sozial-Branche

Pflege

Gastbeitrag

Wie weiter in der 24-Stunden-Pflege nach dem Urteil des BAG?




Verena Rossow
epd-bild/Privat
Im Feld der sogenannten 24-Stunden-Pflege ist derzeit Bewegung wie lange nicht mehr. Dass ein "Weiter so" wie bisher keine Option sein kann, ist spätestens seit dem jüngsten Gerichtsurteil des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) deutlich geworden. Welche Optionen existieren und wo genauer hinzusehen ist, erläutert Dr. Verena Rossow, Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, in ihrem Gastbeitrag für epd sozial.

Man musste keine besonders spitzfindige Zeitungsleserin sein, um Ende Juni 2021 durch die Presse erfahren zu haben, dass das Bundesarbeitsgerichts ein wegweisendes Urteil gefällt hatte (5 AZR 505/20). Denn schon auf den Titelseiten der großen Tageszeitungen wurde verkündet, was innerhalb der Branche schon länger erwartet worden war: Die Anwesenheit einer ausländischen Pflege- und/oder Betreuungskraft im Privathaushalt von pflegebedürftigen Personen (sogenannte „24-Stunden-Pflege“) gilt gänzlich als Arbeits- und Bereitschaftszeit und beides muss daher auch mit dem allgemeinen Mindestlohn vergütet werden. Das Urteil umfasst aber nicht an alle derzeit genutzten rechtlichen Beschäftigungsmodelle.

Für selbständige Betreuungskräfte beispielsweise gilt das Urteil ohnehin nicht. Je nach arbeitsrechtlichem Hintergrund des jeweiligen Settings gelten auch andere Vorgaben, weil dann die Beteiligten in andere Beziehungen zueinander gesetzt sind (Auftragnehmerin vs. Arbeitgeber beispielsweise). Es existieren neben der Selbständigkeit noch weitere Varianten, eine Betreuungskraft zu beschäftigen: als Angestellte im Haushalt der Pflegebedürftigen oder als entsandte Person gemäß der EU-Entsenderichtlinie - mit einigen Besonderheiten je nach Herkunftsland. Für Fachfremde ist die Gesetzeslage nicht einfach zu durchblicken, auch, weil sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene Richtlinien, Gesetze und deren Auslegung im Blick behalten werden müssen.

Und genau hier sitzt eines der wesentlichen Probleme: Weil es keine arbeitsrechtliche Lösung dieser Form der häuslichen Dienstleistungsverhältnisse gibt, weichen die Akteure (zunehmend professionell aufgestellte Unternehmen, auch transnationale Unternehmensketten) auf rechtliche Rahmbedingungen aus, in denen ein großes Maß an rechtlicher Unsicherheit gegeben ist.

Legalisieren wie in Österreich?

Ein Blick über die Grenze nach Süd-Westen zeigt, dass eine gesamtstaatliche Regulierung durchaus möglich ist, wenngleich sie in ihrer Schutzwirkung für die Arbeitskräfte selbst umstritten bleibt: Österreich hat in den Jahren 2006 und 2007 ein „Hausbetreuungsgesetz“ geschaffen, den vormals irregulär beschäftigten Arbeitskräften eine eigene Berufsbezeichnung (Personenbetreuer/innen) gegeben und sich dank der Regulierung im Sinne einer selbständigen Tätigkeit ansonsten aus der Verantwortung gestohlen, genauer hinzusehen, was in den Haushalten abseits der vertraglich festgehaltenen Vorschriften so alles passiert.

Für dieses Modell regen sich derzeit Stimmen in der Politik und vom Verband der Interessenvertretung der Vermittlungsunternehmen VHBP. Allerdings würden hier die Risiken der Arbeiterinnen faktisch individualisiert und intime Arbeitsverhältnisse ohne Arbeitgeberpflichten formell ermöglicht.

Dabei haben Gerichtsurteile der vergangenen Jahre verdeutlicht, wie ambivalent die Rechtsprechung gegenüber dieser Frage ist: Diejenigen Urteile, die eine Selbständigkeit für möglich erachten, argumentieren, dass eine typische Live-in-Pflege im Rahmen einer Selbständigkeit erbracht werden kann, entscheidend sei aber immer der individuelle Kontext. Sprich: wie unabhängig arbeitet eine Live-in-Kraft tatsächlich oder ist sie im Alltag auf Weisungen angewiesen?

Ein fiktives Beispiel: Wenn Herr Meyer bei ie Betreuungskraft bittet, das Frühstück fortan um 7 Uhr 30 statt um 8 Uhr anzurichten und anhält, welche Lebensmittel zu kaufen und wie zuzubereiten sind - fällt das unter die Weisungsbefugnis? Oder hat die Betreuungskraft hier noch Entscheidungsspielraum, sodass eine formale Selbständigkeit legitimiert wäre? Der Einzelfall müsste geklärt werden. Insofern wäre das Angestelltenverhältnis die sichere Variante, auch, weil sich Rechte und Pflichten beider Parteien darin klarer unterscheiden lassen.

Live-ins als Angestellte wie in der Schweiz?

Folgerichtig kommt ein anderes Modellland ins Spiel: die Schweiz. Hier sind Live-ins, also Helferinnen, die mit im Haus wohnen, grundsätzlich angestellte Arbeitnehmerinnen; sei es, dass sie im Haushalt selbst oder bei Vermittlungsagenturen beschäftigt sind. Allerdings greifen auch hier Ausnahmeregelungen, denn die Schweizer Kantone haben eigene, sogenannte „Normalarbeitsverträge“ formuliert; die darin enthaltenen Schutzvorschriften sind allerdings rechtlich nicht bindend, sondern eher auf der Ebene von Empfehlungen angesiedelt. Damit werden die Arbeitskräfte und die Arbeitgeberinnen ebenfalls sich selbst überlassen.

Eine Perspektive ist bisher noch nicht betrachtet worden, diejenige der Nutzer-Haushalte selbst, also der pflegebedürftigen Personen und/oder ihrer Angehörigen, die sich hauptverantwortlich um diese und das Betreuungssetting kümmern. Meine eigene Forschung in den zurückliegenden Jahren zu den Wissensmustern und Handlungsrationalitäten von sorgenden Angehörigen hat gezeigt: ein Bewusstsein für die rechtlich unsichere Situation in den Haushalten ist durchaus vorhanden. Und der Willen ein „möglichst legales“ Arrangement zu finden, ist auch weit verbreitet. Dennoch, ausgeprägt ist auch die Toleranz über geltendes Arbeitsrecht hinweg zu sehen und „abstrakten“ Verträgen ihre Gültigkeit immer dann abzusprechen, wenn es um den konkreten Alltag und die Einweisung in den Haushalt geht.

Was also tun?

Unabhängig von der Güte des unterzeichneten Arbeitsvertrages wäre bei jedem Regulierungsvorstoß hierzulande also zentral, dass alle beteiligten Akteure künftig besser informiert und sensibilisiert für ihre Rolle in einem solchen Setting werden.

Insofern muss der Politik zukünftig ein Spagat gelingen - will sie die Branche überhaupt rechtlich einhegen. Welches Regulierungsmodell auch immer gefunden wird; es muss sowohl die Schutzbedürfnisse der Arbeitskräfte selbst, aber auch die Vulnerabilität der betroffenen Haushalte berücksichtigen und ein gut aufeinander abgestimmtes Konstrukt schaffen, in dem es allen Beteiligten möglich ist, Interessenvertretungen jederzeit zu kontaktieren, die niedrigschwellig und lokal eingebunden sind. Nur so kann überhaupt denkbar sein, Arbeitsverhältnisse zu legalisieren, die sich letztlich einer jeden Kontrolle entziehen, weil sie im Privathaushalt angesiedelt sind. Alle Akteure sind also nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Pflichten auszustatten.

Verena Rossow studierte Geographie, Soziologie und Kunstgeschichte und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main