viele Corona-Infizierte brauchen Wochen oder Monate, um wieder auf die Beine zu kommen: Long-Covid oder auch Post-Covid genannt, führt zu sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern. Es fehlen Studien und damit auch belastbare Daten über die Zahl der Patientinnen und Patienten. Viele Infizierte haben einen langen Leidensweg hinter sich, kämpfen sich zäh zurück ins Leben. Zwei Betroffene berichten.
Viele Frauen wollen raus aus der Prostitution. Doch das ist meist kein leichtes Unterfangen. In den bayerischen Fachberatungsstellen von „JADWIGA“, die Betroffenen von Menschenhandel helfen, kennt man die Probleme aus der täglichen Arbeit. Im Interview spricht die Leiterin Monika Cissek-Evans über hohe Hürden, die die Frauen überwinden müssen, und wie ihnen konkret geholfen wird.
Sie stemmen den Haushalt, kaufen ein, betreuen Geschwister und kümmern sich viele Stunden um ihre kranken oder pflegebedürftigen Eltern: Rund 500.000 Kinder und Jugendliche sind bundesweit in die Pflege Angehöriger unmittelbar eingebunden. Das ist sehr belastend, Traumatisierungen sind keine Seltenheit. Doch es gibt Angebote zur Hilfe.
Der Vorstandsvorsitzende der Inneren Mission München und Oberbayern, Thorsten Nolting, sagt, die auf Nähe ausgerichtete soziale Arbeit habe sich auch in der Pandemie nicht grundlegend verändert. Aber, so berichtet er in der Interview-Reihe von epd sozial, man habe, wenn auch notgedrungen, die Vorzüge der Online-Beratung entdeckt: „Diese Kanäle werden wir in Zukunft viel stärker nutzen.“
Es gibt ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“. Das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt klargestellt. Und so können psychisch kranke Straftäter im Maßregelvollzug mit einer wirksamen Patientenverfügung auch eine Zwangsbehandlung untersagen. Laut dem Urteil muss das zwingend beachtet werden, wenn es in einer wirksamen Patientenverfügung so festgeschrieben ist.
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Dirk Baas
München (epd). Tina Tschage lacht. „Ich war ganz vorne mit dabei“, sagt sie. Galgenhumor nennt man das. Es war Anfang März 2020, viele hatten schon etwas von diesem neuen Coronavirus gehört - aber noch schien alles weit weg. Bis die Mitbewohnerin der heute 39-Jährigen krank wurde. Husten, Fieber, Atemnot, typische Corona-Symptome. Tagelang warteten sie auf einen Test und dann auf das Ergebnis. In der Zwischenzeit steckte sich Tschage an: „Ich hatte noch nie so eine Krankheit.“
Als „begeisternde Lebensliebhaberin“ bezeichnet sich Tina Tschage selbst. Die Theologin arbeitet als Coach, sie hält Hochzeits- und Trauerreden, sie ist auf jeden Fall ein positiv denkender Mensch, keiner, der viel jammert. Aber: „So fertig war ich nie zuvor in meinem Leben.“ Überrollt wie von einem Laster, das Luftholen wurde immer schwerer, sie habe „bewusst nachatmen“ müssen. „Erst nach acht, neun Tagen wurde es besser“, sagt sie. Doch gut ist es bis heute nicht. Tschage hat Long-Covid.
Doch bis sie selbst bemerkt, dass nach wie vor etwas nicht ganz stimmt, dauert es. Zunächst müssen ihre Mitbewohnerin und sie fünf Wochen in Quarantäne bleiben. In dieser Zeit war der Geschmacks- und Geruchssinn komplett weg: „Ich hatte nur noch Konsistenz im Mund.“ Nach einigen Wochen kehren Geschmacks- und Geruchssinn zurück - doch das ist nur bedingt schön. „Vieles riecht seither nur noch eklig“, ihr Parfüm, das sie jahrelang gern verwendet hat, kann sie nicht mehr ausstehen.
Tschage ist mit diesen Corona-Langzeitfolgen nicht alleine. Experten schätzen, dass rund zehn Prozent der Infizierten Long-Covid oder Post-Covid entwickeln. „Das entspricht in Bayern aktuell rund 65.000 möglichen Fällen“, sagt ein Sprecher des Gesundheitsministeriums: „Die Dunkelziffer könnte noch höher liegen.“ Belastbare Daten gibt es bislang nicht. Und keine einheitliche klinische Definition. Unter den Begriffen werden daher alle möglichen Corona-Folgen zusammengefasst.
Inzwischen gibt es unter anderem an den bayerischen Universitätskliniken in München, Erlangen-Nürnberg, Würzburg, Regensburg und Augsburg Post-Covid-Ambulanzen. Die Regierung investiert fünf Millionen Euro, um die Versorgung von betroffenen Patienten zu verbessern.
Julian Reischl aus Augsburg erkrankte mehr als ein Jahr später an Corona. Ende April hatte er die ersten Symptome, Anfang Mai seinen positiven Test. „Infiziert habe ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach im Impfzentrum - bei meiner ersten Impfung. Ansonsten war ich nicht unter Leuten“, erzählt der 48-Jährige. Appetitlosigkeit, Atemnot und Husten hatte er neben den klassischen Grippe-Symptomen. Der trockene Reizhusten blieb auch über die 14 Tage Quarantäne hinaus: „Als anerkannte Covid-Folge“, sagte seine Hausärztin zu ihm. Inzwischen ist alles ausgestanden.
„Ich habe einen Inhalator mit Cortison-Pulver bekommen“, sagt er. Sechs Wochen musste er das „morgens und abends in die Lunge saugen“. Das habe auch gut geholfen. Außerdem sei er Reizhusten-erprobt, berichtet Reischl. Wegen eines falschen Blutdruckmittels habe er sich 15 Jahre mit Husten herumgeschlagen, ohne die Ursache zu finden.
Tschage hat wenig konkrete Hilfe an ihrem Wohnort München erfahren. Irgendwann aber fand sie im Internet weitere Betroffene und Informationen der Median Klinikgruppe, die sich schnell auch auf Long-Covid eingestellt hatte. Vor ein paar Wochen war sie bei der Gründung einer Selbsthilfegruppe für Long-Covid dabei. „Den meisten tut es gut zu hören, dass sie mit ihren Beschwerden nicht alleine sind - und sich das nicht nur einbilden.“
Dabei hatten Reischl und Tschage mit ihren Symptomen noch Glück. Auch wenn Tina Tschage bis heute nur eingeschränkt schmecken und riechen kann und deshalb nun ein spezielles Riechtraining begonnen hat. „Es gibt ja Menschen, die haben einen Tinnitus, Dauer-Schwindel, Erschöpfungszustände und anderes mehr als Langzeitfolgen - da bin ich gut weggekommen“, sagt sie. Nach ihren Erfahrungen mir Covid-19 versteht sie nicht, weshalb die Virusinfektion nach wie vor von einigen kleingeredet wird.
Auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) spricht von „teilweise gravierenden Beschwerden“ über die akute Erkrankung hinaus, die man bei Long-Covid beobachte. Betroffene benötigten häufig eine „multidisziplinäre Versorgung“ durch mehrere Fachärzte für ihre verschiedenartigen Beschwerden.
Hannover (epd). Mit Blick auf die nach wie vor unterdurchschnittliche Corona-Impfquote bei Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund fordert der Medizinsoziologe Ramazan Salman mehr niedrigschwellige und zielgruppengerechte Informations- und Präventionsangebote. „Obwohl wir in einer sozial, ethnisch und kulturell hochdiversen Gesellschaft leben, ist unser System nicht auf Diversität ausgerichtet“, kritisierte der Leiter des Ethno-Medizinischen Zentrums in Hannover im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Noch immer sein der herrschende Blick auf Menschen mit Wurzeln außerhalb Deutschlands zu „pauschal und gleichmachend“. So habe es viel zu lange gedauert, bis Informationen zu Corona „in allen relevanten Sprachen und auf allen relevanten Kanälen“ zur Verfügung gestanden hätten. Erst einige Monate nach Ausbruch der Pandemie habe das Bundesgesundheitsministerium wesentliche Informationen in zehn Sprachen verbreitet. „In der Zwischenzeit waren viele Menschen durch die sozialen Medien oder die Sender ihrer Herkunftsländer Falschinformationen auf den Leim gegangen“, sagte der Sozialwissenschaftler, der unter anderem die Bundesregierung sowie Städte und Kommunen berät.
Auch kulturelle Verschiedenheiten trügen dazu bei, dass Menschen sehr unterschiedlich mit der Corona-Situation umgingen. „Vor allem im afrikanischen und arabischen Raum ist Gesundheitsvorsorge für viele ein Fremdwort. Dort ist der Arzt für die Kranken da, aber nicht, um Krankheiten zu verhindern.“ Fehlendes Tempo und mangelnde kulturelle Sensibilität in der Informationspolitik rächten sich nun, etwa in Impfskepsis und einer unterdurchschnittlichen Impfquote in migrantisch geprägten Bevölkerungsgruppen.
Salman bezeichnete die Informationspolitik in der Corona-Pandemie als „Hausaufgabe für Politik und Gesundheitsbehörden“. So gelte es künftig nicht nur, Präventions- und Impfkampagnen in möglichst allen in Deutschland geläufigen Sprachen und verstärkt auch in den sozialen Medien zu kommunizieren. Die lokalen Gegebenheiten müssten ebenfalls stärker berücksichtigt werden. Als eine Möglichkeit, Vorbehalte gegen das Impfen abzubauen, nannte Salman unter anderem Impfaktionen in Moscheen.
Als vorbildlich bezeichnete der Medizinsoziologe das Corona-Management in den Asylunterkünften Münchens. Dort habe man eine erste Impfkampagne mit kaum mehr als 20 Prozent Beteiligung als Anlass für einen besser vorbereiteten zweiten Anlauf genommen. „Bevor die Impfteams anrücken, gehen dort erst einmal als Mediatoren geschulte Muttersprachler und Muttersprachlerinnen in die Einrichtungen, um im vertraulichen Rahmen aufzuklären und auf Ängste und Zweifel einzugehen“, erläuterte der Gesundheitswissenschaftler. Derzeit laufe die Kampagne noch, spätestens Ende August zeige sich, ob der Ansatz erfolgreich sei.
Mannheim, Heidelberg (epd). Die Zahl der Bestattungen von Verstorbenen ohne Familienangehörige nimmt seit Jahren zu. Gründe dafür sind Geldsorgen und Einsamkeit. Mit Armut und Alter wachse die Einsamkeit, beobachtet die Pfarrerin der Citykirche Mannheim, Anne Ressel. „Die Zahlen wachsen stetig, Corona hat den Trend noch verstärkt“, sagt sie.
Die langjährige Diakoniepfarrerin gestaltet in Absprache mit der Stadt Mannheim vier Mal im Jahr einen ökumenischen Gedenkgottesdienst für „Verstorbene ohne Angehörige“. Die Stadt sorgt für den Rahmen, stellt die Trauerhalle, Blumen und Orgelmusik. 2.500 Euro koste die „einfache Sozialbestattung“ in der Stadt, sagt Katrin Fix vom Friedhofsamt Mannheim. Predigt und Aussegnung teilen sich die evangelische und katholische Kirchengemeinde. Mehr als die Namen der Toten, die ihr das Friedhofsamt übermittelt, weiß Anne Ressel in der Regel nicht. Nachforschungen im Telefonbuch führen die Pfarrerin bisweilen zum früheren Umfeld des Verstorbenen.
Menschen ohne Angehörige, das sind nicht nur Obdachlose, weiß Anne Ressel. Es gebe Hochbetagte, deren Verwandte längst tot sind, Singles ohne Nachkommen und schließlich „Menschen, die den Aufwand einer Beisetzung scheuen.“ Manchmal sei es auch der letzte Wille des Verstorbenen, der Familie nicht zur Last zu fallen, Kindern die Gräberpflege nicht zuzumuten.
Die Gesellschaft für Bestattungen und Vorsorge in Hamburg geht von deutschlandweit rund 10.000 Sozialbestattungen im Jahr aus. Wenn der Staat das letzte Geleit übernimmt, geht es sparsam zu: blecherne Urnen, anonyme Beisetzung am Rand der Friedhofsmauer. 1.481 Euro Zuschuss ist der Höchstbetrag, den das Sozialamt für die „einfache Sozialbestattung“ erstattet.
„Es ist nicht in Ordnung, Menschen ohne Angehörige nach ihrem Tod einfach unter die Erde zu schaffen“, sagt Florian Barth. Der Pfarrer der Stadtmission Heidelberg organisiert seit sieben Jahren Gedenkgottesdienste für „Verstorbene ohne Angehörige“. Zwei Drittel der Toten seien getaufte Mitglieder der Kirche, sagte Barth, ihnen stehe eine kirchliche Beisetzung zu.
Der Impuls zu diesen Sammeltrauerfeiern kam über einen Kontakt zur Tobias-Gemeinschaft in Lüneburg. Die ökumenische Initiative setzt sich für eine würdige Bestattung aller Toten ein. Sie gelte wie „die Unterstützung von Hungernden, Dürstenden, Fremden, Gefangenen, Armen und Kranken als eines der sieben Werke der Barmherzigkeit und sei Ausdruck christlicher Nächstenliebe“, heißt es auf der Homepage der Initiative. Die biblische Figur des Tobias soll trotz eigener Not Verstorbene ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung oder Religion begraben haben.
„Ich dachte, ich stehe allein am Grab“, erinnert sich Florian Barth an seine Erwartungen vor dem ersten Gottesdienst am Urnengräberfeld des Friedhofs in Heidelberg-Kirchheim. Tatsächlich sei die Trauerhalle selbst im Lockdown regelmäßig voll gewesen, sagt der Geistliche. Über eine kostenlose Anzeige in der örtlichen Presse informiere er potenzielle Nachbarn oder Freunde, so Barth.
Mit ihnen sucht er vor der Trauerfeier das Gespräch, ihre Erinnerungen an die Verstorbenen fügt er spontan in seine Predigt ein. „Einmal kam ein früherer Klassenkamerad, er war der einzige Trauergast“, erinnert er sich. Ein anderes Mal habe er einen Gitarrenlehrer beerdigt, bei der Trauerfeier seien ein früherer Schüler und dessen Mutter gewesen. „So möchte ich nicht sterben“, sagt der Pfarrer. Er wolle Spuren hinterlassen.
Manchmal seien auch noch lebende Angehörige dabei, die „Geld sparen“ wollten, weiß Anne Ressel. Die meisten ihrer Verstorbenen aus Mannheim-Mitte hätten jedoch weder Geld noch enge Freunde. Hin und wieder kämen Kumpels vom Kiosk, Bekannte aus der Unterkunft oder frühere Nachbarn. Ressels Überzeugung: „Ich habe eine Verantwortung für diese Menschen.“
Düsseldorf, Berlin (epd). Diesen Haushalten mit rund 2,1 Millionen Menschen bleibe weniger als das im Sozialrecht festgelegte Existenzminimum übrig, nachdem sie Miete und Nebenkosten bezahlt haben, so die Studie. Besonders stark betroffen sind der Untersuchung zufolge Haushalte von Alleinerziehenden. In dieser Gruppe bleibt gut einem Viertel nur ein Resteinkommen unterhalb des Hartz-IV-Regelbedarfs beziehungsweise Existenzminimums.
Die Analyse ist eine weitere Auswertung einer im Juni veröffentlichten Studie der Humboldt-Universität in Berlin zu sozialen Ungleichheiten auf dem Wohnungsmarkt. Die von der Böckler-Stiftung geförderte Untersuchung ergab, dass jeder zweite Haushalt in Mietwohnungen (49,2 Prozent) mehr als 30 Prozent des Nettogehaltes für die Warmmiete ausgibt. Grundlage für die Untersuchung war der Mikrozensus 2018. Die Stadt-Soziologen der Humboldt-Universität zogen zudem Vergleichsdaten für die Jahre 2006, 2010 und 2014 sowie detaillierte Zahlen für 77 deutsche Großstädte heran.
Laut der neuen Studie geben fast 92 Prozent der Haushalte an der Armutsgrenze mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens fürs Wohnen aus, 39 Prozent sogar mehr als die Hälfte. Zudem lebten die Betroffenen in kleineren und schlechter ausgestatteten Wohnungen, hieß es.
Mieterinnen und Mieter mit niedrigen Haushaltseinkommen (maximal 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Großstadthaushalte) haben den Angaben zufolge im Mittel 38 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, Küchen oder Bäder bei Mehrpersonenhaushalten anteilig eingerechnet. In Mieterhaushalten mit hohen Einkommen betrage die Wohnfläche pro Kopf 51 Quadratmeter. Wenig überraschend hätten Paare mit Kindern mit 27 Quadratmetern die geringste Pro-Kopf-Wohnfläche zur Verfügung. Es folgten Alleinerziehende (33 Quadratmeter), Paare ohne Kinder (40 Quadratmeter) und Alleinstehende (56 Quadratmeter).
Der Sozialverband VdK erneuerte in Berlin seine Forderung nach bezahlbarem Wohnraum: „Das ist ein Skandal, denn Wohnen ist ein Menschenrecht. Die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt verstärkt Armut und soziale Ausgrenzung“, so der Verband.
Neben Alleinerziehenden und Familien seien auch alte Menschen besonders stark betroffen, weiß der VdK aus seiner Beratungspraxis: Wer verwitwet sei, falle oft in die Armut. Alleinlebende ältere Frauen seien von den steigenden Mieten finanziell überfordert. „Sie können aber auch nicht in eine andere Wohnung umziehen, weil es eben keinen bezahlbaren Wohnraum gibt. Aus Scham beantragen sie keine Grundsicherung, die Armutsspirale dreht sich weiter. Wir reden hier von alten Menschen, die wegen der hohen Wohnkosten am Essen und an Medikamenten sparen müssen.“
München (epd). Zusammen mit sechs Kolleginnen betreut die Diplom-Sozialpädagogin Cissek-Evans Frauen, die zur Prostitution, zum Betteln, zu Straftaten oder zur Heirat gezwungen werden. „Diese Frauen haben Schlimmes erlebt. 99 Prozent von ihnen wollen raus aus der Prostitution, viele Osteuropäerinnen wollen in ihr Heimatland zurück. Wir organisieren Rückkehrhilfen und Unterstützungsangebote in der Heimat.“ Die Fragen stellte Susanne Schröder.
epd sozial: Frau Cissek-Evans, wie erfahren Sie von Frauen in der Zwangsprostitution?
Monika Cissek-Evans: Meist kommen die Frauen zu uns, weil sie von der Polizei aufgegriffen oder von Behörden und anderen Beratungsstellen an uns verwiesen werden. Wir halten viele Fortbildungen ab, damit Mitarbeitende in solchen Einrichtungen die Merkmale von Menschenhandel und Zwangsprostitution erkennen können. Dazu gehören, dass die Frau den Pass abgeben musste, ihre Einreise nicht selbst organisiert hat, Schulden abarbeiten soll oder eine Arbeitsstelle versprochen bekommen hat. Zur Identifikation von Betroffenen und zur Prävention bieten wir auch Cafés in den Erstaufnahmeeinrichtungen an. Gerade dort kann es auch passieren, dass Frauen mit einem Arbeitsangebot gelockt werden und dann in der Zwangsprostitution landen.
epd: Welche Frauen sind betroffen und wie kann Jadwiga ihnen helfen?
Cissek-Evans: Nach wie vor sind es vorwiegend Osteuropäerinnen und Frauen aus Afrika, die zur Prostitution gezwungen werden. Aber auch deutsche Frauen sind betroffen. Unsere Klientinnen brauchen erstmal Stabilität und die Alltagsdinge wie Unterkunft, eine Zahnbürste, Kleidung. Diese Frauen haben Schlimmes erlebt. 99 Prozent von ihnen wollen raus aus der Prostitution, viele Osteuropäerinnen wollen in ihr Heimatland zurück. Wir organisieren Rückkehrhilfen und Unterstützungsangebote in der Heimat, damit die Frauen neu starten können und nicht gleich wieder Opfer werden.
epd: Die Münchner Staatsanwaltschaft stockt jetzt ihre Abteilung gegen Menschenhandel personell auf. Was erhoffen Sie sich davon?
Cissek-Evans: Es ist dringend nötig, dass das Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution wieder stärker in den Fokus kommt. Die letzte große Präventionskampagne in München fand zur Fußball-WM 2006 statt. Damals haben wir durch Flyer und ähnliches auch die Freier ins Boot holen können. Manche haben uns angerufen, wenn sie bei Frauen waren, die offensichtlich zur Prostitution gezwungen wurden. Da kommt jetzt gar nicht mehr vor. Auch die strafrechtliche Verfolgung ist gering: In 287 Verfahren wurde laut Bundeskriminalamt 2019 ermittelt. Bei 38 ausgelasteten Fachberatungsstellen in Deutschland ist das eine kleine Zahl.
Berlin (epd). Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, für die Kinderzuschlag gewährt wird, hat sich seit Februar 2021 deutlich erhöht. Das geht nach Angaben des Bundestages vom 4. August aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Links-Fraktion hervor. Demnach haben im Februar rund 685.000 und im Juni 2021 rund 767.000 Kinder und Jugendliche diesen Zuschlag erhalten. „Welche Folgen von der Covid-19-Pandemie auf die Verteilung der Einkommen ausgegangen sind und noch ausgehen werden, ist noch nicht absehbar“, schriebt die Regierung. Die umfangreichen Maßnahmen der Bundesregierung zur Stützung der Einkommen dürften aber negative Effekte gemindert haben, hieß es.
Auf Antrag gibt es den Kinderzuschlag, wenn das Einkommen nicht für die ganze Familie reicht. Bewilligt wird er von der Familienkasse, in der Regel erhalten für sechs Monate. Der Kinderzuschlag wird für jedes Kind einzeln berechnet. Derzeit gibt es monatlich höchstens 205 Euro pro Kind.
Berlin (epd). Rund ein Viertel aller Kinder in Deutschland wächst in seinen ersten 15 Lebensjahren zumindest zeitweise ausschließlich bei der Mutter oder dem Vater auf. Wie aus dem vom Bundesfamilienministerium in Berlin jüngst herausgegebenen „Monitor Familienforschung“ hervorgeht, sind die Gründe dafür vielfältig. Die Eltern des Kindes hätten sich etwa getrennt, ein Elternteil sei verstorben oder das Kind sei von Geburt an bei nur einem Elternteil aufgewachsen.
Nach drei Jahren sind drei von zehn Eltern den Angaben zufolge nicht mehr alleinerziehend und leben mit einer neuen Partnerin oder einem neuen Partner zusammen. Von den jüngeren Alleinerziehenden lebe sogar die Hälfte nach fünf Jahren wieder in einem Paarhaushalt, ist der Studie zu entnehmen. Mit dem Ex-Partner blieben fast drei Viertel der Eltern auch nach der Trennung in Kontakt. Der Umgang mit dem Kind könne in fast 60 Prozent der Fälle einvernehmlich geregelt werden, hieß es.
Knapp neun von zehn Alleinerziehenden hätten Anspruch auf Unterhalt, wovon allerdings nur die Hälfte die Zahlungen vollständig erhalte. Als Grund nannten die Forscher, dass das andere Elternteil finanziell häufig nicht in der Lage sei, den Unterhalt zu zahlen. So bezögen mehr als ein Drittel der Alleinerziehenden staatlichen Unterhaltsvorschuss.
Als Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhten, alleinerziehend zu werden, identifiziert der „Monitor Familienforschung“ geringe Qualifikation, geringes Einkommen und Arbeitslosigkeit. Häufig sei die finanzielle Situation von zukünftig Alleinerziehenden schon vor der Trennung deutlich angespannt, hieß es in dem Bericht. So falle zum Beispiel das monatliche bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen von zukünftig alleinerziehenden erwerbstätigen Müttern durchschnittlich rund 240 Euro niedriger aus als das von Eltern, die sich nicht trennen. „Finanzielle Risiken zeichnen sich in der Regel bereits vor der Trennung ab“, hieß es.
Der Bericht basiert auf einer Befragung durch das Institut für Demoskopie Allensbach sowie auf Untersuchungen vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und vom Deutschen Jugendinstitut (DJI).
Stuttgart/Freiburg (epd). Das Land Baden-Württemberg fördert acht Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut mit insgesamt mehr als 660.000 Euro. Die Netzwerke befinden sich in Freiburg, Heilbronn, Esslingen, Göppingen, Rottweil, Tübingen und dem Ortenaukreis, teilte das Landessozialministerium am 4. August mit. Die Förderbeträge pro Netzwerk liegen dabei zwischen 50.000 und 100.000 Euro. Ziel sei es, durch die Präventionsnetzwerke vor Ort eine geeignete Strategie für die Förderung von Kindern zu entwickeln. Der Förderzeitraum betrage zwei Jahre.
Damit erhöhe sich die Zahl der geförderten Projektstandorte gegen Kinderarmut auf 26 in 17 von 44 Stadt- und Landkreisen. Ziel ist es den Angaben zufolge, bis 2030 in allen baden-württembergischen Stadt- und Landkreisen Präventionsnetzwerke gegen Kinderarmut zu etablieren.
München (epd). Die zweite Bayerische Demenzwoche findet vom 17. bis 26. September statt. Dabei solle das Bewusstsein für den im Umgang mit dieser Krankheit und den Betroffenen weiter geschärft werden, sagte Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) laut einer Mitteilung vom 1. August. Beteiligt seien zahlreiche Kooperationspartner, darunter die kommunalen Spitzenverbände, Wohlfahrtsverbände, der Landesverband Bayern der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und die Bayerische Architektenkammer.
Der Minister wies darauf hin, dass bereits heute im Freistaat mehr als 240.000 von Demenz Betroffene lebten. Im Jahr 2030 werde diese Zahl voraussichtlich bei 300.000 liegen. „Unser Ziel muss daher sein, die Gesellschaft zu sensibilisieren und für mehr Akzeptanz zu sorgen“, sagte er. Im vergangenen Jahr habe die Demenzwoche aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen müssen.
Manchmal sind die Kinder wie unsichtbar. Sie tauchen im Beratungsgespräch nicht auf, sind gerade draußen oder einkaufen. Aber Hannelore Lenze-Walter hat dafür feine Antennen. „Da liegt in der Ecke ein Schulranzen oder ein Skateboard, das fällt mir sofort auf“, sagt die Beraterin der Pflegeberatung compass aus Köln. Dann tastet sie sich im Gespräch vor, um herauszufinden, in welchem Umfang die Kinder in die Pflege von kranken Eltern oder pflegebedürftigen Geschwistern eingespannt sind. „Da ist Fingerspitzengefühl gefragt“, sagt sie. „Weder den Eltern noch den Kindern ist oft bewusst, wie belastend die Situation für Minderjährige ist.“
Rund 500.000 Kinder und Jugendliche sind laut Bundesfamilienministerium mit der Pflege von Elternteilen, Geschwistern oder Großeltern betraut. Das entspricht statistisch gesehen ein bis zwei Kinder je Schulklasse. Deshalb lancierte das Ministerium 2019 die Initiative „Pausentaste“ als Informationsanlaufstelle für betroffene Kinder wie Familienberatung.
Die Aufgaben der „Young Carer“ reichen von einmal die Woche für Oma einkaufen gehen über Füttern der krebskranken Mutter und der Daueraufsicht eines behinderten Bruders bis Kochen, Waschen und Putzen der Wohnung. „Es gibt viele Konstellationen, in denen Kinder pflegen“, sagt Lenze-Walter.
Inwieweit die Kinder sich durch die Pflegeaufgaben belastet fühlen, hängt Ihrer Erfahrung nach davon ab, welche Aufgaben sie wie lange übernehmen, wie die Beziehung zwischen dem Kind und den zu pflegenden Personen vor der Erkrankung war - und ob ihre Mithilfe vom Umfeld gesehen und anerkannt wird. Dazu bietet compass die Begleitung der Situation an, um mit der Familie Lösungen für die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. „Da braucht es mitunter viel Geduld“, sagt Lenze-Walter, „denn manche Familie will zunächst keine Hilfe annehmen.“
Ähnliche Erfahrungen machte auch Gabriele Tammen-Parr von der Online-Beratungsstelle „echt unersetzlich“, die vom Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte getragen wird. Gerade in der Corona-Pandemie hätten sich manche Familien regelrecht abgeschottet, um ein krankes Familienmitglied vor Ansteckung zu schützen. „Damit führen die Kinder, die in die Pflege eingebunden sind, ein Schattendasein“, sagt Tammen-Parr.
Bei „echt unersetzlich“ können die Jugendlichen bei Bedarf anonym bleiben - egal, wie lange die Beratung dauert, selbst über Monate. Denn manche haben Angst, dass sie von ihren Eltern getrennt werden, etwa wenn ein Elternteil depressiv ist und nicht mehr aufsteht oder alkoholkrank ist. „Wenn sich die Jugendlichen bei uns melden, ist das oft für sie eine sehr belastende Situation“, sagt Tammen-Parr. Auf Wunsch besucht ihr Team die Familien auch zu Hause, während der Corona-Pandemie lud eine Kollegin zur „Spazierberatung“ ein, um mit den pflegenden Jugendlichen auf einem gemeinsamen Spaziergang die individuelle Situation zu besprechen.
„Es ist ja zunächst natürlich, dass Kinder helfen und unterstützen, wenn ein Elternteil krank wird“, sagt sie. „Schwierig wird es dann, wenn die Grenze überschritten wird und die Kinder zum Beispiel den Haushalt fast alleine regeln.“
Dass nicht selten bei den Kindern wie bei den Erwachsenen in der belastenden Situation unterschwellig Schuldgefühle mitschwingen, erlebt Anita Zimmermann immer wieder. Sie begleitet bei der psychosozialen Krebsberatungsstelle Flüsterpost Kinder, in deren Familien ein Mitglied chronisch krank ist oder Krebs hat. „Es ist wichtig, auch den Kindern mögliche Schuldgefühle zu nehmen, sie aktiv darauf anzusprechen“, sagt sie. Wichtig sei, dass die Kinder verstünden, dass sie für die Erkrankung keine Verantwortung tragen.
Zimmermann will die Ressourcen der Familienmitglieder fördern. Dazu spricht sich mit den Kindern Jugendlichen und jungen Erwachsenen über ihre Gedanke und Gefühle und hilft ihnen einzeln oder als Familie, Wege aus der Krise zu finden. „Wenn das nicht geschieht, besteht die Gefahr einer Traumatisierung“, sagt Zimmermann, vor allem dann, wenn das kranke Elternteil stirbt und die Kindern in den Prozess nicht rechtzeitig einbezogen wurden.
Kurz-Ketterer sagt im epd sozial-Interview, es gebe viele alternative Versorgungsformen für Pflegebedürftige: „Die sollten unterstützt werden und nicht durch Bürokratie unnötig verteuert werden“. Sie zeigt sich verwundert, dass es so lange gedauert hat, bis das höchste Arbeitsgericht eingeschritten ist. Ihre Erklärung: „Schwarzarbeit wird vom Staat toleriert, zumindest aber weniger stark verfolgt. Unser Gesundheitswesen profitiert davon.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seinem Urteil über Mindestlohn auch für meist osteuropäische Hilfskräfte in Privathaushalten für Schlagzeilen gesorgt und viele Pflegeexperten in Alarmbereitschaft versetzt. Hat Sie diese Entscheidung überrascht?
Carmen Kurz-Ketterer: Nein, ich bin überrascht, dass es so lange gebraucht hat, bis hier etwas passiert. Wir können nicht einerseits über Mindestlohn sprechen und andererseits bestimmte Personenkreise ausgrenzen. Pflege ist eine professionelle Dienstleistung, die auch eine entsprechende Vergütung verlangt.
epd: Die Richterinnen und Richter haben einen Bereich der Pflege ausgeleuchtet, über den es keine belastbaren Zahlen gibt. Sind es wirklich mindestens 200.000 Frauen, die Seniorinnen und Senioren daheim rund um die Uhr unterstützen?
Kurz-Ketterer: Schätzungen aus dem Jahr 2017 zufolge arbeiten 150.000 bis 300.000 Menschen illegal in deutschen Haushalten. Es dürften jetzt nicht unbedingt weniger geworden sein. Die Dunkelziffer ist noch immer hoch.
epd: Unter welchen Bedingungen erfolgt diese Betreuungsarbeit?
Kurz-Ketterer: Reine Schwarzarbeit gibt es schon ab rund 800 Euro monatlich. Die Pflegekräfte werden nicht immer unter menschenwürdigen Zuständen untergebracht. Zudem müssen viele Frauen an den Vermittler regelmäßig eine „Gebühr“ abgeben. Die Agenturen verdienen oft sehr gut damit, diejenigen, die vor Ort die Versorgung übernehmen, werden mit einem Hungerlohn abgespeist.
epd: Das Problem der privaten Betreuung, die dazu führt, dass viele Pflegebedürftige in den eigenen vier Wänden bleiben können, ist kein neues. Warum gibt es seit Jahren keine politischen Initiativen, hier ein auch für weniger Betuchte ein bezahlbares Betreuungsangebot zu machen?
Kurz-Ketterer: Schwarzarbeit wird vom Staat toleriert, zumindest aber weniger stark verfolgt. Unser Gesundheitswesen profitiert davon. Die Kassen und der Staat haben damit kein Problem, beziehungsweise wollen keins haben. Die Verantwortung zu übernehmen würde bedeuteten, das Problem zuallererst zu sehen und zu akzeptieren. Lösungen sind leider nicht immer leicht zu finden. Aber sicherlich wäre das möglich.
epd: Und wie?
Kurz-Ketterer: Das Pflegegeld an Angehörige zu zahlen, die selbst in der Pflege tätig sind oder wirklich einen Großteil davon übernehmen, finde ich eine sehr gute Idee. Aber das Pflegegeld zu zahlen, damit eine Hausdame davon bezahlt werden kann, geht gar nicht. Zudem soll das Geld ja grundsätzlich für die Pflege am Menschen genutzt werden. Viele Kassen empfehlen inzwischen ihren Kunden, dass sie es gerne auch zur Haushaltsreinigung benutzen können. Da frage ich mich: Ist es eine Pflegeversicherung oder eine Putzversicherung? Aber: Wenn durch den MDK klar geregelt ist, an welcher Stelle der Kunde Hilfe benötigt, warum kann genau diese Leistung nicht bezahlt werden? Aber eben nur diese Leistung der Pflege. Auch das früher einmal vorgeschlagene Pflegebudget würde wieder in der Schwarzarbeit landen oder in fragwürdigen Hilfeleistungen.
epd: Manche Experten weisen süffisant darauf hin, dass hier politisch nichts geschieht, weil diese Grauzone der Betreuung eigentlich die Pflegeheime entlastet, es also bei einem strikten Verbot für viele Betroffene gar nicht möglich wäre, ad hoc einen Heimplatz zu finden. Ist dem so?
Kurz-Ketterer: Stimmt! Aber zum großen Teil ist es auch so, dass die Pflegebedürftigen nicht ins Heim möchten. Das Heim hat immer noch ein schlechtes Image. Das selbstbestimmte Leben ist vorbei im Heim. Es gibt so viele Vorschriften, dass nicht mehr der Wunsch des „Kunden“/Bewohners im Vordergrund steht. Zudem hat der Pflegenotstand nicht vor dem Heim Halt gemacht. Mangelnde Wertschätzung des Berufes in der Pflege hat hier ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen. Jedoch gibt es dieses Problem nicht nur im stationären Bereich. Die ambulante Versorgung braucht ebenfalls qualifizierte Kräfte, die der Aufgabe gewachsen sind. Aber auch hier ist keine Wertschätzung zu finden. Einen Waschlappen schwingen, das kann jeder. Aber eine gute Pflege leisten, kann nicht jeder.
epd: Der Bedarf an professioneller Pflege wird künftig noch deutlich steigen. Sicher ist es falsch, allein die Heimplätze auszubauen. Was müsste die Politik tun, um auch im ambulanten Bereich mehr Kapazitäten zu schaffen?
Kurz-Ketterer: Dazu müssen Personalkosten zu 100 Prozent refinanziert werden, wie in den Kliniken, auch, um die Abwerbung von Fachkräften zu vermeiden. Und wir brauchen gute Löhne, legal und bezahlbar. Um die ambulante Pflege zu stärken, sollte die Pflegeversicherung umgestaltet werden. Die klassische Pflege sollte wie im stationären Bereich von der Pflegekasse übernommen werden. Also: Körperpflege und Essen reichen gehören in die Pflegeversicherung. Haushaltsführung und vor allem Reinigung der Wohnung hat nichts mit Grundpflege zu tun.
epd: Die jüngste Pflegereform der Bundesregierung, die auch Heimbewohner bei den selbst zu tragenden Kosten entlasten soll, wird als „Reförmchen“ kritisiert. Das Thema bleibt also eines für die künftige Bundesregierung. Wie kann aus Ihrer Sicht eine wirklich wirksame Entlastung der Heimbewohner gelingen und wie lässt sich das refinanzieren?
Kurz-Ketterer: Durch den Ansatz ambulant vor stationär, so steht es im Gesetz. Leider wird das immer mehr vergessen. Nicht jeder muss 24 Stunden betreut werden. Auch im stationären Bereich passiert das nicht. Es gäbe viele Lösungen, wenn man hier mal mit den Praktikern sprechen würde. Auch gibt es viele weitere Versorgungsformen. Die sollten unterstützt werden und nicht durch Bürokratie unnötig verteuert werden. Über die Pflege reden viele, selten die Pflegefachkräfte - und nur ganz selten die Pflegebedürftigen selbst. Als rein ambulanter Verband wissen wir, wo die Probleme liegen. Viele ambulante Wohnformen könnten umgesetzt werden, wenn man die vielen vorhandenen Konzepte fördern würde. Leider reden hier aber Menschen mit, ohne dass Kunden, Heimbewohner oder Patienten am Ende davon etwas haben.
Zugleich betont Thorsten Nolting, dass sich viele Tätigkeiten des Trägers wie die Pflege oder die Kinderbetreuung auch durch Corona nicht grundlegend verändert hätten: „Das gilt ebenso für alle anderen Felder der auf Nähe und Beziehung basierenden Arbeit.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Durch die Pandemie kamen auch viele Angebote der Sozialträger zum Erliegen oder wurden stark eingeschränkt. Hat das Virus Ihre Arbeit auch für die Zukunft grundlegend verändert?
Thorsten Nolting: Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass wir unsere Angebote, die ja passgenau auf die Bedarfe der Menschen zugeschnitten sind, auch in der Krise aufrecht erhalten haben. Teilweise konnten wir Beratungsangebote nur online weiterführen, Obdachlosen-Tagesstätten nur für wenige Menschen öffnen und in Pflegeheimen dafür sorgen, dass der Kontakt zu den Angehörigen über Telefon oder durch Facetime garantiert wird.
Aber, und diese Erkenntnis ist neu: Die Pandemie hat das Raumgefühl erheblich verändert, so dass die teilweise überfüllten Einrichtungen etwa mit Angeboten für sehr viele Menschen im Tagesaufenthalt oder beim Ausgeben von günstigem Essen auf den Prüfstand müssen. Wir müssen auch für die Zukunft klären, ob wir hier weniger beengt arbeiten können.
Die Online-Beratungsangebote und die Kontaktaufnahme durch Messengerdienste haben erheblich zugenommen, und es ist klar, dass wir in Zukunft diese Kanäle viel stärker nutzen werden, um in Kontakt zu Jugendlichen, jungen Familien und anderen Ratsuchenden zu kommen und zu bleiben. Grundlegend verändert hat sich aber weder die Arbeit in der Pflege und im Kindertagesstättenbereich. Das gilt ebenso für alle anderen Felder der auf Nähe und Beziehung basierenden Arbeit.
epd: Klienten können wieder betreut, begleitet und beraten werden. Doch sind finanzielle Löcher entstanden, die sich meist nicht schließen lassen. Wie ist Ihre heutige wirtschaftliche Situation?
Nolting: Es war sehr wichtig, dass es staatliche Corona-Hilfen gab, die Leerstände kompensiert haben , wenn auch nicht im vollen Umfang. Schwieriger ist es bei Segmenten Kaufhäuser, wo die Mieten weiter laufen, die Mitarbeiter in Kurzarbeit waren und erhebliche Ausfälle zu verkraften sind. Wirtschaftliche Verluste gab es auch im Bereich der Frühförderung und der Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Und verlangsamte Zuweisungen in der Jugendhilfe und der Sozialpsychiatrie waren auch von Nachteil. Sehr gut für die Träger in München und Oberbayern ist aber, dass es hier öffentliche Stellen gibt, die die soziale Infrastruktur erhalten wollen.
Die nachhaltige Gestaltung unsere finanziellen Situation in den vergangenen Jahren gibt uns die Luft, unsere Angebote weiterhin fortzuführen, auch innovativ bei der Suche nach passenden Angeboten für die Menschen zu bleiben. Was uns jedoch große Sorgen macht, ist die Situation der Kommunen. Sie brauchen dringend Unterstützung vom Bund, um nicht in finanzielle Schieflagen zu kommen, was unweigerlich zu Kürzungen im Sozialen führen würde. Daher freuen wir uns über die Absicht der Bayerischen Staatsregierung, erneut mit einem „wuchtigen“ Finanzausgleich gegenläufig zur Krise die Gemeinden, Städte und Kreise zu stärken.
epd: Viele Sozialträger richten sich neu aus, etwa bei der Digitalisierung. Welche Wünsche oder Forderungen haben Sie an die Politik, wenn es darum geht, auch in Zukunft krisensicher arbeiten zu können?
Nolting: Hier sehe ich zunächst einmal die Träger und Verbände selbst in der Pflicht, die notwendigen Modernisierungsschritte zu machen und die vorhandenen Geldmittel zu nutzen, um in die Zukunft zu investieren. Die Politik sollte diesen Prozess aber dadurch unterstützen, dass etwa nicht verwendete Mittel für solche Weiterentwicklungen zur Verfügung bleiben und nicht, wie derzeit oft zu erleben, zurückgefordert werden.
Berlin (epd). Der Sozialverband VdK spricht sich dagegen aus, Geimpfte und Genesene bei Kino- oder Restaurantbesuchen pauschal zu bevorzugen. In der Debatte über mögliche Nachteile für Impfverweigerer betonte der Verband am 5. August in Berlin, die Teilnahme am öffentlichen Leben dürfe nicht nur Geimpften und Genesenen vorbehalten sein.
Hintergrund der Debatte sind Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), im Oktober die kostenlosen Corona-Schnelltests zu beenden. Das sorgt für Streit innerhalb der Koalition. Im Gesundheitsausschuss des Bundestages sagte Spahn am 4. August, die Testkonzepte hätten weiter ihre Berechtigung, insbesondere für die Jüngsten und Ältesten. Tests in Pflegeheimen, Schulen und Kitas machten weiterhin Sinn.
Aber, so der Minister, es mache im Alltag einen Unterschied, ob jemand gegen das Coronavirus geimpft sei oder nicht. Laut Spahn zeichnet sich ab, dass Tests für Menschen, die sich hätten impfen lassen können, ab Mitte Oktober nicht mehr kostenlos sein werden. Dem widersprachen unterdessen mehrere Ministerpräsidenten aus den Reihen der SPD.
Ob es tatsächlich dazu kommt, ist derweil unklar. Das Thema soll am 10. August in der Runde von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ministerpräsidenten besprochen werden, wie die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer in Berlin sagte. Ganz sicher würden die Tests aber nicht plötzlich über Nacht kostenpflichtig. Der Bund übernimmt seit März die Kosten für mindestens einen Schnelltest pro Woche für alle Bürger.
Der VdK wies darauf hin, dass es nach wie vor keinen zugelassenen Impfstoff für Kinder unter 12 Jahren gebe. Und für Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren gibt es nur eine eingeschränkte Empfehlung der Ständigen Impfkommission. „Würden die kostenlosen Corona-Tests abgeschafft, könnten Familien viele Freizeitangebote nicht wahrnehmen“, machte der VdK deutlich.
Dass Minister Spahn auch Ausnahmen bei der Finanzierung der Tests plane, begrüßte der VdK ausdrücklich: „Es gibt Menschen mit schweren Vorerkrankungen, bei denen eine medizinische Kontraindikation gegen die Impfung spricht. All diese Menschen müssen wie Kinder, Jugendliche oder Schwangerer die gleichen Möglichkeiten zum Besuch eines Konzerts oder eines Restaurants haben wie Geimpfte oder Genesene.“
Berlin (epd). Angesichts der Warnung des Robert Koch-Instituts (RKI) vor erneuten schweren Covid-19-Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen im Herbst dieses Jahres fordert der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), dass die dritte Impfung sofort in die Coronavirus-Impfverordnung aufgenommen wird. „Wir dürfen nicht riskieren, dass die besonders vulnerablen Gruppen erneut der Gefahr ausgesetzt werden, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und schwere oder gar tödliche Krankheitsverläufe zu erleiden“, mahnte bpa-Präsident Bernd Meurer.
Laut Meurer müsste die Vorbereitung der sogenannten Boosterimpfungen für Pflegeheimbewohnende und Pflegekräfte eher heute als morgen anlaufen: „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Weil man nicht wisse, wie lange der Schutz der ersten beiden Impfungen anhält, müssten wir jetzt die Bestellung und die Bevorratung der Vakzine auf den Weg bringen. Andernfalls sei eine schnelle erneute Durchimpfung nicht möglich, betonte der Verbandschef. Deshalb müssten die rechtlichen Grundlagen für diese Maßnahmen umgehend geschaffen werden.
München (epd). Knapp zwei Wochen ist es her, dass in Großostheim bei Aschaffenburg eine 25-jährige Frau in einem Altkleidercontainer ums Leben kam. Kopfüber steckte sie in der Einwurfklappe fest und starb, als sie offenbar Kleidung aus dem Container holen wollte. Der tragische Tod der jungen Frau ist kein Einzelfall, weitere Fälle gab es im Juni in Düsseldorf und im siegerländischen Hilchenbach, 2019 in Braunschweig und 2018 in Landshut. Sind die Altkleidercontainer eine Gefahrenquelle?
Zumindest sind die mannshohen Stahlbehälter mit ihrer Klappentechnik nicht ohne Risiko. „Seit etwa drei Jahren werden die Kleidercontainer herstellerseitig mit einem Warnhinweis versehen“, sagt Sohrab Taheri-Sohi, Sprecher des Bayerischen Roten Kreuzes, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dieser warne explizit davor, in die Container zu klettern. Ulrich Müller, Vorstand des Vereins FairWertung, der bundesweit Kleidercontainer betreibt, erklärt, Container namhafter Hersteller hätten alle ein Prüfsiegel.
Für Versuche, trotz der Warnungen in einen Container zu klettern, gibt es aus Sicht des BRK-Sprechers zwei Gründe: Weil man aus Versehen den Schlüsselbund oder Ähnliches mit hineingeworfen hat - oder, weil man etwas aus dem Container entwenden will. Im ersten Fall genüge oft ein Anruf beim Container-Betreiber, und man erhalte seine Wertsachen zurück. Und wer bedürftig sei, müsse sich nicht in Gefahr bringen: der erhalte in Sozialkaufhäusern oder Kleiderkammern kostenlos Sachen zum Anziehen.
Der diakonia-Geschäftsführer Thomas Rosenberger aus München sagt, bei diakonia-Containern sei ihm kein Fall von Verletzungen oder Schlimmerem bekannt. „Aber natürlich sind wir uns der Gefahr bewusst“, die von den Containern auch ausgehen könne. Deshalb habe der Hersteller der Sammelbehälter „zuletzt die Einwurfklappen modifiziert“, so dass es noch schwerer sei hineinzuklettern. Alle diakonia-Container seien mit deutlichen Warnhinweisen und Piktogrammen versehen.
Beim Fall in Großostheim ist inzwischen klar, dass die Frau - eine Saisonarbeiterin - auf der Suche nach Kleidung war. Der geplante Diebstahl gebrauchter Kleidung ist bei den meisten bekanntgewordenen Verletzungs- oder Todesfällen die Ursache.
An der Sinnhaftigkeit von Altkleidercontainern wollen die Aufsteller trotz solcher tragischer Zwischenfälle nicht zweifeln. Solange es Menschen gebe, die auf Kleiderspenden angewiesen sind, wäre es „fast schon zynisch“, die Altkleidersammlung infrage zustellen, sagt BRK-Sprecher Taheri-Sohi. Auch FairWertung-Vorsitzender Müller sagt, dass die Textiliensammlung doch nicht komplett eingestellt werden könne, weil einige wenige die Warnhinweise ignorierten.
Der städtische Abfallwirtschaftsbetrieb München (AWM) verweist zudem darauf, dass es bei der Altkleidersammlung neben dem karitativen Aspekt auch um Ökologie geht. Das Altkleider-System sei in Deutschland ein fester Bestandteil der Getrenntsammlung von Rohstoffen, heißt es bei FairWertung. Noch nutzbare Kleidung werde Kleiderkammern oder Second-Hand-Läden zugeführt, der Rest weiterverwertet - etwa als Dämmmaterial, Putzlappen, Malervlies oder Pkw-Innenverkleidungen.
Vermeiden lassen sich solche tragischen Fälle wie in Großostheim vermutlich nie ganz, heißt es von den Anbietern der Container unisono. In den vergangenen Jahren sei allerdings viel an der Technik und Sicherheit der Container gefeilt worden. Mit Sorge beobachte man allerdings, dass immer häufiger illegal Container ohne Genehmigung aufgestellt werden - ohne Warnhinweise und oft mit veralteter Technik. Wer solche Container bemerkt, sollte die Polizei informieren.
Berlin (epd). Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt davor, dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit in der Corona-Pandemie verstärkt. Wie sich das Problem lösen ließe, geht aus einem Neun-Punkte-Katalog vor, den der Verband am 2. August vorstellte. „Wir müssen schnell handeln, um zu verhindern, dass sich die erschreckend hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen dauerhaft verfestigt“, sagte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider.
Um 47 Prozent ist nach Angaben des Verbandes die Zahl der Langzeitarbeitslosen während der Pandemie gestiegen und verharrt seit der Jahreswende auf über einer Million. „Trotz der überraschend positiven Arbeitsmarktentwicklung der letzten Monate dürfen wir die über 1 Million Langzeitarbeitslosen jetzt nicht aus dem Blick verlieren und zu den arbeitsmarktpolitischen Opfern der Pandemie werden lassen“, mahnte Schneider. Für die Betroffenen und ihre Familien seien die Folgen von langjähriger Arbeitslosigkeit - Armut, soziale Ausgrenzung und gesundheitliche Belastungen - verheerend.
Der Paritätische legte einen 9-Punkte-Plan zum raschen Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit vor. Vordringlich sei, das die Arbeitsagenturen und Jobcenter wieder flächendeckend ansprechbar werden und unter Einhaltung aller notwendigen Hygienemaßnahmen von sich aus wieder auf mit Förderangeboten auf die Langzeitarbeitslosen zugehen. „Trotz der widrigen Umstände müssen die Arbeitsverwaltung jetzt in die Offensive gehen“, fordert der Verband.
Über Monate verloren gegangene persönliche Kontakte seien wieder aufzunehmen, persönliche Gespräche zu suchen. Die Förderung müsse wieder massiv ausgebaut werden - und zwar unter völligem Verzicht auf Sanktionen, wie der Verband betont. Nur etwa 3 Prozent der Langzeitarbeitslosen hätten zuletzt ihre Arbeitslosigkeit durch ein Angebot öffentlich geförderter Beschäftigung beenden können und nur etwa 1,5 Prozent erhielten die Möglichkeit, an einer beruflichen Weiterbildung teilzunehmen.
Notwendige Gesetzgebung zur Anpassung der Fort- und Weiterbildung von langzeitarbeitslosen Menschen an die sich wandelnden Bedingungen des Arbeitsmarkts sei in der laufenden Legislaturperiode nicht umgesetzt worden, das müsse dringend nachgeholt werden, hieß es. Auch andere Förderinstrumente seien nicht mehr auf dem aktuellen Stand. So müsse sich der Umstand, dass langzeitarbeitslose Menschen immer häufiger unter psychosozialen Belastungen und gesundheitlichen Problemen litten, stärker in den Unterstützungsangeboten niederschlagen.
Die Pandemie habe die zuletzt erzielten Erfolge beim Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit zunichte gemacht. Mit aktuell 1,05 Millionen langzeitarbeitslosen Menschen sei ein so hoher Stand der Langzeitarbeitslosigkeit erreicht, wie er vor der Pandemie zuletzt im Frühjahr 2015 zu verzeichnen war.
Karlsruhe (epd). Patientinnen und Patienten haben der Entscheidung aus Karlsruhe zufolge ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“. Daher können psychisch kranke Straftäter im Maßregelvollzug mit einer wirksamen Patientenverfügung auch eine Zwangsbehandlung untersagen, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 30. Juli veröffentlichten Beschluss. Das gelte zumindest dann, wenn die Zwangsmaßnahme allein dem Schutz des Betroffenen dienen soll. Werde dennoch zwangsweise eine Medikamentengabe veranlasst, könne das Recht des Patienten auf körperliche Unversehrtheit und dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt sein.
Im Streitfall ging es um einen an einer Schizophrenie erkrankten Mann. Dieser hatte während einer wahnhaften Störung mit einem Besteckmesser auf den Brustkorb eines Nachbarn eingestochen. Der Mann kam daraufhin ab Oktober 2015 in den Maßregelvollzug.
Bereits im Juni 2005 hatte er mit einer Patientenverfügung bestimmt, welche medizinischen Maßnahmen verboten sein sollen, wenn er selbst darüber nicht mehr frei bestimmen kann. So hatte er lebens-verlängernde Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen abgelehnt. In einem weiteren, ergänzenden Schriftstück vom 11. Januar 2015 untersagte er zudem jedem Arzt, Pfleger und andere Personen ihm „gegen seinen Willen“ Psychopharmaka zu verabreichen.
Die behandelnden Ärzte im Maßregelvollzug beantragten im September 2016 dennoch die Zwangs-behandlung mit Neuroleptika. Andernfalls drohten mit hoher Wahrscheinlichkeit „irreversible hirnorganische Gesundheitsschäden“. Ohne Erfolg hatte der psychisch kranke Mann vor Gericht auf seine Patientenverfügung verwiesen, in der er Psychopharmaka ablehnte. Das Landgericht Nürnberg-Fürth genehmigte die Zwangsmaßnahme jedoch und verlängerte die Zwangsmedikamentation bis zum August 2017.
Die dagegen eingelegten Verfassungsbeschwerden hatten jetzt überwiegend Erfolg. Die Fachgerichte haben das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht unzureichend beachtet, entschied das Bundesverfassungsgericht. Patienten hätten ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“. Dies schließe auch das Recht ein, „auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese (...) dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann“.
Verbiete ein Patient in einer wirksamen Patientenverfügung bestimmte medizinische Maßnahmen, müsse das beachtet werden. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Patientenverfügung sei, dass sie unter freien Willen verfasst wurde.
Eine medizinische Zwangsbehandlung sei aber trotz des in der Patientenverfügung enthaltenen Verbotes dann erlaubt, wenn diese dem Schutz von Ärzten, Pflegekräften oder anderen Personen dient - etwa vor tätlichen Angriffen des Patienten. Hier müsse aber immer geprüft werden, ob die Zwangsbehandlung verhältnismäßig sei, so die Verfassungsrichter.
Im konkreten Fall müssen die Fachgerichte noch einmal abwägen, ob die Patientenverfügung wirksam vom Beschwerdeführer verfasst wurde und ob die Zwangsmedikation auch dem Schutz Dritter dient.
Bereits am 10. Juli 2017 hatten die Verfassungsrichter in einer anderen Entscheidung betont, dass eine medizinische Zwangsbehandlung „nur als letztes Mittel“ zulässig ist. Bei nicht einsichtsfähigen Kranken müsse zunächst versucht werden, diese in Gesprächen zur Durchführung einer Behandlung umzustimmen.
Weiter ist laut Karlsruhe eine Zwangsbehandlung nur unter ärztlicher Aufsicht zulässig. Dabei sei zu dokumentieren, welche Maßnahmen unter Zwang erfolgt sind und wie dies durchgesetzt wurde. Jede Zwangsbehandlung müsse zudem erfolgversprechend und verhältnismäßig sein. Planbare Behandlungen seien dem Patienten anzukündigen, damit er gegebenenfalls gerichtlichen Schutz suchen kann.
Die Zwangsmaßnahmen bleiben nach einem weiteren Beschluss der Verfassungsrichter vom 7. August 2018 bis auf Weiteres den Kliniken vorbehalten. Das Gesetz sehe weiterhin „die Zwangsbehandlung außerhalb eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus bewusst nicht vor“. Dabei habe der Gesetzgeber sich mehrfach und ausführlich mit der Möglichkeit auch einer ambulanten Zwangsbehandlung auseinandergesetzt.
Konkret habe der Gesetzgeber befürchtet, dass insbesondere psychiatrische Zwangsbehandlungen dann häufiger „ohne ausreichende Prüfung von weniger eingriffsintensiven Alternativen und damit auch in vermeidbaren Fällen durchgeführt würden“. Häufig könnten Zwangsbehandlungen durch eine „vertrauensvolle Unterstützung“ vermieden werden, so das Gericht.
Az.: 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/18 (Patientenverfügung)
Az: 2 BvR 2003/14 (letztes Mittel)
Az.: 1 BvR 1575/18 (ambulante Zwangsmaßnahme)
Karlsruhe (epd). Patientinnen und Patienten haben der Entscheidung aus Karlsruhe zufolge ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“. Daher können psychisch kranke Straftäter im Maßregelvollzug mit einer wirksamen Patientenverfügung auch eine Zwangsbehandlung untersagen, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am 30. Juli veröffentlichten Beschluss. Das gelte zumindest dann, wenn die Zwangsmaßnahme allein dem Schutz des Betroffenen dienen soll. Werde dennoch zwangsweise eine Medikamentengabe veranlasst, könne das Recht des Patienten auf körperliche Unversehrtheit und dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt sein.
Im Streitfall ging es um einen an einer Schizophrenie erkrankten Mann. Dieser hatte während einer wahnhaften Störung mit einem Besteckmesser auf den Brustkorb eines Nachbarn eingestochen. Der Mann kam daraufhin ab Oktober 2015 in den Maßregelvollzug.
Bereits im Juni 2005 hatte er mit einer Patientenverfügung bestimmt, welche medizinischen Maßnahmen verboten sein sollen, wenn er selbst darüber nicht mehr frei bestimmen kann. So hatte er lebens-verlängernde Maßnahmen sowie Fremdbluttransfusionen abgelehnt. In einem weiteren, ergänzenden Schriftstück vom 11. Januar 2015 untersagte er zudem jedem Arzt, Pfleger und andere Personen ihm „gegen seinen Willen“ Psychopharmaka zu verabreichen.
Die behandelnden Ärzte im Maßregelvollzug beantragten im September 2016 dennoch die Zwangs-behandlung mit Neuroleptika. Andernfalls drohten mit hoher Wahrscheinlichkeit „irreversible hirnorganische Gesundheitsschäden“. Ohne Erfolg hatte der psychisch kranke Mann vor Gericht auf seine Patientenverfügung verwiesen, in der er Psychopharmaka ablehnte. Das Landgericht Nürnberg-Fürth genehmigte die Zwangsmaßnahme jedoch und verlängerte die Zwangsmedikamentation bis zum August 2017.
Die dagegen eingelegten Verfassungsbeschwerden hatten jetzt überwiegend Erfolg. Die Fachgerichte haben das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht unzureichend beachtet, entschied das Bundesverfassungsgericht. Patienten hätten ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“. Dies schließe auch das Recht ein, „auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese (...) dringend angezeigt sind und deren Unterlassen zum dauerhaften Verlust der persönlichen Freiheit führen kann“.
Verbiete ein Patient in einer wirksamen Patientenverfügung bestimmte medizinische Maßnahmen, müsse das beachtet werden. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Patientenverfügung sei, dass sie unter freien Willen verfasst wurde.
Eine medizinische Zwangsbehandlung sei aber trotz des in der Patientenverfügung enthaltenen Verbotes dann erlaubt, wenn diese dem Schutz von Ärzten, Pflegekräften oder anderen Personen dient - etwa vor tätlichen Angriffen des Patienten. Hier müsse aber immer geprüft werden, ob die Zwangsbehandlung verhältnismäßig sei, so die Verfassungsrichter.
Im konkreten Fall müssen die Fachgerichte noch einmal abwägen, ob die Patientenverfügung wirksam vom Beschwerdeführer verfasst wurde und ob die Zwangsmedikation auch dem Schutz Dritter dient.
Bereits am 10. Juli 2017 hatten die Verfassungsrichter in einer anderen Entscheidung betont, dass eine medizinische Zwangsbehandlung „nur als letztes Mittel“ zulässig ist. Bei nicht einsichtsfähigen Kranken müsse zunächst versucht werden, diese in Gesprächen zur Durchführung einer Behandlung umzustimmen.
Weiter ist laut Karlsruhe eine Zwangsbehandlung nur unter ärztlicher Aufsicht zulässig. Dabei sei zu dokumentieren, welche Maßnahmen unter Zwang erfolgt sind und wie dies durchgesetzt wurde. Jede Zwangsbehandlung müsse zudem erfolgversprechend und verhältnismäßig sein. Planbare Behandlungen seien dem Patienten anzukündigen, damit er gegebenenfalls gerichtlichen Schutz suchen kann.
Die Zwangsmaßnahmen bleiben nach einem weiteren Beschluss der Verfassungsrichter vom 7. August 2018 bis auf Weiteres den Kliniken vorbehalten. Das Gesetz sehe weiterhin „die Zwangsbehandlung außerhalb eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus bewusst nicht vor“. Dabei habe der Gesetzgeber sich mehrfach und ausführlich mit der Möglichkeit auch einer ambulanten Zwangsbehandlung auseinandergesetzt.
Konkret habe der Gesetzgeber befürchtet, dass insbesondere psychiatrische Zwangsbehandlungen dann häufiger „ohne ausreichende Prüfung von weniger eingriffsintensiven Alternativen und damit auch in vermeidbaren Fällen durchgeführt würden“. Häufig könnten Zwangsbehandlungen durch eine „vertrauensvolle Unterstützung“ vermieden werden, so das Gericht.
Az.: 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/18 (Patientenverfügung)
Az: 2 BvR 2003/14 (letztes Mittel)
Az.: 1 BvR 1575/18 (ambulante Zwangsmaßnahme)
Münster/Minden (epd). Asylanträge von bereits in einem anderen Land anerkannten Schutzberechtigten dürfen nach einem Gerichtsurteil nicht für unzulässig erklärt werden, wenn ihnen bei der Rücküberstellung die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung droht. Das gilt auch für Asylsuchende, die bisher nur einen Antrag in dem anderen Land gestellt haben, wie das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen am 29. Juli in Münster mitteilte. In zwei Gerichtsurteilen entschied es zugunsten eines anerkannten Schutzberechtigten aus Somalia und eines Asylsuchenden aus Mali.
Im Fall des Somaliers hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Angaben zufolge den Asylantrag als unzulässig abgelehnt, weil er bereits in Italien internationalen Schutz hatte. Dies hatte auch das Verwaltungsgericht Münster bestätigt und erklärt, dass international Schutzberechtigte in Italien unter anderem das Recht hätten, für sechs Monate in Aufnahmeeinrichtungen zu wohnen. Selbst ohne staatliche Unterstützung sei dem Mann zuzumuten, einen Job wahrzunehmen und für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Der Asylantrag des Maliers war mit der Begründung abgelehnt worden, Italien sei für sein Asylverfahren zuständig. Das Verwaltungsgericht Minden gab der Klage des Maliers jedoch statt, weil ihm in Italien das Recht auf Unterkunft entzogen worden sei, er keine Bekannten oder Geldmittel für seinen Lebensunterhalt habe und auch keinen Arbeitsplatz finden könne.
Vor dem Oberverwaltungsgericht hatte der Somalier nun mit seiner Berufung Erfolg. Im Fall des Maliers bestätigte das OVG das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden.
Das OVG erklärte, dass den beiden bei Rücküberstellung nach Italien „die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“ drohe. „Denn die Kläger geraten in Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not, weil sie dort für einen längeren Zeitraum weder eine Unterkunft noch eine Arbeit finden“, heißt es dem Urteil. Sie hätten bei einer Rückkehr nach Italien keinen Zugang mehr zu einer Aufnahmeeinrichtung und einer damit verbundenen Versorgung.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen die Urteile nicht zugelassen. Dagegen kann Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.
Az.: 11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A, Vorinstanzen: Az.: 10 K 3382/18.A, Az.: 10 K 4090/18.A
Darmstadt (epd). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die Anerkennung von Wirbelsäulenerkrankungen als Berufskrankheit erleichtert. Geht eine Bandscheibenerkrankung auf unterschiedliche berufliche Belastungen zurück, kommt es für die Anerkennung als Berufskrankheit auf die Gesamtbelastung an, so die Darmstädter Richter in einem am 29. Juli bekanntgegebenen Urteil. Nur weil der Präventionsdienst der Berufsgenossenschaft mit seiner Software die Einwirkungen aus der Kombination mehrerer unterschiedlicher beruflicher Belastungen nicht berechnen kann, dürfe die Anerkennung als Berufskrankheit nicht verweigert werden.
Damit bekam ein Versicherter aus dem Landkreis Limburg-Weilburg recht. Der Mann arbeitete 1975 bis 1991 zunächst als Lkw-Fahrer und war dabei ständigen Ganzkörperschwingungen ausgesetzt. Später war er als Gießereiwerker, Betonfertigteilbauer und Lagerarbeiter tätig. Dabei musste er ständig schwere Lasten heben und tragen. Seine Lenden-Wirbelsäulenerkrankung führte er auf diese beruflichen Belastungen zurück und wollte diese von der Genossenschaft als Berufskrankheit anerkennen lassen.
Diese lehnte ab. Eine Berufskrankheit wegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjährige Einwirkung von Ganzkörperschwingungen liege nicht vor. Hierfür sei die berufliche Belastung zu gering gewesen, der Richtwert der zu erwartenden „Lebensdosis“ sei unterschritten worden, befand die Genossenschaft.
Auch eine Berufskrankheit wegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten bestehe nicht. Auch hier sei die berufliche Belastung zu gering gewesen.
Doch das LSG urteilte, dass die beruflichen Belastungen in Form der Ganzkörperschwingungen sowie des Hebens und Tragens von Lasten nicht einzeln betrachtet werden dürfen. Das Krankheitsbild könne durch verschiedene berufliche Einwirkungen verursacht werden. Insoweit bestehe die Möglichkeit, dass eine Krankheit die Voraussetzungen mehrerer Berufskrankheiten erfülle. Es sei ausreichend wahrscheinlich, dass sämtliche beruflichen Belastungen das Rückenleiden verursacht haben.
Az.: L 3 U 70/19
Stuttgart (epd). In Deutschland tätige ausländische Leiharbeitsfirmen kommen um eine behördliche Erlaubnis für ihr Gewerbe nicht herum. Wird ohne Genehmigung eine Leiharbeitnehmerin dennoch bei einer deutschen Firma eingesetzt, kommt automatisch ein Arbeitsvertrag zwischen der Beschäftigten und der deutschen Entleihfirma zustande, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 24. Juli veröffentlichten Urteil.
Geklagt hatte eine französische Ingenieurin, die für einen französischen Technologieberatungskonzern arbeitete. Das beklagte deutsche Unternehmen plante eine umfassende Umstellung seines EDV-Systems, insbesondere im internationalen Vertrieb. Die französische Firma versprach personelle Hilfe. Sie schickte die damals 56-jährige Klägerin für insgesamt anderthalb Jahre nach Deutschland. In dem deutschen Unternehmen bekam sie ein eigenes Büro und übernahm teilweise als Vertreterin auch die Leitung der Export-Verwaltung.
Als der französische Arbeitgeber der Frau kündigte, verlangte sie rückwirkend eine Festeinstellung bei der deutschen Firma. Sie sei dort weisungsgebunden und in den Betrieb fest eingegliedert gewesen. Faktisch sei sie eine Leiharbeitnehmerin gewesen. Ihr früherer französischer Arbeitgeber habe aber hierfür gar keine behördliche Erlaubnis gehabt. Nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz komme dann ein Arbeitsverhältnis zwischen ihr als Leiharbeitnehmerin und der deutschen Firma zustande, so ihre Argumentation.
Dem stimmte das LAG grundsätzlich zu, wies dabei nur einen Teil der von der Klägerin verlangten Vergütungsforderungen ab. Hier habe die Ingenieurin keine eigenständige Dienstleistung abgegeben, befand das LAG. Die französische Firma und das deutsche Unternehmen hätten vertraglich „die Überlassung eines Technikers“ vereinbart. Die Klägerin sei dann in die betrieblichen Abläufe und Hierarchien des Beklagten eingegliedert gewesen.
Damit sei die Klägerin an die deutsche Firma entliehen worden, ohne dass das französische Beratungsunternehmen die hierfür in Deutschland notwendige Erlaubnis gehabt habe. Laut Arbeitnehmerüberlassungsgesetz sei in solchen Fällen der Vertrag zwischen Leihfirma und Entleiher unwirksam, stattdessen gelte ein Arbeitsverhältnis zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher als zustande gekommen.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung ließ das LAG Stuttgart die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt zu.
Az.: 12 Sa 15/20
Celle (epd). Ohne vorherige klare Belehrung darf die Bundesagentur für Arbeit (BA) wegen einer unterlassenen Bewerbung keine Sperrzeit auf das Arbeitslosengeld I verhängen. Allein ein pauschaler Hinweis in einem Merkblatt über den Beginn der Sperrzeit reiche nicht aus, entschied das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle in einem am 26. Juli bekanntgegebenen Urteil.
Konkret ging es um einen arbeitslosen Maschinenbauer aus Wolfsburg. Die BA hatte ihm einen Vermittlungsvorschlag gemacht, der Mann hatte sich darauf aber nicht beworben. Daraufhin verhängte die Arbeitsagentur eine dreiwöchige Sperrzeit und verlangte rund 1.400 Euro bereits ausgezahltes Arbeitslosengeld I zurück.
Der Arbeitslose klagte dagegen. Er habe sich nicht beworben, weil die Stelle nicht zu ihm gepasst habe. Über die dann drohende Sperrzeit sei er zuvor nicht belehrt worden; sonst hätte er sich beworben.
Die Bundesagentur verwies auf die Rechtsfolgenbelehrung, die sich auf der Rückseite eines Vermittlungsvorschlags befinde. Näheres sei zudem dem einschlägigen Merkblatt zu entnehmen, hieß es.
Wie nun das LSG Celle entschied, reicht beides nicht aus. Zur Begründung verwies es auf die „Warnfunktion“ der Belehrung. Die müsse dafür „konkret, richtig, vollständig und verständlich sein“ sein. Auch dem Merkblatt sei aber insbesondere der Beginn der Sperrzeit nicht zu entnehmen, urteilte das LSG. Damit seien die Sperrzeit und die Rückforderung der Leistungen rechtswidrig erfolgt, so das Gericht.
Az.: L 11 AL 95/19
Aachen (epd). Arbeitnehmer können auch bei einer behördlichen Quarantäneanordnung Anspruch auf Entgeltfortzahlung vom Arbeitgeber haben. Die verdrängt bei gleichzeitiger Erkrankung des Arbeitnehmers den Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht, entschied das Arbeitsgericht Aachen in einem am 27. Juli bekanntgegebenen Urteil.
Im Streitfall suchte der Kläger im Mai 2020 wegen Kopf- und Magenschmerzen einen Arzt auf. Der stellte Arbeitsunfähigkeit fest und machte zur Sicherheit auch einen Corona-Test, den der Mediziner auch dem Gesundheitsamt meldete. Die Behörder verhängte daraufhin eine Quarantäne. Im Nachhinein erwies sich der Corona-Verdacht allerdings als negativ.
Die Arbeitgeberin hatte zunächst normale Entgeltfortzahlung gewährt. Als das Unternehmen von der Quarantäne erfuhr, zahlte es stattdessen die staatliche Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz aus. Diese entspricht sechs Wochen lang dem Nettolohn, der Staat zahlt zudem auch die Sozialbeiträge.
Der Arbeitnehmer war damit nicht einverstanden und klagte. Der Klage gab das Arbeitsgericht nun statt. Der Mann sei arbeitsunfähig geschrieben gewesen. Ihm stehe damit Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu. Die Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz sei demgegenüber nachrangig. Sie sei gerade nicht für arbeitsunfähig Kranke gedacht, sondern „für Ausscheider, Ansteckungs- und Krankheitsverdächtige“, urteilte das Arbeitsgericht.
Az.: 1 Ca 3196/20
Berlin (epd). Carola Reimann wird 2022 neue Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Der Aufsichtsrat wählte die SPD-Politikerin am 28. Juli einstimmig, wie der Verband in Berlin mitteilte. Die 53-jährige Reimann folgt auf Martin Litsch, der Ende des Jahres in den Ruhestand geht. Ihr Vertrag läuft den Angaben zufolge sechs Jahre.
Zuletzt war die Biotechnologin von 2017 an Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Niedersachsen, bevor sie ihr Amt 2021 aus gesundheitlichen Gründen abgab. Von 2000 bis 2017 saß Reimann im Bundestag, zuletzt als stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, zuständig für Arbeit und Soziales, Frauen, Senioren, Familie und Jugend. Von 2009 bis 2013 war sie Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Gesundheit.
Volker Hansen, Aufsichtsratsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes für die Arbeitgeberseite, würdigte die künftige Vorstandschefin als erfahrene Gesundheitspolitikerin, die über viel Kompetenz verfüge, sei bestens vernetzt und kenne die Herausforderungen, besonders im Zusammenspiel zwischen Bund und Ländern. Knut Lambertin, Aufsichtsratsvorsitzender für die Versichertenseite, stimmte dem zu und ergänzte, es sei an der Zeit, dass der Verband von einer Frau geführt werde.
Heike Kahl hat zum 31. Juli ihr Amt als Geschäftsführerin bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) abgegeben und ist in den Ruhestand getreten. Das sei langfristig geplant gewesen, teilte die Stiftung in Berlin mit. Die neue Geschäftsführung bilden demnach Frank Hinte und Anne Rolvering als Vorsitzende. Kahl ist gebürtige Rostockerin. Die einst erfolgreiche Eisschnellläuferin studierte Germanistik und promovierte 1984. Sie führte die DKJS seit 194. Roland Koch, Vorsitzender der Gesellschafterversammlung, erklärte: „Heike Kahl hat die Stiftung geprägt wie keine andere.“ Kahl engagiert sich auch beim Bundesverband Deutscher Stiftungen. Von 2002 bis 2011 war sie Mitglied des Vorstands. 2013 erhielt sie den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für ihren Einsatz im Bildungsbereich.
Christoph Dippe ist vom Kuratorium der Stiftung zum neuen Vorsitzenden des Vorstands berufen worden. Er folgt auf Peter Müller, der das Amt seit 18 Jahren innehatte. Nachdem Müller im März sein 60. Lebensjahr vollendete, ist gemäß der Satzung ein Wechsel auf dieser Position erforderlich. Dippe tritt die dreijährige Amtszeit am 16. August an. Mit über 20 Jahren Führungs- und Beratungserfahrung hat sich Dippe auf die Schwerpunkte Marketing und Management von Datenverwaltungssystemen spezialisiert. Der Stiftung Gesundheit bleibt Müller erhalten. Er übernimmt die Leitung des Hauptstadtbüros und den Vorsitz des Stiftungs-Rats. Müller folgt auf Professor Dirk. A. Loose, der den Vorsitz sechs Jahre lang innehatte und der Stiftung mit seiner ärztlichen Expertise als Chirurg beratend zur Seite stand.
Axel Kortevoß ist neuer stellvertretender Leiter der vdek-Landesvertretung Hessen. Er tritt die Nachfolge von Jürgen Kunkel an, der im Juli nach knapp 50 Berufsjahren für die Ersatzkassen und den vdek in den Ruhestand ging. Kortevoß studierte an der Universität Bonn Geographie, Städtebau und öffentliches Recht und promovierte in München über die Auswirkungen der fallpauschalierten Krankenhausfinanzierung auf die Krankenhausplanung der Bundesländer. Seit 2007 war er als Geschäftsführer einer Forschungs- und Beratungsgesellschaft tätig. Hier verantwortete er unter anderem Beratungsprojekte für gesetzliche Krankenversicherungen sowie Landes- und Bundesbehörden in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens.
Petra Mack ist neue Leiterin des WerkHauses des bhz Stuttgart in Feuerbach. Wie die Werkstatt für Menschen mit Behinderung mit mehreren Außenstellen und über 200 Beschäftigten in Stuttgart mitteilte, war die 48-Jährige zuvor in mehreren führenden Positionen bei der Stiftung Nikolauspflege für blinde und sehbehinderte Menschen tätig. Zuletzt war sie landesweit als Geschäftsbereichsleitung für die Teilhabe erwachsener Menschen mit Behinderung zuständig, davor leitete sie den Geschäftsbereich Arbeit und Beschäftigung.
Sven Hannawald, ehemaliger Skisprung-Profi, ist neuer AOK-Botschafter für psychische Gesundheit. Durch gezielte Präventionsangebote wolle die Krankenkasse gemeinsam mit dem Prominenten auf das sensible Thema aufmerksam machen, teilte die AOK Bayern in München mit. Der Weltmeister, Gewinner der Vierschanzentournee und Olympiasieger von Salt Lake City litt selbst unter psychischen Belastungen und beendete nach einem Burnout seine Karriere als Spitzensportler. Seitdem wirbt Hannawald für einen offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen.
Gabriel Ben Freudenberg, Gymnasiast aus Heidelberg, wird für die Entwicklung einer Hilfs-App für Sehbehinderte ausgezeichnet. Der 17-Jährige erhält im Rahmen des Landeswettbewerbs Baden-Württemberg der Stiftung „Jugend forscht“ den Sonderpreis „Innovationen für Menschen mit Behinderungen“, teilte die Christoffel-Blindenmission (CBM) als Preisstifterin mit. Die App erkenne Barrieren und warne sehbehinderte Nutzer vor Gefahren, heißt es. Wegsperren und Schranken etwa seien ein typisches Hindernis, da sie mit einem Taststock oft nicht rechtzeitig erkannt werden. Wer da nichtsahnend hinein laufe, könne sich schnell verletzen. Freudenbergs App „Smart Urban Support 2.0“ erkenne solche Hindernisse und melde zudem Position und Abstand per Vibration an einen speziellen Gürtel, den die User tragen.
Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.
5.8.:
Online-Seminar „Die Dublin-III-Verordnung - Eine Einführung“
Tel.: 030/26309-139
12.8.: Berlin:
Seminar „Konfliktmanagement und Mediation in Organisationen - Ziel- und methodensicher mit Konflikten umgehen!“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828227
16.-19.8.: Nethpen:
Seminar „Familiennachzug von Geflüchteten“
Tel.: 030/26309-139
19.8-20.9.:
Online-Kurs: „Meetings per Video oder Telefon moderieren: online miteinander im Kontakt sein und effektiv arbeiten“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
23.-27.8. Freiburg:
Fortbildung „Projektmanagement - Effektiv planen und erfolgreich zusammenarbeiten“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
23.8.-1.9.:
Fortbildung im Hybridformat: „Integrierte Schuldnerberatung in Sucht- und Straffälligenhilfe, Sozialberatung und Betreuung“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/7392885
26.8. Berlin:
Fortbildung „Veränderung initiieren - wirksame Führungsimpulse setzen“
der Paritätischen Akademie Berlin
Tel.: 030/275828227
31.8.:
Webinar „Einstieg in die Welt der öffentlichen Fördermittel: EU, Bund, Länder und Kommune“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356-160
31.8. Berlin:
Seminar „Grundlagen des Arbeitsrechtes in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - Gestaltungsspielräume nutzen“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356-160
September:
1.-2.9.:
Online-Fortbildung „Die Anwendung der ICF in der Hilfeplanung“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0172/3012819
7.9.:
Webinar „Datenschutzunterweisung für Mitarbeitende in sozialen Einrichtungen“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/97356-159
20.9-1.11.:
Online-Fortbildung „Rechtliche Beratung in der Wohnungslosenhilfe Mehr GeRECHTigkeit auf der Straße“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 0173/5105498