sozial-Branche

Krieg in der Ukraine

Gastbeitrag

"Krieg ist ultimative Verletzung der Kinderrechte"




Sabina Schutter
epd-bild/André Kirsch
Die UN-Kinderrechtskonvention soll weltweit Kinder schützen - ganz besonders in Zeiten von Kriegen. Doch der Konflikt in der Ukraine zeigt: Das scheitert. Von ihren Eindrücken beim Besuch von Flüchtlingsunterkünften in Polen berichtet Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf, in ihrem Gastbeitrag.

Mit der UN-Kinderrechtskonvention haben sich fast alle Staaten weltweit auf den Schutz, die Förderung und die Beteiligung von Kindern geeinigt. Mit dieser völkerrechtlichen Vereinbarung ist ratifiziert, dass Kinder vor kriegerischen Konflikten geschützt werden müssen, dass sie nicht als Kindersoldaten eingesetzt werden und auch, dass sie an sie betreffenden Fragen angemessen beteiligt werden müssen. Wenn Kriege geführt werden, sollte die UN-Kinderrechtskonvention sicherstellen, dass diese Kinderrechte gewahrt werden. Doch dass das nicht so ist, zeigt auf bedrückende Art der Krieg in der Ukraine.

Selten hört man ein Kind lachen oder schreien

Als ich jüngst in einer Unterkunft für geflüchtete Menschen aus der Ukraine nahe Warschau und in der Anlaufstelle in Stalowa Wola war, um mir ein Bild von der Situation vor Ort zu machen, wurde überdeutlich, dass diese internationale völkerrechtliche Vereinbarung in der Ukraine keinerlei Anwendung findet, denn Krieg stellt per se die ultimative Verletzung der Kinderrechte dar.

Im Transferzentrum Expo Ptak nahe Warschau kommen täglich Tausende Menschen aus der Ukraine an. Das Zentrum bietet bis zu 10.000 Menschen Schutz. In den Messehallen sind Feldbetten aufgereiht, sie sind mit Wolldecken und Kissen bestückt. Ein Logistikzentrum sorgt für die Versorgung mit Lebensmitteln und Dingen des Alltagsbedarfs. In einem medizinischen Zentrum sind Ärztinnen und Ärzte und auch Tiermediziner und Tiermedizinerinnen im Einsatz, denn viele der Geflohenen haben Haustiere dabei.

Vor Ort sind fast nur Frauen mit Kindern und wenige ältere Männer zu finden. Für die Kinder stehen einige Spiel- und Bewegungsangebote zur Verfügung, eine wichtige Ablenkung. Dennoch ist es in der Halle still. Selten hört man ein Kind lachen oder schreien, nie hört man die vielen Haustiere, die dabei sind. Die Kinder haben die Entscheidung zur Flucht nicht selbst getroffen. Vermutlich wurden sie auch nicht daran beteiligt, denn ihre Mütter haben zu ihrem Schutz entschieden, die Reise aus der Ukraine anzutreten.

Kein Kontakt zu den Eltern

In der Anlaufstelle in Stalowa Wola nahe der ukrainischen Grenze südlich von Lublin kommen Gruppen von Kindern an, die aus ukrainischen Heimen evakuiert werden. Diese Mädchen und Jungen haben oft keinen Kontakt zu ihren Eltern. Sie sind, was die Regel ist in der Ukraine, in der Obhut der Behörden. Etwa die Hälfte dieser Kinder kommt mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen. Für sie würde neben der Kinderrechtskonvention auch die Behindertenrechtskonvention gelten - und sie sind besonders verletzlich. Diese Kinder sind auf medizinische Unterstützung und pädagogische Betreuung angewiesen, auch sie haben vermutlich nicht mitentschieden, ob sie fliehen, wohin sie fliehen oder auch wer mitkommt auf die Flucht.

Kinder verlieren im Krieg ihre Handlungsfähigkeit - Agency - wie es in der Kindheitsforschung heißt. Agency und Mitbestimmung sind wesentliche Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen von Kindern. Denn nur durch die Beteiligung von Anfang an lernen Kinder, dass ihre Stimme etwas zählt, dass sie gehört werden. Nicht zuletzt ist diese Beteiligung Bedingung für einen gelingenden Kinderschutz.

Die Kinder funktionieren nur

Nur wenn Kinder sicher sind, dass ihre Eindrücke und Ihr Wille oder auch ihre Ablehnung etwas zählt, werden sie sich auch Erwachsenen anvertrauen, wenn sie Schutz brauchen. In der Stille von Expo Ptak sind die Stimmen der Kinder verstummt. Sie äußern sich nicht mehr, sie funktionieren nur. Sie wissen, dass ihre Eltern oder die Begleitpersonen alles dafür tun, dass sie sicher sind. Sie wissen, dass ihr Protest gerade nicht zählt, dass sie nicht gehört werden. Eine Generation von Kindern wird dadurch umfassend in ihren Rechten verletzt: Sie erleben Traumatisierungen, sie verlieren verlässliche Beziehungen und auch ihre Lebensgrundlage. Sie erleben, dass sie angesichts eines gewaltsamen Überfalls auf ihre Heimat keine Rechte mehr haben.

Und was ebenso dramatisch ist: Diese Kinder verlieren auch ihre Förderrechte. In den Aufnahmezentren in Polen und auch später in Deutschland bemühen sich Hilfsorganisationen und private Helferinnen und Helfer um Ablenkung und erste pädagogische Angebote. Diese Unterstützung ist unersetzlich. Von echter Bildungsteilhabe kann aber keine Rede sein, geschweige denn von der Förderung einer gesunden Entwicklung.

In vielen Regionen auf der Welt herrscht Krieg. Überall werden Kinderrechte verletzt und humanitäre Hilfe tut ihr Möglichstes, um Kinder zu schützen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist diese umfassende Verletzung von Kinderrechten in Europa angekommen.

Sabina Schutter ist Pädagogik-Professorin, Soziologin und Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V.