viele offizielle Statistiken haben den Makel, dass sie die Wirklichkeit nicht umfassend abbilden. Das gilt auch für die Zahl der Behandlungsfehler in Deutschland. Fakt ist: Mehr als 80 Menschen sind 2020 nach einem Fehler von Ärzten oder Pflegern gestorben. Wie viele Behandlungsfehler jedes Jahr insgesamt passieren, weiß man jedoch nicht. Krankenkassen fordern deshalb ein verbindliches Meldesystem.
68 Prozent der jungen Menschen zwischen 16 und 39 Jahren können sich einer Studie zufolge vorstellen, selbst einen Familienangehörigen zu pflegen. Das klingt viel, doch ob es im Ernstfall wirklich zu diesem hehren Einsatz käme, ist offen. Gleichwohl belegt der aktuelle DAK-Pflegereport, dass es generell mehr Unterstützung für pflegende Angehörige braucht - eine große Aufgabe für die kommende Bundesregierung.
Die Erwartungen aus der Pflegebranche an die neue Bundesregierung könnten kaum größer sein. Es geht um die Lösung tiefsitzender Probleme - eines davon ist der anhaltende Fachkräftemangel. Und so forderte die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogel, zum Auftakt des Deutschen Pflegetags in Berlin vehement mehr Personal in Kliniken und Heimen. Und mehr Geld: 4.000 Euro im Monat sollten es schon sein.
In Deutschland erkranken pro Jahr rund 16.500 junge Menschen zwischen 18 und 39 Jahren an Krebs. Brustkrebs ist in den Industrieländern die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Vor allem bei Schwangeren ist die Behandlung und Betreuung schwierig. „Das System denkt: Frauen erkranken ab 55 Jahren“, sagt die Betroffene und Gründerin eines Hilfsvereins, Charlotte Arnold. Aber die jüngste Mutter, die sich hilfesuchend an den Verein wandte, war 26.
So viel Klarheit muss sein: Arbeitgeber sind verpflichtet, Beschäftigten eine Urlaubskürzung wegen ihrer Elternzeit in einem bestehenden Arbeitsverhältnis deutlich ankündigen. Der Hinweis in einer abschließenden Lohnabrechnung nach Kündigung, das sogenannte Auf-null-setzen, ist nur ausnahmsweise ausreichend, entschied das Landesarbeitsgericht Stuttgart in einem Leitsatzurteil.
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Dirk Baas
Berlin (epd). Der Medizinische Dienst der Krankenkassen fordert ein verbindliches Meldesystem für schwere Behandlungsfehler. Die jährliche Statistik, die der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) am 12. Oktober in Berlin vorstellte, zeige nur einen kleinen Ausschnitt des Problems, erklärte MDS-Geschäftsführer Stefan Gronemeyer: „Die Dunkelziffer ist hoch.“
Deshalb fordere die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verpflichtende Meldungen für sogenannte Never Events, also vermeidbare, besonders schwere Fehler. Dazu zählen etwa Patienten- oder Seitenverwechslungen, Medikationsfehler oder zurückgebliebene Fremdkörper nach Operationen. Patientenschützer forderten einen Härtefallfonds für Opfer von Behandlungsfehlern.
Meldungen über Fehler müssten vertraulich und unabhängig von ärztlichen Haftungsfragen erfolgen, sagte Gronemeyer. Sie sollten allein einer Verbesserung der Patientensicherheit dienen. Während zahlreiche Länder ein solches Meldesystem bereits eingeführt hätten, fehle es in Deutschland noch immer. Bei der Begutachtung stelle der MDS immer wieder die gleichen Fehler fest.
Der Medizinische Dienst erstellt die fachärztlichen Gutachten, wenn ein Behandlungsfehler vermutet wird. Im vorigen Jahr waren es rund 14.000. In jedem vierten Fall wurde ein Fehler mit Folgen bestätigt, in jedem fünften Fall war der Fehler eindeutig der Grund für den Schaden beim Patienten (rund 2.800 Fälle). Die Zahlen bewegen sich seit Jahren auf einem etwa gleichbleibenden Niveau.
Zwei Drittel der Vorwürfe beziehen sich auf Krankenhausbehandlungen, ein Drittel auf Arztpraxen. In den meisten Fällen geht es um Operationen, weil dort Fehler am ehesten bemerkt werden. Im Jahr 2020 betrafen ein Drittel der Beschwerden die Orthopädie und die Unfallchirurgie. Mit einem Anteil von zwölf Prozent folgten die Allgemeinmedizin und die Innere Medizin.
Bei zwei Dritteln der Patientinnen und Patienten waren die Schädigungen vorübergehend, sie mussten aber behandelt werden. Ein Drittel trug einen dauerhaften Schaden davon. 82 Patienten starben infolge eines Kunstfehlers, das sind drei Prozent aller vom MDS geprüften Fälle.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte einen Härtefallfonds für die Opfer von medizinischen Behandlungsfehlern. Vorstand Eugen Brysch sagte der „Neuen Osnabrücker Zeitung“, der Fonds sollte zu seinem Start mindestens 100 Millionen Euro umfassen und vom Staat sowie den Haftpflichtversicherungen der Krankenhäuser und Ärzte gefüllt werden.
Aus dem Fonds sollten schnelle erste Hilfen an Patienten fließen, die Schäden durch Kunstfehler erlitten haben, noch bevor ein Gericht über den Fall entschieden habe, sagte Brysch. Er sprach sich dafür aus, die Beweislast umzukehren. Bisher muss der Patient den Beweis für den Arztfehler und den dadurch erlittenen Schaden erbringen. Brysch hält zudem ein zentrales Register für notwendig: „Denn es braucht alle Fakten, um aus Fehlern zu lernen. Nur so können Behandlungsrisiken minimiert werden.“
Die vorgestellten Zahlen bewiesen die hohe Behandlungsqualität in deutschen Krankenhäusern, betonte indes die Deutsche Krankenhausgesellschaft. 20 Millionen stationäre und 21 Millionen ambulante Fälle würden jedes Jahr in Krankenhäusern behandelt. „Der MDK selber kommt bei rund 2.800 Gutachten zu dem Ergebnis, es habe Fehler gegeben.“ Gerichtlich bestätigte Fehler seien das aber nicht.
„Diese geringe Quote ist Ergebnis guter Arbeit in den Kliniken und der seit Jahren immer weiter optimierten Fehlervermeidung und Risikominimierung“, betonte die DKG. Das Qualitätssicherungssystem im Krankenhaus sei sowohl international als auch national herausragend.
In Deutschland werden Behandlungsfehler nur vom MDS und der Bundesärztekammer jährlich erfasst. Außerdem haben sich verschiedene Akteure im Gesundheitswesen, unter anderem Kliniken, Berufs- und Fachverbände sowie Patientenorganisationen im Aktionsbündnis Patientensicherheit zusammengeschlossen, um die Fehlerkultur zu verbessern.
Hamburg (epd). 68 Prozent der jungen Menschen zwischen 16 und 39 Jahren können sich vorstellen, einen Familienangehörigen zu pflegen. Unter denjenigen, die bereits pflegen oder gepflegt haben, sind es sogar 84 Prozent, wie eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach für den DAK-Pflegereport 2021 ergab. „Die hohe Bereitschaft junger Menschen, sich bei der Pflege zu engagieren, ist bemerkenswert“, sagte DAK-Vorstandschef Andreas Storm bei der Vorstellung des Reports am 12. Oktober in Hamburg.
Ein Viertel der jungen Menschen hat bereits Pflegeerfahrungen gesammelt, bei über der Hälfte von ihnen war die zu pflegende Person die Großmutter oder der Großvater. Die Pflege wird dabei weniger als eine moralische Pflicht gesehen, sondern geschieht aus familiärer Verbundenheit, sagte Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg, der den Report geleitet hat. Laut Pflegestatistik des Statistischen Bundesamts wurden Ende 2019 von den 4,1 Millionen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung erhielten, 80 Prozent zu Hause gepflegt.
41 Prozent der Befragten wünschen sich die Pflege eines nahen Angehörigen zuhause durch die Familie gemeinsam mit einem Pflegedienst oder einer festen Pflegekraft. „70 Prozent der zuhause versorgten Menschen nehmen aber keinen Pflegedienst in Anspruch, die Angehörigen machen das ganz alleine“, erklärte Klie. Die kommende Bundesregierung müsse die ambulante Pflege verstärkt in den Blick nehmen. „Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels werden wir bald an die Kapazitätsgrenzen in Pflegeheimen stoßen. Wir müssen sicherstellen, dass pflegende Angehörige umfassend unterstützt werden, um ihren wichtigen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen zu können.“
DAK-Vorstandschef Storm forderte vor allem, Pflegende vor Verarmung zu schützen, in der Häuslichkeit zu entlasten und proaktiv zu beraten. Dafür müsse das Pflegegeld um fünf Prozent erhöht und dynamisiert werden, sowie pflegende Angehörige kurzfristig finanziell entlastet werden. Von der zukünftigen Bundesregierung erwarte er so schnell wie möglich die Einberufung eines Pflegegipfels. Die Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und Kindererziehung müsse verbessert werden, etwa durch einen Anspruch auf Haushaltshilfe und Kinderbetreuung für pflegende Eltern(teile) mit einem eigenen Haushalt für bis zu 30 Kalendertage im Jahr.
Nur gut ein Drittel der jungen Pflegenden (38 Prozent) nimmt Beratungsangebote und Unterstützung in Anspruch, zeigt der Pflegereport. Sie versuchten, sich im Alltag „durchzubeißen“ und riefen zu spät um Hilfe. Dies könne zu traumatisierenden Belastungssituationen führen, erklärte Klie. Storm forderte, gesetzliche Möglichkeiten für die Pflegekassen zu schaffen, proaktiv mit Beratungsangeboten auf Pflegende zugehen zu können. Bisher dürfen Pflegekassen nur aktiv beraten, wenn Pflegende auf sie zukommen.
Der Sozialverband VdK sieht sich durch den Pflegereport bestätigt. Die Bundesregierung müsse endlich die Rahmenbedingungen für die häusliche Pflege verbessern, so der Verband. Sie dürfe nicht länger einseitig die Lobbyinteressen der Pflegebetreiber bedienen, sondern müsse die häusliche Pflege stärken. Angehörige, vor allem auch jüngere Menschen, seien bereit zu pflegen und sähen darin auch eine sinnstiftende Tätigkeit, wie eine Studie des VdK unlängst gezeigt habe, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele.
Durch den Corona-Rettungsschirm seien eine Million nach der anderen für nicht belegte Heimplätze an die Pflegeeinrichtungen geflossen, kritisierte Bentele: „Für die häusliche Pflege gab es dagegen nichts.“ Sie forderte die Verhandler der künftigen Bundesregierung auf: „Kein Koalitionsvertrag ohne Stärkung der Angehörigenpflege! Ansonsten werden wir als Sozialverband auf die Barrikaden gehen.“
Die Liste der zu erledigenden Aufgaben ist laut VdK lang: Das Pflegegeld müsse erhöht, die Pflegeleistungen flexibilisiert und als Budgets ausgestalten werden. Die Rentenanwartschaften sollten für pflegende Angehörige verbessert werden. „Außerdem ist eine Pflegezeit, die den Namen verdient hat, mit einer Lohnersatzleistung einzuführen“, sagte Bentele.
Für die Untersuchung im Rahmen des DAK-Pflegereports befragte das Institut für Demoskopie Allensbach zwischen dem 19. und 30. März per Online-Interview im gesamten Bundesgebiet insgesamt 1.310 jüngere Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 39 Jahren, darunter 443 Personen, die derzeit Angehörige pflegen oder unterstützen beziehungsweise das in den letzten zehn Jahren getan haben. Die DAK-Gesundheit ist mit gut 5,5 Millionen Versicherten die drittgrößte Krankenkasse Deutschlands.
Osnabrück (epd). Corona soll weg, finden die Viertklässler der Franz-Hecker-Schule in Osnabrück. „Hau ab, Corona!“, oder „Hallo Corona-Virus, ich finde dich doof!“, haben sie in Briefen an das Virus geschrieben. So wie Jonas und Rukaiya haben mehr als 500 Osnabrücker Bürger zwischen fünf und 87 Jahren ihre Gedanken und Erlebnisse rund um Masken, Lockdown und Quarantäne zu Papier gebracht. Aus allen Texten und Bildern ist ein 300 Seiten starkes Buch entstanden. „Und dann kam Corona - Über das Leben in schwierigen Zeiten“ lautet der Titel.
Die Beiträge zeigten vor allem, wie viele Menschen der Krise auch positive Seiten abgewinnen konnten, sagt Martina Dannert. Einige hätten den Sport für sich entdeckt, andere das Wandern, Spielen oder Lesen. „Zumindest die Hoffnung auf bessere Zeiten scheint bei fast allen durch. Das war wie ein Geschenk für uns alle.“ Die Leiterin der Stadtbibliothek hat das Projekt „Eine Stadt schreibt ein Buch“ im vergangenen Jahr ins Leben gerufen. Gemeinsam mit ihrem Team hat sie Einsendungen gesichtet und für den Druck vorbereitet. „Redigiert oder aussortiert haben wir nur ganz wenig.“
Einzige Vorgabe für die Teilnahme war: Als Aufhänger für ihre Corona-Geschichten und -Zeichnungen sollten sich die Autorinnen und Autoren einen fiktiven oder realen Gegenstand aussuchen. Das Virus und die Maske avancierten in der Folge zu Hauptdarstellern oder Adressaten in Gedichten, Briefen. Märchen, Tagebucheinträgen, Collagen, Comics oder Zeichnungen.
„Liebes Corona-Virus“, beginnen die meisten Briefe der Franz-Hecker-Grundschüler. Ella-Mae erzählt, dass sie den Lockdown ohne Schule „echt blöd“ fand. Dann bekam sie eine Tagesmutter: „Mit ihr macht das Homeschooling sogar richtig Spaß. Einmal war ich beim Rechnen sogar schneller als sie.“ Ein Klassenkameradin schreibt: „Danke Corona! Wegen dir macht Bücher lesen Spaß.“ Zum Schluss hat sie aber dennoch eine dringliche Bitte an das Virus: „Schließ die Schulen nicht! Danke.“
Maliks Familie hat die Krankheit schwer getroffen: „Mein Opa ist im Krankenhaus, meine Oma ist krank und ich bin so erkältet wie meine ganze Familie. Wir haben alle Corona.“, schreibt er und fährt fort: „In ein paar Tagen haben wir es hoffentlich geschafft und ich darf endlich wieder zur Schule gehen und auch meine Freunde sehen.“
Nicht nur Schulklassen, auch Literaturzirkel, Mütter und Väter, Klinikstationen, Kinder und Jugendliche, Rentner, Seniorenheim-Gruppen und Wohngemeinschaften haben Beiträge eingereicht. Gerechnet hatten Dannert und ihr Team mit maximal 100 Einsendungen. Es wurden fünf Mal so viele. „Wir wurden geradezu erschlagen von so vielen schönen Dingen“, sagt die Initiatorin. Viele hätten ihre Texte zusätzlich bebildert. Diese Zeichnungen habe sie nicht in das Buch aufnehmen können. Sie sind aber zusammen mit Gegenständen, die in den Geschichten eine Rolle spielen, bis Ende November in einer Ausstellung in der Stadtbibliothek zu besichtigen.
Dazu gehören auch die Kunstwerke von Henner Lesemann. Der 67-Jährige ehemalige Lehrer hat Maskenträger aller Art und mit freundlichem Pinselstrich die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin vor dem am Abendhimmel untergehenden Coronavirus karikiert.
Lebendige Bilder bauen sich auch vor dem inneren Auge des Lesers von Christoph Repenthins kleiner Geschichte über die Tücken des Maskenalltags auf. Der 87-Jährigen passionierte Fahrradfahrer weiß kaum, wohin mit dem Gummizug, wenn er sich täglich mit Mütze, Helm und Sonnenbrille auf den Weg macht: „Ich möchte jedenfalls nicht Ohr sein, um das alles auszuhalten.“
Was sich hinter Ulla Kalberg (66) Osnabrück-Rätsel verbirgt, lässt sich leicht erraten. Sie habe während des Lockdowns das Tischtennisspielen für sich wiederentdeckt, erzählt die alleinstehende Gesundheitspädagogin. „Ich hatte damals große Angst vor der Einsamkeit.“ Das fast tägliche Spiel mit dem kleinen Ball auf einem öffentlichen Spielplatz mit oft völlig fremden Menschen habe sie gerettet. „Da begegnet einem so viel Lächeln. Damit bin ich gut durch die Krise gekommen.“
Frankfurt a.M. (epd). Nach Ansicht einiger Expertinnen und Experten ist ein Gemeinschaftsschutz gegen Covid-19 durch Impfungen schwer zu erreichen. Dazu sei das Impftempo nicht hoch genug, sagen sie. Eine größere Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern ist zudem weiterhin gegen das Impfen. Genau diese Gruppe ist das Problem: Lassen sich nicht deutlich mehr Impfskeptiker doch noch das Vakzin verabreichen, kann der Gemeinschaftsschutz kaum erreicht werden.
Doch klar ist auch: Ganz egal, ob je Herden- oder Gemeinschaftsschutz geschafft wird, eine möglichst hohe Impfquote ist ein Wert an sich - und kann im Idealfall wie etwa bei den Pocken dazu führen, eine Krankheit weltweit auszurotten.
Laut Robert Koch-Institut (RKI) hat der Begriff Gemeinschaftsschutz eine doppelte Verwendung. Zum einen beschreibt er, dass bei hoher Impfquote die Verbreitung eines Erregers reduziert wird und damit auch ungeschützte Personen ein geringeres Risiko für eine Ansteckung haben. Der Begriff werde jedoch häufig auch gleichgesetzt mit einer bestimmten Impfquote, ab der die Verbreitung des Erregers völlig eliminiert werde.
Wie hoch die Durchimpfungsrate in der Bevölkerung sein muss, ist je nach Krankheit verschieden. So greift laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) der Herdeneffekt bei Masern erst ab einer Quote von 95 Prozent. Hierzulande haben bei den Kindern zwischen drei und 17 Jahren 93,6 Prozent beide erforderlichen Impfungen erhalten (Stand 2017). Bei Diphtherie kann Gemeinschaftsschutz dagegen schon ab etwa 80 Prozent geimpfter Bürgerinnen und Bürger erreicht werden. Doch laut RKI lässt nur die Hälfte der Erwachsenen ihren Impfstatus gegen Tetanus und Diphtherie empfehlungsgemäß alle zehn Jahre auffrischen.
Bei Covid-19 ist in der Forschung umstritten, welche Durchimpfungsrate nötig ist. Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass für eine Herdenimmunität eine Quote von 80 bis 85 Prozent nötig ist. Frühere Angaben lagen deutlich darunter. „Mit 85 Prozent wären wir in der Nähe der angestrebten Herdenimmunität“, sagte Weltärztepräsident Frank-Ulrich Montgomery kürzlich dem Deutschlandfunk.
Die aber hält das RKI laut einem Bulletin vom Juli für kaum möglich: „Ob eine Schwelle realistisch ist, ab der Sars-CoV-2 eliminiert werden kann, ist zweifelhaft.“ Auch der Saarbrücker Pharmazieprofessor Thorsten Lehr ist mit Blick auf die Herdenimmunität skeptisch: „Ich glaube nicht, dass sie erreichbar ist.“ Es gebe zu wenig Impfungen und eine zu geringe Impfbereitschaft.
Weitere Probleme: Es gibt bislang für jüngere Kinder keinen Impfstoff. Folglich können sich Millionen Mädchen und Jungen unter zwölf Jahren noch gar nicht immunisieren lassen. Darum rechnet das RKI auch nur mit den Personen über zwölf Jahren, wenn es seine Prognosen für die Bevölkerungsimmunität herausgibt. Und der Impfschutz schwindet mit der Zeit. Also muss auf Dauer nachgeimpft werden. Zugleich mutiert das Coronavirus, was unter Umständen dazu führen kann, dass vorhandene Impfstoffe nicht oder nicht voll wirken.
Und schließlich verweisen Experten darauf, dass die Corona-Impfstoffe nicht zu 100 Prozent schützen. Was sich schon daran erkennen lässt, dass es auch Infektionen bei Geimpften gibt. Dennoch ist der Sinn von Impfungen unbestritten: sie verhindern über den individuellen Schutz schwere Krankheitsverläufe und damit auch Todesfälle. Aber: Corona wird ähnlich wie die Grippe nach Ansicht der Experten vom RKI wohl nie ganz verschwinden.
Göttingen (epd). Nach Ansicht des Göttinger Soziologen Berthold Vogel sind 50 bis 60 Prozent der Fälle von Impfgegnerschaft politisch motiviert. Das sei „nicht in erster Linie Ausdruck medizinischer Bedenken, sondern eines grundsätzlichen Protests gegen die Demokratie und ihre Einrichtungen“, sagte Vogel dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diese Gruppe, wohl etwas mehr als die Hälfte der bis heute nicht Geimpften, werde Angebote zur Immunisierung auch künftig nicht annehmen, so der Sozialforscher.
„Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir die Übrigen erreichen und die Impfquote mit aufsuchendem Impfen und 2G entscheidend steigern können“, sagte der Direktor des Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).
Aus Vogels Sicht gibt es bei den politisch motivierten Impfgegnern eine große Schnittmenge mit „Basis“- und AfD-Anhängern. Aktuelle Forschungsbefunde zeigten eine klare Korrelation zwischen niedriger Impfquote und hohen Stimmenanteilen für die AfD. „Hier sammeln sich nicht nur Abgehängte. Vielmehr gehören die politisch motivierten Impfgegner mehrheitlich der Mittelschicht an und sind gut qualifiziert“.
Die sogenannten „Spätimpfer“ machen aus Vogels Sicht etwa ein Fünftel der noch nicht Geimpften aus. „Zu dieser Gruppe zähle ich isoliert lebende Menschen. Ihnen fehlt das soziale Umfeld, das sie zur Impfung animiert“, sagte der Soziologe. Auch diese Menschen lehnten die Impfung nicht aus gesundheitlichen Gründen ab. Mangels sozialen Drucks fühlten sie sich schlicht nicht vor die Entscheidung gestellt.
Als dritte Gruppe definierte Vogel Arbeitskräfte mit unsicherem Aufenthaltsstaus. „Sie haben oft große Sorge vor Behördenkontakten. Auch das Impfen empfinden viele als soziales Risiko“, erklärte Vogel. Erfahrungen vieler Kommunen zeigten, dass diese Menschen bereit seien, sich impfen zu lassen, wenn man ihnen zuvor ihre Ängste nehme.
Berlin (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) spricht sich dafür aus, dass wohnungslose Menschen auch zukünftig kostenlose Corona-Tests nutzen können. Nur so könne auch für sie die vom Bund beschlossene 3G-Regel gelten, heißt es in einer Mitteilung vom 11. Oktober. Dass Corona-Tests ab sofort kostenpflichtig seien, werde das alltägliche Leben wohnungsloser Menschen zusätzlich erschweren. Um öffentliche Einrichtungen und Unterkünfte betreten zu können, benötigten sie einen besonders niedrigschwelligen Zugang zu Tests, hieß es.
Susanne Hahmann, Vorsitzende der BAG W, sagte: „Wohnungslose Bürgerinnen und Bürger sind aufgrund ihrer Lebensumstände nicht immer in der Lage, eine Impfung nachzuweisen oder Ausweispapiere vorzulegen.“ Deshalb bräuchten sie die Möglichkeit, sich zu testen und das bevorzugt in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe - gerade weil es dort so unkompliziert klappe. Daher sei bei der Umsetzung der bundesweiten Regelung dringend zu gewährleisten, dass die Corona-Tests weiterhin schnell, unbürokratisch und kostenfrei durchgeführt werden könnten.
„Die prekäre Lebenslage wohnungsloser Menschen hat sich durch die Corona-Krise noch einmal dramatisch verschlechtert. Um ihre Gesundheitsrisiken, insbesondere jetzt zum Herbst und Winter, nicht weiter zu erhöhen, müssen sie reibungslos Zutritt zu Einrichtungen und Unterkünften erhalten“, forderte Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W. Dabei sei die 3G-Regel einzuhalten. „Das muss zuverlässig, direkt vor Ort und ohne Hürden ermöglicht werden. Ebenso müssen weiterhin alle Anstrengungen unternommen werden, um niedrigschwellige Impfangebote zu machen.“
Berlin (epd). Steigende Lebenserwartung und niedrige Geburtenzahlen haben einer Untersuchung zufolge das Durchschnittsalter der Menschen in Deutschland seit der Wiedervereinigung deutlich erhöht. „Der Durchschnitt seit 1990 ist um fünf auf 44,6 Jahre gestiegen. In acht Kreisen - allesamt in Ostdeutschland - liegt er inzwischen gar bei 50 Jahren oder mehr“, teilte der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) am 14. Oktober in Berlin auf Basis von Zahlen der Landesstatistikämter mit. Ausgewertet wurden 401 Landkreise.
Die Initiative wird nach eigenen Angaben getragen von der Deutschen Versicherungswirtschaft und will das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Menschen immer älter werden und länger fit bleiben. Auch will sie dem oft negativen Image des Alters begegnen.
Laut Peter Schwark, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Versicherungsverbandes GDV, steht der Höhepunkt der Alterung noch bevor: „In dieser Dekade gehen die Babyboomer in Rente. Dann bricht die demografische Welle.“ Bund, Länder und Gemeinden müssten mehr tun, um die Folgen der Alterung zu dauerhaft bewältigen. „Es geht um ein nachhaltiges Rentensystem. Es geht um genügend Betreuungsplätze. Es geht aber auch um mehr digitale Angebote, um älteren Menschen möglichst lange ein selbstständiges Leben zu ermöglichen“, betonte Schwark.
Wegen der Zu- und Abwanderung von Menschen alterten die Regionen unterschiedlich schnell. So trennen die älteste Stadt Suhl (Altersschnitt: 51 Jahre) und die jüngste Stadt Heidelberg (Altersschnitt: 40,7 Jahre) mehr als zehn Jahre. Generell sind es die Universitätsstädte sowie die boomenden Metropolen, deren Einwohner deutlich jünger sind. Noch Anfang der 1990er-Jahre gab es dieses ausgeprägte Stadt-Land-Gefälle nicht.
Die fortschreitende Alterung zeige sich auch an der Zahl der über 80-Jährigen. Ende 2020 lebten rund 5,9 Millionen in Deutschland, 1990 waren es rund drei Millionen. Der Anteil der sogenannten Hochaltrigen hat sich seitdem von 3,8 auf 7,1 Prozent fast verdoppelt. In acht Landkreisen hat demnach bereits jeder zehnte Einwohner diese Altersgrenze überschritten - am höchsten ist der Anteil in Dessau-Roßlau in Sachsen-Anhalt mit 11,2 Prozent.
„Die demografische Entwicklung verläuft parallel zur wirtschaftlichen“, erläuterte Schwark. Damit die Schere zwischen den Regionen nicht weiter auseinander gehe, brauche es Impulse für den ländlichen Raum. „Wirtschaftliche Perspektiven sind wichtig, um junge Menschen zu halten“, so Schwark. Neue Chancen könnten sich auch durch den Home-Office-Trend ergeben. „Home-Office bindet die Metropolen und ihr näheres Umland enger aneinander und kann die Landflucht bremsen.“
Berlin (epd). Die künftige Bundesregierung muss sich auf hohe Erwartungen aus der Pflegebranche einstellen. Die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogel, forderte zum Auftakt des Deutschen Pflegetags am 13. Oktober in Berlin höhere Löhne und mehr Personal. Die nächste Regierung müsse die Pflege zu einem ihrer zentralen Themen machen, verlangte sie. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unterstützte die Forderungen, erklärte aber, die Pflegekräfte müssten selbst für mehr Geld kämpfen.
Spahn würdigte die Leistungen in der Pflege, insbesondere während der Pandemie. Deutschland habe sich auf die Pflegekräfte verlassen können. Zur Forderung des Pflegerats nach 4.000 Euro für Fachkräfte sagte Spahn: „Da kann ich mitgehen.“ Auch eine weitere Erhöhung des derzeit bei 2.700 Euro monatlich liegenden Mindestlohns (Fachkräfte) gehe in die richtige Richtung.
Der CDU-Politiker machte zugleich deutlich, dass die Pflegenden selbst für mehr Geld und mehr Personal kämpfen müssten und rief sie auf, sich zusammenzutun. Überall würden Pflegekräfte gesucht, angesichts des Personalmangels in der Branche säßen sie am längeren Hebel, sagte Spahn: „Sie müssen Ihre Interessen durchsetzen.“
Die große Koalition habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass jede neu eingestellte Pflegekraft in Krankenhäusern und Altenheimen refinanziert werde, erklärte der Minister. Es sei gelungen, die Abwärtsspirale zu stoppen. Die gesetzlichen Verbesserungen seien im Alltag der Pflegekräfte aber noch nicht angekommen, räumte Spahn ein.
Pflegeratpräsidentin Vogler forderte, Pflegekräfte müssten 4.000 Euro im Monat verdienen, um bezahlt zu werden wie in Berufen mit vergleichbarer Verantwortung. Sie erreichten diesen Lohn aber häufig auch nach langjähriger Berufstätigkeit nicht. Die Einstiegsgehälter lägen bei 2.400 Euro. Vogler zog eine kritische Bilanz der vergangenen Legislaturperiode und warf der Politik vor, zu langsam auf die allseits bekannten Probleme und insbesondere den Personalmangel zu reagieren.
Eine der Kernfragen sei, wie die steigenden Ausgaben für immer mehr pflegebedürftige Menschen finanziert werden sollten. „Mit dem heutigen Gesundheitssystem werden wir diese Herausforderungen nicht bewältigen können“, sagte Vogler. Die Mittel aus den Sozialversicherungen reichten nicht aus. Deshalb müsse über Steuerzuschüsse nachgedacht werden. Sie verwies auf Prognosen, wonach die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 um eine Million auf 5,1 Millionen Menschen steigen wird. Wenn nicht gehandelt werde, fehlten dann 500.000 Pflegekräfte in der Altenpflege und in den Kliniken. Heute seien es bereits 200.000, warnte sie.
Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, sagte, die kommende Bundesregierung müsse das Thema der bedarfsgerechten Personalausstattung zügig und konsequent angehen: „Es müssen endlich verbindliche und wirksame Maßnahmen auf den Weg gebracht werden, um die Beschäftigten zu entlasten und dauerhaft mehr Personal in die Einrichtungen zu bekommen.“ Auch in der Altenpflege seien bedarfsgerechte und bundesweit verbindliche Personalvorgaben nötig; außerdem müsse das Problem der vielerorts völlig unzureichenden Bezahlung in der stationären und ambulanten Pflege angegangen werden.
Bühler betonte, bessere Arbeitsbedingungen durch bedarfsgerechte Personalvorgaben seien ein wichtiges Mittel, die Flucht aus den Berufen zu stoppen. „Genug Personal, flächendeckend angemessene Bezahlung und eine auskömmliche Finanzierung, das sind die zentralen Aufgaben der Gesundheitspolitik. Daran messen wir die künftige Bundesregierung.“
Für die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sagte Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß, die Corona-Pandemie habe jedem Politiker deutlich gemacht, „dass ohne Personal keine Versorgung möglich ist und der Personalmangel die größte Herausforderung ist“. Aber auch die Krankenhäuser selber müssten ihren Anteil leisten, um die Arbeitsbedingungen bestmöglich zu gestalten. „Wir müssen verlässliche gute Arbeitgeber sein, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherstellen und auch gut bezahlen. Dazu brauchen wir verlässliche Rahmenbedingungen, eine deutliche Entbürokratisierung des Berufes und verlässliche Finanzierungsgrundlagen und Strukturen“, sagte Gaß.
Der Paritätische sprach von großem Handlungsdruck. „Wir brauchen eine echte Pflegereform, die den Namen verdient und unbedingt mehr Geld im System”, forderte Lisa Schmidt, Leiterin der Abteilung Gesundheit, Teilhabe, Pflege im Paritätischen Gesamtverband. Um die bestehenden Herausforderungen anzugehen, müsse die Pflegefinanzierung vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Mehrere Milliarden Euro zusätzlich seien jedes Jahr nötig. “Diese Kosten dürfen auf keinen Fall zusätzlich zu Lasten der Pflegebedürftigen gehen. Pflege darf nicht arm machen, wie es derzeit leider immer häufiger der Fall ist”, mahnt Schmidt. Dagegen helfe nur die Einführung einer einheitlichen solidarischen Bürgerversicherung als Pflegevollversicherung.
Der Deutsche Pflegerat ist der Dachverband der Berufsverbände in der Pflege. Auf dem Deutschen Pflegetag kommen Vertreterinnen und Vertreter aus allen Teilen der Branche einmal im Jahr zusammen. Das zweitägige Treffen fand online und mit 1.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Berlin statt.
Für Constanze Schlecht ist das Gesundheits- und Pflegemanagement eine unentbehrliche Säule im Gesundheitswesen. Sie muss es wissen, denn vor etwa 20 Jahren studierte die Oberin Pflegemanagement an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Der Studiengang feiert jetzt sein 25-jähriges Bestehen.
epd sozial: Frau Schlecht, Sie sprechen sich für mehr Akademikerinnen und Akademiker in der Pflege aus. Gehen denn die Studierten nicht der direkten Pflege am Menschen verloren?
Constanze Schlecht: Nein, das tun sie nicht. Es muss die verschiedenen Kompetenzstufen geben, damit wir professionell begleiten und pflegen können und damit die Versorgung der Bevölkerung sicher gestellt ist. Die Bevölkerung wird älter und chronische Erkrankungen werden zunehmen. Dafür qualifizieren sich die Absolventinnen und Absolventen des Studiengangs Bachelor of Nursing. Sie haben gegenüber den Pflegekräften aus den Pflegeschulen zusätzliche Kompetenzen, sie wissen, wie sie Material wissenschaftlich auswerten und wie sie dieses für die direkte Pflege nutzbar machen. Absolventinnen und Absolventen des Pflegemanagements verstehen die Gesundheitswirtschaft, sind daher bestens dafür vorbereitet, in den verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens Leitungspositionen zu übernehmen, sind aber auch bei Kranken- und Pflegekassen, in der Industrie, bei Behörden oder auch in Hochschulen tätig.
epd: Inzwischen ist in den Pflegeschulen die generalistische Ausbildung eingeführt, das heißt, die Pflegekräfte können in Krankenhäusern, in Kinderkliniken und in Seniorenheimen arbeiten. Manche befürchten, damit könnten gerade der Altenpflege Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren. Wie sehen Sie das?
Schlecht: Ich war eine starke Verfechterin der generalistischen Ausbildung. Sie bietet die Chance, dass mehr Menschen in die verschiedenen Aufgabenfelder der Pflege hineinschauen. Ein junger Mensch interessiert sich vielleicht zunächst nicht für die Altenpflege, wird die aber im Laufe seiner Ausbildung für sich entdecken, merken, dass das seine Berufung ist.
epd: Nun beginnen die Koalitionsverhandlungen einer neuen Bundesregierung. Haben Sie Bedenken, dass das Thema Pflege zu kurz kommt?
Schlecht: Nein, diese Bedenken habe ich nicht, denn die Pandemie hat die Pflege in den Fokus gerückt. Allerdings müssen wir, die zur Pflege gehören, dranbleiben und deutlich machen, welche Rahmenbedingungen nötig sind, die Bevölkerung zu versorgen. Die Pflegeversicherung braucht eine Reform. Auf Dauer kann es nicht bei unüberschaubaren Zuzahlungen für die Pflegebedürftigen bleiben. Wir dürfen die pflegenden Angehörigen nicht vergessen und der Pflegeberuf und die Pflegeausbildung müssen im Fokus bleiben
Es gibt auch noch eine zu starke Abgrenzung der Sektoren stationärer, teilstationärer und ambulanter Pflege. Dazwischen haben wir immer noch Brüche, beispielsweise, wenn ein alter Mensch aus dem Krankenhaus in die ambulante Versorgung entlassen wird. Da sind es meist die Angehörigen, die das System aufstellen müssen, damit er zurecht kommt, aber Angehörige, die nicht vor Ort sind, sind da überfordert.
Man musste keine besonders spitzfindige Zeitungsleserin sein, um Ende Juni 2021 durch die Presse erfahren zu haben, dass das Bundesarbeitsgerichts ein wegweisendes Urteil gefällt hatte (5 AZR 505/20). Denn schon auf den Titelseiten der großen Tageszeitungen wurde verkündet, was innerhalb der Branche schon länger erwartet worden war: Die Anwesenheit einer ausländischen Pflege- und/oder Betreuungskraft im Privathaushalt von pflegebedürftigen Personen (sogenannte „24-Stunden-Pflege“) gilt gänzlich als Arbeits- und Bereitschaftszeit und beides muss daher auch mit dem allgemeinen Mindestlohn vergütet werden. Das Urteil umfasst aber nicht an alle derzeit genutzten rechtlichen Beschäftigungsmodelle.
Für selbständige Betreuungskräfte beispielsweise gilt das Urteil ohnehin nicht. Je nach arbeitsrechtlichem Hintergrund des jeweiligen Settings gelten auch andere Vorgaben, weil dann die Beteiligten in andere Beziehungen zueinander gesetzt sind (Auftragnehmerin vs. Arbeitgeber beispielsweise). Es existieren neben der Selbständigkeit noch weitere Varianten, eine Betreuungskraft zu beschäftigen: als Angestellte im Haushalt der Pflegebedürftigen oder als entsandte Person gemäß der EU-Entsenderichtlinie - mit einigen Besonderheiten je nach Herkunftsland. Für Fachfremde ist die Gesetzeslage nicht einfach zu durchblicken, auch, weil sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene Richtlinien, Gesetze und deren Auslegung im Blick behalten werden müssen.
Und genau hier sitzt eines der wesentlichen Probleme: Weil es keine arbeitsrechtliche Lösung dieser Form der häuslichen Dienstleistungsverhältnisse gibt, weichen die Akteure (zunehmend professionell aufgestellte Unternehmen, auch transnationale Unternehmensketten) auf rechtliche Rahmbedingungen aus, in denen ein großes Maß an rechtlicher Unsicherheit gegeben ist.
Ein Blick über die Grenze nach Süd-Westen zeigt, dass eine gesamtstaatliche Regulierung durchaus möglich ist, wenngleich sie in ihrer Schutzwirkung für die Arbeitskräfte selbst umstritten bleibt: Österreich hat in den Jahren 2006 und 2007 ein „Hausbetreuungsgesetz“ geschaffen, den vormals irregulär beschäftigten Arbeitskräften eine eigene Berufsbezeichnung (Personenbetreuer/innen) gegeben und sich dank der Regulierung im Sinne einer selbständigen Tätigkeit ansonsten aus der Verantwortung gestohlen, genauer hinzusehen, was in den Haushalten abseits der vertraglich festgehaltenen Vorschriften so alles passiert.
Für dieses Modell regen sich derzeit Stimmen in der Politik und vom Verband der Interessenvertretung der Vermittlungsunternehmen VHBP. Allerdings würden hier die Risiken der Arbeiterinnen faktisch individualisiert und intime Arbeitsverhältnisse ohne Arbeitgeberpflichten formell ermöglicht.
Dabei haben Gerichtsurteile der vergangenen Jahre verdeutlicht, wie ambivalent die Rechtsprechung gegenüber dieser Frage ist: Diejenigen Urteile, die eine Selbständigkeit für möglich erachten, argumentieren, dass eine typische Live-in-Pflege im Rahmen einer Selbständigkeit erbracht werden kann, entscheidend sei aber immer der individuelle Kontext. Sprich: wie unabhängig arbeitet eine Live-in-Kraft tatsächlich oder ist sie im Alltag auf Weisungen angewiesen?
Ein fiktives Beispiel: Wenn Herr Meyer bei ie Betreuungskraft bittet, das Frühstück fortan um 7 Uhr 30 statt um 8 Uhr anzurichten und anhält, welche Lebensmittel zu kaufen und wie zuzubereiten sind - fällt das unter die Weisungsbefugnis? Oder hat die Betreuungskraft hier noch Entscheidungsspielraum, sodass eine formale Selbständigkeit legitimiert wäre? Der Einzelfall müsste geklärt werden. Insofern wäre das Angestelltenverhältnis die sichere Variante, auch, weil sich Rechte und Pflichten beider Parteien darin klarer unterscheiden lassen.
Folgerichtig kommt ein anderes Modellland ins Spiel: die Schweiz. Hier sind Live-ins, also Helferinnen, die mit im Haus wohnen, grundsätzlich angestellte Arbeitnehmerinnen; sei es, dass sie im Haushalt selbst oder bei Vermittlungsagenturen beschäftigt sind. Allerdings greifen auch hier Ausnahmeregelungen, denn die Schweizer Kantone haben eigene, sogenannte „Normalarbeitsverträge“ formuliert; die darin enthaltenen Schutzvorschriften sind allerdings rechtlich nicht bindend, sondern eher auf der Ebene von Empfehlungen angesiedelt. Damit werden die Arbeitskräfte und die Arbeitgeberinnen ebenfalls sich selbst überlassen.
Eine Perspektive ist bisher noch nicht betrachtet worden, diejenige der Nutzer-Haushalte selbst, also der pflegebedürftigen Personen und/oder ihrer Angehörigen, die sich hauptverantwortlich um diese und das Betreuungssetting kümmern. Meine eigene Forschung in den zurückliegenden Jahren zu den Wissensmustern und Handlungsrationalitäten von sorgenden Angehörigen hat gezeigt: ein Bewusstsein für die rechtlich unsichere Situation in den Haushalten ist durchaus vorhanden. Und der Willen ein „möglichst legales“ Arrangement zu finden, ist auch weit verbreitet. Dennoch, ausgeprägt ist auch die Toleranz über geltendes Arbeitsrecht hinweg zu sehen und „abstrakten“ Verträgen ihre Gültigkeit immer dann abzusprechen, wenn es um den konkreten Alltag und die Einweisung in den Haushalt geht.
Unabhängig von der Güte des unterzeichneten Arbeitsvertrages wäre bei jedem Regulierungsvorstoß hierzulande also zentral, dass alle beteiligten Akteure künftig besser informiert und sensibilisiert für ihre Rolle in einem solchen Setting werden.
Insofern muss der Politik zukünftig ein Spagat gelingen - will sie die Branche überhaupt rechtlich einhegen. Welches Regulierungsmodell auch immer gefunden wird; es muss sowohl die Schutzbedürfnisse der Arbeitskräfte selbst, aber auch die Vulnerabilität der betroffenen Haushalte berücksichtigen und ein gut aufeinander abgestimmtes Konstrukt schaffen, in dem es allen Beteiligten möglich ist, Interessenvertretungen jederzeit zu kontaktieren, die niedrigschwellig und lokal eingebunden sind. Nur so kann überhaupt denkbar sein, Arbeitsverhältnisse zu legalisieren, die sich letztlich einer jeden Kontrolle entziehen, weil sie im Privathaushalt angesiedelt sind. Alle Akteure sind also nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Pflichten auszustatten.
Wolfsburg (epd). Die Konferenz Diakonie und Entwicklung hat am 14. Oktober sogenannte Nachhaltigkeitsleitlinien für die Diakonie verabschiedet. Wichtige darin benannte Handlungsfelder sind Immobilien, Liegenschaften und Wohnen, Mobilität, Land und Forstwirtschaft, nachhaltige Kapitalanlagen sowie eine Beschaffung, die Menschen- und Arbeitsrechte achtet und Ressourcen schont, wie die Diakonie mitteilte. Sie verpflichtet sich zusätzlich, bis spätestens 2035 selbst klimaneutral zu sein.
Außerdem wählten die Delegierten die Spitze des höchsten beschlussfassenden Gremiums des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung (EWDE) neu. Vorsitzende des Aufsichtsrates wurde die Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Beate Hoffmann. Die neue Vorsitzende der Konferenz ist Johanna Will-Armstrong. Sie ist zugleich Vorstand der von Bodelschwinghschen Stiftung Bethel. Zuvor hatten diese Ämter der frühere Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge, und die ehemalige Leitende Pfarrerin der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen, Angelika Weigt-Blätgen, inne.
Mit den Nachhaltigkeitsleitlinien geben das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung und die Diakonie Deutschland die Empfehlung an ihre Mitglieder, ihr Handeln an den UN-Nachhaltigkeitszielen zu orientieren und selbst einen Beitrag zu deren Umsetzung zu leisten. „Wir sind aus Überzeugung gerne ein Teil der Lösung und wollen aktiv mitwirken an einem pandemiefesten Sozialstaat, der alle Menschen mitnimmt und keine neuen sozialen Verliererinnen und Verlierer schafft“, sagte Diakoniepräsident Ulrich Lilie.
Jetzt müsse die Chance ergriffen werden, um das Gesundheitssystem und das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell auch im Zuge der Digitalisierung sozial und umweltfreundlich zu gestalten, sagte Lilie weiter. Als kirchliche Akteurinnen und Akteure wollten die diakonischen Einrichtungen „engagiert und professionell zu einem echten Weltzukunftsvertrag beitragen, so dass unsere Erde für alle Menschen dieser und künftiger Generationen lebenswert ist und bleibt“.
Die Präsidentin von „Brot für die Welt“ und der Diakonie Katastrophenhilfe, Dagmar Pruin, ergänzte, die jahrzehntelangen Erfahrungen und der enge Austausch mit Partnerorganisationen hälfen dabei, Herausforderungen in Fragen von Klima, Ernährung oder auch Gesundheit konkret und wirksam zu begegnen. Nun solle an Regierungen weltweit appelliert werden, Aktionspläne zu erstellen, in denen sie verbindlich festhalten, mit welchen konkreten Schritten sie die UN-Ziele erreichen wollen.
Die Konferenz Diakonie und Entwicklung tagte in Wolfsburg. Sie ist das höchste beschlussfassende Gremium des EWDE. Die 112 Delegierten beschließen über allgemeine Grundsätze der diakonischen Arbeit sowie der Entwicklungsarbeit und der humanitären Hilfe.
Freiburg (epd). Die Caritas hat die Politik aufgefordert, mehr gegen die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zu unternehmen. Der nach 18 Jahren an der Verbandsspitze scheidende Caritas-Präsident Peter Neher forderte die Teilnehmer der laufenden Sondierungsgespräche von SPD, Grünen und FDP auf, mehr an arme und verletzliche Menschen in der Gesellschaft zu denken. Dies werde im politischen Prozess nicht genügend wahrgenommen, sagte er am 14. Oktober in Freiburg: „Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt muss groß geschrieben werden.“
Auch die am 13. Oktober als erste Frau an die Spitze des katholischen Wohlfahrtsverbandes gewählte Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa appellierte an die Politik, die gesellschaftlich Abgehängten nicht zu vergessen. Dazu gehöre etwa auch ein sozial gerechter Klimaschutz. Sie tritt ihr Amt Mitte November an.
Welskop-Deffaa sagte, sie stehe für Kontinuität, aber - als erste Frau an der Spitze des katholischen Wohlfahrtverbandes - auch für Wandel. Ihre Wahl bezeichnete sie als ein Zeichen, dass Veränderung in der katholischen Kirche möglich sei. Schließlich seien mehr als 80 Prozent der 693.000 Beschäftigten der Caritas in Deutschland Frauen. Sie wolle dazu beitragen, „die Türen der Kirche von innen aufzustoßen“.
Als wichtige Themen für ihre Amtszeit bezeichnete sie die Digitalisierung, sozial gerechten Klimaschutz, Sicherung einer engmaschigen sozialen Infrastruktur sowie die Wahrnehmung der internationalen Verantwortung des Deutschen Caritasverbandes. Ein großes Anliegen sei ihr auch die „Dauerbaustelle Pflege“.
Neher forderte die nächste Bundesregierung dazu auf, den Klimaschutz sozial gerecht zu gestalten. Die Ärmsten trügen am wenigsten dazu bei, litten aber am meisten unter den Folgen. Als eine Maßnahme forderte er eine höhere CO2-Bepreisung, die mit einer Rückvergütung gekoppelt werden müsse.
Das Dienstwagenprivileg bezeichnete Neher als „unzeitgemäß“ und teuer. Zudem fördere es die soziale Spaltung. Dagegen sei ein einkommensabhängiger, kostenloser ÖPNV eine sinnvolle Maßnahme für sozial gerechten Klimaschutz. Auch die energetische Sanierung von Wohnungen müsse sozial verträglich erfolgen. Die Caritas selbst will bis 2030 klimaneutral werden.
Zur Flüchtlingspolitik sagte Neher, „wir brauchen reguläre sowie zeitlich befristete Zuwanderung“. Nur so lasse sich der Arbeitskräftemangel beheben. Eines der Ziele, die er in den 18 Jahren seiner Amtszeit nicht erreicht habe, sei das Überwinden der Kinderarmut.
Frankfurt a. M. (epd). Charlotte Arnold war in der zehnten Woche schwanger, als sie erfuhr, dass sie Brustkrebs hatte. Sehr schnell musste sie eine Entscheidung treffen. Sie lautete: Kind und Therapie. Während der Schwangerschaft machte Arnold eine Chemotherapie und brachte ein gesundes Mädchen zur Welt. Doch als junge Mutter stand sie vor einem Riesen-Berg: „Ich hatte ein Baby und war schwer krank. Da haben sich Defizite im Gesundheitssystem aufgetan.“ Ihr fehlte Unterstützung im Alltag und beim Gesundwerden. Aus der Erfahrung heraus gründete sie mit anderen einen Verein: Pro Mater Sano - Für eine gesunde Mutter.
In Deutschland erkranken pro Jahr rund 500.000 Menschen an Krebs, darunter etwa 16.500 junge Menschen zwischen 18 und 39 Jahren. Brustkrebs ist in den Industrieländern die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Laut einer amerikanischen Studie wird in 6,5 von 100.000 Fällen während der Schwangerschaft Brustkrebs bei der Mutter diagnostiziert. „Das System denkt: Frauen erkranken ab 55 Jahren“, sagt Arnold. Aber die jüngste Mutter, die sich hilfesuchend an den Verein wandte, war 26.
Erkrankte Frauen mit einem Baby müssen mit ganz anderen Schwierigkeiten kämpfen als Mütter mit erwachsenen Kindern. Charlotte Arnold brauchte dringend eine Haushaltshilfe und schlug sich wegen der Zeiten mit der Krankenkasse herum. Auf dem Schreibtisch stapelte sich der Papierkram. Mit der Erkrankung gehe außerdem eine enorme finanzielle Belastung einher, ergänzt Ina Becker, die wie Arnold dem Vorstand von Pro Mater Sano angehört. Viele junge Mütter hätten finanzielle Sorgen, ihnen fehlten die Rücklagen. Pro Mater Sano hilft daher mit Geld, aber auch bei psychologisch-seelsorgerischen Themen oder der Frage „Welche Rechte habe ich?“.
Tatsächlich seien junge an Krebs erkrankte Mütter in einer besonderen Situation, „denn die Kinder fordern weiter die Aufmerksamkeit“, sagt Gudrun Bruns, Psychoonkologin und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante psychosoziale Krebsberatungsstellen. Diskussionen mit den Krankenkassen könnten kräftezehrend sein - da helfen die Krebsberatungsstellen, die eine Interessenvertretung gegenüber den Kostenträgern übernehmen. „Es braucht flächendeckend eine ambulante Krebsberatung“, fordert Bruns, „aber die gibt es nicht“.
Charlotte Arnold stellte außerdem fest: „Eine Reha mit Baby ist in Deutschland quasi unmöglich.“ Die Rexrodt-von Fircks-Stiftung finanziert jedes Jahr 800 Müttern Reha-Aufenthalte an der Nord- und Ostsee. Deren Kinder werden mittherapiert, müssen jedoch schon etwas größer sein. Aus therapeutischen Gründen, wie Maitreya Gipser von der Rexrodt-von-Fircks-Stiftung sagt, aber auch, weil Plätze fehlen.
Die Dolmetscherin und Romanistin Annette Rexrodt von Fircks erkrankte mit 35 Jahren an Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium, ihre Kinder waren damals drei, fünf und sieben Jahre alt. Aufgrund ihrer Erfahrungen gründete Rexrodt von Fircks im Jahr 2005 eine Stiftung.
Bei den Reha-Aufenthalten geht es nicht nur um medizinische Fragen. „Viele Mütter haben große Sorgen um ihre Kinder“, sagt Gipser. Sollen sie ihnen sagen, dass die Mama sterben könnte? Können sie das aushalten? „Bei unseren Kuren ist es ein großer Faktor, dass die Frauen in einem geschützten Raum sind. Sie treffen andere Frauen mit denselben Problemen und Fragen.“
Die Kinder erlebten mit, dass ihre Mama „geschützt und behandelt“ wird. Ein Mädchen habe zu ihrer Mutter gesagt: „Mama, ich hatte so große Angst, dass du stirbst, aber jetzt bin ich sicher, dass du es schaffst.“
Krebs bei jungen Frauen - das sei ein Tabuthema, sagt Gipser. Einige berichteten: Am Anfang, wenn die Krankheit festgestellt werde, seien alle erstmal tief betroffen. Wenn nach der Chemotherapie die Haare wieder gewachsen seien, heiße es schnell: „Du siehst so gut aus!“ Gipser sagt: „Aber die Knochenschmerzen sieht man nicht.“ Und dann gebe es manchmal auch Geraune: So und jung und schon Krebs - „was hat die denn falsch gemacht?“
In einer Leistungsgesellschaft nicht mehr leistungsfähig zu sein und dann noch um Hilfe zu bitten - „das fällt den Frauen ganz schwer“, berichtet Ina Becker von Pro Mater Sano. Sie wendeten sich oft nur zögerlich an den Verein, der einen bundesweiten Ausbau und die Beschäftigung eines „Onkolotsen“ plant - einer Person, die Erkrankte bei Fragen zu den Versorgungsangeboten unterstützt. Zurzeit erhält der kleine, in Frankfurt am Main ansässige Verein mit rund 30 Mitgliedern nach eigenen Angaben jeden Monat zwei neue Anfragen. „Das können wir gerade noch ehrenamtlich stemmen.“
Die Heilungschancen bei Krebs haben sich verbessert. Bei Brustkrebs ist die Überlebensrate vor allem davon abhängig, ob er rechtzeitig erkannt wird und wie aggressiv er ist. Bei einem lokal begrenzten Tumor können bis zu 90 Prozent der kranken Frauen geheilt werden. Doch Charlotte Arnold und Ina Becker sagen: „Manchmal haben wir auch Mamas, die wir verlieren.“
Georgsmarienhütte (epd). Es war 1974 bei einer kirchlichen Freizeit, als sich der Diakon in Ausbildung, Siegfried G., zu Lisa Meyer ins Bett legte. Sie sei damals elf Jahre alt gewesen, sagt Meyer heute. Fast 40 Jahre später will sie öffentlich machen, wie G. sie in den Jahren 1973 und '74 teils schwer missbraucht hat. Und sie will die Aufarbeitung voranbringen, in der Kirche, in der aus ihrer Sicht noch viel passieren muss. Gemeinsam mit der Evangelischen-lutherischen Landeskirche Hannovers, dem örtlichen Kirchenkreis und der Kirchengemeinde hat sie dazu am Montag zu einer Pressekonferenz eingeladen - in den Ortsteil Oesede in Georgsmarienhütte, dorthin, wo G. damals lebte und tätig war.
Um Anonymität zu wahren, benutzt Lisa Meyer ein Pseudonym. Ihr Statement wird in einem Video eingespielt, in dem sie unkenntlich bleibt. „Es dauert lange, bis man die Kraft findet, seine Stimme zu erheben“, sagt die Mittfünfzigerin. Sie schildert, wie sich Siegfried G. 1974 im Bett hinter sie und den Arm um sie legte. „Das war wie so eine Schraubzwinge.“ Dann habe er schweren sexuellen Missbrauch an ihr begangen. „Nach heutigem Straftatbestand ist das, was er gemacht hat, als Vergewaltigung einzuordnen.“ Noch am Abend habe sie sich unter Tränen einer Betreuerin anvertraut. „Sie hat mir nicht geglaubt, mich der Lüge bezichtigt und mir Ärger angedroht, sollte ich meine Vorwürfe nochmals wiederholen“, sagt Lisa Meyer. „Ich habe das danach niemandem mehr erzählt.“
Für Lisa Meyer markiert das die erste Vertuschung von mehreren. Infolge des Missbrauchs erkrankte sie als Erwachsene an Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung, durchlief Therapien. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) nennt sie den späteren Umgang mit ihrem Fall seitens der Kirche eine „Salamitaktik“. Prävention von Missbrauch sei wichtig, doch der Kirche fehlten bis heute transparente Strukturen, die es Betroffenen erleichtern, sich zu melden.
2010 gerieten Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche in die Schlagzeilen. Die evangelische Kirche tat nach Lisa Meyers Eindruck so, als gebe es so etwas in ihren Reihen nicht. Daraufhin brach sie ihr Schweigen. Sie wandte sich an Burghard Krause, den damaligen Osnabrücker Landessuperintendenten. Dieser reagierte nach ihren Erinnerungen zwar freundlich und bot Hilfe bei der Suche nach einer Therapie an. Doch weder er noch der ebenfalls involvierte Justiziar der Landeskirche, Rainer Mainusch, hätten Weiteres veranlasst. Damals lebte der Täter noch.
Mainusch sagt heute: „Seinerzeit bestand keine Handlungsmöglichkeit, weil der Beschuldigte ja bereits entlassen war und deswegen nicht mehr arbeitsrechtlich belangt werden konnte.“ Strafrechtlich sei die Tat verjährt gewesen. Doch er räumt ein: „Gemessen an unseren heutigen Grundsätzen war es ein Fehler, die Kirchengemeinde nicht zu unterrichten.“ Auch Krause sieht das so, wie er auf Anfrage sagt.
Tatsächlich hatte die Gemeinde Siegfried G. bereits 1977 entlassen, nachdem unabhängig von Meyers Fall weitere Vorwürfe gegen ihn laut geworden waren. Angezeigt wurde der Täter jedoch nicht, sagt der Meller Superintendent Hannes Meyer-ten Thoren. Dies gehe aus Unterlagen hervor, die bei den von Lisa Meyer angestoßenen Recherchen Anfang 2021 in der Gemeinde entdeckt wurden. Vielmehr habe der damalige Kirchenvorstandsvorsitzende noch den erfolgreichen Abschluss des Anerkennungsjahres von Siegfried G. bescheinigt.
„Aus den Unterlagen wird deutlich, dass der Täter wohlwollend geschützt wurde“, sagt Meyer-ten Thoren, der heute mit seiner Stellvertreterin sowie Gemeindepastor Nils Donadell die Aufarbeitung vor Ort begleitet. „Über seine Opfer erfahre ich nichts.“ Dabei sei davon auszugehen, dass es noch weitaus mehr gebe.
Lisa Meyer spricht von einem „Freifahrtschein“ für einen „Serientäter“. Sie selbst habe schon 1973 beim Versteckspiel im Jugendkeller dessen sexuelle Übergriffe erfahren. „Er hat mich auch gegen meinen Willen geküsst und im Intimbereich berührt.“ Später war der Täter noch ehrenamtlich in einem Sportverein tätig.
Auch den Umgang mit Betroffenen von Missbrauch in der Kirche kritisiert Lisa Meyer. Als ab 2012 die evangelische Kirche Menschen, die von ihren Mitarbeitern missbraucht wurden, Geldbeträge zubilligte, habe sie davon zunächst nichts erfahren. Erst 2020 beantragte sie diese Anerkennungsleistung und bekam sie auch. Den Umgang der damals zuständigen Kirchenmitarbeiterin mit ihr habe sie allerdings als dilettantisch, unprofessionell und nicht emphatisch empfunden.
Unter neuer Leitung der Pastorin Karoline Läger-Reinbold baut die hannoversche Landeskirche derzeit ihre Anlaufstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt aus. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch in der Kirche müsse enttabuisiert werden, sagt sie. Die Aufarbeitung im Fall Lisa Meyer könne schmerzhaft werden, „weil dann verstanden wird, was damals versäumt wurde“.
Lisa Meyer rät anderen Betroffenen, sich Unterstützung durch unabhängige Beraterinnen zu suchen. Sie will ihnen Mut machen, sich Gehör zu verschaffen. Erst nachdem sie angekündigt habe, ihren Fall öffentlich zu machen, habe sich seitens der Kirche wirklich etwas bewegt. Inzwischen haben die Kirchengemeinde Oesede und der Kirchenkreis Melle-Georgsmarienhütte die Aufarbeitung durch eine unabhängige Kommission beantragt. Lisa Meyer sagt: „Wir bleiben dran!“
Köln (epd). Drei Monate nach der gewaltigen Flut in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz stehen laut den Malteser viele Betroffene noch vor schweren Zeiten. Zwar würden erste Hilfsgelder zum Wiederaufbau fließen, doch die psychischen Belastungen seien unverändert hoch, heißt es in einer Zwischenbilanz der Hilfsorganisation, die am 12. Oktober in Köln veröffentlicht wurde.
Die katholische Hilfsorganisation hat nach eigenen Angaben in den ersten drei Monaten an 2.400 Haushalte (über 800 in Rheinland-Pfalz, mehr als 1.550 in Nordrhein-Westfalen) eine Soforthilfe in Höhe von bis zu 2.500 Euro ausgezahlt. Das entspreche einem Gesamtwert von knapp vier Millionen Euro. Geplant seien weitere Auszahlungen an 600 Haushalte in Stolberg.
Mit Fluthilfeberatern in elf ortsfesten und mobilen Fluthilfebüros im gesamten von der Überschwemmung betroffenen Gebiet wollen die Malteser Antragstellern helfen, den Wiederaufbau der eigenen vier Wände voranzubringen. Die Fluthilfebüros seien die zentralen Anlaufstellen für Betroffene der Flutkatastrophe und bündeln Beratungs- und Hilfsangebote. „Wir würden uns sehr freuen, wenn die Menschen unsere Hilfe in Anspruch nehmen“, sagt der Präsident des Malteser Hilfsdienstes, Georg Khevenhüller. Beratung und Unterstützung gebe es nicht nur bei Anträgen zur staatlichen Hilfe, sondern auch zur finanziellen Einzelfallhilfe durch die Malteser.
„Mindestens genauso wie die materiellen Schäden müsse den seelischen Verletzungen begegnet werden“, ergänzte Khevenhüller. Viele Menschen seien psychisch stark belastet, weniger leistungsfähig und einfach ausgebrannt nach den Erlebnissen vom Juli. „Wir wollen dazu beitragen, das Gefühl von Sicherheit, das Zutrauen in die Zukunft, das früher so normale Miteinander der Menschen zu fördern und wieder in einen geregelten Alltag zu kommen.“ Mit stationären und mobilen Angeboten zur psychosozialen Versorgung wollen sich die Malteser besonders um Kinder und Jugendliche sowie besonders hilfsbedürftige Menschen kümmern.
Stuttgart (epd). Arbeitgeber müssen Beschäftigten eine Urlaubskürzung wegen ihrer Elternzeit während des laufenden Arbeitsverhältnisses deutlich ankündigen. Ausnahmsweise kann es hierfür auch ausreichen, wenn das Unternehmen wegen des Beschäftigungsendes in einer abschließenden Lohnabrechnung den Urlaubsanspruch auf „null“ festgesetzt hat und damit von früheren Entgeltabrechnungen abweicht, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 8. Oktober veröffentlichten Leitsatz-Urteil.
Nach dem Elterngeldgesetz können Arbeitgeber für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit den Erholungsurlaub um ein Zwölftel kürzen. Eine Urlaubskürzung ist nicht möglich, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer während der Elternzeit weiter in Teilzeit arbeitet. Hat der Beschäftigte seinen ihm zustehenden Urlaub vor dem Beginn der Elternzeit nicht oder nur teilweise erhalten, muss der Arbeitgeber den Resturlaub nach der Elternzeit im laufenden oder im nächsten Urlaubsjahr gewähren.
Im vom LAG entschiedenen Fall ging es um eine Physiotherapeutin, die seit 1. März 2012 mit einer viertägigen Wochenarbeitszeit angestellt war. Seit dem 14. November 2014 erbrachte sie jedoch wegen der Geburt zweier Kinder keine Arbeitsleistung mehr. Grund waren schwangerschaftsbedingte Beschäftigungsverbote, Mutterschutz- und Elternzeiten. Zum 29. Februar 2020 kündigte sie schließlich selbst das bis dato bestehende Arbeitsverhältnis.
Noch am letzten Tag ihrer Beschäftigung hatte sie von ihrem Arbeitgeber eine abschließende Entgeltabrechnung erhalten, in der ihr Urlaubsanspruch mit „null“ ausgewiesen war. In den vorherigen Abrechnungen war ihr Urlaub, der sich unter anderem wegen der Elternzeit angesammelt hatte, noch vollständig aufgeführt.
Die Frau meinte nun, dass der Arbeitgeber ihr wegen des Endes des Arbeitsverhältnisses den nicht genommenen Urlaub vergüten muss. Sie habe in den Jahren 2014 bis 2020 insgesamt 134 Urlaubstage angesammelt. Ihr Arbeitgeber müsse hierfür 16.853 Euro zahlen, so die Forderung. Dass ihr Chef ihren Urlaub wegen der Elternzeiten kürzen will, habe er ihr nicht ausdrücklich erklärt.
Der Arbeitgeber lehnte das ab und verwies darauf, dass er in der letzten Entgeltabrechnung den Urlaubsanspruch mit „Null“ gekennzeichnet habe. Damit habe er ausreichend erklärt, dass er den Urlaub während der Elternzeit kürzen will.
Das LAG gab dem Arbeitgeber überwiegend recht. Er durfte für alle vollen Monate der Elternzeiten den Urlaubsanspruch kürzen, nicht aber für angebrochene Elternzeitmonate, Mutterschutzzeiten oder Zeiten für Beschäftigungsverbote. Der Klägerin verblieben damit 32,08 Urlaubstage, für die sie wegen des Endes des Arbeitsverhältnisses eine Vergütung in Höhe von 4.034 Euro verlangen könne.
Um den Urlaub wegen Elternzeit kürzen zu können, müsse der Arbeitgeber das im laufenden Arbeitsverhältnis vor, während oder nach der Elternzeit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers er-klären. Allein den Urlaub in einer Entgeltabrechnung auf „Null“ setzen, reiche regelmäßig nicht aus. Denn in einer Entgeltabrechnung komme lediglich das „Wissen“ des Arbeitgebers über den Urlaub zum Ausdruck, nicht aber sein Willen, dem Arbeitnehmer den Urlaub zu kürzen, so das Gericht.
So hatte auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt am 19. März 2019 geurteilt, dass Angaben in einer Entgeltabrechnung „grundsätzlich keine rechtsgeschäftlichen Erklärungen, sondern lediglich Wissenserklärungen“ darstellen. Auch dürfe der Arbeitgeber nicht vorsorglich schon mal die Urlaubs-kürzung ankündigen, obwohl der Arbeitnehmer noch gar nicht erklärt hat, in Elternzeit gehen zu wollen.
Der Arbeitgeber könne die Urlaubskürzung zudem nur während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses erklären, so die obersten Arbeitsrichter in einem weiteren Urteil vom 19. Mai 2015. Nach dem Ende der Beschäftigung sei dies nicht mehr möglich.
Die vom BAG aufgestellten Maßstäbe, dass Urlaubsangaben in einer Entgeltabrechnung nicht den Willen des Arbeitgebers zur Urlaubskürzung darstellen, sind im Streitfall ausnahmsweise aber nicht anzuwenden, so das LAG. Hier habe der Arbeitgeber am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses - und damit rechtzeitig - erklärt, dass er den Urlaub während der Elternzeit kürzen wolle.
Zwar sei das nur mit der abschließenden Entgeltabrechnung geschehen, in der der Urlaub mit „null“ gekennzeichnet wurde. Mit der letzten Abrechnung wollte der Arbeitgeber aber auch „erkennbar das Arbeitsverhältnis abschließen“. Dabei sei - anders als in den vorherigen Abrechnungen - erstmals seit Jahren der Urlaub auch der Vorjahre nun auf „null“ gesetzt worden. Damit habe der Arbeitgeber seinen Willen zur Urlaubskürzung ausreichend erklärt, so das Gericht.
Az.: 4 Sa 62/20 (LAG Stuttgart)
Az.: 9 AZR 495/17 (Bundesarbeitsgericht Erklärung in Entgeltabrechnung)
Az.: 9 AZR 725/13 (Bundesarbeitsgericht Urlaubskürzung Beschäftigungsende)
Berlin (epd). Die außerordentliche Kündigung eines Maske-verweigernden Lehrers aus Brandenburg war nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts rechtens. Das Gericht erachtete die Kündigung laut Mitteilung vom 8. Oktober für wirksam und wies die Kündigungsschutzklage des Mannes dagegen ab. Zur Begründung hieß es, die Kündigung sei aufgrund der Äußerungen in E-Mails an die Schulelternsprecherin gerechtfertigt.
In einer E-Mail hatte der Lehrer laut Gericht unter anderem geschrieben, dass er die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes für „Nötigung, Kindesmissbrauch, ja sogar vorsätzliche Körperverletzung“ halte. Zugleich habe diese die Aufforderung an die Eltern enthalten, mit einem vorformulierten zweiseitigen Schreiben gegen die Schule vorzugehen.
Der Mann hatte den Angaben zufolge zunächst eine Abmahnung erhalten. Das Land Brandenburg erklärte demnach, dass er mit einer Kündigung rechnen müsse, wenn er nicht von seinem Verhalten Abstand nehme. Auch danach habe er aber an seinen Äußerungen festgehalten, so mit einer erneuten Erklärung per E-Mail gegenüber der Elternvertreterin und weiteren Stellen.
Als weiteren Kündigungsgrund benannte das Landesarbeitsgericht seine beharrliche Weigerung, in der Schule einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Ein aus dem Internet gezogenes Attest eines österreichischen Arztes rechtfertige keine Befreiung. Das Landesarbeitsgericht ließ keine Revision zum Bundesarbeitsgericht zu.
Az.: 10 Sa 867/21
Stuttgart (epd). Ein Frauenhaus ist keine stationäre Einrichtung im üblichen Sinne. Bei mittellosen Bewohnerinnen mit Rentenbezug ist daher jene Stadt für Sozialhilfeleistungen zuständig, in der sich die betroffenen Frauen tatsächlich aufhalten, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 1. Oktober bekanntgegebenen Urteil. Der Sozialhilfeträger am ursprünglichen Wohnort der Betroffenen sei dann bei der Kostenübernahme nicht mehr in der Verantwortung.
Im Streitfall ging es um eine damals 35-jährige erwerbsgeminderte Frau, die mit ihrem neunjährigen Sohn ursprünglich im Zollernalbkreis wohnte. 2017 suchten sie das Frauenhaus in Tübingen auf. Das Zimmer dort kostete mit allen Nebenkosten 20 Euro pro Tag. Mit ihrer bis April 2018 erhaltenen Erwerbsminderungsrente in Höhe von monatlich 566 Euro konnte sie ihren Lebensunterhalt nicht decken. Sie war auf weitere Sozialhilfeleistungen angewiesen.
Die Kosten für die Frauenhausunterbringung wollten jedoch weder die Stadt Tübingen noch der Zollernalb-kreis übernehmen. Beide meinten, dass die jeweils andere Kommune zuständig sei.
Das LSG urteilte nun, dass die Stadt Tübingen die Wohnkosten übernehmen muss, weil sich die Frau dort tatsächlich aufgehalten habe. Bei erwerbsfähigen Frauen sei zwar das Jobcenter am ursprünglichen Wohnort der Betroffenen für die Sozialhilfe zuständig. Dieses müsse der Kommune, in der sich das Frauenhaus befindet, dann die Kosten erstatten.
Bei Rentnerinnen gelten jedoch andere Bestimmungen. Danach sei nur bei stationären Leistungen oder betreuten Wohngruppen der Sozialhilfeträger am eigentlichen Wohnort der Betroffenen zuständig, so das Gericht.
Ein Frauenhaus sei aber keine stationäre Einrichtung oder betreute Wohngruppe, so dass nach den gesetzlichen Bestimmungen allein jene Kommune die Kosten tragen muss, in der sich die Rentnerin aufhält, befand das LSG. Auch die psychosoziale Beratung mache als ambulantes Angebot aus dem Frauenhaus noch keine „stationäre Einrichtung“, urteilten die Stuttgarter Richter.
Die Beratungsleistungen im Frauenhaus seien zudem nicht im Rahmen eines betreuten Wohnens erbracht worden. Hierfür fehle es bereits an der gesetzlich geforderten Leistungs- und Vergütungsvereinbarung zwischen Frauenhausträger und Sozialhilfe. Weil die Unterkunft im Frauenhaus keine stationäre Einrichtung sei und sich die Frau dort aufgehalten habe, müsse auch Tübingen als Sozialhilfeträger die Kosten übernehmen.
Az.: L 7 SO 3198/19
Celle (epd). Blinde können sich auch mit einem Elektrorollstuhl im Nahbereich ihrer Wohnung fortbewegen. Eine Krankenkasse darf die Kostenübernahme für das Hilfsmittel nicht mit dem Argument verweigern, dass ein blinder Mensch hierfür nicht „verkehrstauglich“ ist, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle in einem am 11. Oktober bekanntgegebenen Beschluss.
Damit bekam ein 57-jähriger blinder und an Multipler Sklerose erkrankter Mann aus dem Landkreis Harburg recht. Wegen seiner Gangschwierigkeiten hatte seine Krankenkasse ihn zunächst mit einem speziellen Rollstuhl versorgt. So sollte er sich im Nahbereich seiner Wohnung sich noch fortbewegen können. Als seine Arme den den Rollstuhl kaum mehr bedienen konnten, beantragte er einen Elektrorollstuhl.
Die Krankenkasse lehnte ab. Der blinde Mann sei mit dem Elektrorollstuhl nicht „verkehrstauglich“, befand die Kasse. Es drohten Gefahren für ihn selbst und für andere. Der Kläger entgegnete, dass er durchaus sich mit einem Elektrorollstuhl und einem Langstock fortbewegen könne. Das habe er in einem Fahrtraining geübt.
Das LSG entschied nun, dass die Krankenkasse den knapp 4.000 Euro teuren Elektrorollstuhl bezahlen muss. „Entgegen der rechtsirrigen Auffassung der Beklagten sind Sehbeeinträchtigungen kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen“, heißt es im Beschluss. Der Mann habe belegt, dass er mit dem Elektrorollstuhl umgehen und zumindest ihm bekannte Wege gut bewältigen kann. Seine fehlende Sehfähigkeit werde „durch das Langstocktraining ausgeglichen“.
„Es ist die Aufgabe des Hilfsmittelrechtes, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen“, betonten die Celler Richter.
Az.: L 16 KR 423/20
Darmstadt (epd). Krankenkassen müssen grundsätzlich die selbstständige Mobilität von Rollstuhlfahrern in ihrem Faltrollstuhl gewährleisten. Ermöglicht ein am Rollstuhl angebrachtes sogenanntes Handbike das Überwinden von Bordsteinkanten und damit eine selbstständigere Nutzung des Hilfsmittels, darf die Krankenkasse nicht einfach auf einen alternativen, aber kostengünstigeren Elektrorollstuhl verweisen, entschied das Hessische Landessozialgericht (LSG) in Darmstadt in einem am 12. Oktober bekanntgegebenen Urteil.
Damit bekam ein 1958 geborener Mann aus dem Wetteraukreis recht, der seit seinem 20. Lebensjahr infolge eines Unfalls querschnittsgelähmt ist. Der Mann nutzt seitdem einen Faltrollstuhl. Er beantragte er bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für eine „elektrische Rollstuhlzughilfe mit Handkurbelunterstützung“, um selbst im nahen Umfeld mobiler zu sein. Solch ein Handbike wird mit dem Faltrollstuhl gekoppelt. Auf diese Weise könne er Bordsteinkanten überwinden und auch abschüssige Wege alleine befahren, so der Rollstuhlfahrer.
Die Krankenkasse wollte das rund 8.600 Euro teure Hilfsmittel indes nicht bezahlen. Stattdessen bot sie dem Versicherten einen Elektrorollstuhl für 5.000 Euro an. Sowohl mit dem Falt- als auch dem Elektrorollstuhl könne er sich ausreichend im Nahbereich seiner Wohnung fortbewegen, lautete die Begründung.
Das LSG urteilte, dass der Kläger das Handbike zum Behinderungsausgleich beanspruchen kann. Versicherte hätten auch nicht nur Anspruch auf eine Basisversorgung. Die Krankenkasse sei verpflichtet, dem behinderten Menschen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Die elektrische Rollstuhlzughilfe sei damit in diesem Einzelfall verhältnismäßig und notwendig.
Az.: L 1 KR 65/20
Die Delegierten der Verbandes bestimmten die Volkswirtschaftlerin am 13. Oktober in Freiburg zur Nachfolgerin von Peter Neher, der den katholischen Wohlfahrtsverband 18 Jahre lang geführt hatte. Neher hatte mit 66 Jahren nicht mehr für das Spitzenamt kandidiert. Welskop-Deffaa setzte sich gegen zwei Bewerber durch.
Welskop-Deffaa, geboren in Duisburg, war seit 2017 Fach- und Sozialvorstand des Caritasverbandes und wird Mitte November ihr neues Amt antreten. Zuvor war sie unter anderem vier Jahre lang Grundsatzreferentin beim Katholischen Deutschen Frauenbund, dann Abteilungsleiterin im Bundesfamilienministerium und im Bundesvorstand von ver.di tätig. Welskop-Deffaa wurde im zweiten Wahlgang für sechs Jahre gewählt.
Mehr als 80 Prozent der 693.000 Mitarbeitenden der Caritas in Deutschland seien Frauen. „Da passt es gut, dass nun auch an der Spitze eine Frau steht“, sagte die neue Caritas-Präsidentin. Mehr Frauen den Weg in kirchliche Führungspositionen zu eröffnen, sei eines der großen Themen der kirchlichen Erneuerung. „Ich freue mich, wenn ich dazu beitragen kann, die Türen der Kirche von innen aufzustoßen“, sagte Welskop-Deffaa.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie gratulierte zur Wahl und sagte: „Ich freue mich auf eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Eva Welskop-Deffaa steht für eine moderne und christliche Sozialpolitik. Hier hat sie die Diakonie als verlässliche Partnerin an ihrer Seite.“
Isabelle Wien, Vorstandsvorsitzende und Oberin der Diakonissen Speyer, ist neue Vorsitzende der Hauptversammlung des Diakonischen Werks Pfalz. Wien übernimmt das Amt vom ehemaligen theologischen Vorstand der Diakonissen Speyer, Pfarrer Günter Geisthardt. Zur Stellvertreterin Wiens ist Pfarrerin Reinhilde Burgdörfer gewählt worden, die in Homburg als Klinikseelsorgerin arbeitet.
Hans-Peter Daub ist neuer Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Dienstgeberverbandes Niedersachsen. Er folgt Rüdiger Becker nach, der am 14. September an den Folgen eines schweren Fahrradunfalls gestorben war. Daub ist bereits seit 2014 theologischer Vorstand der Dachstiftung Diakonie, in der mehr als 3.500 Mitarbeitende in den Hilfefeldern Altenpflege, Wohnungslosenhilfe, Kinderhilfe sowie Jugend- und Familienhilfe tätig sind. Davor leitete der Theologe seit 2003 als Superintendent den Kirchenkreises Rotenburg (Wümme). Dort war er auch Vorsitzender des Kuratoriums des Diakonissenmutterhauses und des Aufsichtsrates des Diakoniekrankenhauses. Bis 2018 gehörte er dem Aufsichtsrat der Agaplesion AG, dem größten evangelischen Krankenhausträger in Deutschland, an.
Thomas Beyer (58), ehemaliger SPD-Landtagsabgeordneter, hat die Professur für Recht an der Fakultät für Soziale Arbeit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) übernommen. Der frühere Rechtsanwalt hatte seit 2013 die Professur für Recht an der Technischen Hochschule Nürnberg inne. Beyer war von 2003 bis 2013 Abgeordneter des Bayerischen Landtages. Während dieser Zeit fungierte er unter anderem als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion und war Mitglied im Wirtschaftsausschuss. Ehrenamtlich war Beyer zudem von 2004 bis April dieses Jahres Landesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern.
Ulrich Frei, Professor und ehemaliger Ärztlicher Direktor und Vorstand Krankenversorgung der Charité - Universitätsmedizin Berlin, hat das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Die Auszeichnung wurde dem Nephrologen für seine Verdienste um die Gesundheitsstadt Berlin und den Innovationsstandort Deutschland vom Bundespräsidenten verliehen. Frei war insgesamt 27 Jahre an der Charité tätig. Sein Amt als Ärztlicher Direktor übte er 17 Jahre aus - seit 2004 im Nebenamt, seit 2008 im Hauptamt und seit 2019 als Vorstand Krankenversorgung. Seit 2020 ist er im Ruhestand, aber als Seniorprofessor der Nephrologie bleibt er der Charité weiterhin verbunden.
Hans Böttcher (80) aus Husum hat den ersten Sven-Picker-Inklusionspreis des Sozialverbandes (SoVD) Schleswig-Holstein erhalten. Für ihn seien die Themen Inklusion und Barrierefreiheit eine echte Herzensangelegenheit, sagte SoVD-Präsident Adolf Bauer in seiner Laudatio. Als Rollstuhlfahrer sei Böttcher Experte in eigener Sache und „damit allseits geschätzter und glaubhafter Ansprechpartner in der Region“. Böttcher ist es zu verdanken, dass seine Heimatstadt Husum seit 2005 als eine der wenigen Städte und Gemeinden einen kommunalen Beauftragten für Menschen mit Behinderung etabliert hat. Die Auszeichnung ist undotiert.
Barbara Höckmann (62) bleibt ehrenamtliche Vorsitzendes des Präsidiums der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Sachsen. Die Hochschuldezentin geht in ihre zweite, vierjährige Amtszeit. Höckmann ist die fünfte Frau seit 1990, die ehrenamtlich den Verband leitet. Hauptberuflich ist sie Dozentin an der Hochschule Magdeburg-Stendal im Fachbereich Sozialwesen.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.
25.-27.10. Berlin:
Workshop „Alte Hasen und junge Hüpfer“ - Altersgemischte Teams erfolgreich führen Praxisworkshop"
Tel.: 030/26309-139
26.10. Köln:
Seminar „Vergütungsverhandlungen in der Behindertenhilfe - Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“
der Solidaris Unternehmensberatung
Tel.: 02203/8997-221
27.-29.10. Hannover:
Fortbildung (Auftakt) „Hilfe für wohnungslose Männer und Frauen in besonderen sozialen Schwierigkeiten“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0173/5105498
November
4.11.:
Online-Kurs „Der Weg zur Niederlassungserlaubnis und Einbürgerung für Geflüchtete“
Tel.: 030/26309-139
4.11.:
Webinar „Wichtige Kennzahlen für ambulante Pflegedienste in der Krise - und danach“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356159
4.11.:
Online-Fortbildung: „Beratung in der Pflege unter pandemischen Bedingungen“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/7392885
9.11. Würzburg:
Seminar „Der Jahresabschluss gemeinnütziger Einrichtungen - Grundlagen, Besonderheiten, Vorbereitung und Gestaltungsmöglichkeiten“
der Solidaris Unternehmensberatung
Tel.: 0931/30540
10.11. Würzburg:
Seminar „Steuer-Update für Non-Profit-Organisationen: Kurzprogramm“
der Solidaris Unternehmensberatung
Tel.: 02203/8997-221
15.11. Berlin:
Seminar „ Reform des Stiftungsrechts - Neuerungen, Chancen und Risiken“
der Solidaris Unternehmensberatung
Tel.: 02203/8997-221
15.-16.11.:
Seminar „Datenschutz in sozialen Einrichtungen: Einführung in das KDG - rechtliche Anforderungen und Umsetzungen im operativen Tagesgeschäft“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
16.11.:
Webinar „Sicherer Umgang mit den Corona-Schutzschirmen“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356159
22.-23.11. Frankfurt a.M.:
Seminar „Von der Anstalt zum inklusiven Quartier“
der Bundesakademie für >Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
22.-24.11. Berlin:
Seminar „Digital Leadership: Führen im digitalen Wandel“
Tel.: 030/26309-139
23.11. Köln:
Seminar „Basiswissen Altenhilfe: Kurzprogramm“
der Solidaris Unternehmensberatung
Tel.: 02203/8997-221
29.11.:
Online-Seminar „Führung auf Distanz - Praxiserprobte Werkzeuge für erfolgreiche Führungsleistung in verteilt arbeitenden Teams“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel: 0711/286976-10
29.11.:
Online-Fortbildung „Flucht und Behinderung - Rechtliche Möglichkeiten in der Flüchtlings- und Behindertenhilfe“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0174/3473485
29.11.:
Online-Seminar „Führung auf Distanz - Praxiserprobte Werkzeuge für erfolgreiche Führungsleistung in verteilt arbeitenden Teams“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10