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Pflege

Interview

KDA-Chef Kneppe: Pflege darf kein Armutsrisiko sein




Helmut Kneppe
epd-bild/Kuratorium Deutsche Altershilfe
Die Heimkosten für Pflegebedürftige steigen weiter. Die Politik müsse endlich handeln, fordert KDA-Vorsitzender Helmut Kneppe: "Es braucht eine solidarische Finanzierung der Pflege. Eine breitere Beteiligung und einen höheren Anteil, der durch Steuern finanziert wird", sagt er im Interview.

Berlin (epd). Natürlich brauche die Pflege mehr Geld. Aber das alleine reiche nicht, betont Helmut Kneppe. Er wirbt für eine grundlegende Pflegereform, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt: „Leider sind die Beharrungskräfte ganz enorm. Wir fordern eine Pflege-Reformkommission ohne Denkbeschränkungen, Mut zur Evidenz, Mut zum Loslassen und zum Zulassen neuer Strukturen“. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Kneppe, nach Angaben des Verbandes der Ersatzkassen waren 2022 für einen Heimplatz monatlich im Schnitt 2.411 Euro Eigenbeteiligung fällig, wenn die pflegebedürftige Person hier bis zu zwölf Monate versorgt wurde. Ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr um 278 Euro. Solche Summen können die wenigsten Rentnerinnen und Rentner aufbringen und landen in der Sozialhilfe ...

Helmut Kneppe: Ja, das ist leider so. Laut Bundessozialministerium lebt etwa jeder fünfte Ruheständler mit einer Rente von weniger als 500 Euro im Monat. Die durchschnittliche Rente lag laut Deutscher Rentenversicherung 2022 bei Männern bei 1.218 Euro, bei Frauen bei 809 Euro. Die gestiegenen Eigenteile, die Pflegebedürftige und ihre Familien aufbringen müssen, drängen immer mehr Menschen in die Sozialhilfe. Der Bremer Gesundheitsökonom Professor Heinz Rothgang hat in einer Studie für die DAK errechnet, dass schon 2026 36 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen Sozialhilfe brauchen werden. So müssen Rentnerinnen und Rentner die Erfahrung machen, dass sie am Ende ihres Lebens zu Bittstellerinnen und Bittstellern werden, die ein Taschengeld zugewiesen bekommen.

epd: Es gibt seit Jahren den Versuch, mit gestaffelten Zuschüssen der Pflegekassen zu den Eigenanteilen die Belastungen zu senken. Ist dieses Modell gescheitert?

Kneppe: Die Einführung der gestaffelten Leistungszuschüsse im Januar 2022 hat zwar kurzzeitig die Sozialhilfequote bei den Heimbewohnern auf rund 30 Prozent gesenkt. Infolge der jetzigen Preissteigerungen etwa für Energie und Personal werden die Zuschüsse aber verbraucht, so dass die Sozialhilfequote laut Rothgang bereits in diesem Jahr wieder auf 32,5 Prozent ansteigen und 2026 voraussichtlich bei 36 Prozent liegen wird. Das Ziel, die Sozialhilfequote unter 30 Prozent - auch das wäre noch zu hoch - zu senken, wird damit deutlich verfehlt. Es besteht also viel Handlungsbedarf, denn Pflege darf kein Armutsrisiko für Menschen und ihre Familien bedeuten.

epd: Die Bundesregierung hält weiter an dem System fest. Die Zuschüsse sollen aber ab 2024 steigen. Ein umfassender Umbau der Heimfinanzierung sieht anders aus. Welche Forderungen erhebt das KDA?

Kneppe: Wir setzen uns dafür ein, Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Pflegebedürftigkeit und Sorgeaufgaben werden jedoch nach wie vor häufig als individuelle Schicksale und familiäre Aufgaben behandelt. Sorgeaufgaben sind aber gesellschaftliche Aufgaben und deshalb auch als von der Gesellschaft zu organisierende Aufgabe anzusehen.

epd: Das endet ja eben nicht beim Geld ...

Kneppe: Nein. Das muss sich auch in der Finanzierung der Pflegekosten widerspiegeln. Und zwar nicht nur dann, wenn Sozialhilfebedürftigkeit besteht. Um die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Sorgearbeit zu stärken, halten wir es für erforderlich, in Zukunft die Refinanzierung der Finanzlücken bei den Pflegekosten auf breitere Schultern zu stellen und nicht primär über einen weiteren Beitrag der Versicherten abzudecken.

epd: Was ist zu tun?

Kneppe: Ein erster Schritt in diese Richtung wäre, wenn man die im Koalitionsvertrag schon zugesagte Finanzierung von versicherungsfremden Leistungen wie etwa die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige aus der Pflegeversicherung herausnehmen würde und sie über einen Bundeszuschuss finanziert. Speziell zur Finanzierung der stationären Versorgung wäre es hilfreich, wenn wir mehr Flexibilität ermöglichen würden. Die pauschalen Leistungspakte sind von vielen Heimbewohner kaum noch zu finanzieren. Mehr Wahlmöglichkeiten auch bei der Heimversorgung schafft nicht nur eine stärker am persönlichen Bedarf orientierte Versorgung, sondern schafft Ersparnis durch Verzicht auf Leistungen, die zum Beispiel von Angehörigen oder Ehrenamtlichen erbracht werden können.

epd: Warum kommt es auch nach Jahren erkannter Probleme bislang nicht zu einem großen Wurf bei den Reformen?

Kneppe: Es ist ein bisschen wie bei den verpassten Klimamaßnahmen: Je länger wir warten, desto schmerzhafter und teuer werden die unausweichlichen Reformen. Im Klartext: Wir kommen um eine grundlegende Reform der Pflegefinanzierung nicht herum. Der Anzug, der einst für unser Sozialsystem geschneidert wurde, passt nicht mehr. Reparaturen hier und da reichen nicht mehr. Das Offensichtlichste ist: Es gibt immer weniger Menschen, die Sozialabgaben einzahlen, aber immer mehr, die Leistungen erhalten. Hinzu kommt der gesellschaftliche und der strukturelle, digitale Wandel. Werden für Maschinen Abgaben gezahlt? Tatsächlich bräuchte es eine solidarische Finanzierung des Alters und der Pflege - das heißt eine breitere Beteiligung und einen höheren Anteil, der durch Steuern finanziert wird. Die Beitragszahlenden und pflegebedürftigen Menschen müssen deutlich entlastet werden und ihre Leistung die angemessene Wertschätzung erfahren. Diese Forderung ist nicht neu. Leider sind die Beharrungskräfte ganz enorm. Wir fordern eine Pflege-Reformkommission ohne Denk-Beschränkungen, Mut zur Evidenz, Mut zum Loslassen und zum Zulassen neuer Strukturen.

epd: Viele Fachleute sehen als einzig sinnvolles Modell die Umkehr der Zahlbeträge: Jeder Pflegebedürftige im Heim zahlt einen fixen Betrag, der natürlich politisch festgelegt werden müsste, die Pflegekassen übernehmen den Rest aller Kosten.

Kneppe: Der Spitze-Sockel-Tausch, den Sie meinen, bei dem nur noch ein Sockelbetrag vom pflegebedürftigen Menschen aufgebracht wird, alles darüber hinaus aber von der Kasse übernommen wird, wäre ein sinnvoller Teil einer Reform. Ähnliches gilt für die Vorschläge, die gerade vom Expertenrat „Pflegefinanzierung“, der von der Privaten Krankenversicherung eingesetzt wurde, vorgelegt wurden: Einzelne Aspekte sind gut, wie eine Pflege-Pflichtversicherung, andere kommen zu kurz, wie die Berücksichtigung der Kosten für Unterkunft und Verpflegung in der Pflege, die ambulante Pflege oder die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen - eine tragende Säule in der Pflege. Insofern sind die Vorschläge nur Teile einer grundlegenden Reform, die wir brauchen.

epd: Deutschland wird immer älter, die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden Jahrzehnten deutlich steigen. Lässt sich der hohe Betreuungsbedarf künftig überhaupt mit der stationären Pflege auffangen oder braucht es ganz andere Gesellschaftsbilder und bessere Möglichkeiten der Pflege daheim?

Kneppe: Die stationäre und die ambulante Pflege sind bereits jetzt überlastet - Stichwort Kosten und Fachpersonalmangel. Bereits jetzt werden rund 86 Prozent der Menschen mit Pflegebedarf zuhause betreut, die meisten privat von Angehörigen oder Freunden. Sprich: Den größten Pflegedienst in Deutschland organisiert bereits jetzt nicht der Staat, sondern die Gesellschaft. Der Staat steht hier jedoch eindeutig in der Pflicht, für ein würdevolles Altern und eine würdevolle Pflege zu sorgen. Und ja, vieles wäre mit einer angemessenen Finanzierung der Pflege erreicht.

epd: Das aber reicht nicht, sagen Sie ...

Kneppe: Tatsächlich ist die Herausforderung aber derart groß - auch wegen bereits verschleppter Reformen -, dass wir dringend auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt angewiesen sind. Wir sollten das Potenzial an Nachbarschaftshilfe und ehrenamtlicher Bereitschaft, das sich auch während der Pandemie gezeigt hat, niederschwellig, aber effektiv auf kommunaler Ebene organisieren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat recht wenn er sagt: 'Würde im Alter hat viele Aspekte. Wenn wir eben nicht mehr alles selbst machen können oder sogar vollkommen auf andere angewiesen sind, weil wir gepflegt werden müssen; wenn im Alter die Kräfte nachlassen - dann muss die Würde eines Menschen von anderen bewahrt werden.'