sozial-Branche

Krieg in der Ukraine

"Bei Veteranen fließen oft die Tränen"



Die Berichte vom Krieg in der Ukraine wecken bei Senioren Erinnerungen an die Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Pflegerinnen und Betreuerinnen unterstützen sie bei der Verarbeitung von Bildern, die sie belasten.

Schorndorf (epd). Die Bilder von Zerstörung, Flucht und Vertreibung aus der Ukraine lösen bei älteren Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, Erinnerungen an Bombennächte im Luftschutzkeller, Tod und Gefangenschaft aus. „Es fließen oft die Tränen“, sagt Kerstin Dreßler dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Betreuungsassistentin im Karlstift in Schorndorf bei Stuttgart setzt sich zu den betagten Bewohnerinnen und Bewohnern, hört zu, tröstet.

In den Seniorenzentren der Zieglerschen nehmen sich die Mitarbeiterinnen Zeit, um den teils traumatischen Erinnerungen an die Kindheit Raum zu geben. Insbesondere die Tagespflegegäste im Seniorenzentrum Erolzheim bei Biberach diskutierten jeden Morgen über die aktuelle Lage in der Ukraine und machten sich große Sorgen, berichtet die Einrichtungsleiterin Marianne Schneider. „Viele haben große Angst vor einem dritten Weltkrieg“, sagt sie.

Thema Krieg ist allgegenwärtig

Das Thema Krieg ist beim Umgang mit Senioren ohnehin allgegenwärtig. Gerade demenziell erkrankte Menschen leben in der Vergangenheit. „Die Sorge, ob die Kinder genug zu essen haben, beschäftigt sie dauernd“, berichtet die Betreuungsassistentin.

Wer nicht reden will, wird in Ruhe gelassen. „Wir wollen keine alten Wunden aufreißen“, betont Kerstin Dreßler. Eine Hundertjährige sitze zwar mit im Kreis und höre zu, sprechen wolle sie aber nicht. Anderen tut es gut zu sprechen. „Neun Jahre war ich alt, als wir unsere Heimat an der Ostsee verlassen mussten“, schildert eine Bewohnerin des Seniorenzentrums in Leutkirch. „Mein 16-jähriger Bruder musste bleiben und im Volkssturm kämpfen.“ Bis sie sich wieder fanden, sollten 59 Jahre vergehen.

Erfahrungen aus der Vergangenheitsbewältigung

Ihre Geschichte hat die Seniorin dem Referenten für Theologie und Ethik bei den Zieglerschen, Johannes Ehrismann, erzählt. Er gibt den Betreuerinnen Tipps für den Umgang mit den Belastungen. Hilfreich sei beispielsweise zu überlegen, was damals geholfen habe, um mit der Situation fertigzuwerden.

Ob eigene Vertreibung, Erfahrungen im Auffanglager oder im Luftschutzkeller: Für viele Senioren sind die Jahrzehnte zurückliegenden Erlebnisse plötzlich wieder sehr präsent. Dreßler berichtet von einem heute 90-Jährigen, der mit 15 Jahren in russische Kriegsgefangenschaft geraten und von einem ukrainischen Offizier mit den Worten „Kind, geh' heim zu deiner Mutter“ freigelassen worden sei.

Mitleid mit flüchtenden Müttern und Kindern

Als er sich an diese Episode erinnerte, habe der Mann „nur noch Butterbrot“ essen wollen, „bis aufgehört wird zu schießen“, erzählt Dreßler. „Die Frauen haben vor allem Mitleid, wenn sie im Fernsehen die flüchtenden Frauen mit ihren Kindern sehen“, sagt sie.

Für Dreßler ist es wichtig, die Senioren an der Hand zu nehmen und nicht abzuwiegeln. Es gehe darum, Gefühle zuzulassen. Weinen, schimpfen dürfen sein. In ihrer Ausbildung und in speziellen Schulungen haben die Betreuerinnen gelernt, Menschen in Krisensituationen aufzufangen. „So können wir auch jetzt mit der aktuellen Lage professionell umgehen“, sagt Dreßler.

Auch bei der Betreuerin fließen mitunter Tränen - aus Mitgefühl mit dem Schicksal der Bewohner. Etwa, wenn eine Bewohnerin sich beim Anblick der Fernsehbilder daran erinnert, wie sie als Schülerin die verkohlten Leichen ihrer Klassenkameraden im Luftschutzkeller sah. „Wie verarbeitet man so etwas?“, fragt sie sich dann.

Mit einem Gute-Nacht-Lied versucht die Betreuungsassistentin abends, ihre Senioren von den belasteten Erinnerungen abzulenken. Nach den Klängen von „Guten Abend, Gute Nacht … morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“ sei dann prompt die Ergänzung aus dem Kreis der Bewohner gekommen „Der Putin hoffentlich nicht!“, berichtet Dreßler.

Susanne Lohse