sozial-Politik

Einsamkeit

Kaum jemand gibt zu, dass ihm Kontakte fehlen




Werner Köhler (Name geändert) in einem Café in Hannover
epd-bild/Jens Schulze
Instagram, TikTok, WhatsApp: Noch nie gab es so viele Kommunikationskanäle, noch nie so viel Vernetzung. Rücken die Menschen zusammen? Nein, im Gegenteil. 2017 waren 14 Prozent der Menschen einsam, 2021 mehr als 42 Prozent. Das hat schwere Folgen.

Hannover (epd). Werner Köhler (Name geändert) hat sich schick gemacht: Unter seinem Blazer trägt er ein weinrotes Hemd mit Pullunder, der Knoten der grau-rot gestreiften Krawatte sitzt perfekt, ebenso das Einstecktuch. Er bestellt Kaffee und Quarkbällchen, lächelt und beginnt zu erzählen. Von seinem Leben - und seiner Einsamkeit. Zwischendurch hält er inne. „Ich hoffe, ich rede nicht zu schnell“, sagt er. „Wenn man sonst niemanden zum Reden hat, will man viel unterbekommen.“

Köhler ist einsam, schon lange. Der Hannoveraner ist seit zwölf Jahren Rentner, nicht verheiratet, kinderlos. Zu seinen Eltern hatte er ein inniges Verhältnis, auch zu Tante und Onkel, zu seiner ganzen Familie. Aber von ihnen lebt niemand mehr. Es gibt einen alten Schulfreund: „Den treffe ich manchmal.“

Lockdowns verstärkten die Einsamkeit

So wie dem 73-Jährigen geht es vielen Menschen. Einer wiederkehrenden repräsentativen Befragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge waren in Deutschland 2017 rund 14 Prozent der Menschen zumindest gelegentlich einsam, 2021 sagten das 42,3 Prozent über sich. Pandemie und Lockdowns verstärkten das Problem.

Einsamkeitsgefühle würden vor allem junge Erwachsene sowie Senioren kennen, erklärt das „Kompetenznetz Einsamkeit“, das vor rund einem Jahr gegründet wurde und vom Bundesfamilienministerium im Rahmen einer „Strategie gegen Einsamkeit“ gefördert wird. Besonders gefährdet seien Menschen in Übergangssituationen wie dem Einstieg in die Ausbildung oder die Rente. Ferner litten Singles, Alleinerziehende, Migranten sowie arme, kranke und sehr alte Menschen häufiger unter Einsamkeit als andere.

Fehlende soziale Kontakte führen zu Krankheiten

Die Folgen sind gravierend. Chronische Einsamkeit erhöht dem WDR-Wissenschaftsmagazin Quarks zufolge unter anderem die Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Angsterkrankungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Demenz. „Soziale Isolation wirkt sich negativer auf die Gesundheit aus als Rauchen, Alkohol und Fettleibigkeit“, schreibt sogar Yvonne Wilke, Expertin für Alter und Einsamkeit beim Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt am Main, in einer Analyse für das „Kompetenznetz Einsamkeit“.

Corona und digitale Kommunikation haben nach Einschätzung von Theologin Helene Eißen-Daub die Einsamkeit in der Gesellschaft verstärkt. „Die Menschen haben verlernt, von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren, soziale Phobien nehmen zu“, sagt die Pastorin, die in Hannover für den kirchlichen Besuchsdienst zuständig ist. Einsamkeit sei ein Tabuthema und werde oft nur zufällig entdeckt, etwa wenn Kirchenmitarbeiterinnen und Kirchenmitarbeiter zu einem Geburtstag gratulierten. „Kaum einer gibt zu, dass er einsam ist, vor allem die ältere Generation hat verinnerlicht, sich selbst und ihre Bedürfnisse nicht so wichtig zu nehmen.“

„Viele Menschen sind gleichgültig geworden“

Werner Köhler möchte über seine Einsamkeit reden, er möchte sie verstehen. Die digitalen Medien sind auch für ihn Teil einer Erklärung. Er wohne seit Kindertagen im gleichen Haus, aber die Menschen kenne er nicht mehr, sagt er: „Die schauen alle nur auf ihr Handy.“ Früher habe man viel mehr miteinander gesprochen, da sei immer mal jemand vorbeigekommen. Ein Schnack auf der Straße, im Treppenhaus, das alles gebe es nicht mehr. „Die Menschen sind in Eile und gleichgültig.“

Menschen kennenlernen, Freundschaften schließen - das geschieht oft im beruflichen Umfeld. Köhler hat als Großhandelskaufmann und Betriebswirt gearbeitet. Warm geworden ist er mit seinem Beruf nie. „Ich bin nicht der Typ, der die Ellbogen ausfährt oder sich anbiedert.“ Etwas Handwerkliches wäre vielleicht eher was für ihn gewesen. „Das habe ich aber zu spät gemerkt.“

Studierende ziehen sich oft zurück

Psychologie-Professorin Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum definiert Einsamkeit als „eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen“. Dass unter diesem Gefühl auch junge Menschen leiden, bestätigt Reinhard Mack, Leiter der psychotherapeutischen Beratungsstellen des Deutschen Studierendenwerkes. „Unser Eindruck ist, dass Studierende weniger aufeinander bezogen sind, sich mehr zurückziehen“, sagt er.

Mack verweist außerdem auf Erfahrungen aus den Wohnheimen: Der Wunsch nach Einzelappartements nehme zu - die Bereitschaft, sich in Wohngemeinschaften zu engagieren, dagegen ab. Den digitalen Wandel sieht auch Mack in diesem Zusammenhang kritisch. Der Vergleich mit anderen durch Social Media, „die vermeintlich toller leben, besser im Studium und überall beliebt sind“, verstärke das Problem. „Viele meinen, nicht mithalten zu können und wählen den Rückzug.“

„Plauderkasse“ im Supermarkt als Pilotprojekt

Einsamkeit ist nicht allein ein deutsches Problem. Japan hat vor zwei Jahren einen Minister für Einsamkeit und soziale Isolation ernannt, in Großbritannien existiert seit 2018 eine nationale Strategie gegen Einsamkeit, auch die WHO will sich dem Thema „Social Connection“ widmen.

Eine charmante Idee stammt aus den Niederlanden: Eine Supermarktkette hat in ihren Filialen „Chat-Kassen“ für einsame Menschen eingerichtet. An den Plauderkassen, die es inzwischen auch als Pilotprojekt im bayrischen Schweinfurt gibt, darf an der Kasse geklönt werden. So wie früher im Tante-Emma-Laden - Werner Köhler wäre hier sicher gerne Stammkunde.

Julia Pennigsdorf


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