde die Probleme im Land noch verschärfen.
Arbeitsminister Heil wies die Kritik zurück. Er warf der Union vor, sie wolle offenbar, dass nur Akademiker und nicht auch beruflich gut qualifizierte Menschen kommen: „Wir brauchen aber helfende Hände und kluge Köpfe“, betonte Heil. Weil in den kommenden Jahren die geburtenstärksten Jahrgänge in den Ruhestand gehen, müsse die Politik alles tun, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Andernfalls drohe für 2035, dass sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen.
Mit der Novelle des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, das die große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beschlossen hatte, will die Ampel-Koalition die Zuwanderung von Fachkräften deutlich erleichtern. Künftig soll es Ausländerinnen und Ausländern aus Nicht-EU-Ländern ermöglicht werden, mit einer „Chancenkarte“ auf der Basis eines Punktesystems zur Arbeitssuche nach Deutschland zu kommen. Fachkräfte mit Berufsabschluss und -erfahrung können kommen, ohne dass sie vorher ihren Abschluss von Deutschland anerkennen lassen müssen. Das sollen sie nachholen können. Für Ausländerinnen und Ausländer mit einem von Deutschland anerkannten Abschluss werden die Hürden gesenkt, etwa das vorgeschriebene Mindestgehalt.
Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katharina Dröge, warf der Union vor, weiterhin Ressentiments gegen ausländische Arbeitskräfte zu schüren. Deutschland brauche aber eine Willkommenskultur, um mit anderen Ländern mithalten zu können. Überall würden dringend Fachkräfte gesucht, sagte Dröge. Wer sich gegen die Erleichterung der Einwanderungsregeln entscheide, entscheide sich gegen die deutsche Wirtschaft.
Nach der Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag wird er in den Ausschüssen beraten, bevor er zur abschließenden Abstimmung erneut ins Plenum des Parlaments kommt. Die Regelungen sollen frühestens zum 1. Dezember in Kraft treten.
Berlin (epd). Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, sieht eine „Zeitenwende“ beim Thema Antidiskriminierung in Deutschland. Die Haltung in der Bevölkerung habe sich in den vergangenen Jahren „grundlegend geändert“, sagte Ataman am 25. April in Berlin. Sie bezog sich auf eine kurz zuvor veröffentlichte repräsentative Studie der Bertelsmann Stiftung über die Einstellung verschiedener gesellschaftlicher Milieus zum Thema Diskriminierungsschutz und zu Diskriminierungserfahrungen.
Danach geben drei Viertel der Befragten an, sich für Benachteiligungen bestimmter Gruppen in der Gesellschaft zu interessieren, und 88 Prozent sehen Antidiskriminierung als eine wichtige politische Aufgabe. „Antidiskriminierung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, folgerte Ataman.
Die aktuelle Studie unter dem Titel „Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft“ dokumentiert den Wandel in der Einstellung und Wahrnehmung des Themas in den vergangenen 15 Jahren. Im Vergleich zu einer ähnlich ausgerichteten Befragung von 2008 hat sich die Aufmerksamkeit für Benachteiligungen in fast allen gesellschaftlichen Milieus deutlich erhöht. Zugleich berichten Menschen sehr viel häufiger von eigenen Diskriminierungserfahrungen. Die meisten sehen die Politik in der Pflicht, die Probleme anzugehen.
Ataman kritisierte, dass die Regierungskoalition von SPD, Grünen und FDP die versprochene Reform des Antidiskriminierungsrechts noch immer nicht in die Wege geleitet habe. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) habe bisher weder Eckpunkte noch einen Gesetzentwurf vorgelegt, sagte sie. Die Gesellschaft fordere dies inzwischen aber von der Politik ein, sagte Ataman mit Blick auf die Umfrageergebnisse. Der Studie zufolge sieht eine Mehrheit von 56 Prozent vorrangig die Politik in der Verantwortung, 44 Prozent sehen diese Aufgabe bei den Ämtern und Behörden.
Die Umfrage zeigt auch, wie Diskriminierungserfahrungen verteilt sind. 35 Prozent der Menschen mit Einwanderungshintergrund äußerten in der Befragung, sie seien in den vergangenen zwölf Monaten sehr oft oder manchmal wegen ihrer Herkunft oder aus rassistischen Motiven diskriminiert worden. Gut ein Viertel dieser Gruppe gab an, wegen ihrer Religion oder Weltanschauung herabgesetzt worden zu sein.
In der Gesamtbevölkerung sind die Zahlen niedriger, haben sich aber in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt - was die Forscherinnen und Forscher der Bertelsmann Stiftung vor allem mit dem wachsenden Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland und einer allgemein stärkeren Sensibilisierung für Benachteiligungen erklären.
Demnach gaben 13 Prozent der aktuellen Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer an, dass sie sich wegen ihrer ethnischen Herkunft, beispielsweise aufgrund ihrer Sprache, des Namens oder ihrer Kultur, aus rassistischen oder antisemitischen Gründen oder wegen ihrer Herkunft aus einem anderen Land diskriminiert fühlen. 2008 hatten den Angaben zufolge nur sechs Prozent wegen ihres „fremdländischen Aussehens“ und sieben Prozent als „Ausländer“ oder „Ausländerin“ Benachteiligung empfunden. Von Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung hatten 2008 sechs Prozent der Befragten berichtet, 2022 waren es 13 Prozent.
Besonders sensibel für das Thema Diskriminierung und die Beurteilung eigener Erfahrungen sind der Studie zufolge junge Menschen unter 30. Besonders wenig können Menschen mit dem Thema anfangen, die sehr konservativ geprägt sind oder unter schwierigen Umständen leben. Sie glauben auch nicht, dass Antidiskriminierungspolitik langfristig dazu führt, dass es allen in der Gesellschaft besser geht.
Für die Umfrage wurden den Angaben zufolge vom Sinus-Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung rund 2.000 Menschen der deutschsprachigen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren repräsentativ im Herbst 2022 online und telefonisch befragt. Für den Vergleich zu 2008 wurden Fragen aus der vom Sinus-Institut 2008 erstellten Studie „Diskriminierung im Alltag“ aufgegriffen.
Frankfurt a.M. (epd). Der Frankfurter Suchtforscher Heino Stöver hat die von der Bundesregierung geplante Legalisierung von Cannabis begrüßt. Die Freigabe sei dringend notwendig, weil die derzeit auf dem Schwarzmarkt gehandelte Substanz etwa mit Dreck, Dünger, Pestiziden oder mit Schwermetallen wie Blei verunreinigt sei, sagte Stöver in Frankfurt am Main dem Evangelischen Pressdienst (epd). „Derzeit gibt es keinen Verbraucher - und Jugendschutz.“ Zudem müsse die Kriminalisierung der Konsumenten beendet werden.
Nach den von der Ampel-Regierung vorgestellten Eckpunkten sollen künftig der Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis und der Anbau von drei Hanfpflanzen zum eigenen Verbrauch legal sein. Außerdem soll es Clubs oder Vereinen mit bis zu 500 Mitgliedern erlaubt werden, sich aus eigenem Anbau selbst zu versorgen. Einen bundesweiten Verkauf von Cannabis in lizenzierten Geschäften soll es zunächst nicht geben. Er kann aufgrund von EU-Vorschriften zunächst nur in Modellregionen erprobt werden.
Die Eckpunkte seien schlecht vorbereitet worden und wirkten „unausgegoren“, kritisierte Stöver. Viele Fragen seien nicht beantwortet, etwa nach der Organisation der Clubs oder Vereine oder dem Schutz der Plantagen. Auch die künftigen Aufgaben der Kommunen und der Polizei seien nicht geklärt. „Wer schützt die Felder? Soll die Polizei weiterhin Personen kontrollieren, um festzustellen, ob sie 25 oder 27 Gramm Cannabis bei sich tragen?“, fragte der Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences.
Die Realisierung der Pläne stehe noch am Anfang, sagte Stöver. Neben Frankfurt, Offenbach und Bremen, die sich bereits als Modellregionen beworben haben, müssten weitere Kommunen gefunden werden. Ebenso brauche es Bewerbungen aus Hochschulen und Instituten zur begleitenden Forschung. Bis alle Beteiligten startklar seien, sei es 2025, prognostizierte Stöver.
„Die Cannabis-Verbotspolitik ist gescheitert“, betonte der 67-jährige Suchtforscher. Das lasse sich allein an der wachsenden Zahl der Verbraucherinnen und Verbraucher ablesen. „Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 1,5 Millionen Menschen in Deutschland die Droge regelmäßig einnehmen, gelegentlich konsumieren sie etwa 3,5 Millionen.“ Wie viele Jugendliche darunter seien, sei nicht erfasst. Belegt sei allerdings, dass das Eintrittsalter bei 16 Jahren liege.
Die These für eine stärkere Nachfrage nach der Droge nach deren Freigabe habe sich nicht bestätigt, fügte Stöver hinzu. Die Gesundheitswarnungen bezögen sich immer auf den Konsum der Droge unter Schwarzmarktbedingungen. Medizinisch reines Cannabis sei „weniger gefährlich als Alkohol und Tabak“, betonte Stöver. Auch das Suchtpotenzial sei gering. „Die meisten Menschen konsumieren die Droge nur am Wochenende, nur 3 bis 5 Prozent nutzen sie täglich.“
Brüssel (epd). In der Diskussion über eine Reform der europäischen Asylpolitik haben katholische Verbände einen Vorschlag veröffentlicht, der einen verpflichtenden Verteilungsschlüssel für Migranten auf die EU-Staaten vorsieht. Der Entwurf soll „den Bedürfnissen der Schutzsuchenden gerechter“ werden sowie „den praktischen Anforderungen vor allem an den europäischen Außengrenzen“, wie es in dem am 25. April veröffentlichten Vorschlag des Deutschen Caritasverbandes, des Jesuitenflüchtlingsdienstes sowie des Kommissariats der deutschen Bischöfe heißt.
Die Autoren schlagen damit eine Lösung für die zwischen den EU-Staaten hochumstrittene Frage der Verteilung von Flüchtlingen und Migranten vor. Demnach sollen Schutzsuchende zunächst in „offenen und menschenwürdig ausgestalteten“ EU-Zentren registriert werden. Für jeden Asylsuchenden solle dann nach kurzem Aufenthalt ein Mitgliedstaat für das Asylverfahren ermittelt werden.
Schutzsuchende sollen dem Papier zufolge möglichst in den Mitgliedsstaat ziehen, wo familiäre Verbindungen, Sprachkenntnisse oder der Beruf ihre Integration erleichtern. Lasse sich eine solche Verbindung nicht feststellen, solle die Person zwischen drei Aufnahmestaaten wählen können. Diese drei Staaten seien anhand eines Aufnahmeschlüssels zu ermitteln, der zwischen den Mitgliedstaaten vereinbart und durch europäisches Recht festgelegt wird. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Schlüssels machten die Autoren keine Angaben.
Bei dem Papier handelt es sich um einen Vorschlag, der den politischen Diskurs um das Gemeinsame Europäische Asylsystem anregen und weiterentwickeln soll und „nicht um eine abschließende Position oder Stellungnahme“, wie die Autoren schreiben.
Die EU-Kommission hatte im September 2020 einen Vorschlag für eine umfassende Reform der Asyl- und Migrationspolitik vorgelegt. Dieser umfasst eine Vielzahl von Verordnungen. Die EU-Staaten haben allerdings in entscheidenden Fragen noch keine Position bezogen. Die Schlüsselfrage ist dabei, ob Schutzsuchende auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden sollen. Länder wie Polen und Ungarn lehnen eine verbindliche Quote vehement ab.
Bremen (epd). Der Bremer Senat hat am 25. April eine Bundesratsinitiative zum ethisch umstrittenen vorgeburtlichen Trisomie-Bluttest als Kassenleistung beschlossen. In der Bundesratssitzung am 12. Mai solle ein entsprechender Antrag eingebracht werden, teilte der Senat mit. Seit Juli vergangenen Jahres bezahlen die Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen einen vorgeburtlichen Bluttest auf Trisomien wie dem Down-Syndrom (Trisomie 21). Hintergrund ist ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses, der über Kassenleistungen entscheidet.
Bei dem Bremer Antrag geht es im Kern um zwei Aspekte: Die Folgen der Kassenzulassung der nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) sollen beobachtet werden. Außerdem soll ein interdisziplinäres Gremium mit Expertinnen und Experten eingerichtet werden, das die rechtlichen, ethischen und gesundheitspolitischen Grundlagen der Kassenzulassung des Tests prüft.
Im März hatte die Bürgerschaft den Senat mit einem fraktionsübergreifenden Antrag dazu aufgefordert, eine Bundesratsinitiative zu ergreifen. „Bei diesem wichtigen ethischen und frauenpolitischen Thema brauchen wir dringend eine bundespolitische Debatte“, sagte Bremens Gesundheits- und Frauensenatorin Claudia Bernhard (Linke).
Bei dem Bluttest handelt es sich um ein Suchverfahren, es ist keine diagnostische Untersuchung. Die Kosten werden in begründeten Einzelfällen und nach ärztlicher Beratung übernommen. Bis zu 30 Prozent der Tests liefern laut Bremer Senat falsch-positive Ergebnisse, geben also fälschlicherweise einen Hinweis auf eine Behinderung. Viele Betroffene und ihre Familien befürchten auch angesichts des Bluttests einen zunehmenden Rechtfertigungsdruck bei der Entscheidung für ein Kind mit Behinderung.
Hannover (epd). Selly Demirok ist auf aggressive Blicke gefasst, wenn sie morgens am Hinterausgang des Hauptbahnhofs in Hannover an Junkies vorbeigeht. Ihre schwarze Security-Kleidung erregt Misstrauen. „Immer wenn ich hier langgehe, denke ich, gleich passiert irgendwas. Wegen meiner Stichschutz-Weste halten mich viele für eine Polizistin eines Sondereinsatzkommandos oder irgendeine Agentin“, sagt die eher zierliche 25-Jährige und lacht. Demirok ist auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, dem Kontaktladen Mecki für Obdachlose am Rande von Hannovers Innenstadt.
Die Wartenden vor dem Wohnungslosentreff freuen sich, die junge Frau zu sehen, die hier alle nur Selly nennen. Seit einem Jahr arbeitet die türkischstämmige Demirok als Security-Kraft in dem Tagesaufenthalt. Doch für die Besucherinnen und Besucher ist sie viel mehr als das. Denn Demirok hört zu. „Alles gut? Brauchst du einen Krankenwagen?“, fragt sie einen Mann, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Gepäck-Trolley stützt. Nein, es gehe schon, antwortet der Mann.
Bald nachdem die Sozialarbeiter der Diakonie die Türen aufgeschlossen haben, stehen die Besucher für das Frühstück an. Demirok beobachtet die Schlange und sucht immer wieder Blickkontakt mit den Mitarbeitern hinter der Theke. Konflikte darüber, wer zuerst an der Reihe ist, bleiben an diesem Morgen aus. „Wegen solcher Streitereien schlagen sich die Leute manchmal. Dann muss ich dazwischengehen“, sagt Demirok, während sich die ersten an die Tische setzen. Viele nutzen ihren Ruheplatz auch, um zu schlafen oder zu lesen. Drogen zu konsumieren oder zu dealen, ist streng verboten. „Wenn ich das beobachte, schreite ich ein.“
Körperliche Gewalt setzt die in Selbstverteidigung geschulte Security-Frau aber nur im Notfall ein. „Ich versuche immer, Ruhe zu bewahren und deeskalierend zu arbeiten.“ Nur einmal, als sie noch neu war, sei eine Situation nachts im „Mecki 2“ beinahe außer Kontrolle geraten. Nachdem Demirok eine Besucherin aufgefordert hatte, ihre Corona-Maske aufzusetzen, habe die Frau sie geboxt und geschubst. Demirok wollte die Frau packen, aber ihr Chef ging dazwischen. „Danach kamen mir vor lauter Aggression die Tränen. So etwas passiert mir nicht mehr, heute bin ich abgehärtet“, sagt sie.
Demirok geht hinaus und wirft einen prüfenden Blick auf die Menschengruppen, die sich wenige Meter entfernt auf dem Raschplatz aufhalten. Der Ort ist seit langem ein Hotspot der Drogenszene. Als während der Corona-Krise Junkies Mecki-Mitarbeiter immer öfter bedrohten und sich die Prügeleien vor der Tür häuften, entschied sich die Diakonie, dauerhaft einen Sicherheitsdienst zu engagieren. „Es kann immer mal passieren, dass einer ein Messer rausholt“, sagt Demirok und zeigt ihre stichfesten Handschuhe. Besonders aggressiv seien Menschen, die Stoff bräuchten, aber keinen haben.
Angst habe sie nie, sagt Demirok, zumal sie sich hundertprozentig auf ihre Kollegen verlassen könne. Auch an Beleidigungen habe sie sich gewöhnt. Ihr gefalle der Job, betont sie. Denn meistens könne sie ihre Zeit mit den Menschen teilen, etwa indem sie Kaffee ausschenkt oder mit Besuchern auf eine Zigarette vor die Tür geht. Mittlerweile kenne sie so viele Lebensgeschichten, dass sie verstehe, warum Menschen auf der Straßen landen, trinken oder Drogen nehmen. „Vielen fehlt Liebe“, fasst sie zusammen.
Ihr Chef Asaad Rescho ist froh über seine Mitarbeiterin. „Selly hat den Umgang mit den Menschen drauf“, sagt er. Tatsächlich bekomme sie viele gute Rückmeldungen von Besuchern, ergänzt Demirok: „Manch einer sagt 'Mensch, ich habe dich vermisst', wenn ich mal ein paar Tage nicht da war. Da fühlt man sich schon wohl.“
Am späten Vormittag, kurz bevor der Laden schließt, müssen Demirok und ihr Kollege doch noch Gewalt anwenden. Ein offenbar betrunkener Mann sitzt an einem Tisch und weigert sich aufzustehen. „Lass mich in Ruhe, Mann“, schreit er, als Demirok ihn bittet zu gehen.
Als die Security-Leute versuchen, den Besucher nach draußen zu begleiten, lässt sich der Mann fallen und tritt um sich. Demirok und ihrem Kollegen gelingt es, die Situation zu lösen, ohne dass jemand verletzt wird. „Das war stressig“, sagt sie hinterher, gibt sich aber gelassen: „So was kommt halt vor.“
Heilbronn (epd). Verena Niethammer aus Nordheim bei Heilbronn ist dabei, Päckchen zu packen. An Kitas, Schulen, Jugendgruppen sowie an interessierte Menschen in ganz Deutschland verschickt sie ihre sogenannten „Inklusionsboxen“: Ausleih-Kisten mit Spielsachen und Büchern, die den Inklusionsgedanken fördern sollen. Gerade stellt sie eine Box für eine Grundschule in Norddeutschland zusammen. Neben Bilderbüchern zum Thema Vielfalt und Behinderung kommen auch eine dunkelhäutige Barbie im Rollstuhl mit hinein und ein Teddy mit Magensonde und einer speziellen Kleidung. „Der Bär hat einen sogenannten Sondenbody mit Druckknöpfen, die man öffnen kann, um die Sonde herauszuholen und eine Spritze anzuschließen“, erklärt Niethammer.
Wie eine Magensonde funktioniert, weiß sie genau: Ihr achtjähriger Sohn Mattis trägt eine, er ist mehrfach behindert und sitzt im Rollstuhl. Auch Orthesen, also medizinische Hilfsmittel zum Ruhigstellen von Gelenken , aus denen ihr Sohn herausgewachsen ist, legt sie in die Box. „Die Kinder können die sich selbst anschnallen, und spüren, wie es sich anfühlt, wenn man so ein Ding am Fuß hat, was nicht unbedingt bequem ist.“ Denn sie ist überzeugt: Viel Empathie entsteht auch dann, wenn Kinder selbst etwas erfahren, anschauen und anfassen können.
„Viele wissen überhaupt gar nichts über Behinderung. Und das merkt man schon daran, dass auf dem Schulhof 'Du Spast' ein Schimpfwort ist.“ Das schmerzt die Mutter, deren Sohn Spastiker ist und dessen Füße ein wenig zur Seite stehen. „Wir waren kürzlich im Freizeitpark und da kam uns ein Kind entgegen, das auf meinen Sohn zeigte und 'Boah, krass ey', sagte“, erzählt sie. Leider sei sie damals nicht so schlagfertig gewesen, zu erwidern: „Gell, mein Sohn hat einen tollen Rollstuhl!“, sondern sie habe sich nur gewundert, dass es immer noch etwas so Besonderes sei, wenn ein schwerbehindertes Kind im Freizeitpark unterwegs sei.
Deshalb ist ihre Hoffnung: Wenn Kinder von klein auf Berührung mit behinderten Menschen haben, wird es für sie normal, dass es Kinder mit Behinderungen gibt - und diese werden nicht mehr „als Aliens“ wahrgenommen, wie sie sagt. Ein Beitrag dazu sollen ihre Materialboxen sein, die sie je nach Alter mit Comics, Romanen, Filmen oder Bilderbüchern und Spielsachen bestückt. Die Boxen würden beispielsweise gerne von Kitas ausgeliehen, wenn ein neues Integrationskind in die Gruppe komme, erzählt sie.
Niethammer ist auch Vorsitzende des Vereins „Hölder - Initiative für Kultur und Inklusion“, der Lesungen zum Thema anbietet und unter dessen Dach sie seit drei Jahren die „Inklusion zum Anfassen“ verschickt. Für Niethammer bedeutet Inklusion nicht nur, dass ein Kind mit Behinderung die Regelschule besucht: „Inklusion ist letztlich einfach, dass die Gesellschaft als das gesehen wird, was sie ist: vielfältig und bunt.“
Dies soll auch durch die Bilderbücher klar werden, die sie mit in die Boxen legt. Die Literaturwissenschaftlerin ist Expertin auf dem Gebiet: „Ich kenne alle Inklusionsbücher auf dem deutschsprachigen Markt“, sagt sie mit einem Lachen. Eines ihrer Lieblinge ist das Bilderbuch von Constanze Kintzig: „Ich bin anders als du - ich bin wie du“, in dem man nicht nur ein Kind im Rollstuhl, sondern auch Kinder mit unterschiedlicher Hautfarbe oder Hörgeräten sieht. Das Besondere: Es wird nicht auf die Andersartigkeit der Behinderung oder Herkunft angespielt, sondern darauf, dass sich eine Freundin von der anderen unterscheidet, weil eine ein Einzelkind ist und die andere Geschwister hat, oder zwei unterschiedlich aussehende Jungs ihre Liebe zu Tieren als Gemeinsamkeit entdecken. So werde immer wieder mit vorschnellen Zuschreibungen gespielt.
Inklusive Bücher müssen aber nicht Behinderung thematisieren, sie können auch inklusiv gestaltet sein - mit Blindenschrift, Gebärdensprache oder mit Gerüchen für sehbehinderte Kinder. Oft kommen auch Kinder mit Behinderung ganz selbstverständlich in den Geschichten oder auf den Bildern vor. So ist Verena Niethammer stolz, dass ihr Sohn Mattis Einzug in ein Wimmelbuch gehalten hat. „Denn es sollte von vorneherein klar sein, dass ein Kind mit Behinderung keine andere Schublade von Mensch ist, sondern voll in die Mitte der Gesellschaft gehört.“
Der Gedanke ihrer Inklusionsboxen zieht Kreise: Angeregt von der „Syngap Elternhilfe“ - einer Initiative von Vätern und Müttern, deren Kinder vom genetisch bedingten Syngap-Syndrom betroffen sind - verleihen nun mehrere Vereine zu seltenen Erkrankungen ebenfalls Boxen, die auf das Thema Inklusion aufmerksam machen wollen. Niethammer freut sich, wenn ihre Idee auch von anderen aufgenommen wird, wie sie sagt.
Die Box ist fertig gepackt. Noch den Deckel drauf - und dann geht es für die Barbiepuppe Annika und den Sonden-Teddy auf Reisen.
Frankfurt a.M. (epd). Das Gebäude im Frankfurter Westen ist unscheinbar. Eine alte Lagerhalle inmitten eines Wohngebiets. Davor hat sich eine Menschentraube gebildet. Die Tierbesitzerinnen und -besitzer wollen zur Frankfurter Tiertafel, die gleich ihre Pforten öffnet. Esther ist eine von ihnen. Ihren vollständigen Namen möchte sie nicht nennen.
Aus den Medien habe sie von der Möglichkeit erfahren, bei der Tiertafel Unterstützung zu bekommen, wenn es finanziell nicht mehr anders geht. Ihre Bedürftigkeit sei umfassend geprüft worden, sie musste Nachweise dafür liefern. Als Kunde aufgenommen wird bei der Tiertafel nämlich nur, wer es aus eigener Kraft nicht mehr schafft, sein Haustier zu versorgen, und von Sozialleistungen lebt.
Ein weiteres Kriterium ist, dass das Tier schon länger im Haushalt leben muss. Neu angeschaffte Vier- oder Zweibeiner kann die Tiertafel nicht mitversorgen. „Wir müssen irgendwo Grenzen setzten und auch aufzeigen, dass ein Tier mit viel Verantwortung verbunden ist“, sagt Inge Böhm, die schon seit mehr als zehn Jahren ehrenamtlich bei der Frankfurter Tiertafel aktiv ist.
In die Halle nach Praunheim kommen alle vier Wochen etwa 200 Kundinnen und Kunden. Immer am dritten Samstag im Monat können sich die registrierten Tierbesitzer eine Monatsration an Futter für ihre Hunde, Katzen und Vögel abholen. Jedes Tier hat seine eigene Karteikarte, auf der die Futtersorte steht, die ausgegeben werden muss. Auch Krankheiten werden hier notiert und andere Details, die wichtig sind.
Inge Böhm packt eine Tasche für einen kleineren Hund mit empfindlichem Magen. Er bekommt Futter für sensible Hunde, und auch die Leckerlis dazu dürfen nicht fehlen. Um die 30.000 Euro kostet die Versorgung von Haustieren bedürftiger Menschen durch die Tafel jeden Monat.
Böhm befürchtet, dass die Kosten mittelfristig steigen werden und damit auch der finanzielle Bedarf der Tafel. Tierfutter wird teurer wie andere Lebensmittel auch. Zudem steigen die Tierarztkosten massiv an. Die Gebührenordnung der Tierärzte wurde im November des vergangenen Jahres reformiert. Schultern kann die Tiertafel das alles nur mit Spenden, die hauptsächlich von Privatpersonen kommen. Aber auch die Stadt Frankfurt gebe regelmäßig für den Verein, den es seit 2007 gibt.
Um die 18 Ehrenamtliche sind aktiv und helfen bei der Futterausgabe. Es wird in Schichten gearbeitet. Nach einer kurzen Pause über die Mittagszeit kommen am Nachmittag Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen mussten. Oft nur mit ein paar Habseligkeiten und dem Haustier unter den Arm.
Für das Team der Tiertafel war es selbstverständlich, dass auch diese Tiere Unterstützung erfahren sollen. Viele ihrer Besitzer leben in Frankfurter Hotels oder sind bei Bekannten untergekommen. Das wenige Geld reicht oft nicht für eine gute Versorgung der Tiere. Auch wenn viele die eigenen Bedürfnisse stark zurückstellen und beispielsweise auf Kleidung oder einen Haarschnitt verzichten, übersteigen die Kosten für das Haustier die Mittel, die zur Verfügung stehen.
Böhm hat schon viele Schicksale miterlebt, auch dass ein Tier wegegeben werden musste. „Wenn ein Tier geht, bricht oft auch der Mensch zusammen“, sagt sie. Vordergründig hilft die Frankfurter Tiertafel den Hunden, Katzen, Kaninchen und Hamstern. Dem Verein liegt das Wohl der Tiere am Herzen. Immer gehe es aber auch um den dazugehörigen Menschen, sagt Böhm. Den die Haustiere sind Familienmitglieder und eine wichtige Stütze im Alltag vieler Menschen.
Berlin (epd). Natürlich brauche die Pflege mehr Geld. Aber das alleine reiche nicht, betont Helmut Kneppe. Er wirbt für eine grundlegende Pflegereform, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt: „Leider sind die Beharrungskräfte ganz enorm. Wir fordern eine Pflege-Reformkommission ohne Denkbeschränkungen, Mut zur Evidenz, Mut zum Loslassen und zum Zulassen neuer Strukturen“. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Kneppe, nach Angaben des Verbandes der Ersatzkassen waren 2022 für einen Heimplatz monatlich im Schnitt 2.411 Euro Eigenbeteiligung fällig, wenn die pflegebedürftige Person hier bis zu zwölf Monate versorgt wurde. Ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr um 278 Euro. Solche Summen können die wenigsten Rentnerinnen und Rentner aufbringen und landen in der Sozialhilfe ...
Helmut Kneppe: Ja, das ist leider so. Laut Bundessozialministerium lebt etwa jeder fünfte Ruheständler mit einer Rente von weniger als 500 Euro im Monat. Die durchschnittliche Rente lag laut Deutscher Rentenversicherung 2022 bei Männern bei 1.218 Euro, bei Frauen bei 809 Euro. Die gestiegenen Eigenteile, die Pflegebedürftige und ihre Familien aufbringen müssen, drängen immer mehr Menschen in die Sozialhilfe. Der Bremer Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang hat in einer Studie für die DAK errechnet, dass schon 2026 36 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen Sozialhilfe brauchen werden. So müssen Rentnerinnen und Rentner die Erfahrung machen, dass sie am Ende ihres Lebens zu Bittstellerinnen und Bittstellern werden, die ein Taschengeld zugewiesen bekommen.
epd: Es gibt seit Jahren den Versuch, mit gestaffelten Zuschüssen der Pflegekassen zu den Eigenanteilen die Belastungen zu senken. Ist dieses Modell gescheitert?
Kneppe: Die Einführung der gestaffelten Leistungszuschüsse im Januar 2022 hat zwar kurzzeitig die Sozialhilfequote bei den Heimbewohnern auf rund 30 Prozent gesenkt. Infolge der jetzigen Preissteigerungen etwa für Energie und Personal werden die Zuschüsse aber verbraucht, so dass die Sozialhilfequote laut Rothgang bereits in diesem Jahr wieder auf 32,5 Prozent ansteigen und 2026 voraussichtlich bei 36 Prozent liegen wird. Das Ziel, die Sozialhilfequote unter 30 Prozent - auch das wäre noch zu hoch - zu senken, wird damit deutlich verfehlt. Es besteht also viel Handlungsbedarf, denn Pflege darf kein Armutsrisiko für Menschen und ihre Familien bedeuten.
epd: Die Bundesregierung hält weiter an dem System fest. Die Zuschüsse sollen aber ab 2024 steigen. Ein umfassender Umbau der Heimfinanzierung sieht anders aus. Welche Forderungen erhebt das KDA?
Kneppe: Wir setzen uns dafür ein, Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Pflegebedürftigkeit und Sorgeaufgaben werden jedoch nach wie vor häufig als individuelle Schicksale und familiäre Aufgaben behandelt. Sorgeaufgaben sind aber gesellschaftliche Aufgaben und deshalb auch als von der Gesellschaft zu organisierende Aufgabe anzusehen.
epd: Das endet ja eben nicht beim Geld ...
Kneppe: Nein. Das muss sich auch in der Finanzierung der Pflegekosten widerspiegeln. Und zwar nicht nur dann, wenn Sozialhilfebedürftigkeit besteht. Um die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Sorgearbeit zu stärken, halten wir es für erforderlich, in Zukunft die Refinanzierung der Finanzlücken bei den Pflegekosten auf breitere Schultern zu stellen und nicht primär über einen weiteren Beitrag der Versicherten abzudecken.
epd: Was ist zu tun?
Kneppe: Ein erster Schritt in diese Richtung wäre, wenn man die im Koalitionsvertrag schon zugesagte Finanzierung von versicherungsfremden Leistungen wie etwa die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige aus der Pflegeversicherung herausnehmen würde und sie über einen Bundeszuschuss finanziert. Speziell zur Finanzierung der stationären Versorgung wäre es hilfreich, wenn wir mehr Flexibilität ermöglichen würden. Die pauschalen Leistungspakte sind von vielen Heimbewohner kaum noch zu finanzieren. Mehr Wahlmöglichkeiten auch bei der Heimversorgung schafft nicht nur eine stärker am persönlichen Bedarf orientierte Versorgung, sondern schafft Ersparnis durch Verzicht auf Leistungen, die zum Beispiel von Angehörigen oder Ehrenamtlichen erbracht werden können.
epd: Warum kommt es auch nach Jahren erkannter Probleme bislang nicht zu einem großen Wurf bei den Reformen?
Kneppe: Es ist ein bisschen wie bei den verpassten Klimamaßnahmen: Je länger wir warten, desto schmerzhafter und teuer werden die unausweichlichen Reformen. Im Klartext: Wir kommen um eine grundlegende Reform der Pflegefinanzierung nicht herum. Der Anzug, der einst für unser Sozialsystem geschneidert wurde, passt nicht mehr. Reparaturen hier und da reichen nicht mehr. Das Offensichtlichste ist: Es gibt immer weniger Menschen, die Sozialabgaben einzahlen, aber immer mehr, die Leistungen erhalten. Hinzu kommt der gesellschaftliche und der strukturelle, digitale Wandel. Werden für Maschinen Abgaben gezahlt? Tatsächlich bräuchte es eine solidarische Finanzierung des Alters und der Pflege - das heißt eine breitere Beteiligung und einen höheren Anteil, der durch Steuern finanziert wird. Die Beitragszahlenden und pflegebedürftigen Menschen müssen deutlich entlastet werden und ihre Leistung die angemessene Wertschätzung erfahren. Diese Forderung ist nicht neu. Leider sind die Beharrungskräfte ganz enorm. Wir fordern eine Pflege-Reformkommission ohne Denk-Beschränkungen, Mut zur Evidenz, Mut zum Loslassen und zum Zulassen neuer Strukturen.
epd: Viele Fachleute sehen als einzig sinnvolles Modell die Umkehr der Zahlbeträge: Jeder Pflegebedürftige im Heim zahlt einen fixen Betrag, der natürlich politisch festgelegt werden müsste, die Pflegekassen übernehmen den Rest aller Kosten.
Kneppe: Der Spitze-Sockel-Tausch, den Sie meinen, bei dem nur noch ein Sockelbetrag vom pflegebedürftigen Menschen aufgebracht wird, alles darüber hinaus aber von der Kasse übernommen wird, wäre ein sinnvoller Teil einer Reform. Ähnliches gilt für die Vorschläge, die gerade vom Expertenrat „Pflegefinanzierung“, der von der Privaten Krankenversicherung eingesetzt wurde, vorgelegt wurden: Einzelne Aspekte sind gut, wie eine Pflege-Pflichtversicherung, andere kommen zu kurz, wie die Berücksichtigung der Kosten für Unterkunft und Verpflegung in der Pflege, die ambulante Pflege oder die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen - eine tragende Säule in der Pflege. Insofern sind die Vorschläge nur Teile einer grundlegenden Reform, die wir brauchen.
epd: Deutschland wird immer älter, die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden Jahrzehnten deutlich steigen. Lässt sich der hohe Betreuungsbedarf künftig überhaupt mit der stationären Pflege auffangen oder braucht es ganz andere Gesellschaftsbilder und bessere Möglichkeiten der Pflege daheim?
Kneppe: Die stationäre und die ambulante Pflege sind bereits jetzt überlastet - Stichwort Kosten und Fachpersonalmangel. Bereits jetzt werden rund 86 Prozent der Menschen mit Pflegebedarf zuhause betreut, die meisten privat von Angehörigen oder Freunden. Sprich: Den größten Pflegedienst in Deutschland organisiert bereits jetzt nicht der Staat, sondern die Gesellschaft. Der Staat steht hier jedoch eindeutig in der Pflicht, für ein würdevolles Altern und eine würdevolle Pflege zu sorgen. Und ja, vieles wäre mit einer angemessenen Finanzierung der Pflege erreicht.
epd: Das aber reicht nicht, sagen Sie ...
Kneppe: Tatsächlich ist die Herausforderung aber derart groß - auch wegen bereits verschleppter Reformen -, dass wir dringend auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt angewiesen sind. Wir sollten das Potenzial an Nachbarschaftshilfe und ehrenamtlicher Bereitschaft, das sich auch während der Pandemie gezeigt hat, niederschwellig, aber effektiv auf kommunaler Ebene organisieren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat recht wenn er sagt: 'Würde im Alter hat viele Aspekte. Wenn wir eben nicht mehr alles selbst machen können oder sogar vollkommen auf andere angewiesen sind, weil wir gepflegt werden müssen; wenn im Alter die Kräfte nachlassen - dann muss die Würde eines Menschen von anderen bewahrt werden.'
Berlin (epd). Die DAK-Gesundheit hat am 26. April in Berlin eine Studie vorgestellt über ihre Beteiligung an den Kinderkuren in der Bundesrepublik. Der Vorstandsvorsitzende der Krankenkasse, Andreas Storm, bat die Betroffenen, die als Kinder in einer Kur Gewalt erlebt haben, im Namen der DAK und persönlich um Verzeihung. In den Kinderkurheimen waren - ähnlich wie in Waisen-, Kinder- und Behindertenheimen - viele Kinder teils systematischen Misshandlungen ausgesetzt.
Den Angaben zufolge haben sich bei der DAK bisher 100 ehemalige Verschickungskinder gemeldet. Bundesweit waren von den 1950er bis in die 1990er Jahre rund zehn Millionen Kinder in Kuren geschickt worden, etwa 450.000 waren bei der DAK versichert. Die Krankenkassen bezahlten die Aufenthalte in den Kinderkurheimen, die vor allem an der Nord- und Ostsee, auf den Inseln sowie im Harz und Schwarzwald lagen. Die DAK betrieb selbst drei Kinderkurheime und arbeitete mit 65 Vertragsheimen zusammen.
Nach eigenen Angaben hat sich die DAK als erste Krankenkasse der Aufarbeitung der Missstände gewidmet. Der von der Kasse beauftragte Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Misshandlungen „eindeutig nicht um Einzelfälle handelte“, sondern in den Kinderkurheimen „eine Subkultur der Gewalt“ ihren Nährboden fand.
Kurkinder wurden gedemütigt, ans Bett gefesselt, mussten ihre Teller leer essen oder bekamen sogar Erbrochenes eingetrichtert. Sie wurden geschlagen, eingesperrt und auch Opfer massiver sexueller Gewalt. Während der Kur waren sie von der Außenwelt abgeschottet, der Tagesablauf war streng reglementiert. Die Kinder hatten während der sechswöchigen Kur keinen Kontakt zu den Eltern. Das alles wurde als Voraussetzung für einen Kurerfolg gerechtfertigt. Einige der dokumentierten Gewaltformen verstießen auch damals gegen geltendes Recht. Schmuhl zufolge waren aber viele Züchtigungsformen rechtens und hätten, auch wenn sie bekannt geworden wären, keinen Anstoß erregt.
Schmuhl recherchierte unter anderem im Zentralarchiv der DAK. Da keine Fallakten mehr existieren, beruhen seine Ergebnisse außerdem auf ausführlichen Interviews mit früheren Kurkindern, die sich inzwischen unter anderem in der Initiative Verschickungskinder organisiert haben. Der Höhepunkt des Kinderkurwesens war Mitte der 1970er Jahre erreicht. Seit 1993 gibt es keine reinen Kindererholungskuren mehr. An der Organisation der Kinderkuren waren den Angaben zufolge neben Kommunen, Jugendämtern und Krankenkassen auch Arbeiterwohlfahrt, Diakonie und Caritas beteiligt.
Das Schicksal der Verschickungskinder wird erst seit einigen Jahren erforscht. Vorstand und Verwaltungsrat der DAK hatten sich im November zu ihrer Verantwortung bekannt und beschlossen, die Vorgänge historisch untersuchen zu lassen.
Berlin (epd). Die Berliner Diakonie sieht den neuen Senat vor großen Aufgaben. Eine weitere Spaltung der Gesellschaft müsse verhindert werden. Dies gelte auch für bezahlbaren Wohnraum: „Wohnen darf kein Luxus sein“, sagte die Vorständin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Andrea Asch, im epd-Interview. Die Fragen stellte Lukas Philippi.
epd sozial: Vor welchen sozialpolitischen Herausforderungen steht der neue Berliner Senat, was sind die drei größten „Baustellen“?
Andrea Asch: Eine krisenfeste soziale Infrastruktur geht in der größten Metropole Deutschlands nur Hand in Hand mit den Wohlfahrtsverbänden. Der Koalitionsvertrag lässt dieses Verständnis an einigen Stellen erkennen. Umso mehr irritieren die zahlreichen Maßnahmen zur Bevorzugung öffentlicher Einrichtungen und ihrer Mitarbeitenden. Ein Beispiel: Die Bezahlung der Landes- und Bezirksbediensteten soll auf Bundesniveau angehoben und weiterhin um eine Hauptstadtzulage aufgestockt werden, während wir für Lohnsteigerungen für unsere Mitarbeitenden auf die Gnade der Verwaltung angewiesen sind. Als einer der größten Anbieter sozialer Hilfen in der Stadt sagen wir: Es braucht einen sinnvollen, gemeinsamen Fahrplan zur Fachkräftesicherung.
Außerdem müssen wir jetzt mit vereinten Kräften Spaltungstendenzen in unserer Stadtgesellschaft stoppen. Die Unterstützung der Schwächsten darf nicht an wirtschaftlichen Interessen oder Law-and-Order-Politik scheitern. Für eine zukunftsfeste Stadt muss die Politik Kindern und Jugendlichen ein klares Signal geben: In Berlin hat jeder und jede eine soziale Perspektive, Ihr dürft mitmachen, egal, wo Ihr herkommt: Eure Migrationsgeschichte ist eine Chance, keine Bedrohung, wir helfen euch, nicht durchs Netz zu fallen.
Das gilt auch für unsere Mitbürger, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Wohnung bezahlen sollen. Wohnen darf kein Luxus sein! Es braucht ganz konkrete und wirksame Maßnahmen für Mieterschutz, sozialen Wohnungsbau und gemeinwohlorientierten Neubau. Und jetzt ist es an der Zeit, dass die gute Vorarbeit von Wohlfahrtsverbänden und Senat zur Beendigung der Wohnungslosigkeit Früchte trägt: Dieser Marathon muss noch in der laufenden Regierungsperiode in die Zielgerade einbiegen.
epd: Unter dem rot-rot-grünen Senat war die bisherige Sozialsenatorin Katja Kipping in der Öffentlichkeit sehr präsent: Was erwarten Sie von Ihrer Nachfolgerin Cansel Kiziltepe?
Asch: Die Zusammenarbeit unserer Diakonie mit Senatorin Kipping war von großer Offenheit, Vertrauen und einem kontinuierlichen fachlichen Austausch geprägt. Wir gehen davon aus, dass Frau Kiziltepe den Bedarfen der diakonischen Träger und ihren zehntausenden Fachkräften und Ehrenamtlichen mit der gleichen Wertschätzung begegnen wird. Sie ist in unserer Stadt aufgewachsen, kennt die sozialpolitischen Herausforderungen seit ihrer Jugend und hat in landes- und bundespolitischen Ämtern ein großes Verständnis für gesellschaftliche Fragen gezeigt. Ihre Expertise in arbeits- und wohnungspolitischen Fragen und ihre Verbindungen in die Freie Wohlfahrtspflege sind eine gute Basis für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Wir freuen uns darauf, Frau Kiziltepe aus der aktiven Bundespolitik in die Themen der Landespolitik fachlich zu begleiten und ihre anpackende Art zu unterstützen.
epd: Was ist im alten Senat nicht gut gelaufen?
Asch: Die Haushaltsentscheidungen des letzten Senats tragen eine eindeutig soziale Handschrift. Viele gute Pläne konnten allerdings nicht umgesetzt werden. Zum Teil nachvollziehbar: Die Amtszeit war extrem kurz, Krise um Krise musste akut bewältigt werden. Allerdings kritisieren wir als Diakonie deutlich, dass den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege keine Gleichbehandlung mit öffentlichen Einrichtungen in Aussicht gestellt wurde: Wir übernehmen zentrale sozialstaatliche Aufgaben, ziehen aber weiterhin den Kürzeren bei wichtigen Investitionen in unsere Gebäude wie Krankenhäuser und Kitas und Mitarbeitende. Wir fordern gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Wenn unsere Träger das auf Dauer alleine stemmen müssen, kann das den Kollaps für die soziale Infrastruktur in unserer Hauptstadt bedeuten.
Hannover (epd). Soziale Kaufhäuser, wie es sie in ganz Deutschland gibt, bieten gute gespendete Waren für kleine Preise an. Dabei verändern sich die Kundschaft und auch deren Motive, sagte „Fairkauf“-Vorstand Klaus Hibbe dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Das Thema Nachhaltigkeit rückt zunehmend in den Fokus.“ Die Fragen stellte Karen Miether.
epd sozial: „Fairkauf“ wurde 2007 als eine Genossenschaft unter anderem von Diakonie und Caritas gegründet. Inwieweit hat sich seitdem die Kundschaft Ihrer Läden und der anderer sozialer Kaufhäuser verändert?
Klaus Hibbe: In den letzten Jahren ist unsere Kundschaft wesentlich vielfältiger geworden. Wir haben deutlich mehr junge Kunden gewonnen. Ein verantwortlicher Umgang mit Ressourcen ist bei vielen Menschen ins Bewusstsein gerückt. Und es ist nachhaltig, etwas zu kaufen, das schon da ist und nicht erst produziert werden muss.
Das Porzellan oder die Knoblauchpresse, die nicht ohne Weiteres kaputtgeht, kann weiter benutzt werden. Das Puzzle, das schon jemand gelegt hat, kann ich wieder puzzeln, ein Buch kann man auch ein zweites Mal lesen oder ein getragenes Kleidungsstück weiter tragen.
epd: „Fairkauf“ nennt sich gar nicht mehr soziales Kaufhaus, sondern „Secondhand-Kaufhaus“. Ein Imagewechsel?
Hibbe: Wir haben schon immer soziales Kaufhaus gesagt und nicht Sozialkaufhaus - ganz bewusst. Aber wir haben festgestellt, dass sich doch einige Menschen nicht sicher sind, ob sie bei uns einkaufen dürfen oder damit anderen etwas wegkaufen, die es nötiger haben. Diese Schwellenangst wollten wir mit dem anderen Wording nehmen. Hier darf jede und jeder kommen! Tatsächlich ist „Fairkauf“ in erster Linie ein Qualifizierungs- und Beschäftigungsträger.
epd: Was sind denn dabei die Ziele?
Hibbe: Wer bei uns einkauft, unterstützt damit unsere 141 Arbeitsplätze an unseren sieben Standorten. Wir schaffen damit sozialversicherungspflichtige tariflich bezahlte Jobs für arbeitslose und langzeitarbeitslose Menschen, die es sonst nicht geben würde und qualifizieren Menschen insbesondere für den Einzelhandel. Hinzu kommen 95 Beschäftigungsförderungsplätze in Kooperation mit dem Jobcenter.
Das zweite Ziel ist, Menschen mit geringem Einkommen mit gebrauchten Waren zu versorgen. Bei uns können sich Menschen gute Sachen leisten. Und das dritte Thema ist der Schutz der Ressourcen dadurch, dass wir die Produkte länger im Kreislauf halten und sie nicht weggeworfen werden. Das alles ist möglich durch die Hilfe derjenigen, die uns gute gebrauchte Dinge spenden.
Leipzig (epd). Die Arbeiterwohlfahrt, das Bundesjugendwerk der AWO und das Zukunftsforum Familie rufen die Bundesregierung zu einer Trendwende bei der Finanzierung zentraler kinder- und familienpolitischer Vorhaben auf. In einer Resolution, die die Sonderkonferenz der AWO in Leipzig verabschiedete, fordern die Delegierten Investitionen in die soziale Sicherung sowie die Bildung von Kindern und Jugendlichen. Die Haltung von Finanzminister Christian Lindner (FDP)zur Kindergrundsicherung sei skandalös, sagte AWO-Präsident Michael Groß am 22. April.
Er verwies darauf, dass Deutschland im europäischen Vergleich eines der Länder mit der geringsten sozialen Durchlässigkeit sei. „Wir brauchen eine echte Kindergrundsicherung, eine Investitionsoffensive für die Bildung und eine auskömmliche Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfe, damit die Lebenschancen der Kinder und Jugendlichen nicht vom Konto- und Bildungsstand der Eltern abhängen“, betonte der Präsident. Für diese wichtigen Anliegen die nötigen Mittel bereitzustellen, müsse für die selbsternannte "Fortschrittskoalition” eigentlich selbstverständlich sein.
Durch die Corona-Pandemie und die Energiekrise hat sich laut AWO die Situation armutsgefährdeter junger Menschen weiter verschlechtert. Das gelte neben der finanziellen Situation vieler Kinder und Jugendlicher auch für deren Sozialleben und Bildungschancen, ergänzte Britta Altenkamp, Vorsitzende des Zukunftsforums Familie. "Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche haben schlechtere Chancen, einen guten Schulabschluss zu machen, und sie leiden öfter unter gesundheitlichen Einschränkungen. Sie haben kleinere Freundeskreise als nicht arme Kinder, sind seltener im Sportverein und verfügen über ein geringeres Selbstwertgefühl.”
Dass die Politik hier seit Jahren nicht gegengesteuert habe, sei für den gesellschaftlichen Zusammenhalt fatal und sozial ungerecht: "Die Bundesregierung hält einerseits an der Schuldenbremse fest und besitzt andererseits nicht den Mumm, jene stärker in die finanzielle Verantwortung zu nehmen, die mehr zur Finanzierung unseres Gemeinwesens beitragen müssen und können”, sagte Senihad Sator, Vorsitzender des Bundesjugendwerks der AWO.
Kassel (epd). Pflegeeinrichtungen haben bei der Festsetzung der Pflegesätze und Entgelte Anspruch auf eine „angemessene und realistische Gewinnchance“. Legt eine Schiedsstelle „nach pflichtgemäßem Ermessen“ die Pflegesätze und Entgelte einer Einrichtung fest, kann sie hierfür das unternehmerische Risiko „über einen festen umsatzbezogenen Prozentsatz“ oder anhand der Auslastungsquote bestimmen, urteilte das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am 19. April. Erforderlich sei aber auch, dass vor dem Schiedsspruch ein Vergleich mit den Sätzen anderer Pflegeeinrichtungen gemacht wird.
In den drei entschiedenen Fällen konnten sich die stationären Pflegeeinrichtungen aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen nicht mit den Sozialhilfeträgern auf die Höhe der Pflegesätze einigen. So sollte teils das in den Pflegesätzen zu berücksichtigende unternehmerische Risiko nur in geringem Maße berücksichtigt werden.
Daraufhin wurde die Schiedsstelle angerufen. Diese zog für die Bemessung des Unternehmerrisikos die sogenannte IEGUS-Studie heran. Die vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) in Auftrag gegebene Studie analysiert und bewertet das unternehmerische Risiko von stationären Pflegeeinrichtungen. Laut Schiedsspruch sollte es für das unternehmerische Risiko danach einen Zuschlag auf die Pflegesätze von zunächst 4,96 Prozent geben. Bei einer höheren Auslastung des Pflegeheimes sollte sich dieser Wert verringern.
Das Landessozialgericht (LSG) Schleswig kippte die Entscheidung. Eine Schiedsstelle dürfe nicht pauschal einen Zuschlag für das Unternehmerrisiko festlegen und dabei die zu erwartenden Gestehungskosten, also Selbstkosten etwa für Personal oder Investitionen, außer Acht lassen. Auch müsse ein Vergleich der Pflegesatzhöhe bei anderen Einrichtungen vorgenommen werden.
Das BSG urteilte, dass die Schiedsstelle „nach pflichtgemäßem Ermessen“ über die angemessene Gewinnchance einer Pflegeeinrichtung als Teil ihrer Pflegevergütung entscheiden darf. Das unternehmerische Risiko könne „entweder über einen festen umsatzbezogenen Prozentsatz“ bestimmt werden oder „über die Auslastungsquote gesteuert werden, sofern diese im Vergleich mit anderen Einrichtungen ... so realistisch angesetzt ist, dass sie bei ordnungsgemäßer Betriebsführung zu einem angemessenen Unternehmensgewinn führen kann“.
Dennoch habe das LSG den Schiedsspruch im Ergebnis zu Recht aufgehoben, da die Schiedsstelle die festgesetzten Pflegesätze nicht mit den Sätzen anderer Einrichtungen verglichen habe.
Im dritten Verfahren hatten unter anderem der Landkreis Vechta die Kostenkalkulation eines Trägers eines stationären Alten- und Pflegezentrums gerügt. Die angesetzten Kosten für das Personal seien nicht ausreichend begründet worden. Die kalkulierten Verwaltungs- und Sachkostensteigungen seien ebenfalls nicht nachvollziehbar und erst einen Monat vor den Pflegesatzverhandlungen vorgebracht worden. Dem folgte die angerufene Schiedsstelle, die die Pflegesätze und Entgelte entsprechend geringer ansetzte.
Das LSG Celle bestätigte zwar, dass die Schiedsstelle nachvollziehbare Belege für die von der Pflegeeinrichtung geltend gemachten Gestehungskosten verlangen kann. Dennoch müsse sie neu entscheiden. Sie hätte der Pflegeeinrichtung unter Fristsetzung genau die Unterlagen benennen müssen, die sie noch für die Prüfung der Kostenstruktur benötigt.
Die Pflegeeinrichtung war mit dem Urteil trotzdem nicht zufrieden und meinte, dass der Gesetzgeber der Schiedsstelle keine „vertiefende Prüfung der Kostenstruktur“ auferlegt hat. Der Streitgegenstand sei hier nur auf die strittigen Leasingkosten für Pflegekräfte und die Bemessung eines Risikozuschlags beschränkt.
Das BSG wies die Revision des Pflegeheimträgers zurück und urteilte, dass eine Schiedsstelle sich von allen Umständen selbst überzeugen muss, „die für die Leistungsgerechtigkeit und Angemessenheit der von ihr festgesetzten Pflegesätze und Entgelte bedeutsam sind“. Es sei nicht zu beanstanden, wenn eine Schiedsstelle bei Zweifeln an den zu erwartenden Kosten einer Einrichtung weitergehende Nachweise verlangen kann.
Die Einrichtung müsse dann die voraussichtlichen Gestehungskosten plausibel und nachvollziehbar darlegen, so dass ihre Kostenstruktur erkennbar sei. Die Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit müsse im Einzelfall beurteilt werden können. Die Vorlage einer reinen Kostenkalkulation reiche in der Regel nicht aus. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass die Schiedsstelle Belege für zu erwartende Lohnsteigerungen und den Kostenansatz für Leiharbeitskräfte eingefordert habe.
Az.: B 3 P 6/22 R und B 3 P 7/22 R (Unternehmerrisiko)
Az.: B 3 P 2/22 R (Kostenkalkulation)
Erfurt (epd). Für Arbeiten in einem gemeinnützigen Yoga-Ashram, einer Art spiritueller Einsiedelei, muss mindestens der gesetzliche Mindestlohn gezahlt werden. Der Yoga-Verein als Träger kann sich nicht darauf berufen, dass er als Religionsgemeinschaft mit Selbstbestimmungsrecht arbeitenden Mitgliedern nur ein Taschengeld zahlen sowie Kost und Logis gewähren kann, urteilte am 25. April das Bundesarbeitsgericht (BAG). Die Erfurter Richter sprachen einem früheren Mitglied des im Kreis Lippe ansässigen Vereins Yoga Vidya dem Grunde nach Mindestlohn zu, über dessen Höhe nun das Landesarbeitsgericht Hamm entscheiden muss.
Die Klägerin, eine Volljuristin, lebte von März 2012 bis zum Ende ihrer Mitgliedschaft im Juni 2020 als Vereinsangehörige, in dem Yoga-Ashram von Yoga Vidya. Der 1995 gegründete gemeinnützige Verein hat das Ziel, „Yoga zu leben und weiterzugeben“. Nach eigenen Angaben ist Yoga Vidya Deutschlands größtes Yoga-Seminarhaus und Europas größtes Ausbildungsinstitut für Yoga-Lehrer.
Der Verein bietet an mehreren Standorten in Deutschland vorwiegend Kurse, Workshops oder Vorträge an. Die in den Ashrams wohnenden Mitglieder widmen ihr Leben der Übung und Verbreitung der Yoga-Vidya-Lehre. Dazu gehören auch nach Weisung ihrer Vorgesetzten profane Arbeiten, etwa in Küche, Garten oder bei der Leitung von Seminaren. Als „Leistung zur Daseinsfürsorge“ erhalten sie ein monatliches Taschengeld von bis zu 390 Euro, plus 180 Euro bei Führungsverantwortung. Kost und Logis sind frei.
Die Klägerin hielt diese Entlohnung für ihre 42-stündige Wochenarbeitszeit für zu gering und verlangte den gesetzlichen Mindestlohn. Ihr müssten noch über 46.000 Euro nachgezahlt werden. Der Verein berief sich dagegen darauf, dass er als Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft gelte und somit ein Selbstbestimmungsrecht habe, wie er seine Mitglieder bezahle.
Doch darauf kann sich Yoga Vidya nicht berufen, urteilte nun das BAG. Die Klägerin sei weisungsgebundene Arbeitnehmerin gewesen und habe Anspruch auf den Mindestlohn. Der Verein sei keine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft. Er beziehe sich nur auf ein breites Spektrum an Weisheitslehren, Philosophien und Praktiken aus östlichen und westlichen Kulturen, ohne dass dabei ein Gesamtgefüge religiöser Elemente hinreichend erkennbar sei. Die Arbeit der Mitglieder sei damit nicht ausschließlich von einem religiösen Bekenntnis geprägt, befand das Gericht.
Zwar könne sich Yoga Vidya auf die grundgesetzlich geschützte Vereinsautonomie berufen. Das könne aber nicht begründen, dass „zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen“ wie der Mindestlohn umgangen werden.
Az.: 9 AZR 253/22
Karlsruhe (epd). Für die zwangsweise Unterbringung einer psychisch kranken Straftäterin in einem psychiatrischen Krankenhaus muss die verminderte Schuldunfähigkeit während der Tat ausreichend belegt sein. Allein die Feststellung, dass die Einsichtsfähigkeit der Frau bei Tatbegehung erheblich gemindert gewesen war, reicht nicht als Nachweis für eine Schuldunfähigkeit oder eine verminderte Schuldunfähigkeit aus, stellte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am 19. April veröffentlichten Beschluss klar. Vielmehr müsse auch festgestellt werden, dass die Betroffene bei Ausführung ihrer Tat das begangene Unrecht gar nicht erkannt hat.
Im Streitfall ging es um eine an einer paranoiden Schizophrenie erkrankten Frau aus Hamburg. Sie litt an Wahnvorstellungen und meinte, dass sie Opfer zahlreicher sexueller Übergriffe gewesen sei.
Als die Frau Ende August 2020 ihre medikamentöse Behandlung abbrach, erlitt sie eine akute Psychose. In diesem Zustand ging sie am 11. September 2020 in ein Einkaufszentrum und wollte einen zweijährigen dort spielenden Jungen vor den Augen der Eltern zu sich nach Haus oder zur Polizei mitnehmen. Sie ging davon aus, dass das Kind in Gefahr sei.
Als der Vater dem Jungen zur Hilfe eilte, entgegnete sie: „Wenn ihr auf Euer Kind nicht aufpasst, dann ist das Kind halt weg“. Sie warf dem Vater noch vor, dass dieser sie zur Prostitution gezwungen habe. Es kam schließlich zu einer Rangelei, bei der der Vater des Kindes die Frau zu Boden brachte und festhielt, während sie lauthals schrie und Drohungen ausstieß. Eltern und Kind wurden durch den Vorfall nachhaltig belastet.
Das Landgericht Hamburg ordnete für die psychisch kranke Frau die zwangsweise Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Sie sei bei Tatbegehung erheblich in ihrer Einsichtsfähigkeit vermindert und damit vermindert schuldfähig gewesen.
Doch das muss schon näher begründet werden, forderte der BGH, der das Verfahren zur erneuten Prüfung an das Landgericht zurückverwies. Allein die fehlende Einsichtsfähigkeit reiche für die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit nicht aus. Es fehle die Feststellung, dass die Frau ihr Unrecht nicht erkannt hat. Nur dann sei von einer verminderten Schuldfähigkeit auszugehen.
Az.: 5 StR 79/23
Mainz (epd). Mit dem Kauf einer Handprothese, eines behindertengerechten Pkws sowie der Tilgung von aufgenommenen Schulden „verschleudern“ schwerbehinderte Langzeitarbeitslose nicht ein erhaltenes vorgezogenes Erbe. Das Jobcenter darf daher nicht von einem „sozialwidrigen Verhalten“ ausgehen und Hilfeleistungen zurückfordern, entschied das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz in Mainz in einem kürzlich veröffentlichten Urteil.
Geklagt hatte ein schwerbehinderter Arbeitslosengeld-II-Empfänger, der infolge eines Unfalls seine rechte Hand verloren hatte. Nach seinem Grafik-Design-Studium wurde er selbstständig und musste als Freiberufler Darlehen in Höhe von rund 24.000 Euro aufnehmen.
Von Juni 2012 bis 21. Dezember 2015 war er beim Jobcenter als Arbeitsvermittler befristet angestellt. Danach wurde er arbeitslos und erhielt schließlich selbst Hartz-IV-Leistungen.
Zwischenzeitlich hatte ihm seine Mutter 52.000 Euro als vorgezogenes Erbe geschenkt. Das Geld verwendete der Arbeitslose zur Begleichung seiner berufsbedingt aufgenommenen Schulden. Er kaufte sich einen behindertengerecht ausgestatteten Pkw für 16.000 Euro, unterstützte seinen körperbehinderten Sohn mit einem Vibrationsgerät und kaufte sich ein Tablet und eine neue Silikon-Handprothese.
Als das Jobcenter von der Schenkung der Mutter erfuhr, ging die Behörde von einem „sozialwidrigen Verhalten“ aus. Der Arbeitslose habe das Geld „verschleudert“. Er müsse daher bereits erhaltene Hilfeleistungen von knapp 11.000 Euro zurückzahlen.
Der Mann legte Klage ein und bekam nun vom LSG recht. Die Mainzer Richter betonten, dass das Jobcenter zwar Leistungen wieder zurückfordern kann, wenn der Arbeitslose „vorsätzlich oder grob fahrlässig“ und ohne wichtigen Grund seine Hilfebedürftigkeit verursacht und sich damit „sozialwidrig verhalten“ hat.
Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen, auch wenn der Kläger die Schenkung innerhalb von neuneinhalb Monaten ausgegeben hat. Es sei aber ein Unterschied, ob ein Arbeitsloser vertragsgemäß notwendige Kredite abbezahlt oder Anschaffungen tätigt, die zu einem durchschnittlichen, über dem Existenzminimum liegenden Lebensstandard gehören, oder ob er luxuriöse Gegenstände und Reisen sich leistet. Der Kauf einer Handprothese und die Unterstützung der Kinder stellten ebenfalls keine „missbilligenden Verhaltensweisen“ dar, entschied das LSG.
Az.: L 3 AS 208/21
Frankfurt a.M. (epd). Wegen eines nackten Sonnenanbeters im Hof darf ein Mieter die Miete nicht kürzen. Durch einen sich nackt sonnenden Mann werde „die Gebrauchstauglichkeit der Mietsache nicht beeinträchtigt“, teilte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main am 26. April mit. Werde „rein das ästhetische Empfinden eines anderen“ verletzt, führe dies nicht zu einem Anspruch auf Mietminderung.
In dem Klagefall liege auch keine „unzulässige, gezielt sittenwidrige Einwirkung auf das Grundstück“ vor, führte das Oberlandesgericht aus. Denn die Liege des Nackten sei nur dann sichtbar, wenn man sich weit aus dem Fenster herausbeuge. In dem Fall war der Vermieter einer Büroetage im vornehmen Frankfurter Westend nach Angaben des Gerichts der hüllenlose Sonnenanbeter.
Der Mieter hatte aus verschiedenen Gründen die Miete gemindert. Der Vermieter hatte mit seiner Klage auf die ausstehenden Mietzahlungen vom Landgericht überwiegend recht bekommen. Das Oberlandesgericht wies nun die Berufung des Mieters gegen das Urteil überwiegend ab. Die Nacktheit jedenfalls sei kein Argument dafür.
Az.: OLG: 2 U 43/22; LG: 2-21 O 135/17
Bielefeld (epd). Seit 1. April verantwortet Sabine Hirte beim Evangelischen Johanneswerk in Bielefeld die Behindertenhilfe. „Wir freuen uns sehr, mit Frau Hirte eine äußerst qualifizierte Kollegin gewonnen zu haben, die unser Geschäftsführungsteam künftig verstärken wird“, betont Ingo Habenicht, Vorsitzender der Geschäftsführung.
Die studierte Sozialpädagogin und Diakonin mit Masterabschluss in Diakoniemanagement ist ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der Eingliederungshilfe: Acht Jahre lang hat sie als Geschäftsführerin des Vereins für Betreuungen in Bielefeld gearbeitet, bevor sie in verantwortlicher Position für verschiedene diakonische Unternehmen tätig wurde - darunter die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und die Lebenshilfe NRW. Zuletzt war die 51-Jährige als Geschäftsleiterin maßgeblich für die Entwicklung und Steuerung bedarfsgerechter Angebote bei der Evangelischen Stiftung Hephata zuständig. Für ihre neue Tätigkeit verlässt die gebürtige Herforderin das Rheinland und zieht zurück in ihre Heimat Ostwestfalen.
Vor dem Hintergrund des neuen Bundesteilhabegesetzes hat sich das Johanneswerk zum Ziel gesetzt, die Inklusion von Menschen mit Einschränkungen verstärkt voranzutreiben. „Das kann nur durch passgenaue und individuell abgestimmte Assistenzleistungen im Bereich von ambulanter Betreuung und Wohnen, Qualifizierung und Arbeit erreicht werden“, sagte Habenicht. Sabine Hirte bringe das Wissen und die Erfahrung mit, sich dieser Herausforderung erfolgreich zu stellen. Vor allem aber sei sie motiviert, die Vision von echter Inklusion mit Leben zu füllen.
Um Teilhabe in allen Lebensbereichen zu gewährleisten, unterstützt das Johanneswerk aktuell rund 2.800 Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. Sabine Hirte: „Auf dass es uns gelingt, diese Menschen immer in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen und ihnen ein Leben in Würde, Selbstbestimmtheit und Gemeinschaft zu ermöglichen.“
Mit mehr als 70 Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen und rund 6.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Ev. Johanneswerk gGmbH eines der großen diakonischen Unternehmen Deutschlands. Die Unterstützungsangebote richten sich an alte, kranke und sterbende Menschen sowie an junge Menschen oder Familien. Sie bieten Hilfe bei Behinderung, bei Krankheit oder in Krisen.
Nina Dentges-Kapur steht seit 1. April an der Spitze des Diözesan-Caritasverbandes Freiburg. Sie übernimmt vorübergehend den Bereich Organisation, Verwaltung und Nachhaltigkeit von Claus Peter Dreher, der aus persönlichen Gründen um vorzeitige Entpflichtung gebeten hatte und zum 31. März aus dem Vorstand ausgeschieden ist. Dentges-Kapur verantwortet diesen Vorstandsbereich, bis eine reguläre Wiederbesetzung voraussichtlich im Herbst dieses Jahres erfolgen kann. Die neue Vorständin ist studierte Betriebswirtin und hat in den vergangenen 13 Jahren in verschiedenen Funktionen, zuletzt als Vorstandsmitglied, bei einem Caritasverband am Niederrhein gearbeitet. Dreher bleibt als Leiter der Abteilung Finanzen, IT und Nachhaltigkeit weiter im Diözesan-Caritasverband.
Verena Bentele, Präsidentin des VdK Deutschland, will auch den Landesvorsitz in Bayern mit übernehmen. Sie stellt sich am 4. Mai beim Landesverbandstag des bayerischen VdK zur Wahl. Die bisherige Landesvorsitzende Ulrike Mascher, die das Amt seit 2006 innehat, kandidiert nicht mehr. Die ehemalige deutsche Biathletin und Skilangläuferin Bentele ist seit Mai 2018 Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands. Mascher bezeichnete Bentele als „Wunsch-Nachfolgerin“. Sie führe den VdK auf Bundesebene „äußerst erfolgreich“. In Doppelfunktion könne sie die Interessen des VdK Bayern als größten der 13 Landesverbände im VdK Deutschland „noch besser einbringen“, sagte Mascher: Der VdK Bayern hat 775.000 Mitglieder, bundesweit sind es rund 2,1 Millionen Mitglieder.
Jochen Brühl (57), seit 2013 Vorsitzender von Tafel Deutschland, gibt im Juli sein Amt ab. Nach zehn ehrenamtlichen Jahren an der Spitze des Dachverbandes wird sich der studierte Sozialarbeiter, Diakon und Fundraiser nicht mehr zur Wahl stellen. Er leitet seit 2013 das Fundraising beim CVJM Deutschland und der Hochschule in Kassel. Insgesamt steht bei dem Votum die Besetzung von fünf Leitungsämtern im Tafel-Verband an, die für vier Jahre zu besetzen sind. Aktuell liegen noch keine offiziellen Bewerbungen vor.
Maike Henningsen (47) ist Sprecherin der Geschäftsführung bei der Mission Leben gGmbH in Darmstadt. Zugleich hat sie den Vorstandsvorsitz des diakonischen Trägers übernommen. Henningsen folgte auf Pfarrer Klaus Bartl, der sich in den Ruhestand verabschiedete. Henningsen hat Sozialpädagogik studiert und arbeitete beim Evangelischen Regionalverband Frankfurt in der Jugendhilfe. 2014 kam sie als Geschäftsfeldleiterin Soziale Arbeit zu Mission Leben und übernahm die Verantwortung für ein gutes Dutzend Hilfeeinrichtungen für Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderung oder in sozialen Notlagen im Rhein-Main-Gebiet. Die Soziale Arbeit ist der zweitgrößte Arbeitsbereich der Mission Leben, die sich außerdem in der Altenhilfe und der beruflichen Bildung engagiert. Das vor über 170 Jahren gegründete Unternehmen hat rund 2.200 Mitarbeitende. Pfarrer Florian Gärtner hat das Amt des Geschäftsführers Personal übernommen. Zudem leitet er die Akademie für Pflege- und Sozialberufe. Die Akademie gehört ebenfalls zur Mission Leben. Gärtner war zuletzt Geschäftsführer des Missionarisch-ökumenischen Dienstes (MÖD) der Ev. Kirche der Pfalz.
Stefan Schneider (65) ist nach fast 40 Jahren bei der Caritas und davon 27 Jahre als Leiter der Region Heilbronn-Hohenlohe in den Ruhestand gegangen. „Seine Herzensangelegenheit war es, Familien und deren Kindern gute Chancen zu ermöglichen. Als exzellenter Netzwerker und Beziehungsmensch hat er fast drei Jahrzehnte die Voraussetzung geschaffen, dass sich die besten Hilfen ansiedeln konnten“, sagte Direktor Oliver Merkelbach. Unter Schneiders Leitung sei die Zahl der Mitarbeitenden auf 240 angewachsen ist. Schneiders Nachfolge tritt am 1. Mai Ulf-D. Schwarz (48) an. Der studierte Betriebswirt, Politikmanager und Fundraiser war zuletzt Geschäftsführer Finanzen und Immobilien bei der CaritasStiftung Lebenswerk Zukunft.
Dirk Neumann, ehemaliger Vizepräsident des Bundesarbeitsgerichts (BAG), hat am 26. April sein 100. Lebensjahr vollendet. Neumann, geboren in Glauchau in Sachsen, begann seine berufliche Laufbahn nach Studium und Referendariat 1952 in der Arbeitsgerichtsbarkeit des Landes Nordrhein-Westfalen. Im April 1965 wurde er zum Richter am Bundesarbeitsgericht berufen, im Januar 1978 zum Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht und im Februar 1986 zum Vizepräsidenten des Bundesarbeitsgerichts ernannt. Neumann hat während seiner über 25-jährigen Dienstzeit beim BAG an sehr vielen wichtigen Entscheidungen im Tarifvertragsrecht mitgewirkt und dabei die Rechtsprechung des Gerichts entscheidend geprägt. Nach der Wiedervereinigung trat er in den Justizdienst des Freistaats Sachsen ein und arbeitete beim Aufbau der sächsischen Arbeitsgerichtsbarkeit mit. Im Juli 1992 wurde er zum Präsidenten des Sächsischen Landesarbeitsgerichts ernannt und war damit Gründungspräsident dieses Gerichts.
9.5.:
Online-Seminar „Einstieg in die Welt der öffentlichen Fördermittel - EU, Bund, Länder und Kommune“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/98817-159
9.-23.5.:
Online-Kurs: „Aufgaben und Pflichten ehrenamtlicher Aufsichtsräte“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10
10.-12.5. Freiburg:
Seminar „Wenn das Miteinander zur Herausforderung wird - Fach- und Führungskräfte als Vermittelnde bei Konflikt und Mobbing“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
11.5. München:
Seminar „Datenschutz im Gesundheitswesen“
der Unternehmensberatung Solidaris
Tel.: 0251/48261-194
12.5. Berlin:
Seminar „Gefunden. Gebunden! Trends und Praxis in der Mitarbeiter:innen-Bindung“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828-221
22.5.:
Online-Seminar „Die Dublin-III-Verordnung - Eine Einführung“
Tel.: 030/26309-139
23.-25.5.:
Fortbildung: „Aufsuchen statt Abwarten - Grundlagen Streetwork“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837-495