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Arbeit

Interview

Arbeitsmarktforscher: "Knappheit selbst in Helferbereichen"




Ulrich Walwei
epd-bild/Wolfram Murr
Der Arbeitsmarktforscher Ulrich Walwei sieht Arbeiter und Angestellte in einer Position zunehmender Stärke. "Wir haben jetzt eine Situation, in der sich die Marktmacht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbessert", sagte er im epd-Interview.

Nürnberg (epd). Die Lage von Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist regelmäßig Gegenstand politischer Diskussionen. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst erklärt Ulrich Walwei, Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, was prekäre Beschäftigung und Biografien sind und welches Ausmaß sie aktuell hat. Die Fragen stellte Susanne Rochholz.

epd sozial: Wie genau definieren Fachleute den Begriff „prekäre Arbeit“?

Ulrich Walwei: Prekäre Arbeit bedeutet einerseits eine unsichere Beschäftigung, weil damit das Risiko besteht, mit Verlust der Arbeit auch die materielle Lebensgrundlage zu verlieren. Wenn das dann auch noch gepaart ist mit niedriger Entlohnung, dann haben wir in aller Regel eine Situation, die man als prekär bezeichnen kann - wobei es immer stark auf den Kontext ankommt: Ist es eine Übergangssituation oder besteht die Konstellation auf Dauer? Denn wenn mit der Zeit ein Aufstieg am Arbeitsmarkt gelingt, dann ist das eine ganz andere Situation als wenn sich eine Person über längere Zeit in einer prekären Situation befindet. Als Zweites sind auch Partnereinkommen von Bedeutung, denn dann muss ein individuell niedriges Einkommen keine prekäre Lebenssituation bedeuten. Ich benutze häufig auch den Begriff der „prekären Biografie“, denn daran muss in jedem Fall gearbeitet werden. Leider gibt es für Deutschland viele Befunde, die zeigen, dass es Schwierigkeiten gibt, Menschen da herauszuführen.

epd: Sie haben keine Verdienst-Schwelle genannt, unter der ein Arbeitsverhältnis als prekär anzusehen ist. Gibt es eine solche Untergrenze?

Walwei: Da steckt der Teufel im Detail. Der Mindestlohn beispielsweise ist auf die Stunde festgelegt - aber trotzdem kann ich in einer schwierigen Einkommenssituation sein, vor allem dann, wenn ich ein Arbeitsverhältnis mit nur wenigen Stunden habe. Das kann mir sogar passieren, wenn ich einen relativ hohen Stundenlohn habe! Deswegen sind Stunden- wie Monatslohn von Bedeutung. Es gibt eine sogenannte Niedriglohnschwelle, die auch in der ganzen Verteilungsdiskussion eine Rolle spielt: Das sind in der Regel Zweidrittel des mittleren Stundenlohns - also etwa 10 Euro. Das heißt, der Mindestlohn von 12 Euro liegt darüber.

epd: In Deutschland gilt ein bundesweit einheitlicher Mindestlohn, egal ob jemand eher günstig in ländlichen Gegenden oder in teuren Ballungsräumen wie München wohnt. Warum?

Walwei: Die Lebenshaltungskosten vor Ort spielen beim bundeseinheitlichen Mindestlohn keine Rolle. Das Wohngeld bietet in solchen Situationen eine gewisse Unterstützung, aber nicht immer einen kompletten Ausgleich! Dazu haben wir vor ein paar Wochen eine Studie gemacht, die das nochmal eindrucksvoll herausarbeitet. Sie zeigt, dass der Mindestlohn in München nicht so viel wert ist wie in Mecklenburg-Vorpommern abseits der großen Touristenorte. Der Autor argumentiert auch in Richtung eines regional gestaffelten Mindestlohnes, der sich stärker an den Lebenshaltungs- und Mietkosten in der jeweiligen Region ausrichtet. Demnach würde Arbeit je nach Region und Lebenshaltungskosten unterschiedlich bezahlt. Wissenschaftlich ist das eine Option, die sich aus der Fragestellung ableitet. Aber die Politik muss natürlich auch andere Aspekte berücksichtigen.

epd: Seit den rot-grünen Arbeitsmarktreformen zu Beginn der 2000er Jahren gibt es die Klage, dass diese Reformen vor allem einen Niedriglohnsektor geschaffen hätten. Deckt sich das mit Ihren Zahlen?

Walwei: Die Aussage ist sehr stark vereinfacht. Die Entwicklung des Niedriglohnbereichs hat deutlich vor den Arbeitsmarktreformen eingesetzt. Vor allem seit Mitte der 90er Jahre hatten wir ein Wachstum der Lohnungleichheit. Das hielt an bis zum Ende der Nuller-Jahre. Seitdem - und da haben die Arbeitsmarktreformen schon gewirkt - hat sich die Lohnungleichheit sogar eher etwas verringert. Wir haben eine Untersuchung von 2018, die auf einen Wert von ungefähr zehn Prozent der Erwerbstätigen kommt, die in prekärer Arbeit und Lebenssituation sind. Den Rückgang führen wir stark darauf zurück, dass sich der Arbeitsmarkt verbessert hat. In Teilen haben wir echte Knappheiten, selbst in Helferbereichen! Da gibt es Aufholeffekte.

Wir haben sogar einen Rückgang der Selbstständigkeit, auch bei den Ein-Personen-Selbstständigen. Das hat auch damit zu tun, dass der Arbeitsmarkt für Erwerbspersonen mehr Möglichkeiten bietet. Und es gibt Hinweise, dass die Arbeitsmarktreformen mit dazu beigetragen haben, dass der Arbeitsmarkt sich erholt hat. Aber die Reformen sind natürlich ambivalent, sie haben mehr Möglichkeiten am Arbeitsmarkt geschaffen, aber auch teilweise mehr Druck - gar keine Frage!

epd: Wie sind die Aussichten?

Walwei: Wir haben jetzt eine Situation, in der sich die Marktmacht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbessert. Aber für Personen, die in irgendeiner Weise schwierige Biografien haben, wird es nicht automatisch leichter. Diese Menschen bedürfen weiterhin einer besonderen Aufmerksamkeit, auch einer arbeitsmarktpolitischen Förderung. Hier kann es dann auch ein Erfolg sein, wenn sie in eine auch nur prekäre Beschäftigung kommen, weil das immer noch besser sein kann als Arbeitslosigkeit. Daraus kann dann auch ein Aufstieg gelingen. Die ganzen Reformen abzuschaffen, würde alles sehr, sehr stark wieder einschränken. Arbeitsmarktpolitische Instrumente müssen genutzt werden für Aufwärtsmobilität, um den Menschen Perspektiven zu bieten.

epd: Bekommen Sie mit, welche sozialen oder anderen Probleme Menschen mit prekären Lebensläufen aus ihrer eigenen Sicht vor allem belasten?

Walwei: Zunächst mal ist die Situation, dass sie sich vieles nicht leisten können. Das ist Einkommensarmut. Da sind tatsächlich auch Erwerbstätige mit niedrigen Einkommen dabei, das zeigen Untersuchungen. Oft geht Niedriglohnbeschäftigung einher mit sehr belastenden Arbeitsbedingungen. Da kann es Stress und körperliche Belastungen geben. Und nicht zuletzt gibt es Sorge um die Zukunft, etwa um die Alterssicherung. Das treibt die Leute schon sehr um und macht das Leben in solchen Beschäftigungsverhältnissen schwer. Umso wichtiger sind sogenannte Sprungbrett-Effekte. Die Leute haben den ersten Schritt gemacht, aber es ist wichtig, dass ein zweiter oder dritter folgt.