sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die gesunkenen Corona-Inzidenzen machen Besuche in der Zentralredaktion des Evangelischen Pressedienstes wieder möglich: Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, kam aus Interesse für die journalistische Arbeit des epd in die Redaktionsräume - und zum großen Interview: In einem über einstündigen Gespräch skizzierte die erste Frau an der Spitze des katholischen Wohlfahrtsverbands ihre Pläne zur digitalen Transformation der Caritas. Sie forderte für die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe mehr Unterstützung. Großkrisen wie die Erderwärmung, die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine verlangten, „eine neue Widerstandsfähigkeit des Sozialstaates zu gestalten. Wir müssen unsere soziale Infrastruktur strukturell absichern, um nicht auf jede neue Krise ad hoc improvisiert reagieren zu müssen.“

Fachkräfte aus dem Ausland sind für das Pflege- und Gesundheitswesen in Deutschland unverzichtbar. Ohne die zugewanderten Pflegerinnen und Ärzte würde das System kollabieren, stellt der Sachverständigenrat für Integration und Migration in seinem Jahresgutachten fest.

Menschen mit kruden Vorstellungen zu Corona oder mit schwer erträglichen Ressentiments gegen Ausländer kommen auch in die Sozialberatung. Wie sollen sich Sozialberaterinnen und Sozialberater professionell zu ihnen verhalten? Sie können ihren schwierigen Klientinnen und Klienten ja schlecht aus dem Weg gehen. Unsere Reporterin Pat Christ hat sich in der Branche umgehört und als Leitlinie erfahren: Toleranz üben, aber auch Grenzen setzen.

Pflegeeltern nehmen Kinder zu sich, wenn ihnen durch ihre leiblichen Eltern Schaden droht. Der Aufenthalt bei Pflegeeltern ist nicht unbedingt auf Dauer ausgelegt. Eine Rückkehr des Kindes zu den Herkunftseltern darf aber nur erfolgen, wenn zuvor in einem psychologischen Gutachten geklärt wurde, ob dadurch das Kindeswohl gefährdet wird. Das entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

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Markus Jantzer




sozial-Thema

Verbände

Interview

Caritas-Präsidentin: "Wir müssen die soziale Infrastruktur absichern"




Eva Maria Welskop-Deffaa
epd-bild/Heike Lyding
Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, will die digitale Erreichbarkeit der Caritas verbessern - auch um eine Konkurrenz "der Amazons und Googles dieser Welt" abzuwehren. Im Interview sprach sie sich angesichts der fortlaufenden Großkrisen für eine Neujustierung des Sozialstaats aus.

Frankfurt a.M. (epd). Eva Maria Welskop-Deffaa ist „davon begeistert, dass das Leid der Geflüchteten aus der Ukraine eine so große Solidarbereitschaft auslöst“. Jedoch müsse die Solidarität der Bevölkerung in Deutschland auch nachhaltig unterstützt werden, forderte die Caritas-Präsidentin im epd-Interview. „Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist sicher keine uneingeschränkte Erfolgsgeschichte“, sagt sie zu der umstrittenen Entscheidung des Bundestages. Doch immerhin sei es damit gelungen, die Impfquote der Beschäftigten in der Gesundheits- und Pflegebranche zu steigern. Welskop-Deffaa wurde im Oktober zur Caritas-Präsidentin gewählt. Mit ihr sprachen Dirk Baas und Markus Jantzer.

epd sozial: Frau Welskop-Deffaa, Sie sind seit einem halben Jahr Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes und für sechs Jahre gewählt. Was haben Sie sich als Spitzenvertreterin des katholischen Wohlfahrtsverbandes vorgenommen?

Eva Maria Welskop-Deffaa: Es sind drei Anliegen, die ich mir vorgenommen habe: Das erste hängt mit dem 125-jährigen Jubiläum des Caritasverbandes zusammen. „Zukunft denken, Zusammenhalt leben: #DasMachenWirGemeinsam“. Mit diesem Motto des Jubiläumsjahres erinnern wir an die Gründungsgeschichte des Verbandes. Eine kleine Elite des katholischen Deutschlands schaute damals auf die große, vitale und vielfältige katholisch-soziale Bewegung des 19. Jahrhunderts und stellte fest, dass diese zersplitterten Initiativen weit hinter ihren Möglichkeiten zurückblieben. Die katholischen Hilfen für die Menschen am Rande der Gesellschaft verlangten nach mehr Koordination und Organisation, um die Angebote verlässlich und in hoher Qualität erbringen zu können. Es war eine großartige Entscheidung, eine Dachorganisation zu schaffen. Und genau das müssen wir heute neu buchstabieren: Wie schaffen wir es, unsere verschiedenen Fachpolitiken so zusammenzuführen, dass daraus eine gemeinsame Solidarbewegung entsteht? Wie schaffen wir eine innovative Abstimmung von analog und digital, eine komplementär bereichernde Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen?

Das zweite Thema ist die digitale Transformation. Das ist eine grundsätzliche Herausforderung für unsere Gesellschaft und auch für den Verband. Die Digitalisierung schafft ganz neue Chancen für Erreichbarkeit, kann aber auch schnell zu Ausgrenzung führen. Wenn wir Beratungen ausschließlich analog in Beratungsstellen anbieten, trifft das längst nicht immer auf die Bedürfnisse der Menschen. Wir haben zwar schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie unsere Online-Beratungsplattform aufgebaut. Hinter der reinen Technik müssen sich im Verband viele Prozesse und Mentalitäten ändern. Es kommt darauf an, diesen Veränderungsprozess gut zu begleiten und zu gestalten.

In Deutschland wurden die sozialen Sicherungssysteme über mehr als ein Jahrhundert immer weiterentwickelt. Das gab den Menschen Sicherheit. Jetzt aber sehen wir: Es geht nicht mehr nur darum, die Lebensrisiken Einzelner durch individuelle Angebote im sozialen Sicherungssystem abzufedern. Unser Sozialstaat selbst muss neu resilient gemacht werden, weil die sich überlagernden Großrisiken wie die Klimakrise, die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg eine ganz andere Art von Verunsicherung mit sich bringen. Das richtet den Blick neu auf die soziale Infrastruktur. Das ist mein großes drittes Thema.

epd: Haben Sie die Befürchtung, dass die Caritas Klientinnen und Klienten verliert, wenn sie ihre Online-Beratung nicht systematisch weiter ausbaut?

Welskop-Deffaa: Die Klientinnen und Klienten wünschen unbedingt zumindest einen digitalen Erstzugang. Wenn wir da nicht erreichbar sind, werden sie Angebote von anderen annehmen. Meine große Sorge ist, dass dies die Amazons und die Googles dieser Welt auf den Plan rufen könnte. Denn die machen jede Art von Angebot - und das auch kostenlos, weil sie mit den Daten Geld verdienen. Und wenn sie das Gefühl haben, es ist gerade nützlich, eine Sozialberatung anzubieten, weil sie so zu für sie wertvollen Daten kommen, dann werden sie das auch tun. Wenn wir als Caritas Menschen in Notlagen helfen und schützen wollen, dann müssen wir ihnen niedrigschwellige Angebote machen. Das bedeutet, dass wir die Beratungsstelle nicht nur in der Nähe des Bahnhofs haben, sondern dass diese Einrichtung auch digital erreichbar ist.

epd: Sind die Beschäftigten der Caritas in den Beratungsstellen für diese Veränderungen aufgeschlossen?

Welskop-Deffaa: Für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist das nicht immer leicht. Das bringt Entgrenzungsgefahren, braucht neue Kompetenzen, neue Arbeitsvoraussetzungen. Deshalb sind wir jetzt in einer Bildungsoffensive, um die Kolleginnen und Kollegen zu schulen und mitzunehmen.

epd: Wo sehen Sie in der Sozialpolitik aktuell den größten Handlungsbedarf?

Welskop-Deffaa: Derzeit braucht das Thema Energiearmut, also die Gefahr der Verarmung bis hin zur Überschuldung durch die rasant steigenden Energiepreise, die größte Aufmerksamkeit. Man macht sich oft gar nicht klar, wie existenziell SGB-II-Beziehende hier betroffen sind. Da gibt es Häuser, die sind schlicht nicht isoliert - mit erheblichen Auswirkungen auf die Stromrechnung. Und: Es gibt gerade in dem Bereich Vermieter, die - durchaus auch mit kriminellen Methoden - versuchen, aus der Not der Mieter Kapital zu schlagen. Grundsätzlich gilt, dass in armen Haushalten die Strom- und Heizkosten einen überproportionalen Anteil des Einkommens auffressen.

epd: Was muss angesichts der steigenden Energiepreise getan werden?

Welskop-Deffaa: Kurzfristig ist es gut, dass die Bundesregierung mit Entlastungspaketen wie der Steuersenkung, der Energiepauschale, dem Kinderbonus und dem verbilligten öffentlichen Nahverkehr reagiert und versucht, damit die Kostenbelastungen aufzufangen. Wichtig wäre, darüber hinaus zu überlegen, welche Maßnahmen in der mittleren Frist helfen und gleichzeitig die richtigen Anreize im Kampf gegen die Klimakrise setzen. Die Regelsätze für die Grundsicherung endlich realitätsnah zu berechnen und zu erhöhen, gehört ganz oben auf die politische Agenda.

epd: Erwarten Sie, dass das Hartz-IV-System in absehbarer Zeit durch ein Bürgergeld abgelöst wird, das den Betroffenen Verbesserungen bringt?

Welskop-Deffaa: Nach allem, was wir aus dem Bundesarbeitsministerium hören, habe ich Hoffnung. Die Reform wird wohl nicht auf einen Schlag gemacht werden, sondern sie wird schrittweise kommen. Ich bin zuversichtlich, dass es bei den Hartz-IV-Sanktionen zu einer dauerhaften Veränderung kommen wird, etwa zu Abmilderungen bei den scharfen Sanktionen gegen junge Menschen unter 25 Jahren. Insgesamt muss es darum gehen, dass die Jobcenter mit gezielten Hilfen Menschen, die in die Langzeitarbeitslosigkeit geraten sind, in ihrer Selbstständigkeit stärken.

epd: Wird das Bürgergeld den Beziehern auch ein höheres Einkommen bringen?

Welskop-Deffaa: Nein. Dazu steht leider nichts im Koalitionsvertrag.

epd: Warum glauben Sie, lehnt die Ampel-Koalition höhere Regelsätze ab?

Welskop-Deffaa: Weil es zu teuer ist.

epd: Die geplanten Steigerungen bei den Rüstungsausgaben werden ungleich mehr ins Geld gehen. Sind sie eine Gefahr für den Fortbestand des Sozialstaats?

Welskop-Deffaa: Mich erreichen aus der Fläche des Deutschen Caritasverbandes ernst zu nehmende Hinweise, dass es für die Einrichtungen vor Ort schwer wird, bestehende Angebote aufrechtzuerhalten. Kommunen haben Einsparungen im sozialen Bereich beschlossen, weil ihnen mit der Corona-Krise Gewerbesteuereinnahmen weggebrochen sind. Das macht mir große Sorgen. Ich bin davon überzeugt, dass es für einen funktionierenden Sozialstaat mehr braucht als auskömmliche Sozialtransfers und akzeptable Renten. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für gute Teilhabechancen der Menschen, die von Ausgrenzung bedroht sind, ist eine gute soziale Infrastruktur unerlässlich. Dazu gehören Kitas, Jugendhilfeeinrichtungen, Frauenhäuser, Beratungsstellen. Die hohe Bedeutung dieses Netzes wird nach meinem Eindruck in der Öffentlichkeit leider noch immer unterbewertet.

epd: Warum weisen Verbände wie die Caritas nicht deutlicher auf diesen hohen Wert hin?

Welskop-Deffaa: Das machen wir ständig. Und ich finde, dass uns die Kommunikation im politischen Raum in den vergangenen Jahren besser als zuvor gelungen ist. Das hat auch mit der Corona-Erfahrung zu tun. Die Politik hat passgenau Schutzschirme für Träger sozialer Einrichtungen aufgespannt, die pandemiebedingt mit Unterauslastungen und entsprechenden Mindereinnahmen zu kämpfen hatten. Das hat ihre Existenz gesichert und damit die Leistungskraft der sozialen Infrastruktur in der Post-Corona-Phase. Wir hören aus dem Bundesarbeitsministerium - und dafür bin ich sehr dankbar -, dass mit Blick auf künftige Krisen diese Idee verstetigt werden soll.

epd: Der Sozialstaat soll also für kommende Mega-Krisen gewappnet werden?

Welskop-Deffaa: Wir haben doch bis vor kurzem nicht geglaubt, dass sich die Krisen derart aneinanderreihen. Wer hätte eine Flut an der Ahr erwartet? Einen Krieg in Europa? Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir eine neue Widerstandsfähigkeit des Sozialstaates gestalten müssen. Wir müssen unsere soziale Infrastruktur strukturell absichern, um nicht auf jede neue Krise ad hoc improvisiert reagieren zu müssen.

epd: In der Corona-Krise wurde eine Impfnachweispflicht für die Einrichtungen der Sozialbranche eingeführt. Welche Wirkung hat dieses Gesetz seit dem 15. März entfaltet?

Welskop-Deffaa: Das Spannende an solchen umstrittenen Regelungen ist nicht zuletzt der Ankündigungseffekt. Deshalb muss man nicht nur bewerten, was nach dem 15. März passiert ist, sondern auch, was schon davor zu beobachten war. Und da ist zu sehen: Es hat nur vereinzelt ungeimpfte Beschäftigte gegeben, die gekündigt haben, um der Impfpflicht auszuweichen. Und die Caritas-Arbeitgeber wollten ohnehin keine Kündigungen aussprechen. Alle Einrichtungen haben gesagt, dass sie alles tun wollen, um das ohnehin knappe Personal zu halten.

epd: Wie hat sich die Impfquote in den Einrichtungen entwickelt?

Welskop-Deffaa: Sie ist gestiegen, wenn auch regional sehr unterschiedlich. In manchen Einrichtungen wurden Impfquoten von bis zu 97 Prozent erreicht. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist sicher keine uneingeschränkte Erfolgsgeschichte, aber mit der Zunahme der geimpften Mitarbeitenden hat sie den Krankenstand positiv beeinflusst und also der Überlastung der Teams entgegengewirkt.

epd: Das Personal ist also fast unverändert in den Einrichtungen geblieben. Arbeiten die Ungeimpften nun wirklich weiter nahe am Menschen?

Welskop-Deffaa: Uns liegen keine belastbaren Zahlen vor, dass in größerem Maße Betretungsverbote von den Gesundheitsämtern ausgesprochen wurden.

epd: Also wird das Gesetz nicht vollzogen?

Welskop-Deffaa: Woraus schließen Sie das?

epd: Wenn die Beschäftigten trotz fehlender Impfung weiter in den Einrichtungen arbeiten, kann man das kaum anders bewerten, als dass das Gesetz nicht wortgetreu umgesetzt wird.

Welskop-Deffaa: Das möchte ich so nicht stehen lassen. Wir sind per Gesetz als Träger verpflichtet, die Personen ohne Impfstatus an die Gesundheitsämter zu melden. Und das tun wir.

epd: Bleibt die Rolle der Gesundheitsämter ...

Welskop-Deffaa: Es gibt im Gesetz eine Kann-Vorschrift, die den Gesundheitsämtern die Möglichkeit gibt, Betretungsverbote auszusprechen. Das müssen die Ämter nicht, sie können es tun. Offenbar passiert das bislang eher selten.

epd: Das kann man zumindest merkwürdig nennen ...

Welskop-Deffaa: Es gibt Spielräume, die die Gesundheitsämter nutzen.

epd: Die Teil-Impfpflicht war ja von vielen Sozialverbänden nur als Vorstufe der allgemeinen Impfpflicht gesehen worden. Die kommt ja nun nicht. Oder rechnen Sie mit einem neuen Vorstoß der Bundesregierung?

Welskop-Deffaa: Das Scheitern der Ausweitung der Impfpflicht, auch der Vorschläge für eine Impfpflicht mit Altersgrenze 60 oder für eine sogenannte bedingte Impfpflicht war eine schwarze Stunde des Parlamentes. Ob es einen weiteren Vorstoß braucht, hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab. Es kann durchaus sein, dass wir die Debatte neu führen müssen. Wenn man sich einer neuen, aggressiven Virus-Variante gegenübersieht und zugleich einen Impfstoff bereithält, der dagegen wirksam schützt, wird eine neue Debatte über eine erweiterte Impfpflicht unvermeidbar.

epd: Sollte die einrichtungsbezogene Impfpflicht nach Ihrer Meinung, wie im Gesetz vorgesehen, weiter bis zum Jahresende gelten?

Welskop-Deffaa: Ja. Wir als Deutscher Caritasverband plädieren nicht für das Aussetzen der Teil-Impfpflicht. Ich weiß allerdings, dass es Mitglieder unseres Verbandes gibt, die das anders sehen, und finde es normal, dass es in einem so großen Verband bei einem sehr emotionalen Thema verschiedene Sichtweisen gibt.

epd: Lassen Sie uns über den Krieg in der Ukraine reden und die dadurch ausgelöste Flüchtlingsbewegung: Bleibt es nach Ihrer Einschätzung bei der großen Solidarität, die wir derzeit in Deutschland gegenüber den Geflüchteten erleben?

Welskop-Deffaa: Ich halte es für eine der zentralen Herausforderungen für den Deutschen Caritasverband, die Solidarität der Bevölkerung mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine nachhaltig zu unterstützen. Es ist kein Selbstläufer, dass die Solidarität dauerhaft erhalten bleibt. Es gibt politische Kräfte wie die AfD, die ein Interesse daran haben, die Stimmung umzudrehen, wie sie es im Jahr 2015 getan haben. Die Rechtspopulisten in Europa ergreifen jedes Thema, das sich ihnen bietet, um ihr Süppchen zu kochen.

Ich bin davon begeistert, dass das Leid der Geflüchteten aus der Ukraine eine so große Solidarbereitschaft auslöst. Sie zeigt sich diesmal auch in - verglichen mit 2015 - ganz neuen Formen. Dass die Menschen jetzt sagen, ich nehme Flüchtlinge in meiner Wohnung auf - wer hätte das erwartet? Ich finde das grandios.

epd: Wie lässt sich das stabilisieren?

Welskop-Deffaa: Ich möchte, dass das Matching besser wird. Das bedeutet: Wenn Flüchtlinge privat untergebracht werden, müssen die Profile passen und Gastgeber unterstützt und begleitet werden. Es sollte Kontaktbörsen geben, die Flüchtlinge und für sie geeignete Familien zusammenführen.

epd: Teilweise machen das ja schon die Kommunen ...

Welskop-Deffaa: Ja, es gibt auch private Initiativen und soziale Start-ups. Wir müssen versuchen, den Prozess zu qualifizieren. Und da bietet sich die Caritas als Partner vor Ort an. Außerdem braucht es Ombudsstellen für Fälle, in denen sich Konflikte anbahnen. Und Entlastungsmöglichkeiten für Gastfamilien.

epd: Wie sehen Sie die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für die Ukraineflüchtlinge, die ja in großer Zahl Frauen mit Kindern sind?

Welskop-Deffaa: Die Arbeitsmarktintegration der geflüchteten Frauen hängt stark von der Kinderbetreuung ab. Die allermeisten Frauen waren in der Ukraine berufstätig und werden hier arbeiten wollen. Wir müssen es Frauen mit Kindern ermöglichen, an Sprach- und Integrationskursen mit hohem Stundenumfang teilzunehmen. Das setzt eine Betreuung ihrer kleinen Kinder voraus.

epd: Können die Kitas eine so große Zahl zusätzlicher Kinder aufnehmen?

Welskop-Deffaa: Nicht ohne Anpassungen. Eltern und Erzieherinnen befürchten, mit einer Aufnahme zusätzlicher Kinder in die Kita-Gruppen sei die Gefahr einer nachhaltigen Absenkung der mühsam erreichten Qualitätsstandards in den Einrichtungen verbunden.

epd: Wäre es denn rechtlich statthaft, auf diese Weise den Betreuungsschlüssel abzusenken?

Welskop-Deffaa: Man kann sich rechtliche Ausnahmeregelungen vorstellen, bei denen etwa die Gruppengröße für ein Jahr erhöht werden dürfte. Ich glaube, die Kita-Frage wird die größte Solidaritätsfrage in Bezug auf das Zusammenleben mit den Geflüchteten aus der Ukraine werden. Daran wird sich entscheiden, ob die ukrainischen Frauen schon bald Jobs annehmen können, die für sie interessant sind und die auch mit Blick auf den Fachkräftemangel der Wirtschaft helfen.

epd: Das heißt, die Integration kann nur gelingen, wenn die Bevölkerung in Deutschland bereit ist zusammenrücken ...

Welskop-Deffaa: Genau. Und wenn die Politik dies wahrnimmt und die Bereitschaft zur Solidarität entsprechend flankiert. Indem sie etwa frühzeitig ankündigt, einen Erweiterungsbau der Kitas zu ermöglichen oder Geld für zusätzliches Personal bereitzustellen.

epd: Wie beurteilen Sie die beruflichen Qualifikationen der Ukrainerinnen, um rasch in anspruchsvolle Jobs zu kommen?

Welskop-Deffaa: Ich darf den Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, zitieren. Er sagte kürzlich, die Integration der Flüchtlinge, die bereits im Land sind, sei angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt und der vielen freien Stellen kein Problem. Da gibt es vielleicht nicht sofort eine optimale Passung der Abschlüsse, aber unser Arbeitsmarkt ist offenbar so begierig, dass die Vermittlung leicht gelingen dürfte. Die Sprachkompetenzen sind ein Thema. Und in den regulierten Berufen müsste die Anerkennung der Abschlüsse erleichtert werden. Ich bin recht zuversichtlich, dass dies geschehen wird. Die ersten Signale dazu sind ja schon da.




sozial-Politik

Arbeit

Sachverständigenrat: Migranten unverzichtbar für Gesundheitssystem




Ärzte mit Migrationshintergrund untersuchen eine Patientin.
epd-bild/Thomas Rohnke
Ein Viertel der im Pflege- und Gesundheitswesen beschäftigten Menschen hat einen Migrationshintergrund. Ohne sie würde das System kollabieren, resümiert der Sachverständigenrat für Integration und Migration.

Berlin (epd). Das deutsche Gesundheitswesen ist stark auf Menschen mit Migrationshintergrund angewiesen. Das geht aus dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) hervor, das am 10. Mai in Berlin vorgestellt wurde. „Zugewanderte sind auf allen Ebenen des Gesundheitswesens tätig. Ohne sie stünde das deutsche Gesundheitssystem vor einem Kollaps“, sagte Petra Bendel, Vorsitzende des unabhängigen Gremiums. Migrantinnen und Migranten leisteten einen unverzichtbaren Beitrag zum deutschen Gesundheitssystem.

22,5 Prozent mit ausländischer Herkunft

Um Fachkräfte aus dem Ausland langfristig halten zu können, müssten sich die Arbeitsbedingungen im gesamten Gesundheitssystem und besonders in der Pflege grundlegend verbessern, forderte der Sachverständigenrat. Die meisten Fachkräfte kommen den Angaben zufolge aus Polen und der Türkei. Unter zugewanderten Ärztinnen und Ärzten stammten wiederum überdurchschnittlich viele aus dem Nahen und Mittleren Osten. Um die Gesundheitsversorgung in Deutschland sicherstellen zu können, müssten auch in den kommenden Jahren Fachkräfte angeworben werden, hieß es.

Mehr als ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte habe einen Migrationshintergrund. Insgesamt hätten etwa 940.000 Personen und somit knapp ein Viertel aller Erwerbstätigen in Gesundheit und Pflege entweder eine eigene oder eine familiäre Zuwanderungsgeschichte. Ihr Anteil sei zwischen 2013 und 2019 um mehr als fünf Prozent auf insgesamt 22,5 Prozent gestiegen.

Der Einstieg in einen Beruf im Gesundheitswesen sei voraussetzungsvoll, unterstrich Bendel außerdem. „Da es sich um reglementierte Berufe handelt, muss eine Berufsausübungserlaubnis vorliegen“, erklärte sie. Die rechtlichen Möglichkeiten für die Zuwanderung von Fachkräften seien zwar vorhanden, jedoch sei die praktische Ausgestaltung der Anerkennungsverfahren entscheidend. Der SVR sehe hier deutlichen Handlungsbedarf, unter anderem bei der Ausstellung von Bescheiden und dem Angebot von Sprachkursen.

Zugang zu Dienstleistungen erschwert

Aus dem Gutachten geht auch hervor, dass Menschen mit Migrationshintergrund durch Sprachbarrieren, fehlende Gesundheitskompetenz und Diskriminierung der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen erschwert wird. Ausschlaggebend für einen Zugang zum Gesundheitswesen seien vor allem die jeweilige soziale Lage und das Bildungsniveau.

Der SVR wurde 2008 von der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung initiiert und gemeinsam mit sechs weiteren Stiftungen gegründet. Er ist eins von fünf Expertengremien, die per Gesetz oder von der Regierung berufen werden. Weitere Sachverständigenräte als Berater für die Politik gibt es bislang zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - die sogenannten Wirtschaftsweisen - sowie für Verbraucherfragen, für Umweltfragen und zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Inga Jahn


Kriegsflüchtlinge

"Ich weiß, was diese Menschen durchmachen"




Anas Alturkey hilft Ukrainern auf der Hannover-Messe.
epd-bild/Nancy Heusel
Früher war er Flüchtling, heute ist er Helfer: Anas Alturkey ist froh, dass er als Hallenmeister beim Flüchtlings-Drehkreuz auf Hannovers Messegelände etwas zurückgeben kann. Die Hölle des Krieges hat er in Syrien selbst erlebt.

Hannover (epd). Über eine Rolltreppe verlassen junge Frauen mit Kindern an der Hand den gläsernen Fußgängertunnel, der Bahnhof und Messegelände verbindet. Die mit Rucksäcken und Tragetaschen vollbepackten Ukrainer sind in Hannover an einem von bundesweit drei Flüchtlings-Drehkreuzen angekommen, die der Bund seit Beginn des Ukraine-Krieges eingerichtet hat. Aus der Ferne beobachtet Flüchtlingshelfer Anas Alturkey vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) die Neuankömmlinge. „Es macht mich traurig, wenn ich diese Menschen hier sehe“, sagt der 36-Jährige, der im September 2015 seine syrische Heimat verlassen und in Deutschland bei null anfangen musste.

Alturkey hat Deutsch gelernt, einen Integrationskurs besucht und einen Führerschein gemacht. Seit 2017 arbeitet der kräftige und gutmütig wirkende Mann als Hausmeister beim Arbeiter-Samariter-Bund in der Region Hannover, mittlerweile als Vorgesetzter: Aktuell kümmert er sich als Chef-Hallenmeister um die Unterkunfts-Logistik in den drei Messehallen, welche die niedersächsische Landesaufnahmebehörde derzeit für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge in Hannover nutzt.

Beschafft wird, was nötig ist

Er und seine fünf Mitarbeiter zählen die Ankommenden, reparieren Waschmaschinen, verteilen Mahlzeiten und beschaffen alles, was nötig ist, etwa Kleidung, Hygieneartikel und zusätzliche Gepäckstücke. Alturkey betritt Halle 12 und zeigt auf die offenen Kartons im abgezäunten ASB-Zentrum neben der Eingangsschleuse. Einige Meter entfernt stehen Feldbetten in großen Zelten. „Die Leute bleiben hier ein bis zwei Nächte, bevor sie weiterreisen“, erläutert er. Mehr als 22.000 Geflüchtete sind laut Landesaufnahmebehörde bereits über dieses Drehkreuz nach Deutschland gekommen.

Alturkey ist froh, dass er den Ukrainern helfen kann. „Ich weiß, was diese Menschen durchmachen.“ Nachdem Teile seiner ostsyrischen Heimatstadt Deir ez-Zor 2011 von Regierungstruppen zerstört wurden, floh er nach Damaskus. Doch auch dort fiel sein Zuhause dem Krieg zum Opfer. Der junge Mann ging zurück nach Deir ez-Zor, um dort die Kaffeerösterei seiner Familie weiterzuführen. Bald darauf nahm die islamistische Terrororganisation IS, der „Islamische Staat“, die Stadt ein. Erst als er gar keinen Ausweg mehr sah, machte er sich mit seinen beiden Brüdern auf den Weg nach Deutschland.

„Froh, dass ich sicher hier leben kann“

In Aleppo hat er zwar Jura studiert und viele Jahre gutes Geld verdient. Mit seiner Hausmeister-Tätigkeit ist er dennoch zufrieden, wie er sagt. „Ich bin froh, dass ich hier sicher leben kann. Das ist wichtiger als alles andere“, betont Alturkey. Die von Flüchtlingsvertretern oft formulierte Kritik, Bund und Länder hätten mit der erleichterten Aufnahme von Ukrainern ein Zwei-Klassen-Recht für Geflüchtete geschaffen, teilt er nicht. „Mein Asylverfahren war kein Problem. Nach drei Monaten hatte ich meinen Aufenthaltstitel. Ich fühle mich wohl in Deutschland.“

Inzwischen gilt der ASB-Mitarbeiter als Musterbeispiel gelungener Integration - so sehr, dass ihm sogar der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) seine Anerkennung zollte. Kurz nach Eröffnung des Drehkreuzes am 10. März suchte Weil spontan das Gespräch mit Alturkey - vor laufender Kamera. „Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe mich riesig darüber gefreut, auch wenn ich sehr aufgeregt war. Deshalb war mein Deutsch in dem Moment leider nicht so gut“, sagt Alturkey und lacht. Er hat sich fest vorgenommen, ganz und gar in Deutschland anzukommen: „Ich habe im November die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Mein Traum ist, hier irgendwann wieder eine Kaffeerösterei aufzumachen.“

Alturkey findet die Hilfsbereitschaft der Deutschen großartig. Nach einem Sachspendenaufruf hätten er und sein Team in kurzer Zeit genügend Koffer, Rollstühle, Kinderwagen und Artikel des täglichen Bedarfs beisammen gehabt, um die Ankömmlinge aus der Ukraine mit dem Nötigsten versorgen zu können. Alturkey hofft, dass dieses Engagement nicht nachlässt. „Helfen Sie den Flüchtlingen, wo und so viel Sie können“, sagt er.

Urs Mundt


Kriegsflüchtlinge

Ukrainer erhalten kurzfristig Termine in Trauma-Ambulanzen



Düsseldorf (epd). Von Krieg und Flucht traumatisierte Menschen aus der Ukraine können kurzfristig die Angebote der Trauma-Ambulanzen der Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) nutzen. Darauf wiesen das NRW-Gesundheitsministerium und die Landschaftsverbände am 6. Mai in Düsseldorf hin. Für die Finanzierung der Angebote stellt das Ministerium in einem ersten Schritt Fördermittel in Höhe von 200.000 Euro zur Verfügung.

„Damit den Geflüchteten aus der Ukraine in einer sicheren Umgebung schnell und gut geholfen werden kann, haben wir mit den Trauma-Ambulanzen der Landschaftsverbände erstklassige Partner gefunden“, sagte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). „Hier kann auch in niedrigschwelligen psychosozialen Angeboten das Erlebte verarbeitet und damit ein erster Schritt in ein normaleres Leben getan werden.“

Schnelle Hilfe

Die Angebote richten sich an Menschen, die nach dem Kriegsausbruch aus der Ukraine geflüchtet sind, und sollen als „schnelle Hilfe“ im Rahmen der bestehenden Kapazitäten der Trauma-Ambulanzen den Einstieg in weitere medizinische Hilfestellungen vereinfachen. Die psychotherapeutische Behandlung umfasst bis zu fünf Einzelsitzungen oder bis zu zehn Sitzungen Gruppentherapie.

Die Beratung erfolgt in psychosozialen Zentren für Flüchtlinge durch Sozialarbeiter, Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten oder Personen mit vergleichbarer Qualifikation und Kenntnissen in Psychotraumatologie oder Traumapädagogik. Schwerpunkt ist die psychotherapeutische Erststabilisierung.



Medizinethik

Lauterbach will Behandlungsabbruch bei einer Triage ausschließen




Alarmknopf für den Fall einer Triage in der Notaufnahme
epd-bild/Werner Krüper
Die Auswahl von Patienten bei knappen Krankenhausressourcen ist ein sensibles Thema. Seit Wochen ringt die Bundesregierung um eine Regelung. Die heikle Idee, auch einen Behandlungsabbruch zu erlauben, scheint nun vom Tisch zu sein.

Berlin (epd). Im Zuge der angestrebten Triage-Regelung für den Pandemie-Fall soll ein Behandlungsabbruch zugunsten eines Patienten mit höheren Überlebenschancen ausgeschlossen werden. Das stellte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am 9. Mai klar, nachdem über die Möglichkeit der sogenannten Ex-post-Triage diskutiert worden war. Dabei würde beispielsweise einem Patienten das Beatmungsgerät entzogen, um einen anderen zu behandeln.

„Ex-post-Triage ist ethisch nicht vertretbar und weder Ärzten, Patienten noch Angehörigen zuzumuten“, erklärte Lauterbach. „Deshalb werden wir es auch nicht erlauben“, versicherte er.

Zuteilung medizinischer Ressourcen

Ein Entwurf für eine Triage-Regelung ist noch in der Ressortabstimmung. Das Bundesverfassungsgericht hatte Ende vergangenen Jahres den Gesetzgeber aufgefordert, eine gesetzliche Regelung für die Zuteilung medizinischer Ressourcen im Falle einer pandemiebedingten Knappheit zu schaffen, die Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt. Umstritten war zuletzt innerhalb der Bundesregierung ein Passus im Entwurf für das Gesetz, das die sogenannte Ex-post-Triage regelt.

Sie ist weit heikler als die Ex-ante-Triage, bei der entschieden werden muss, welcher Patient im Falle pandemiebedingter Knappheit eine Behandlung bekommt und welcher nicht. Selbst diese Form der Patientenauswahl sollte nur unter hohen Auflagen möglich sein, sagte Lauterbach. Ursprüngliche Pläne für das Gesetz sahen vor, dass die Entscheidung für die Zuteilung nur auf Grundlage von Dringlichkeit und Überlebenswahrscheinlichkeit getroffen werden darf und Gründe wie Geschlecht, Alter oder Behinderung keine Rolle spielen dürfen. Sicherstellen soll dies ein Vier-Augen-Prinzip bei den Ärzten.

„Nützlichkeit und Lebenswert“

Pläne zur Regelung der Ex-post-Triage waren zuvor unter anderem bei der Caritas auf Widerspruch gestoßen. Schleichend würde sich damit die Diskussion „von einem Instrument der medizinischen Abwägung in akuten Notfallsituationen zu einer Legitimation von Rationierung medizinischer Leistungen nach Nützlichkeit und Lebenswert“ verändern, erklärte die Präsidentin des katholischen Wohlfahrtverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa.

Ex-ante- und Ex-post-Triage dürften nicht in einem Atemzug genannt werden, betonte sie. Menschen mit einer Behinderung, deren Behandlung bei einer Corona-Erkrankung unter Umständen mehr Zeit und Ressourcen in Anspruch nehme, „könnten lebensbedrohlich betroffen sein, wenn die Ex-post-Triage für zulässig erklärt wird“.

Corinna Buschow


Arbeit

Erziehende in östlichen Bundesländern betreuen mehr Kinder




Stuhlkreis in einer Kita
epd-bild/Ralf Moray
Im Schnitt sind Erzieherinnen und Erzieher in den östlichen Bundesländern für fünf Kinder unter drei Jahren gleichzeitig zuständig. Damit liegt der Personenschlüssel im Osten deutlich über dem Bundesschnitt von 3,8 Kindern pro Fachkraft.

Berlin (epd). Erzieherinnen und Erzieher in den östlichen Bundesländern betreuen im Schnitt mehr Kinder gleichzeitig als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen. Eine pädagogische Fachkraft in Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern ist durchschnittlich für insgesamt fünf Kinder unter drei Jahren und somit für zwei Kinder mehr zuständig als in den übrigen Bundesländern, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt. Auch in Kindergartengruppen von Kindern ab drei Jahren liegt der Personalschlüssel in den neuen Bundesländern über dem der alten Bundesländer.

In Kitas ist es laut

Besonders viele Kinder betreuten demnach Erzieherinnen und Erzieher in Mecklenburg-Vorpommern. Eine Fachkraft ist hier für durchschnittlich 5,6 Kinder unter drei Jahren zuständig, im Alter von über drei Jahren sind es im Schnitt zwölf Kinder pro Erzieherin oder Erzieher. Damit liegt das Bundesland weit über dem Bundesschnitt. Dieser liegt bei Kindern unter drei Jahren bei 3,8 Kindern, bei Kindern über drei Jahren bei 8,1.

Darüber hinaus geht aus der Anfrage hervor, dass Beschäftigte der Berufsgruppe „Erziehung, Sozialarbeit, Heilerziehungspflege“ häufiger als andere Beschäftigte bei der Arbeit unter schlechter Körperhaltung und Lärm leiden. So müssen 36 Prozent der Fachkräfte häufig gebückt, knieend oder über Kopf tätig sein. In anderen Berufen sind es im Schnitt nur 16 Prozent.

54 Prozent der Beschäftigten müssen häufig unter Lärm arbeiten, während es in allen anderen Berufen im Schnitt nur 28 Prozent sind. Darüber hinaus erlebt jede vierte Erzieherin häufig Situationen, die gefühlsmäßig belasteten, mehr als doppelt so viel wie bei den anderen Berufen. Die Angaben beruhen unter anderem auf Daten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz.

16 Millionen Überstunden

Auch aus diesen Gründen seien die Anforderungen an Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung sehr hoch, erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort. Die Anforderungen hätten in den vergangenen Jahren außerdem weiter zugenommen. Jedoch könne der hohe Fachkräftebedarf vielerorts nicht gedeckt werden, heißt es. Von diesen Personalengpässen seien neben Erzieherinnen und Erziehern vor allem auch Angestellte in der Heilerziehungspflege und Sonderpädagogik betroffen.

„Viele Beschäftigte in den Sozial- und Erziehungsberufen arbeiten schon seit Jahren am Limit“, kritisierte der Linken-Politiker Pascal Meiser: „Wenn wir dem Personalmangel in den Sozial- und Erziehungsberufen wirksam begegnen wollen, ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen dringend erforderlich.“

Die Gewerkschaft ver.di habe für diese Woche zu bundesweiten Warnstreiks aufgerufen. Sie fordere unter anderem, dass die gut 300.000 kommunalen Erzieher und Sozialarbeiter besser bezahlt werden. Laut der Antwort der Bundesregierung leisten alle Beschäftigen dieser Berufe zusammen über 16 Millionen Überstunden im Jahr, etwa die Hälfte davon unbezahlt. Insgesamt waren im Juni 2021 rund 1.749.000 Menschen in der Berufsgruppe Erziehung, Sozialarbeit und Heilerziehungspflege beschäftigt.

Inga Jahn


Armut

Bundestag beschließt Zuschläge für ärmere Familien



Berlin (epd). Der Bundestag hat die von der Bundesregierung versprochenen Zuschläge für ärmere Familien zur Abfederung der Folgen von Corona-Krise und Ukraine-Krieg beschlossen. Mit den Stimmen der Koalition aus SPD, Grünen und FDP stimmte das Parlament am 12. Mai dafür, dass Bezieher und Bezieherinnen von Grundsicherung eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro erhalten. Für Kinder in ärmeren Familien soll zudem von Juli an ein Zuschlag in Höhe von 20 Euro pro Monat gezahlt werden.

Die Ampelkoalition hatte die Einmalzahlungen vor dem Hintergrund der Belastungen insbesondere ärmerer Familien in der Corona-Pandemie Anfang März beschlossen. Wenig später brachte die Koalition wegen der steigenden Energiepreise ein zweites Entlastungspaket auf den Weg. Als Einmalzahlung für Sozialhilfeempfänger waren zunächst nur 100 Euro geplant. Mit dem zweiten Entlastungspaket wurde der Betrag verdoppelt.



Sterbehilfe

Bundestag plant Orientierungsdebatte zum Thema Suizidassistenz



Berlin (epd). Der Bundestag wird voraussichtlicham 18. Mai über eine mögliche neue gesetzliche Sterbehilfe-Regelung debattieren. Angedacht sei eine sogenannte Orientierungsdebatte, hieß es am 11. Mai übereinstimmend aus den Fraktionen von Grünen, FDP und SPD im Bundestag. Nach Worten der ersten parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, seien anderthalb Stunden.

In diesen besonderen Debatten wird nicht entlang von Parteilinien und auch nicht zwingend über konkrete Gesetzentwürfe diskutiert. Die Debatten zu ethisch umstrittenen Themen sollen den Abgeordneten ermöglichen, sich zunächst ein umfassenderes Bild zu machen.

Recht auf selbstbestimmtes Sterben

Der Bundestag hatte 2015 ein Gesetz beschlossen, das die geschäftsmäßige Förderung der Suizidassistenz verbietet. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Regelung aber 2020 kassiert, weil sie nach Auffassung der Richter die Selbstbestimmung zu sehr einschränkt. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt nach dem Urteil auch das Recht ein, sich das Leben zu nehmen und dabei die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Bei der Suizidassistenz werden einem Sterbewilligen tödlich wirkende Medikamente überlassen, er nimmt sie aber selbst ein. Das unterscheidet diese Form der Sterbehilfe von der Tötung auf Verlangen, die weiter unter Strafe steht.

Der Bundestag hatte bereits in der vergangenen Wahlperiode eine Orientierungsdebatte zu dem Thema abgehalten. Zu einer Neuregelung kam es aber bis zur Bundestagswahl nicht mehr. Inzwischen seien viele neue Mitglieder im Parlament, begründete Mast die erneute Aufsetzung der Orientierungsdebatte. Nach ihrer Einschätzung könnte es noch vor dem Sommer eine erste Lesung konkreter Gesetzentwürfe geben, im Herbst die abschließende Abstimmung.

Ärztliche Begutachtung

Für eine mögliche Neuregelung liegen derzeit zwei Vorschläge fraktionsübergreifender Gruppen im Bundestag vor. Eine Gruppe um die Parlamentarier Benjamin Strasser (FDP), Lars Castellucci (SPD) und Ansgar Heveling (CDU) plädiert dafür, die auf Wiederholung angelegte, also geschäftsmäßige Suizidassistenz, erneut im Strafrecht zu verbieten, unter gewissen Bedingungen, zu denen eine ärztliche Begutachtung gehört, aber zu erlauben.

Eine andere Gruppe um die FDP-Angeordnete Katrin Helling-Plahr (FDP), Petra Sitte (Linke) und Helge Lindh (SPD) wendet sich dagegen gegen eine Regelung im Strafrecht. Sie wollen sicherstellen, dass diese Form der Sterbehilfe straffrei möglich ist, wenn festgelegte Voraussetzungen eingehalten werden. Dazu zählt ihrem Vorschlag zufolge eine Beratung.



Familie

Buschmann kündigt erste Änderungen des Abstammungsrechts an



Berlin (epd). Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will die angestrebten rechtlichen Erleichterungen für lesbische Mütter bald in einem ersten Schritt angehen. Der Minister kündigte am 11. Mai im Bundestag an, bei „etwas unproblematischeren Fällen“ das Abstammungsrecht sehr bald anzupassen. Er meinte damit beispielsweise Konstellationen, in denen Paare mit einer anonymen Samenspende ein Kind bekommen haben. Ein Entwurf werde „in Kürze das Parlament erreichen“, sagte Buschmann.

Bei der geplanten Änderung sei das Kindeswohl der oberste Maßstab, unterstrich Buschmann. Schwieriger ist nach seinen Worten das „berühmte Dreiecksverhältnis“. Im Gegensatz zu Fällen anonymer Samenspende müssten in Fällen, in denen zwei verheiratete Frauen und ein biologischer Vater an der Erziehung eines Kindes beteiligt sein wollen, auch die Rechte des Vaters berücksichtigt werden, sagte er. „Deswegen werden wir diese in einem zweiten Schritt anpassen“, kündigte der Minister an.

Bis zu vier Elternteile

Da eine Anpassung des Rechts in diesen Fällen kompliziert sei, werde eine Anpassung nicht in Kürze erfolgen können, ergänzte Buschmann. „Eine Lösung, die wir da finden werden, wird für einen vernünftigen Ausgleich in diesem Dreieck sorgen“, sagte er. Demnach könnte es künftig möglich sein, dass drei Erwachsene die Elternschaft für ein Kind übernehmen. „Wenn drei erwachsene Menschen, die durch das Kind miteinander verbunden sind, sich einig sind, wie sie gemeinsam zum Besten des Kindes miteinander für die Erziehung des Kindes sorgen wollen, dann ist das das Wunderbarste, was man sich vorstellen kann.“

Die Koalition von SPD, Grünen und FDP hat sich für diese Wahlperiode eine Reform des Familien- und Abstammungsrechts vorgenommen. Bei lesbischen Paaren soll die Co-Mutter automatisch zweites rechtliches Elternteil sein. Es soll zudem möglich werden, dass bis zu vier Erwachsene rechtlich als Eltern eines Kindes anerkannt werden.



Frauen

Mit Kreide gegen sexistische Anmache und Belästigungen




Auf dem Wiesbadener Mauritiusplatz ziehen Tayla (re.) und Laura die Blicke der Passenten auf sich.
epd-bild/Steffen Edlinger
Tayla und Laura kreiden auf öffentlichen Plätzen an, wenn junge Frauen dort sexistisch angemacht wurden. "Die Menschen sollen spüren, wie das ist", sagt Laura, die die CatCalls-Bewegung in Wiesbaden gegründet hat.

Wiesbaden (epd). Auf dem Wiesbadener Mauritiusplatz ziehen Tayla und Laura die Blicke der Passanten auf sich. Mit bunten Malkreiden schreiben sie in großen Lettern eine Botschaft auf den Asphalt. „#stopptBelästigung - hier passiert: Er hielt mich am Arm fest: 'Hey Chaya, bleib doch mal stehen! Ich leck' dich, bis du kommst!'“

Tayla und Laura sind bei der Initiative „CatCalls of Wiesbaden“ aktiv, die sexistische Vorfälle gegenüber Frauen anprangern will. Der Begriff CatCalling komme vom Hinterherpfeifen mancher Männer, um Frauen auf sich aufmerksam zu machen. „Also ungefähr so, wie wir auch eine Katze rufen würden“, erklärt die 22-jährige Laura. „Es geht aber auch um sexuell anzügliches Hinterherrufen wie 'Geiler Arsch!' Das wollen wir in der Stadt sichtbar machen und ankreiden.“

Projekt kommt aus New York

Sie selbst hat die Wiesbadener Initiative im Mai 2020 gegründet. Ursprünglich kommt das Projekt aus New York. Die Grundidee: Betroffene von sexistischen Vorfällen können die Initiative per Instagram anschreiben und ihren Vorfall schildern. „Wir kreiden den Vorfall dann an dem Ort an, an dem er passiert ist“, erklärt Laura: „Die Menschen sollen spüren, wie das ist. Wir wollen mit unserem Aktivismus ganz klar sichtbar machen, was da passiert.“

Laura hat selbst eine CatCalling-Geschichte. Sie ist ihr um elf Uhr morgens am Mainzer Hauptbahnhof passiert. „Ich war gerade in meiner Ausbildung zur Erzieherin und wollte nur nach Hause fahren nach Wiesbaden. Plötzlich ist mir ein Mann hinterhergelaufen, der immer wieder 'Mein Engel, bleib' doch stehen' gerufen hat.“ Obwohl Laura mehrmals laut „Nein!“ gesagt hat, habe sie der Mann noch bis zum Zug verfolgt. „Mir war es dann wichtig, selbst aktiv zu werden.“

Zwei Anfragen Betroffener pro Woche

Mittlerweile bekommen Tayla und Laura in der Woche ungefähr zwei Anfragen geschickt - im Sommer deutlich mehr als im Winter. „Wir kreiden alles an, außer Vergewaltigungserfahrungen, weil wir nicht wollen, dass dadurch jemand an die eigene Missbrauchserfahrung erinnert wird“, sagt die 21-jährige Tayla. Sie sei zu CatCalls of Wiesbaden gekommen, weil sie selbst in der Nähe des Hauptbahnhofs belästigt worden sei. „Ich habe diesen CatCall dann auf Instagram eingereicht und direkt gefragt, ob ich nicht auch Teil des Teams werden kann.“

Die Reaktionen auf das Ankreiden seien sehr unterschiedlich, erzählen Laura und Tayla. Viele Menschen gingen kommentarlos vorbei und schauten nur, „aber es sind auch immer mal Passantinnen dabei, die einen Daumen nach oben zeigen und sich sogar bei uns bedanken“, sagt Laura. „Einmal hat mich auch die Polizei angesprochen und gefragt, was ich hier mache. Aber die fanden das dann eine coole Aktion.“

„Von der Schambehaftung loskommen“

Den beiden jungen Frauen ist es wichtig, das Thema offen anzusprechen. „Wenn wir CatCalling etwas entgegensetzen wollen, müssen wir auch von dieser Schambehaftung loskommen. Die Frauen sollen sich dafür nicht schämen. Wer sich zu schämen hat, das sind die CatCaller“, sagt Laura.

Besonders in Erinnerung geblieben ist Tayla ein Gespräch mit einer jungen Frau: „Sie hat mir erzählt, dass sie sich auch schon oft sexistische Sprüche anhören musste und sich damit immer alleine und sogar schuldig gefühlt hat. Ich denke, nach unserem Gespräch war sie da viel mutiger und selbstbewusster.“

Letztlich hoffen die beiden Aktivistinnen, dass das Thema noch mehr in der Mitte der Gesellschaft ankommt, dass sexistische Fälle nicht totgeschwiegen werden. „Ich arbeite gerade auch an der Schule und würde gerne zum Thema einen Workshop anbieten“, ergänzt Tayla: „Je früher über das Thema aufgeklärt wird, desto besser.“

Steffen Edlinger


Frauen

Recht auf Abtreibung in den USA vor dem Aus?



Das Oberste Gericht der USA will nach Medienberichten das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aushebeln, wie ein geleakter Urteilsentwurf zeigt. Das wäre ein Sieg für die Abtreibungsgegner - und weiteres Spaltungspotenzial für die US-Gesellschaft.

Washington (epd). Es war ein Coup, den das politische Magazin „Politico“ Anfang Mai publizierte: Der Entwurf eines erwarteten Urteils des Obersten Gerichts in den USA zum Abtreibungsrecht. Der Urteilsentwurf legt nahe, dass das historische Urteil des Obersten Gerichts von 1973 kippen könnte, das Abtreibungen legalisierte und in den USA als „Roe v. Wade“-Entscheidung bekannt ist.

„Erzwungene Geburten“

Demokratische Politiker bis hin zu US-Präsident Joe Biden äußerten sich empört bis entsetzt. Vielerorts demonstrierten Frauen gegen vom Staat „erzwungene Geburten“.

Seit Jahrzehnten gehen Abtreibungsgegner auf die Barrikaden gegen das Urteil von 1973 zum Schutz des Rechts auf Abtreibung bis zur unabhängigen Lebensfähigkeit des Fötus. Das neue, für Juni erwartete Urteil sieht nach einem Sieg für die Abtreibungsgegner aus. „Preiset Gott“, twitterte Baptistenprediger Franklin Graham. Gläubige sollten beten und fasten, dass das Urteil in seiner Endfassung „Roe v. Wade“ revidieren wird, erklärte der römisch-katholische Erzbischof William Lori.

Nun bereiten sich Gegner und Befürworter auf das Zurückdrehen der Uhren um ein halbes Jahrhundert vor. Abtreibungsgesetze lägen dann wieder in den Händen der 50 Bundesstaaten. Etwa die Hälfte von ihnen würde Abtreibung verbieten oder stark einschränken, erwartet das Guttmacher Institute, eine Organisation für Familienplanung. Demokratisch regierte Staaten wie Kalifornien und New York würden das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bewahren.

Weitere Urteile des Obersten Gerichts vor Revision?

Der Entwurf für ein neues Urteil stützt sich auf den Umstand, dass in der US-Verfassung aus dem Jahr 1787 nichts über Abtreibung steht. Daher könnten die Staaten selber entscheiden. Das Konzept vom „Recht der Staaten“ gegen die Regierung in Washington ist nicht neu. Meist wird es von rechts vorgebracht. Die Südstaaten hatten sich beispielsweise mit Berufung auf das Konzept gegen Bürgerrechtsgesetze in den 60er Jahren gestemmt.

Kritiker befürchten nun, mit der Logik des Entwurfs würden republikanische Politiker auch andere Urteile des Obersten Gerichtes anfechten, wie das Urteil von 2015 zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, sagte in einer Talkshow, er werde möglicherweise gegen ein Urteil von 1982 vorgehen, demzufolge staatliche Schulen auch Kinder ohne Papiere unterrichten müssen.

Man konnte so ein Urteil kommen sehen. Wie beim Salami-Schneiden setzen Abtreibungsgegner seit Jahren scheibchenweise nach und nach Abtreibungsrestriktionen mit Vorschriften wie einer erzwungenen Bedenkzeit durch. Sie sind durch ein Verfassungsurteil von 1992 gedeckt. Demnach müssen Staaten das Recht auf Abtreibung respektieren, dürfen jedoch Vorschriften erlassen, die keine „unzumutbare Belastung“ für die Frau darstellen.

Strafen für medizinisches Personal

In Erwartung des Endes von „Roe v. Wade“ haben republikanische Staaten in den vergangenen Monaten weitreichende Verbotsgesetze beschlossen. Sie haben gemeinsam, dass nicht die betroffenen Frauen bestraft werden sollen, sondern medizinisches Personal. In Oklahoma drohen zehn Jahre Haft, in Texas dürfen beispielsweise beliebige Personen Ärzte verklagen, in Idaho der biologische Vater und dessen Eltern.

Laut Umfragen des Pew Research Center haben sich die Ansichten zur Abtreibung seit den 90er Jahren kaum verändert. Rund 60 Prozent der US-Amerikaner befürworten die Legalität, knapp 40 Prozent wollen sie in allen oder den meisten Fällen verbieten. Weiße Evangelikale lehnen Schwangerschaftsabbrüche am häufigsten ab. 74 Prozent sprachen sich grundsätzlich oder in den meisten Fällen für Verbot aus. 42 Prozent der Katholiken vertraten diese Auffassung.

Zur Abtreibung nach Mexiko

Für Evangelikale ist der Urteilsentwurf Resultat langjähriger politischer Arbeit. Mit überwältigender Mehrheit stimmten weiße Evangelikale für den Republikaner Donald Trump als US-Präsidenten. Dieser hat in seinen vier Jahren im Weißen Haus zwei konservative Richter und eine konservative Richterin zum Obersten Gericht ernannt. Laut „Politico“ wollen fünf der neun Richterinnen und Richter für Aufheben des Urteils von 1973 stimmen.

Richter werden auf Lebenszeit ernannt. Demokratische Politiker befürworten das Recht auf Abtreibung, haben jedoch auch zu Zeiten der Mehrheit keine nationalen Gesetze beschlossen, um das Recht gesetzlich zu verankern. Frauengruppen arbeiten nun daran, um medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu erleichtern. Die Mittel werden per Post geschickt. Das Nachbarland Mexiko hat vergangenes Jahr Verbotsgesetze abgeschafft und erwartet nun, dass Frauen aus den USA zur Abtreibung anreisen werden.

Konrad Ege



sozial-Branche

Sozialarbeit

Eigenwilligen Klienten mit Toleranz begegnen




Protest gegen Corona-Beschränkungen im April 2021 in Berlin
epd-bild/Rolf Zöllner
Im privaten Umfeld ist es oft möglich, Menschen aus dem Weg zu gehen, die einem unangenehm sind. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter können das eher nicht. Sie müssen ein professionelles Verhältnis zu nervenden Klientinnen und Klienten finden.

Würzburg (epd). Sozialarbeiter begleiten ihre Klientinnen und Klienten oft lange. Über Monate, wenn nicht gar über Jahre. So ist das in der Suchtberatung. In der freien Straffälligenhilfe. In der Erziehungsberatung. Während dieser langen Beratungszeit kommen sie ihren Klienten sehr nahe. Sie erfahren von intimsten Problemen. Und von Meinungen, die mitunter sehr „anders“ sind. Im Privatleben kann man einfach gehen, wenn allzu merkwürdige Ansichten bei Bekannten oder Nachbarn auftauchen. Sozialarbeiter müssen aber mit Andersdenkenden professionell umgehen. Was nicht immer einfach ist.

„Kein Sendungsbewusstsein“

Seit Corona hat sich die Situation noch einmal verschärft, berichten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. „Wir haben zum Beispiel Frauen, die von der Impfung sagen, die sei ‚nur ein Scheiß‘“, berichtet Bärbel Marbach-Kliem vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Augsburg, die straffällig gewordene Frauen in der JVA sowie nach ihrer Entlassung berät. „Teilweise glauben die Frauen, dass die Impfung unfruchtbar macht.“ Eine Haftentlassene verweigerte unlängst sowohl die Impfung als auch einen Test vor Betreten der Beratungsstelle: „Diese Frau haben wir leider als Klientin verloren.“

Darauf hinzuweisen, was Experten sagen, bringt laut Bärbel Marbach-Kliem nicht viel: „Ich entgegne lediglich, dass ich selbst die Impfung gut und wichtig finde.“ In Bezug auf das Thema „Impfung“ habe sie kein „Sendungsbewusstsein“. Anders verhält es sich, wenn Frauen faschistoides Gedankengut äußern. Was immer wieder vorkomme: „Es ist auch schon passiert, dass schwarze Frauen in unserer Beratungsstelle angemacht wurden.“ Das geht gar nicht. Weshalb das SkF-Team in diesen Fällen vehement einschreitet.

Angst, durch die Impfung krank oder unfruchtbar zu werden, hatten auch Frauen aus einer Mutter-Kind-Gruppe, in der die Berliner Heilerziehungspflegerin Anne Winter bis letztes Jahr tätig war. Misstrauisch machte die kurze Entwicklungszeit der Impfstoffe. Die Berlinerin tat die Befürchtungen der Frauen, die sich meist in einer insgesamt kritischen Lebenslage befanden, nicht lapidar ab. Sie suchte nach seriösen Quellen zu Impfnebenwirkungen und zum Entwicklungsverfahren: „Das alles selbst zu verstehen und es den Frauen dann auch noch in leichter Sprache zu vermitteln, war ziemlich herausfordernd.“

Sozialarbeit mit Empathie

Anne Winter gab weiter, was sie gelesen hatte, tat allerdings nicht so, als wäre sie nun im Besitz der vollen Wahrheit: „Das wäre nicht authentisch gewesen.“ Im Gespräch mit den Frauen räumte sie eigene Unsicherheiten ein: „Ich sagte, dass es keine hundertprozentige Gewissheit gibt.“ Mit drei impfskeptischen Frauen hatte sie es zu jener Zeit zu tun. Eine ließ sich daraufhin relativ zügig impfen. Die beiden anderen dachten noch eine Weile nach. Dann entschieden auch sie sich für die Impfung. Ihre Kinder ließen sie ebenfalls impfen. Hätten sie es nicht getan, so Anne Winter, hätte man sie in der Mutter-Kind-Gruppe auf keinen Fall als „Aussätzige“ behandelt.

Sozialarbeit funktioniert nur mit Empathie, sagt Stefan Wenger von Condrobs, einem Verein mit Sitz in München, der sich um Suchtkranke kümmert und Jugendhilfe anbietet. Condrobs hat es nach seiner Aussage mit Menschen zu tun, die unterschiedlichste Lebensentwürfe haben. Da gibt es Suchtkranke aus dem bürgerlichen Milieu, denen man nicht ansieht, welches Desaster hinter ihnen liegt. Diese Menschen treffen bei Condrobs auf Klienten, die seit Jahren extrem desolat leben. So vielfältig wie die Lebensentwürfe, in die sich die Sozialarbeiter einfühlen müssen, sind auch die Meinungen zu gesellschaftlichen Fragen.

Natürlich werden immer mal wieder Themen im Kontext der Pandemie gestreift, so Wenger: „Doch die sind ja nicht der Grund, warum jemand unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchte.“ Darum werden „abweichende“ Ansichten zu Impfungen oder zur Corona-Politik meist nicht weiter vertieft: „Wir verstehen uns nicht als Meinungspolizei.“ Die Corona-Impfung wird als individuelle Entscheidung betrachtet. Wobei nach außen deutlich gemacht wird, dass das Gros des Condrobs-Teams für die Impfung ist, so Wenger: „Um dadurch endlich die Pandemie vom Tisch zu bekommen.“

Ressentiments gegenüber Geflüchteten

Nicht toleriert werden Thesen, die Ausgrenzung zur Folge haben: „Dann müssen wir Stellung beziehen.“ Wenger denkt zum Beispiel an junge Leute mit Ressentiments gegenüber Geflüchteten. Da wird zum Beispiel behauptet, dass Geflüchtete mehr staatliche Leistungen bekämen als Einheimische. Solche Überzeugungen werden mit Fakten korrigiert: „Wir klären darüber auf, wie es gesetzlich ausschaut.“ Damit rassistische Äußerungen gar nicht erst aufkommen, wird den Klienten zu Beginn der Kooperation verdeutlicht, dass Condrobs ausdrücklich für Vielfalt steht und dass Vielfalt bei Condrobs akzeptiert werden muss.

Das Eintreten für Vielfalt drückt sich nicht zuletzt im Sprachduktus aus: Man spricht nicht von „Mitarbeitern“, sondern von „Mitarbeitenden“. Auch die Genderthematik, weiß Stefan Wenger, polarisiert. Dass das Team konsequent gegendert spricht, heißt nach seinen Worten nicht, dass alle, die an einer Therapiegruppe teilnehmen oder in einer Sucht-WG leben, gezwungen wären, ebenfalls sprachlich zu gendern. Sonst wäre man wieder bei der „Meinungspolizei“.

Beratung mit Maske oder digital

Widersprüchliche Meinungen auszuhalten, hat Peter Winkler von der Erziehungsberatungsstelle der Caritas im unterfränkischen Miltenberg schon vor langer Zeit gelernt. „Man muss akzeptieren, dass es kein ‚richtig‘ und ‚falsch' gibt“, betont er. Wird Winkler mit einer abweichenden Meinung konfrontiert, etwa mit der Überzeugung, was in jüngster Zeit mehrmals vorkam, Bill Gates würde danach streben, die ganze Welt zu unterjochen, fragt er seinen Klienten: „Warum ist Ihnen das so wichtig?“ Die Frage irritiert. Genau das wird mit ihr auch bezweckt: „Durch Irritationen lassen sich verkrustete Denkweisen aufbrechen.“

Unnachgiebig ist das Team, wenn es um festgesetzte „Spielregeln“ geht. Wer direkt beraten werden möchte, muss eine Maske aufsetzen. Kürzlich stand eine 17-Jährige vor der Tür, die das nicht tun wollte: „Sie hielt uns ein Maskenbefreiungsattest hin.“ Die Jugendliche wurde darauf hingewiesen, dass sie damit keinen Zugang erhalten würde: „Hier gibt es keine Diskussionen.“ Was nicht bedeutete, dass sie unverrichteter Dinge hätte gehen müssen. Das Team bot ihr an, sich telefonisch beraten zu lassen. Oder eine Videokonferenz zu schalten.

Pat Christ


Pflege

Sozialverband: Jeder dritte pflegende Angehörige überfordert




Eine Altenpflegerin dokumentiert ihre Tätikgeiten.
epd-bild/Werner Krüper
Weil es für sie selbstverständlich ist, kümmern sich viele Angehörige um ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder. Jeder Dritte von ihnen ist damit jedoch überlastet, wie eine neue Studie des Sozialverbands VdK zeigt.

Berlin (epd). Jeder dritte pflegende Angehörige fühlt sich laut einer Studie des Sozialverbands VdK mit seiner Aufgabe überfordert. „Die häusliche Pflege ist am Limit“, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele bei der Veröffentlichung einer vom VdK in Auftrag gegebenen Studie am 9. Mai in Berlin. Häusliche Pflege finde in der Regel hinter verschlossenen Türen statt. Die Online-Befragung von rund 56.000 Pflegebedürftigen und Pflegenden bringe nun erstmals „Licht ins Dunkle“, sagte Bentele.

„Häusliche Pflege oftmals fragil“

Viele der pflegenden Angehörigen fühlten sich extrem belastet und könnten die Pflege ihrer Angehörigen nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr bewältigen, geht aus der VdK-Studie hervor. „Das zeigt, wie fragil oftmals die häusliche Pflege ist“, sagte Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück, der die Studie umgesetzt hat.

Etwa die Hälfte der Befragten pflegten ihre Eltern, andere kümmerten sich um ihre Partner oder Kinder. Dabei sei die Beziehung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen sehr emotional und von Liebe geprägt. „Deshalb sprechen wir nicht mehr von häuslicher Pflege, sondern von Nächstenpflege“, sagte Bentele. Für viele der Pflegenden sei es selbstverständlich, sich um die Bedürftigen zu kümmern.

Viele pflegende Angehörige nähmen die ihnen zustehenden Unterstützungsleistungen nicht in Anspruch, erklärte der VdK weiter. Berechnungen zeigten, dass je nach Art der Pflegeleistungen zwischen 62 und 93 Prozent nicht abgerufen werden. Finanziell verfielen allein bei drei wichtigen Hilfsangeboten fast zwölf Milliarden Euro pro Jahr.

Damit Unterstützungsleistungen in Zukunft häufiger in Anspruch genommen werden, sei vor allem eine unabhängige Beratung wichtig, sagte Bentele: „Wir haben heute ein extrem starres System, in dem eigentlich eher die Pflegeversicherung vorschreibt, wer was braucht und wem was hilft. Ich finde die Vorstellungen extrem absurd.“ Oft fehle Pflegenden im Alltag die Zeit, sich umfassend informieren zu können. Deshalb sollten Leistungen niederschwellig und einfach zu erreichen sein, forderte Bentele.

90 Prozent wollen zu Hause gepflegt werden

Im Gegensatz zu anderen Leistungen werde das von den Pflegeversicherungen gezahlte Pflegegeld häufig in Anspruch genommen, ergänzte Büscher. Im Vergleich beantragten Pflegende, die mit dem Pflegebedürftigen in einem Haus wohnen, die Hilfeleistung öfter, als Angehörige, die nicht im gleichen Haushalt wohnen. Das zusätzliche Geld werde von ihnen vor allem für laufende Ausgaben aufgewendet. Auch in der Pflegeversicherung nicht vorgesehene Dienstleistungen, alternative Betreuungsangebote und ehrenamtliche Hilfen würden darüber finanziert.

90 Prozent der Menschen wollen zu Hause gepflegt werden, ergänzte Bentele. Unter den befragten Pflegebedürftigen gaben nur 2,3 Prozent an, sich vorstellen zu können, in einem Pflegeheim zu leben. „Nächstenpflege ist das Thema und wird es auch zukünftig sein“, betonte die VdK-Präsidentin. Unter anderem müssten Pflegedienste deshalb ihre Angebote ausweiten. Außerdem müsse das Pflegebudget vereinheitlicht werden. „Wir sollten uns als Gesellschaft daran messen lassen, dass die Pflege zu Hause möglich bleibt.“

Inga Jahn


Senioren

Streetworker: Hilfen für einsame Senioren




Sozialarbeiter Ralf Emmerich (Mitte) im Gespräch mit Senioren
epd-bild/Rudolf Stumberger
Alte Menschen sind oft einsam. Manche von ihnen haben in der Corona-Pandemie ihren Ehepartner verloren. Zu ihnen suchen Münchner Sozialarbeiter gezielt auf öffentlichen Plätzen den Kontakt. Das Pilotprojekt wurde jetzt im dritten Jahr erweitert.

München (epd). Der Sozialpädagoge Ralf Emmerich geht zielstrebig in Richtung Georg-Freundorfer-Platz im Münchner Westend. Dort ist gerade Wochenmarkt. Die Leute kaufen Lebensmittel an den Ständen ein, während auf den Bänken der Grünanlage ein paar ältere Herren die wärmenden Strahlen der Frühlingssonne genießen. Diese Rentner wird Emmerich jetzt ansprechen und sich nach ihrem Befinden erkundigen. Denn er ist beruflich als Streetworker unterwegs. Seine Zielgruppe in einem neuen Projekt der Sozialarbeit in München sind Senioren im öffentlichen Raum.

„Für viele Menschen ist Einsamkeit das Problem Nummer eins“, sagt Emmerich. „An zweiter Stelle kommen soziale Probleme und die Gesundheit“, fügt er hinzu. Das Münchner Pilotprojekt heißt „SAVE“ - „SeniorInnen aufsuchen im Viertel durch ExpertInnen“. Das 2019 vom Stadtrat beschlossene Projekt wurde zunächst im Einzugsbereich von vier Alten-und Servicezentren gestartet. Im Januar dieses Jahres haben die Stadträte beschlossen, es auf weitere fünf Stadtviertel auszudehnen.

Wichtige Ergänzung bestehender Angebote

„Unsere Erfahrungen bestätigen, dass das Projekt SAVE eine wichtige Ergänzung unserer Angebote darstellt. Es bietet eine sehr niedrigschwellige Möglichkeit, mit älteren Menschen in Kontakt zu treten, die wir sonst nicht erreichen würden“, sagt Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Denn viele der angetroffenen Personen hätten kein soziales Netz und würden sich nicht an Hilfseinrichtungen wenden.

Das Projekt SAVE will die Lebenssituation von Seniorinnen und Senioren verbessern. Dafür sind sozialpädagogische Fachkräfte auf festen Routen in Stadtteilen an den Orten unterwegs, an denen sich ältere Menschen regelmäßig aufhalten, und gehen auf diese zu. Sie versuchen, zu ihnen verlässliche und stabile Beziehungen aufzubauen.

Schwieriger Start wegen Corona

Damit ist Sozialpädagoge Emmerich gerade beschäftigt. Er spricht mit einer kleinen Gruppe älterer Herren, erläutert ihnen das Angebot des örtlichen Altenzentrums: Da gibt es Hilfestellung bei Problemen mit Behörden, gesundheitliche Beratung und jeden Tag ein Mittagessen. Seit Februar 2020 ist er zweimal die Woche im Viertel unterwegs, es war ein schwieriger Start unter Corona-Bedingungen. Die Stelle teilt er sich mit einer Kollegin. Beide machen die Erfahrung, dass ein großer Anteil unter den Seniorinnen und Senioren unter Einsamkeit leidet - in Zeiten von Corona noch mehr als vorher.

Da war die gutgekleidete ältere Dame, die am Rande einer Grünanlage mit ihrem Rollator saß. Emmerich und seine Kollegin hatten sie angesprochen, daraus wurde ein 90-minütiges Gespräch. Dabei stellte sich heraus: Kurz nach Ausbruch der Pandemie musste die Frau wegen einer Erkrankung in die Klinik, sie blieb dort drei Monate lang. In dieser Zeit starb ihr Mann. Weil zu den Corona-Maßnahmen die Isolation im Krankenhaus gehörte, konnte sie nicht persönlich von ihm Abschied nehmen. Nach 50 Jahren Ehe war sie plötzlich allein. Sie fühlt sich sehr einsam. „Ich habe einfach zugehört“, sagt Sozialpädagoge Emmerich.

Grüße vom „Stammkunden“

Oder da ist der „Stammkunde“ auf dem Gollierplatz, der schon von weitem grüßt. „Er freut sich, wenn er mich sieht“, sagt Emmerich, „dann ratschen wir ein bisschen zusammen.“ Oder die Frau mit dem Alkohol- und Medikamentenproblem, misstrauisch und ängstlich. Der Sozialpädagoge sagt: „Ich weiß bis heute nicht, wie sie heißt.“

Das Projekt der aufsuchenden Sozialarbeit für Senioren im öffentlichen Raum erreichte seit dem Start vor gut zwei Jahren in den vier Projektvierteln trotz der Corona-Einschränkungen 226 Seniorinnen und Senioren, wie eine Zwischenbilanz des Sozialreferates ausweist. Ein gutes Drittel dieser Senioren habe danach den Weg in Alten- und Servicezentren, zu Sozialbürgerhäusern oder anderen Hilfseinrichtungen gefunden.

Rudolf Stumberger


Krieg in der Ukraine

Gastbeitrag

"Krieg ist ultimative Verletzung der Kinderrechte"




Sabina Schutter
epd-bild/André Kirsch
Die UN-Kinderrechtskonvention soll weltweit Kinder schützen - ganz besonders in Zeiten von Kriegen. Doch der Konflikt in der Ukraine zeigt: Das scheitert. Von ihren Eindrücken beim Besuch von Flüchtlingsunterkünften in Polen berichtet Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf, in ihrem Gastbeitrag.

Mit der UN-Kinderrechtskonvention haben sich fast alle Staaten weltweit auf den Schutz, die Förderung und die Beteiligung von Kindern geeinigt. Mit dieser völkerrechtlichen Vereinbarung ist ratifiziert, dass Kinder vor kriegerischen Konflikten geschützt werden müssen, dass sie nicht als Kindersoldaten eingesetzt werden und auch, dass sie an sie betreffenden Fragen angemessen beteiligt werden müssen. Wenn Kriege geführt werden, sollte die UN-Kinderrechtskonvention sicherstellen, dass diese Kinderrechte gewahrt werden. Doch dass das nicht so ist, zeigt auf bedrückende Art der Krieg in der Ukraine.

Selten hört man ein Kind lachen oder schreien

Als ich jüngst in einer Unterkunft für geflüchtete Menschen aus der Ukraine nahe Warschau und in der Anlaufstelle in Stalowa Wola war, um mir ein Bild von der Situation vor Ort zu machen, wurde überdeutlich, dass diese internationale völkerrechtliche Vereinbarung in der Ukraine keinerlei Anwendung findet, denn Krieg stellt per se die ultimative Verletzung der Kinderrechte dar.

Im Transferzentrum Expo Ptak nahe Warschau kommen täglich Tausende Menschen aus der Ukraine an. Das Zentrum bietet bis zu 10.000 Menschen Schutz. In den Messehallen sind Feldbetten aufgereiht, sie sind mit Wolldecken und Kissen bestückt. Ein Logistikzentrum sorgt für die Versorgung mit Lebensmitteln und Dingen des Alltagsbedarfs. In einem medizinischen Zentrum sind Ärztinnen und Ärzte und auch Tiermediziner und Tiermedizinerinnen im Einsatz, denn viele der Geflohenen haben Haustiere dabei.

Vor Ort sind fast nur Frauen mit Kindern und wenige ältere Männer zu finden. Für die Kinder stehen einige Spiel- und Bewegungsangebote zur Verfügung, eine wichtige Ablenkung. Dennoch ist es in der Halle still. Selten hört man ein Kind lachen oder schreien, nie hört man die vielen Haustiere, die dabei sind. Die Kinder haben die Entscheidung zur Flucht nicht selbst getroffen. Vermutlich wurden sie auch nicht daran beteiligt, denn ihre Mütter haben zu ihrem Schutz entschieden, die Reise aus der Ukraine anzutreten.

Kein Kontakt zu den Eltern

In der Anlaufstelle in Stalowa Wola nahe der ukrainischen Grenze südlich von Lublin kommen Gruppen von Kindern an, die aus ukrainischen Heimen evakuiert werden. Diese Mädchen und Jungen haben oft keinen Kontakt zu ihren Eltern. Sie sind, was die Regel ist in der Ukraine, in der Obhut der Behörden. Etwa die Hälfte dieser Kinder kommt mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Für sie würde neben der Kinderrechtskonvention auch die Behindertenrechtskonvention gelten - und sie sind besonders verletzlich. Diese Kinder sind auf medizinische Unterstützung und pädagogische Betreuung angewiesen, auch sie haben vermutlich nicht mitentschieden, ob sie fliehen, wohin sie fliehen oder auch wer mitkommt auf die Flucht.

Kinder verlieren im Krieg ihre Handlungsfähigkeit - Agency - wie es in der Kindheitsforschung heißt. Agency und Mitbestimmung sind wesentliche Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen von Kindern. Denn nur durch die Beteiligung von Anfang an lernen Kinder, dass ihre Stimme etwas zählt, dass sie gehört werden. Nicht zuletzt ist diese Beteiligung Bedingung für einen gelingenden Kinderschutz.

Die Kinder funktionieren nur

Nur wenn Kinder sicher sind, dass ihre Eindrücke und Ihr Wille oder auch ihre Ablehnung etwas zählt, werden sie sich auch Erwachsenen anvertrauen, wenn sie Schutz brauchen. In der Stille von Expo Ptak sind die Stimmen der Kinder verstummt. Sie äußern sich nicht mehr, sie funktionieren nur. Sie wissen, dass ihre Eltern oder die Begleitpersonen alles dafür tun, dass sie sicher sind. Sie wissen, dass ihr Protest gerade nicht zählt, dass sie nicht gehört werden. Eine Generation von Kindern wird dadurch umfassend in ihren Rechten verletzt: Sie erleben Traumatisierungen, sie verlieren verlässliche Beziehungen und auch ihre Lebensgrundlage. Sie erleben, dass sie angesichts eines gewaltsamen Überfalls auf ihre Heimat keine Rechte mehr haben.

Und was ebenso dramatisch ist: Diese Kinder verlieren auch ihre Förderrechte. In den Aufnahmezentren in Polen und auch später in Deutschland bemühen sich Hilfsorganisationen und private Helferinnen und Helfer um Ablenkung und erste pädagogische Angebote. Diese Unterstützung ist unersetzlich. Von echter Bildungsteilhabe kann aber keine Rede sein, geschweige denn von der Förderung einer gesunden Entwicklung.

In vielen Regionen auf der Welt herrscht Krieg. Überall werden Kinderrechte verletzt und humanitäre Hilfe tut ihr Möglichstes, um Kinder zu schützen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist diese umfassende Verletzung von Kinderrechten in Europa angekommen.

Sabina Schutter ist Pädagogik-Professorin, Soziologin und Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V.


Krieg in der Ukraine

"Bei Veteranen fließen oft die Tränen"



Die Berichte vom Krieg in der Ukraine wecken bei Senioren Erinnerungen an die Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Pflegerinnen und Betreuerinnen unterstützen sie bei der Verarbeitung von Bildern, die sie belasten.

Schorndorf (epd). Die Bilder von Zerstörung, Flucht und Vertreibung aus der Ukraine lösen bei älteren Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, Erinnerungen an Bombennächte im Luftschutzkeller, Tod und Gefangenschaft aus. „Es fließen oft die Tränen“, sagt Kerstin Dreßler dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Betreuungsassistentin im Karlstift in Schorndorf bei Stuttgart setzt sich zu den betagten Bewohnerinnen und Bewohnern, hört zu, tröstet.

In den Seniorenzentren der Zieglerschen nehmen sich die Mitarbeiterinnen Zeit, um den teils traumatischen Erinnerungen an die Kindheit Raum zu geben. Insbesondere die Tagespflegegäste im Seniorenzentrum Erolzheim bei Biberach diskutierten jeden Morgen über die aktuelle Lage in der Ukraine und machten sich große Sorgen, berichtet die Einrichtungsleiterin Marianne Schneider. „Viele haben große Angst vor einem dritten Weltkrieg“, sagt sie.

Thema Krieg ist allgegenwärtig

Das Thema Krieg ist beim Umgang mit Senioren ohnehin allgegenwärtig. Gerade demenziell erkrankte Menschen leben in der Vergangenheit. „Die Sorge, ob die Kinder genug zu essen haben, beschäftigt sie dauernd“, berichtet die Betreuungsassistentin.

Wer nicht reden will, wird in Ruhe gelassen. „Wir wollen keine alten Wunden aufreißen“, betont Kerstin Dreßler. Eine Hundertjährige sitze zwar mit im Kreis und höre zu, sprechen wolle sie aber nicht. Anderen tut es gut zu sprechen. „Neun Jahre war ich alt, als wir unsere Heimat an der Ostsee verlassen mussten“, schildert eine Bewohnerin des Seniorenzentrums in Leutkirch. „Mein 16-jähriger Bruder musste bleiben und im Volkssturm kämpfen.“ Bis sie sich wieder fanden, sollten 59 Jahre vergehen.

Erfahrungen aus der Vergangenheitsbewältigung

Ihre Geschichte hat die Seniorin dem Referenten für Theologie und Ethik bei den Zieglerschen, Johannes Ehrismann, erzählt. Er gibt den Betreuerinnen Tipps für den Umgang mit den Belastungen. Hilfreich sei beispielsweise zu überlegen, was damals geholfen habe, um mit der Situation fertigzuwerden.

Ob eigene Vertreibung, Erfahrungen im Auffanglager oder im Luftschutzkeller: Für viele Senioren sind die Jahrzehnte zurückliegenden Erlebnisse plötzlich wieder sehr präsent. Dreßler berichtet von einem heute 90-Jährigen, der mit 15 Jahren in russische Kriegsgefangenschaft geraten und von einem ukrainischen Offizier mit den Worten „Kind, geh' heim zu deiner Mutter“ freigelassen worden sei.

Mitleid mit flüchtenden Müttern und Kindern

Als er sich an diese Episode erinnerte, habe der Mann „nur noch Butterbrot“ essen wollen, „bis aufgehört wird zu schießen“, erzählt Dreßler. „Die Frauen haben vor allem Mitleid, wenn sie im Fernsehen die flüchtenden Frauen mit ihren Kindern sehen“, sagt sie.

Für Dreßler ist es wichtig, die Senioren an der Hand zu nehmen und nicht abzuwiegeln. Es gehe darum, Gefühle zuzulassen. Weinen, schimpfen dürfen sein. In ihrer Ausbildung und in speziellen Schulungen haben die Betreuerinnen gelernt, Menschen in Krisensituationen aufzufangen. „So können wir auch jetzt mit der aktuellen Lage professionell umgehen“, sagt Dreßler.

Auch bei der Betreuerin fließen mitunter Tränen - aus Mitgefühl mit dem Schicksal der Bewohner. Etwa, wenn eine Bewohnerin sich beim Anblick der Fernsehbilder daran erinnert, wie sie als Schülerin die verkohlten Leichen ihrer Klassenkameraden im Luftschutzkeller sah. „Wie verarbeitet man so etwas?“, fragt sie sich dann.

Mit einem Gute-Nacht-Lied versucht die Betreuungsassistentin abends, ihre Senioren von den belasteten Erinnerungen abzulenken. Nach den Klängen von „Guten Abend, Gute Nacht … morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“ sei dann prompt die Ergänzung aus dem Kreis der Bewohner gekommen „Der Putin hoffentlich nicht!“, berichtet Dreßler.

Susanne Lohse


Pflege

Dokumentation

Verband stellt Plan zur besseren Übergangs- und Kurzzeitpflege vor



Klinikpatienten können nach einer Behandlung nicht nach Hause entlassen werden, wenn sie Betreuung benötigen, aber niemanden haben, der sie leisten kann. Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband (DEKV) hat Reformen in der Kurzzeitpflege vorgestellt, die Abhilfe schaffen könnten. epd sozial dokumentiert das Papier in seiner Kurzfassung samt der einführenden Erläuterungen.

Wer aus dem Krankenhaus entlassen wird, steht oft vor einem Problem: Er braucht Hilfe, hat aber keine Angehörigen, die diese wichtige Aufgabe übernehmen können. Dazu kommt, dass sich mögliche weitere Rehamaßnahmen nicht nahtlos anschließen lassen. Zudem gibt es deutlich zu wenig Kurzzeitpflegeplätze.

„In der Vergangenheit haben die Krankenhäuser Patientinnen und Patienten, die aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen nicht entlassen werden konnten und für die kein Kurzzeitpflegeplatz gefunden werden konnte, weiter betreut“, berichtet DEKV-Chef Christoph Radbruch. Aber: Weil keine medizinische Versorgung mehr notwendig war, wurde das bei einer Prüfung durch den medizinischen Dienst als sekundäre Fehlbelegung beanstandet und ging mit finanziellen Nachteilen für die Krankenhäuser einher.

Mit dem neuen Leistungsbereich der Übergangspflege im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz hat der Gesetzgeber eine Möglichkeit geschaffen, diese Patienten bis zu zehn Tage im Krankenhaus zu versorgen, bis sie in eine Kurzzeitpflege, eine Dauerpflege, eine andere Form der Versorgung oder nach Hause entlassen werden können. „Daher ist die Übergangspflege ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Doch damit ist der Engpass bei den Kurzzeitpflegeplätzen nicht behoben und wir sehen auch bei der Übergangspflege weiteren Handlungsbedarf“, betont Radbruch.

Um die Versorgung von pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten nach einer Krankenhausbehandlung zu verbessern, bedarf es aus Sicht des DEKV weiterer Maßnahmen. „Diese haben wir in einem Drei-Punkte-Plan zusammengefasst, mit dem wir die Möglichkeiten der Kurzzeitpflege den realen Bedürfnissen anpassen möchten“, so der Verbandschef:

PUNKT 1: Keine Beschränkung der Übergangspflege auf zehn Tage

Auch nach zehn Tagen Übergangspflege im Krankenhaus kann nicht überall sichergestellt werden, dass eine gesicherte und adäquate Anschlussversorgung zur Verfügung steht. Regionale Studien zeigen, dass in unterversorgten Regionen fast 50 Prozent der Anfragen bei eingestreuten Pflegeplätzen aus dem näheren Einzugsgebiet abgelehnt werden müssen.

Die Gründe sind meist Vollbelegung aller Pflegeplätze sowie personelle Engpässe. Nach Ablauf der zehn Tage besteht daher weiterhin die Notwendigkeit, dass das Krankenhaus die Patientinnen und Patienten auf eigene Kosten beherbergen und versorgen muss. Die Krankenhäuser werden trotzdem die Lücke der ambulanten sowie stationären Anschlussversorgung schließen müssen. Daher darf es besonders für vulnerable Patienten keine Beschränkung der Übergangspflege auf zehn Tage geben. Sie sollte (...) auf die durchschnittliche Dauer der Kurzzeitpflege von 21 Tagen angehoben werden.

PUNKT 2: Vergütung der Übergangspflege muss sich an den Kostenstrukturen der Krankenhäuser orientieren

Krankenhäuser haben eine besondere Kostenstruktur und sind nicht mit Pflegeeinrichtungen oder ambulanten Pflegediensten vergleichbar. Die Leistung der Krankenhäuser bei der Übergangspflege umfasst ärztliche Behandlung, die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, die Aktivierung der Patientinnen, die Grund- und Behandlungspflege, das Entlassmanagement sowie Unterkunft und Verpflegung. Die Übergangspflege hat immer in dem Krankenhaus zu erfolgen, das auch die medizinische Behandlung durchgeführt hat. Die Betten der Übergangspflege sind daher normale Krankenhausbetten mit medizinisch-pflegerischer Versorgung nach akutstationären Maßstäben. Das Fachpersonal und die Qualitätsvorgaben sind ausgerichtet an kranken Patienten mit medizinischem und pflegerischem Behandlungsbedarf.

Diese Kosten bestehen weiter, auch wenn die Patienten als Gäste im Rahmen der Übergangspflege versorgt werden. Gleichzeitig steht das Bett nicht für die akutstationäre Versorgung weiterer Patientinnen zur Verfügung. Dies bedeutet einen Erlösausfall für das Krankenhaus. Die Vergütung für die Übergangspflege darf sich daher nicht an den Vergütungsgrundlagen der Kurzzeitpflege orientieren. Sie muss von Grund auf neu ermittelt und kalkuliert werden. Das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus ist vom Gesetzgeber zu beauftrage, die durchschnittlichen Tageskosten für einen Übergangspflegefall im Krankenhaus bundeseinheitlich zu berechnen.

PUNKT 3: Schaffung einer ausreichenden Anzahl von Kurzzeitpflegeplätzen auf transparenter Basis

Die Versorgungslücke nach einer Krankenhausbehandlung lässt sich mittelfristig nur schließen, indem ausreichend Kurzzeitpflegeplätze zur Verfügung stehen und diese kostendeckend finanziert werden, so dass auch der Betrieb solitärer Kurzzeitpflegeeinrichtungen möglich ist.

Derzeit existiert eine unzureichende Datenlage über die Anzahl von Kurzzeitpflegeplätze nach dem jeweiligen Typ (solitäre, fixe und eingestreute). Für einen gezielten Aufbau braucht es die Ermittlung der regionalen und lokalen Bedarfe für Versorgungsstrukturen der Kurzzeitpflege durch Studien der Versorgungsforschung. Der daraus abgeleitete Bedarf muss verbindlich gedeckt werden.

Das Ziel muss es sein, dass Patientinnen nach erfolgter medizinisch-stationärer Behandlung in eine qualitativ hochwertige, professionelle Pflegeeinrichtung entlassen werden können. Krankenhäuser können sich so ihrer originären Aufgabe widmen - der medizinischen Behandlung von Patienten. Übergangspflege ist folglich nur in seltenen Ausnahmefällen durch Krankenhäuser zu erbringen.



Behinderung

Initiative: Haushaltsgeräte barrierefrei machen



Berlin (epd). Barrierefreie Haushaltsgeräte gibt es nur selten. Deshalb wurde zum 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung eine neue Initiative gestartet. Sie firmiert unter der Bezeichnung „Home designed for all“.

Dahinter stehen die Blinden- und Sehbehindertenverbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie machen machen gemeinsam darauf aufmerksam, dass Menschen mit Seheinschränkung durch Touchpads an Herd, Backofen und anderen Haushaltsgeräten vor große Probleme gestellt werden.

Komplexe Menüführung

Die technologische Entwicklung verändere die Handhabung und Nutzung moderner Haushaltsgeräte massiv. Dreh- und Kippschalter werden durch Touchscreens oder Sensor-Tasten ersetzt. Die Menüführung sei oft komplex und unübersichtlich. „Das führt für blinde und sehbehinderte Menschen zu massiven Problemen bei der Handhabung von Haushaltsgeräten und manchmal zu unüberwindbaren Barrieren“, heißt es in einer Mitteilung.

Eine große Zahl an potenziellen Kundinnen und Kunden kann nach den Angaben viele der auf dem Markt erhältlichen Haushaltsgeräte nicht oder nur eingeschränkt nutzen. Betroffen seien in der EU rund 80 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Formen von Behinderungen.

Bedienung über mindestens zwei Sinne

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband, der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich, der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen und der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband haben sich deshalb zusammengeschlossen, um das Anliegen barrierefreier Haushaltsgeräte gemeinsam voranzubringen. In einem Erklärfilm stellen sie laientauglich dar, wo das Problem fehlender Barrierefreiheit liege und dass dieses Problem lösbar sei.

Voraussetzung dafür, dass alle Menschen im Haushalt zurechtkommen, sei ein „Design for All“. Dazu gehört, dass Hersteller von Haushaltsgeräten konsequent das Mehr-Sinne-Prinzip beachten und die barrierefreie Information über ihre Geräte einplanen. Das Mehr-Sinne-Prinzip ist ein Grundsatz der Barrierefreiheit. Bei Haushaltgeräten gibt es vor, dass die Bedienung über mindestens zwei Sinne - Sehen, Hören oder Fühlen - möglich sein muss. Nur wenn Haushaltsgeräte barrierefrei bedienbar sind, können blinde und sehbehinderte Menschen am technischen Fortschritt teilhaben.



Kirchen

Deutsche Seemannsmission baut "erste Hilfe für die Seele" aus



Geestland (epd). Krisen wie die fortdauernde Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg führen nach den Erfahrungen der evangelischen Deutschen Seemannsmission (DSM) weltweit zu einer „anhaltend schwierigen Lage“ für Seeleute. „Viele kommen in den Häfen einfach nicht von Bord, auch nicht für eine medizinische Versorgung“, bilanzierte DSM-Generalsekretär Matthias Ristau dem Evangelischen Pressedienst (epd) nach einer mehrtägigen Weltkonferenz der Organisation in Bad Bederkesa bei Bremerhaven.

Zu dem Treffen waren etwa 50 Mitarbeitende aus Deutschland, Europa und Übersee nach Norddeutschland gekommen. „Viele berichteten von extrem belastenden Situationen durch die Isolation an Bord“, sagte der leitende Theologe Ristau. Es gebe Beispiele, die über mehrere Heuer-Verträge andauerten, bis zu 30 Monate lang. „Landgang ist aber wichtig - gegen den Lagerkoller, um mal Abstand zu gewinnen, mal andere Leute zu sehen, den Kopf freizubekommen.“ Eine Umfrage unter Seeleuten habe gezeigt, dass es oft die Reedereien seien, die den Landgang untersagten, weil sie Corona-Infektionen in der Crew verhindern wollten.

"Wir wollen Stabilität geben.

Auch um den damit verbundenen Belastungen zu begegnen, will die Seemannsmission ihre Angebote zur Unterstützung und zur psychosozialen Notfallversorgung der Seeleute ausbauen. So gebe es mit dem Online-Kanal dsm.care eine englischsprachige Chat-Seelsorge. In der Notfallversorgung seien weltweit 30 Kolleginnen und Kollegen ausgebildet. Ristau: „Mit Besuchen an Bord und auch online unterstützen wir beispielsweise nach Todesfällen an Bord.“ Das sei „erste Hilfe für die Seele“ nach belastenden Ereignissen, betonte Ristau: „Wir wollen Stabilität geben.“

Zum Netzwerk der Deutschen Seemannsmission gehören mehr als 30 Stationen im In- und Ausland. Hunderte Haupt- und Ehrenamtliche leisten auf Schiffen, in Seemannsclubs und in Seemannsheimen Seelsorge und Sozialarbeit an Seeleuten aus aller Welt. Die Arbeit wird aus Kirchensteuern, öffentlichen Mitteln, Spenden und freiwilligen Schiffsabgaben der Reeder finanziert.

Dieter Sell



sozial-Recht

Oberlandesgericht

Kindeswohl entscheidend für Verbleib bei Pflegeeltern




Ehepaar, im Hintergrund ihr Pflegekind (Archivbild)
epd-bild/Angelika Osthues
Sollen Kinder aus Pflegefamilien zu den Herkunftseltern zurückkehren, muss ein psychologisches Gutachten klären, ob dadurch das Kindeswohl gefährdet wird. Das entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

Frankfurt/Main (epd). Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen können vorübergehend oder auch dauerhaft bei Pflegeeltern ein neues Zuhause finden. Ein dabei gewonnenes stabiles Umfeld und insbesondere das Wohl der Kinder darf mit der Rückkehr zu den leiblichen Eltern aber nicht gefährdet werden, stellte das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main in einem am 3. Mai veröffentlichten Urteil klar. Komme ein Kind wegen einer Kindeswohlgefährdung direkt nach der Geburt zu Pflegeeltern, muss für eine vom Jugendamt befürwortete Rückkehr zu den leiblichen Eltern in der Regel ein psychologisches Gutachten eingeholt werden.

Überforderung der leiblichen Eltern

Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen Kinder in Pflegefamilien nach Möglichkeit wieder zu ihren Herkunftseltern zurückkehren können. Voraussetzung hierfür ist, dass die Gründe für die Herausnahme aus dem ursprünglichen Haushalt, etwa die Überforderung der leiblichen Eltern, Verwahrlosung oder auch Gewaltrisiken nicht mehr bestehen.

Wird die Hilfe von Pflegeeltern vorübergehend oder dauerhaft in Anspruch genommen, sind sie für die Angelegenheiten des alltäglichen Lebens der Kinder verantwortlich. Die leiblichen Eltern behalten regelmäßig aber das Sorge- und Umgangsrecht. Wollen die leiblichen Eltern ihre Kinder wieder zurück oder wollen zumindest Einfluss auf Erziehung nehmen, kommt es immer wieder zum Streit.

So kam im aktuell vom OLG entschiedenen Fall ein 2020 geborenes Mädchen wenige Tage nach seiner Geburt wegen einer Kindeswohlgefährdung zu Pflegeeltern. Gleiches geschah zuvor mit ihrer älteren Schwester.

Als die Pflegeeltern der jüngsten Tochter den dauerhaften Verbleib des Kindes in ihrem Haushalt beantragten, wurde das vom Amtsgericht abgelehnt. Das für den Aufenthaltsort der Eltern zuständige Jugendamt hatte sich für die Rückführung des Kindes zu den Herkunftseltern eingesetzt. Dies solle vorbereitend mit „intensivierten Umgängen“ ermöglicht werden.

Bindungen zu Pflegepersonen

Das Jugendamt am Aufenthaltsort des Kindes sprach sich ebenso wie der Verfahrensbeistand des Kindes gegen eine Rückführung aus. Das Amtsgericht konnte hingegen keine Anhaltspunkte mehr für eine Kindeswohlgefährdung bei den Herkunftseltern erkennen. Der Antrag der Pflegeeltern wurde daher abgelehnt.

Das OLG kippte jedoch die Entscheidung. Sei ein Kind kurz nach der Geburt zu Pflegeeltern gekommen, müsse für die Rückkehr zu den Herkunftseltern regelmäßig ein psychologisches Gutachten zur Kindeswohlgefährdung eingeholt werden. Dabei müsse insbesondere in den Blick genommen werden, ob und wenn ja, in welchem Umfang das Kind Bindungen zu seinen Pflegepersonen und deren Umfeld aufgebaut habe und durch einen Abbruch der Bindung in seinem Wohl gefährdet würde.

Das Amtsgericht habe sich hier nicht allein auf die Einschätzung des Jugendamtes am Wohnort der Eltern stützen dürfen, zumal bei dem Mädchen besondere Risikofaktoren bestünden. So reagiere es sehr sensibel auf Stresssituationen.

Das Bundesverfassungsgericht machte in einem anderen Fall den Verbleib des Kindes ebenfalls vom Kindeswohl abhängig. Im entschiedenen Rechtsstreit wurde ein Pflegekind wieder aus der Pflegefamilie herausgenommen, da der Pflegevater eine siebenmonatige Bewährungsstrafe wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material verschwiegen hatte. Wollen die Pflegeeltern das Kind trotz bestehender Warnungen des Jugendamtes wieder zurück, dürfe ein Gericht die Bedenken der Behörde nicht beiseite wischen und müsse vielmehr eine Gefahrenprognose durchführen, entschieden die Karlsruher Richter in ihrem Beschluss vom 12. Februar 2021. Dies sei hier aber unterblieben und müsse nachgeholt werden.

Auskunftsanspruch des geschiedenen Vaters

Findet ein Kind bei Pflegeeltern ein neues Zuhause, kann nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 14. Dezember 2016 der geschiedene leibliche Elternteil vom Jugendamt Anspruch auf Auskunft über das Kind verlangen. Im Streitfall ging es um ein zehnjähriges Kind, das in einer Pflegefamilie lebt. Die leiblichen Eltern sind getrennt. Die Mutter steht unter Betreuung, so dass das Jugendamt die Fürsorge für das Kind übernahm.

Als der Vater wissen wollte, wie es seinem Kind geht, wie die schulischen Leistungen sind und ob er ein aktuelles Foto erhalten kann, lehnte das Jugendamt ab. Grundsätzlich ist, so der BGH, zunächst der andere Elternteil, hier die Mutter, die ebenfalls Umgang mit dem Kind pflegt, zur Auskunft verpflichtet. Scheide dies aus, könne auch das Jugendamt, es können nicht aber die Pflegeeltern Auskunft geben.

Ein Auskunftsanspruch bestehe zur schulischen Entwicklung, außerschulischen Betätigungen sowie zur gesundheitlichen und sozialen Entwicklung des Kindes. Detaillierte Informationen wie Erziehungsberichte, ärztliche Unterlagen oder zu den Vermögensverhältnissen des Kindes gehörten aber nicht dazu, so der BGH.

Das Jugendamt kann nach einer weiteren Entscheidung des OLG Hamm vom 29. März 2016 als Vormund eines Pflegekindes nicht die von den leiblichen Eltern bestimmte Religionszugehörigkeit des Kindes wieder ändern. Sei diese einmal festgelegt, bleibe diese gültig, auch wenn das Kind in einer Pflegefamilie aufwächst. Damit blieb es im Streitfall Pflegeeltern verwehrt, ein aufgenommenes muslimisches Kind taufen zu lassen, damit es am katholischen Schulunterricht teilnehmen und zum katholischen Glauben erzogen werden kann.

Az.: 6 UF 225/21 (Oberlandesgericht Frankfurt am Main)

Az.: 1 BvR 1780/20 (Bundesverfassungsgericht)

Az.: XII ZB 345/16 (Bundesgerichtshof)

Az.: 2 UF 223/15 (Oberlandesgericht Hamm)

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Zwangsräumung darf nicht Leben und Gesundheit gefährden



Karlsruhe (epd). Die Zwangsräumung eines psychisch schwer kranken 78-jährigen Mieters darf nicht zu einer deutlichen Verschlechterung seiner Gesundheit führen. In solch einem Fall darf eine Wohnung nicht zwangsgeräumt werden, stellte das Bundesverfassungsgericht in einem am 6. Mai veröffentlichten Beschluss klar. Die Karlsruher Richter gaben damit dem Antrag auf einstweilige Anordnung eines alleinstehenden Rentners aus dem Raum Starnberg statt und stoppten vorläufig die beabsichtigte Zwangsräumung des Mannes.

Der Vermieter hatte dem 78-Jährigen gekündigt und schließlich ein Zwangsräumungsurteil erwirkt. Der Anwalt des Mannes legte dagegen eine noch nicht entschiedene Verfassungsbeschwerde ein und beantragte zugleich, die drohende Räumung wegen einer damit einhergehenden deutlichen Verschlechterung der Gesundheit auszusetzen.

Räumung zumindest aufgeschoben

Das Bundesverfassungsgericht stoppte daraufhin vorläufig die Zwangsräumung. Bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, dürfe der psychisch Kranke in der Mietwohnung bleiben. Ob die Verfassungsbeschwerde erfolgreich sei, sei offen. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer Zwangsräumung sich die Gesundheit des Mannes rapide verschlechtert und sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt werde.

In solch einem Fall sei es dem Vermieter zuzumuten, dass die Räumung der Wohnung bis zur Entscheidung in der Hauptsache aufgeschoben wird. Hier sei der Mann nicht fähig, einen freien Willen zu bilden. Er leide an Wahnstörungen und einer beginnenden Demenz. Laut Gutachter lägen die Voraussetzungen für die Einrichtung einer umfassenden Betreuung vor. Wegen seines komplexen Krankheitsbildes sei er nicht in der Lage, selbstständig eine Umzug zu vollziehen oder sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Dies alles rechtfertige den vorübergehenden Verbleib in der Wohnung.

Interessenausgleich zwischen Vermieter und Mieter

Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hatte am 22. Mai 2019 ähnlich entschieden. Eine Eigenbedarfskündigung können danach Mieter zwar nicht mit einem pauschalen Verweis auf ihr Alter, ihre Gesundheit oder ihre lange Mietdauer aushebeln. Führen sie aber wegen des vom Vermieter geforderten Umzugs konkrete Hinweise auf eine drohende erhebliche Gesundheitsverschlechterung an, müssen Gerichte künftig von Amts wegen regelmäßig ein Sachverständigengutachten dazu einholen und gegebenenfalls die Räumung stoppen.

Macht ein Räumungsstreit auch den Vermieter auf Dauer psychisch krank, kann ein Interessenausgleich zwischen Vermieter und einer ebenfalls kranken Mieterin erforderlich sein, entschied der BGH in einem Beschluss vom 16. Juni 2016. Könne sich die gesundheitliche Situation der Mieterin mit einer Therapie bessern, könne für den Vermieter die Räumung der Wohnung nach Abschluss der Behandlung infrage kommen.

Az.: 2 BvR 447/22 (Bundesverfassungsgericht)

Az.: VIII ZR 180/18 und VIII ZR 167/17 (Bundesgerichtshof, Gutachten)

Az.: I ZB 109/15 (Bundesgerichtshof, Interessenausgleich)



Landesarbeitsgericht

Beschäftigte können keine zusätzliche Raucherpausen verlangen



Rostock (epd). Arbeitgeber müssen Beschäftigten keine zusätzlichen Raucherpausen ermöglichen. Sie dürfen ohne Zustimmung des Betriebsrates anordnen, dass der Griff zur Zigarette nur während der regulären unbezahlten Pausen erlaubt ist, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern in Rostock in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss vom 29. März.

Im entschiedenen Fall ging es um ein Logistikunternehmen am Seehafen Rostock. Da viel Holz im Hafen umgeschlagen wird, hatten Betriebsrat und Arbeitgeber 2011 wegen der erhöhten Brandgefahr in einer Betriebsordnung ein generelles Rauchverbot vereinbart. Nur in fünf extra eingerichteten „Raucherinseln“ war das Rauchen noch erlaubt.

Drohung mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen

Als es 2020 in anderen Unternehmen im Hafen zu mehreren Bränden kam, erinnerte der Arbeitgeber die Beschäftigten an das Rauchverbot und führte aus, dass das Rauchen in den Raucherinseln „ausschließlich in der tariflich vorgeschriebenen Pause gestattet“ sei. Beschäftigte sollten dies noch einmal per Unterschrift bestätigen. Andernfalls drohten „arbeitsrechtliche Konsequenzen“.

Die Anordnung hatte zur Folge, dass Raucher in ihrer sechsstündigen Schicht nur während einer 30-minütigen Pause zur Zigarette greifen dürfen. Der Betriebsrat lehnte die Anordnung des Arbeitgebers ab und hielt diese für mitbestimmungspflichtig. Das Unternehmen gehe mit seiner Anordnung, das Rauchen auf die regulären Pausen zu verlegen, über die Betriebsordnung hinaus. Bislang seien ungeplante, eingeschobene Raucherpausen - etwa bei technologisch bedingten Arbeitszeitunterbrechungen - möglich gewesen.

Hinweis auf Arbeitspflicht

Das LAG gab dem Arbeitgeber recht. Der Arbeitgeber dürfe das „Arbeitsverhalten“ und damit „Regelungen und Weisungen, welche die Arbeitspflicht unmittelbar konkretisieren“, ohne Zustimmung des Betriebsrates festlegen. Tariflich seien die Raucherpausen auch nicht geregelt.

Bei der Anordnung, das Rauchen nur in den regulären Pausen und damit außerhalb der Arbeitszeit zu erlauben, sei ausschließlich das Arbeitsverhalten betroffen. Der Arbeitgeber müsse Arbeitsunterbrechungen wegen des Rauchens nicht dulden. Denn während der festgelegten Arbeitszeiten bestehe Arbeitspflicht. Dass es wegen schwankendem Arbeitsanfall nicht immer möglich sei, alle Arbeitnehmer durchgängig zu beschäftigen, sei kein Grund für das Verlassen des Arbeitsplatzes und das Aufsuchen einer „Raucherinsel“, entschied das LAG.

Az.: 6 TaBV 12/21



Arbeitsgericht

Transsexuelle Bewerberin muss abfällige Bemerkung nicht dulden



Koblenz (epd). Eine abfällige Bemerkung eines Arbeitgebers über eine sich als „Frau Markus“ be-werbende transsexuelle Frau kann eine Entschädigung wegen Diskriminierung des Geschlechts begründen. Werden die Bewerbungsunterlagen dann auch noch an andere, firmenfremde Personen ohne Zustimmung weitergegeben, führt dies wegen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeits- und Datenschutzrechts zu einem weiteren Entschädigungsanspruch, entschied das Arbeitsgericht Koblenz in einem am 5. Mai veröffentlichten Urteil.

„Was läuft da falsch?“

Im entschiedenen Rechtsstreit hatte die Klägerin, eine selbstständige transsexuelle Handwerkerin zusammen mit einem Unternehmen ein Haus saniert. Als das Unternehmen später einen „coolen Typen - Anlagemechaniker - Bauhelfer“ suchte, bewarb sich auch die Handwerkerin. Die Bewerbung endete mit der Schlussformel: „Freundliche Grüße Frau Markus X“.

Daraufhin leitete der Geschäftsführer des Unternehmens noch am selben Tag die Bewerbung per WhatsApp an die Kundin weiter, in denen die Sanierungsarbeiten vorgenommen wurden. Er fügte noch den Text „Was läuft da falsch?“ sowie ein Smiley mit heruntergezogenen Mundwinkeln an. Er sagte der Stellenbewerberin ab.

Danach eskalierte die Situation. Der Geschäftsführer hatte die Frau einige Monate später als „Wichser, dummer Pisser und Stricher“ beleidigt.

5.000 Euro wegen Geschlechterdiskriminierung

Die transsexuelle Frau klagte nach Erhalt ihrer Stellenabsage auf eine Diskriminierungsentschädigung von mindestens 10.250 Euro. Das Unternehmen habe einen „coolen Typen“ und damit junge, und dann auch nur männliche Bewerber gesucht. Der Geschäftsführer habe sie zudem mit „Wichser, dummer Pisser und Stricher“ in der männlichen Form beleidigt. Damit werde sie in ihrer sexuellen Identität als Frau diskriminiert. Die Weiterleitung der Bewerbungsunterlagen an die Kundin sei ebenfalls unzulässig gewesen.

Das Arbeitsgericht sprach ihr wegen einer erlittenen Geschlechterdiskriminierung 5.000 Euro sowie wegen der Weiterleitung der Bewerbung an Dritte weitere 1.000 Euro zu. Eine Altersdiskriminierung liege nicht vor, da auch alte Menschen „coole Typen“ sein könnten.

Allerdings habe die Stellenanzeige nur männliche Bewerber angesprochen. Dies sei ebenso ein Indiz für eine Geschlechterdiskriminierung wie der abwertende Text in der weitergeleiteten Whatsapp-Nachricht. Die in der männlichen Form geäußerten Beleidigungen seien aber kein Indiz für eine Geschlechterdiskriminierung. Diese hätten keine geschlechtsspezifische Aussage.

Az.: 7 Ca 2291/21




sozial-Köpfe

Gewerkschaften

Yasmin Fahimi zur DGB-Chefin gewählt




Yasmin Fahimi
epd-bild/Jörg Farys/DGB
Beim DGB gibt es einen Wechsel an der Spitze: Die SPD-Bundestagsabgeordnete Yasmin Fahimi wurde zur DGB-Bundesvorsitzenden gewählt und löst damit Reiner Hoffmann ab.

Berlin (epd). Yasmin Fahimi ist neue Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Auf dem DGB-Bundeskongress in Berlin stimmten am 9. Mai 358 der 398 Delegierten für die frühere SPD-Generalsekretärin, die als Einzige zur Wahl stand. 26 Delegierte votierten gegen die 54-Jährige. Zehn enthielten sich.

Damit steht erstmals eine Frau an der Spitze des 1949 gegründeten DGB. Fahimi löst Reiner Hoffmann ab, der den Gewerkschaftsbund seit 2014 geführt hatte. Vor ihrer Wahl hatte Fahimi in einer Vorstellungsrede angekündigt, der DGB werde unter ihrer Führung unter anderem verstärkt gegen die Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt kämpfen.

Die studierte Chemikerin Fahimi war von 2000 bis 2013 Gewerkschaftssekretärin bei der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. 2014 und 2015 war sie SPD-Generalsekretärin. Von 2016 bis 2017 war sie beamtete Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium. Seit 2017 gehört sie dem Deutschen Bundestag an. Sie hat angekündigt, ihr Bundestagsmandat nach der Wahl zur DGB-Chefin niederzulegen.

Der DGB umfasst acht Mitgliedsgewerkschaften mit insgesamt rund sechs Millionen Mitgliedern. Der Bundeskongress ist das höchste Gremium des Gewerkschaftsbundes. Er tritt alle vier Jahre zusammen.



Weitere Personalien



Ingo Habenicht, Vorsitzender der Geschäftsführung des Evangelischen Johanneswerks in Bielefeld, ist in seinem Amt als Vorstandsvorsitzender des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) bestätigt worden. Ebenso wiedergewählt wurde sein Vize Hubertus Jaeger, Vorstand der DGD-Stiftung mit Sitz in Marburg. Petra Skodzig, Finanzvorständin der Graf-Recke-Stiftung und seit 2013 Mitglied im VdDD-Vorstand, kandidierte nicht wieder . Zwei Personen zogen erstmals in den 15-köpfigen Vorstand ein: Verena Hölken, seit Januar 2022 Kaufmännische Vorständin der Evangelischen Stiftung Hephata, und Constance von Struensee, seit Juli 2021 Vorständin Personal der Agaplesion gAG.

Stephan Ackermann, Trierer Bischof, will das Amt des Missbrauchsbeauftragten der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zum Herbst abgeben. Ackermann begründete seine Entscheidung in einem Brief an die Bischofskonferenz damit, dass es „möglichst bald“ eine neue Struktur brauche für den Aufgabenbereich der Missbrauchsaufarbeitung und Prävention. Ackermann hatte das neu geschaffene Amt des Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz im Februar 2010 nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals übernommen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, würdigte Ackermanns „weitreichendes und unermüdliches Engagement“ in den vergangenen zwölf Jahren.

Tobias Schmidt bleibt Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAG BBW). Er wurde für vier weitere Jahre im Amt bestätigt. Schmidt ist Hauptgeschäftsführer der BBW-Leipzig-Gruppe. Der BAG BBW gehören nach eigenen Angaben bundesweit 51 Berufsbildungswerke an.

Stefan Mette (51) hat seine Arbeit als neuer Geschäftsführer beim ASB-Landesverband Sachsen aufgenommen. Der Chemnitzer war in den vergangenen 13 Jahren in verschiedenen leitenden Positionen in der Pflege tätig, unter anderem als Bereichs- und Einrichtungsleiter in gemeinnützigen und privaten Unternehmen. Zuletzt war Mette Geschäftsführer einer Hamburger DRK-Gesellschaft. Vor seinem Studium „Pflegewissenschaft und -management“ in Dresden absolvierte er eine Ausbildung als Rettungsassistent und -sanitäter in Chemnitz. In diesen Funktionen arbeitete er über 16 Jahre, auch als Ausbilder.

Mirjam Mikoleit ist neue Leiterin der Albertinen Schule in Hamburg-Schnelsenfolgt. Sie folgt Walburga Feldhaus, die in den Ruhestand getreten ist. Die Pflegeschule bietet 180 Ausbildungsplätze. Feldhaus war von 2009 an zunächst als Lehrkraft an der Albertinen Schule tätig. 2019 übernahm sie die Feldhaus die Leitung der Schule und bewältigte mit ihrem Team die Aufgabe, binnen kürzester Zeit die Lehrpläne gemäß den Anforderungen des neuen Pflegeberufsgesetzes zur bundesweiten Einführung einer generalisierten Pflegeausbildung umzugestalten. Mikoleit hat 13 Jahre die Pflegeschule des Wilhelmsburger Krankenhauses Groß Sand geleitet. Sie ist Krankenschwester und Diplom-Pädagogin.

Hiltrud Lübben-Hollmann aus Bremen ist für ihre Unterstützung von Frauen in prekären Lebenssituationen mit der „Trommel“ des kirchennahen Vereins „Arbeit und Zukunft“ ausgezeichnet worden. Der symbolische und undotierte Preis wird für die berufliche Förderung von Menschen verliehen, denen es schwer fällt, einen Arbeitsplatz zu finden. Lübben-Hollmann hat 2004 eine Stiftung für sozial benachteiligte Frauen in Bremen und Bremerhaven gegründet. Im März dieses Jahres hatte der Landesfrauenrat Lübben-Hollmann zur Bremer „Frau des Jahres“ gekürt. Als Mitarbeiterin des Amtes für Soziale Dienste setzte sie sich früher insbesondere für alleinerziehende Mütter ein, die in Schlichtbauten wohnten. 1986 gründete sie zusammen mit anderen Frauen den Beschäftigungsträger „Quirl“, bei dem zeitweise mehr als 80 Mitarbeiterinnen tätig waren.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juni



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.

Mai

30.-31.5.

Online-Kurs „Rhetorik und Gesprächsführung für Führungskräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0152/08576959

31.5.-2.6. Saarbrücken

Werkstättentag 2022: „Neue Wege gehen“

der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen

Tel.: 069/943394 0

Juni

8.6. Kassel

Fachtagung „Qualifikationsmix neu denken: Aufgabenumverteilung im Gesundheitswesen“

des DEVAP

Tel.: 030/83001-277

9.-10.6. Berlin

Seminar „Psychose und Sucht - double trouble“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

10.-12.6. Netphen

Seminar „Freiwilliges Engagement in der Suchthilfe - Beratung und Unterstützung von Verantwortlichen in der Selbsthilfe“

der AWO-Bundesakademie

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

20.-30.6.

Online-Kursreihe „Coachingkompetenzen für Führungskräfte - Potenziale der Mitarbeitenden erkennen und gezielt fördern“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0152/08576959

27.-28.6. Frankfurt a.M.

Seminar „Sozialraumorientierung! Und jetzt?“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172-3012819