Hannover (epd). Selly Demirok ist auf aggressive Blicke gefasst, wenn sie morgens am Hinterausgang des Hauptbahnhofs in Hannover an Junkies vorbeigeht. Ihre schwarze Security-Kleidung erregt Misstrauen. „Immer wenn ich hier langgehe, denke ich, gleich passiert irgendwas. Wegen meiner Stichschutz-Weste halten mich viele für eine Polizistin eines Sondereinsatzkommandos oder irgendeine Agentin“, sagt die eher zierliche 25-Jährige und lacht. Demirok ist auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, dem Kontaktladen Mecki für Obdachlose am Rande von Hannovers Innenstadt.
Die Wartenden vor dem Wohnungslosentreff freuen sich, die junge Frau zu sehen, die hier alle nur Selly nennen. Seit einem Jahr arbeitet die türkischstämmige Demirok als Security-Kraft in dem Tagesaufenthalt. Doch für die Besucherinnen und Besucher ist sie viel mehr als das. Denn Demirok hört zu. „Alles gut? Brauchst du einen Krankenwagen?“, fragt sie einen Mann, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Gepäck-Trolley stützt. Nein, es gehe schon, antwortet der Mann.
Bald nachdem die Sozialarbeiter der Diakonie die Türen aufgeschlossen haben, stehen die Besucher für das Frühstück an. Demirok beobachtet die Schlange und sucht immer wieder Blickkontakt mit den Mitarbeitern hinter der Theke. Konflikte darüber, wer zuerst an der Reihe ist, bleiben an diesem Morgen aus. „Wegen solcher Streitereien schlagen sich die Leute manchmal. Dann muss ich dazwischengehen“, sagt Demirok, während sich die ersten an die Tische setzen. Viele nutzen ihren Ruheplatz auch, um zu schlafen oder zu lesen. Drogen zu konsumieren oder zu dealen, ist streng verboten. „Wenn ich das beobachte, schreite ich ein.“
Körperliche Gewalt setzt die in Selbstverteidigung geschulte Security-Frau aber nur im Notfall ein. „Ich versuche immer, Ruhe zu bewahren und deeskalierend zu arbeiten.“ Nur einmal, als sie noch neu war, sei eine Situation nachts im „Mecki 2“ beinahe außer Kontrolle geraten. Nachdem Demirok eine Besucherin aufgefordert hatte, ihre Corona-Maske aufzusetzen, habe die Frau sie geboxt und geschubst. Demirok wollte die Frau packen, aber ihr Chef ging dazwischen. „Danach kamen mir vor lauter Aggression die Tränen. So etwas passiert mir nicht mehr, heute bin ich abgehärtet“, sagt sie.
Demirok geht hinaus und wirft einen prüfenden Blick auf die Menschengruppen, die sich wenige Meter entfernt auf dem Raschplatz aufhalten. Der Ort ist seit langem ein Hotspot der Drogenszene. Als während der Corona-Krise Junkies Mecki-Mitarbeiter immer öfter bedrohten und sich die Prügeleien vor der Tür häuften, entschied sich die Diakonie, dauerhaft einen Sicherheitsdienst zu engagieren. „Es kann immer mal passieren, dass einer ein Messer rausholt“, sagt Demirok und zeigt ihre stichfesten Handschuhe. Besonders aggressiv seien Menschen, die Stoff bräuchten, aber keinen haben.
Angst habe sie nie, sagt Demirok, zumal sie sich hundertprozentig auf ihre Kollegen verlassen könne. Auch an Beleidigungen habe sie sich gewöhnt. Ihr gefalle der Job, betont sie. Denn meistens könne sie ihre Zeit mit den Menschen teilen, etwa indem sie Kaffee ausschenkt oder mit Besuchern auf eine Zigarette vor die Tür geht. Mittlerweile kenne sie so viele Lebensgeschichten, dass sie verstehe, warum Menschen auf der Straßen landen, trinken oder Drogen nehmen. „Vielen fehlt Liebe“, fasst sie zusammen.
Ihr Chef Asaad Rescho ist froh über seine Mitarbeiterin. „Selly hat den Umgang mit den Menschen drauf“, sagt er. Tatsächlich bekomme sie viele gute Rückmeldungen von Besuchern, ergänzt Demirok: „Manch einer sagt 'Mensch, ich habe dich vermisst', wenn ich mal ein paar Tage nicht da war. Da fühlt man sich schon wohl.“
Am späten Vormittag, kurz bevor der Laden schließt, müssen Demirok und ihr Kollege doch noch Gewalt anwenden. Ein offenbar betrunkener Mann sitzt an einem Tisch und weigert sich aufzustehen. „Lass mich in Ruhe, Mann“, schreit er, als Demirok ihn bittet zu gehen.
Als die Security-Leute versuchen, den Besucher nach draußen zu begleiten, lässt sich der Mann fallen und tritt um sich. Demirok und ihrem Kollegen gelingt es, die Situation zu lösen, ohne dass jemand verletzt wird. „Das war stressig“, sagt sie hinterher, gibt sich aber gelassen: „So was kommt halt vor.“