sozial-Branche

Sozialarbeit

Eigenwilligen Klienten mit Toleranz begegnen




Protest gegen Corona-Beschränkungen im April 2021 in Berlin
epd-bild/Rolf Zöllner
Im privaten Umfeld ist es oft möglich, Menschen aus dem Weg zu gehen, die einem unangenehm sind. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter können das eher nicht. Sie müssen ein professionelles Verhältnis zu nervenden Klientinnen und Klienten finden.

Würzburg (epd). Sozialarbeiter begleiten ihre Klientinnen und Klienten oft lange. Über Monate, wenn nicht gar über Jahre. So ist das in der Suchtberatung. In der freien Straffälligenhilfe. In der Erziehungsberatung. Während dieser langen Beratungszeit kommen sie ihren Klienten sehr nahe. Sie erfahren von intimsten Problemen. Und von Meinungen, die mitunter sehr „anders“ sind. Im Privatleben kann man einfach gehen, wenn allzu merkwürdige Ansichten bei Bekannten oder Nachbarn auftauchen. Sozialarbeiter müssen aber mit Andersdenkenden professionell umgehen. Was nicht immer einfach ist.

„Kein Sendungsbewusstsein“

Seit Corona hat sich die Situation noch einmal verschärft, berichten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. „Wir haben zum Beispiel Frauen, die von der Impfung sagen, die sei ‚nur ein Scheiß‘“, berichtet Bärbel Marbach-Kliem vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Augsburg, die straffällig gewordene Frauen in der JVA sowie nach ihrer Entlassung berät. „Teilweise glauben die Frauen, dass die Impfung unfruchtbar macht.“ Eine Haftentlassene verweigerte unlängst sowohl die Impfung als auch einen Test vor Betreten der Beratungsstelle: „Diese Frau haben wir leider als Klientin verloren.“

Darauf hinzuweisen, was Experten sagen, bringt laut Bärbel Marbach-Kliem nicht viel: „Ich entgegne lediglich, dass ich selbst die Impfung gut und wichtig finde.“ In Bezug auf das Thema „Impfung“ habe sie kein „Sendungsbewusstsein“. Anders verhält es sich, wenn Frauen faschistoides Gedankengut äußern. Was immer wieder vorkomme: „Es ist auch schon passiert, dass schwarze Frauen in unserer Beratungsstelle angemacht wurden.“ Das geht gar nicht. Weshalb das SkF-Team in diesen Fällen vehement einschreitet.

Angst, durch die Impfung krank oder unfruchtbar zu werden, hatten auch Frauen aus einer Mutter-Kind-Gruppe, in der die Berliner Heilerziehungspflegerin Anne Winter bis letztes Jahr tätig war. Misstrauisch machte die kurze Entwicklungszeit der Impfstoffe. Die Berlinerin tat die Befürchtungen der Frauen, die sich meist in einer insgesamt kritischen Lebenslage befanden, nicht lapidar ab. Sie suchte nach seriösen Quellen zu Impfnebenwirkungen und zum Entwicklungsverfahren: „Das alles selbst zu verstehen und es den Frauen dann auch noch in leichter Sprache zu vermitteln, war ziemlich herausfordernd.“

Sozialarbeit mit Empathie

Anne Winter gab weiter, was sie gelesen hatte, tat allerdings nicht so, als wäre sie nun im Besitz der vollen Wahrheit: „Das wäre nicht authentisch gewesen.“ Im Gespräch mit den Frauen räumte sie eigene Unsicherheiten ein: „Ich sagte, dass es keine hundertprozentige Gewissheit gibt.“ Mit drei impfskeptischen Frauen hatte sie es zu jener Zeit zu tun. Eine ließ sich daraufhin relativ zügig impfen. Die beiden anderen dachten noch eine Weile nach. Dann entschieden auch sie sich für die Impfung. Ihre Kinder ließen sie ebenfalls impfen. Hätten sie es nicht getan, so Anne Winter, hätte man sie in der Mutter-Kind-Gruppe auf keinen Fall als „Aussätzige“ behandelt.

Sozialarbeit funktioniert nur mit Empathie, sagt Stefan Wenger von Condrobs, einem Verein mit Sitz in München, der sich um Suchtkranke kümmert und Jugendhilfe anbietet. Condrobs hat es nach seiner Aussage mit Menschen zu tun, die unterschiedlichste Lebensentwürfe haben. Da gibt es Suchtkranke aus dem bürgerlichen Milieu, denen man nicht ansieht, welches Desaster hinter ihnen liegt. Diese Menschen treffen bei Condrobs auf Klienten, die seit Jahren extrem desolat leben. So vielfältig wie die Lebensentwürfe, in die sich die Sozialarbeiter einfühlen müssen, sind auch die Meinungen zu gesellschaftlichen Fragen.

Natürlich werden immer mal wieder Themen im Kontext der Pandemie gestreift, so Wenger: „Doch die sind ja nicht der Grund, warum jemand unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchte.“ Darum werden „abweichende“ Ansichten zu Impfungen oder zur Corona-Politik meist nicht weiter vertieft: „Wir verstehen uns nicht als Meinungspolizei.“ Die Corona-Impfung wird als individuelle Entscheidung betrachtet. Wobei nach außen deutlich gemacht wird, dass das Gros des Condrobs-Teams für die Impfung ist, so Wenger: „Um dadurch endlich die Pandemie vom Tisch zu bekommen.“

Ressentiments gegenüber Geflüchteten

Nicht toleriert werden Thesen, die Ausgrenzung zur Folge haben: „Dann müssen wir Stellung beziehen.“ Wenger denkt zum Beispiel an junge Leute mit Ressentiments gegenüber Geflüchteten. Da wird zum Beispiel behauptet, dass Geflüchtete mehr staatliche Leistungen bekämen als Einheimische. Solche Überzeugungen werden mit Fakten korrigiert: „Wir klären darüber auf, wie es gesetzlich ausschaut.“ Damit rassistische Äußerungen gar nicht erst aufkommen, wird den Klienten zu Beginn der Kooperation verdeutlicht, dass Condrobs ausdrücklich für Vielfalt steht und dass Vielfalt bei Condrobs akzeptiert werden muss.

Das Eintreten für Vielfalt drückt sich nicht zuletzt im Sprachduktus aus: Man spricht nicht von „Mitarbeitern“, sondern von „Mitarbeitenden“. Auch die Genderthematik, weiß Stefan Wenger, polarisiert. Dass das Team konsequent gegendert spricht, heißt nach seinen Worten nicht, dass alle, die an einer Therapiegruppe teilnehmen oder in einer Sucht-WG leben, gezwungen wären, ebenfalls sprachlich zu gendern. Sonst wäre man wieder bei der „Meinungspolizei“.

Beratung mit Maske oder digital

Widersprüchliche Meinungen auszuhalten, hat Peter Winkler von der Erziehungsberatungsstelle der Caritas im unterfränkischen Miltenberg schon vor langer Zeit gelernt. „Man muss akzeptieren, dass es kein ‚richtig‘ und ‚falsch' gibt“, betont er. Wird Winkler mit einer abweichenden Meinung konfrontiert, etwa mit der Überzeugung, was in jüngster Zeit mehrmals vorkam, Bill Gates würde danach streben, die ganze Welt zu unterjochen, fragt er seinen Klienten: „Warum ist Ihnen das so wichtig?“ Die Frage irritiert. Genau das wird mit ihr auch bezweckt: „Durch Irritationen lassen sich verkrustete Denkweisen aufbrechen.“

Unnachgiebig ist das Team, wenn es um festgesetzte „Spielregeln“ geht. Wer direkt beraten werden möchte, muss eine Maske aufsetzen. Kürzlich stand eine 17-Jährige vor der Tür, die das nicht tun wollte: „Sie hielt uns ein Maskenbefreiungsattest hin.“ Die Jugendliche wurde darauf hingewiesen, dass sie damit keinen Zugang erhalten würde: „Hier gibt es keine Diskussionen.“ Was nicht bedeutete, dass sie unverrichteter Dinge hätte gehen müssen. Das Team bot ihr an, sich telefonisch beraten zu lassen. Oder eine Videokonferenz zu schalten.

Pat Christ