sozial-Branche

Pflege

Interview

"Staat und Gesundheitswesen profitieren von der Schwarzarbeit"




Carmen Kurz-Ketterer
epd-bild/Eldar Bock/ABVP
Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinem Urteil zum Mindestlohn für meist osteuropäische Haushaltshilfen die Branche aufgeschreckt. Jetzt wird munter diskutiert, was zu tun ist, um diese Misere zu überwinden. Carmen Kurz-Ketterer, Vorsitzende des Arbeitgeber- und BerufsVerband Privater Pflege, sieht eine Lösung im Ausbau der ambulanten Betreuung.

Kurz-Ketterer sagt im epd sozial-Interview, es gebe viele alternative Versorgungsformen für Pflegebedürftige: „Die sollten unterstützt werden und nicht durch Bürokratie unnötig verteuert werden“. Sie zeigt sich verwundert, dass es so lange gedauert hat, bis das höchste Arbeitsgericht eingeschritten ist. Ihre Erklärung: „Schwarzarbeit wird vom Staat toleriert, zumindest aber weniger stark verfolgt. Unser Gesundheitswesen profitiert davon.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seinem Urteil über Mindestlohn auch für meist osteuropäische Hilfskräfte in Privathaushalten für Schlagzeilen gesorgt und viele Pflegeexperten in Alarmbereitschaft versetzt. Hat Sie diese Entscheidung überrascht?

Carmen Kurz-Ketterer: Nein, ich bin überrascht, dass es so lange gebraucht hat, bis hier etwas passiert. Wir können nicht einerseits über Mindestlohn sprechen und andererseits bestimmte Personenkreise ausgrenzen. Pflege ist eine professionelle Dienstleistung, die auch eine entsprechende Vergütung verlangt.

epd: Die Richterinnen und Richter haben einen Bereich der Pflege ausgeleuchtet, über den es keine belastbaren Zahlen gibt. Sind es wirklich mindestens 200.000 Frauen, die Seniorinnen und Senioren daheim rund um die Uhr unterstützen?

Kurz-Ketterer: Schätzungen aus dem Jahr 2017 zufolge arbeiten 150.000 bis 300.000 Menschen illegal in deutschen Haushalten. Es dürften jetzt nicht unbedingt weniger geworden sein. Die Dunkelziffer ist noch immer hoch.

epd: Unter welchen Bedingungen erfolgt diese Betreuungsarbeit?

Kurz-Ketterer: Reine Schwarzarbeit gibt es schon ab rund 800 Euro monatlich. Die Pflegekräfte werden nicht immer unter menschenwürdigen Zuständen untergebracht. Zudem müssen viele Frauen an den Vermittler regelmäßig eine „Gebühr“ abgeben. Die Agenturen verdienen oft sehr gut damit, diejenigen, die vor Ort die Versorgung übernehmen, werden mit einem Hungerlohn abgespeist.

epd: Das Problem der privaten Betreuung, die dazu führt, dass viele Pflegebedürftige in den eigenen vier Wänden bleiben können, ist kein neues. Warum gibt es seit Jahren keine politischen Initiativen, hier ein auch für weniger Betuchte ein bezahlbares Betreuungsangebot zu machen?

Kurz-Ketterer: Schwarzarbeit wird vom Staat toleriert, zumindest aber weniger stark verfolgt. Unser Gesundheitswesen profitiert davon. Die Kassen und der Staat haben damit kein Problem, beziehungsweise wollen keins haben. Die Verantwortung zu übernehmen würde bedeuteten, das Problem zuallererst zu sehen und zu akzeptieren. Lösungen sind leider nicht immer leicht zu finden. Aber sicherlich wäre das möglich.

epd: Und wie?

Kurz-Ketterer: Das Pflegegeld an Angehörige zu zahlen, die selbst in der Pflege tätig sind oder wirklich einen Großteil davon übernehmen, finde ich eine sehr gute Idee. Aber das Pflegegeld zu zahlen, damit eine Hausdame davon bezahlt werden kann, geht gar nicht. Zudem soll das Geld ja grundsätzlich für die Pflege am Menschen genutzt werden. Viele Kassen empfehlen inzwischen ihren Kunden, dass sie es gerne auch zur Haushaltsreinigung benutzen können. Da frage ich mich: Ist es eine Pflegeversicherung oder eine Putzversicherung? Aber: Wenn durch den MDK klar geregelt ist, an welcher Stelle der Kunde Hilfe benötigt, warum kann genau diese Leistung nicht bezahlt werden? Aber eben nur diese Leistung der Pflege. Auch das früher einmal vorgeschlagene Pflegebudget würde wieder in der Schwarzarbeit landen oder in fragwürdigen Hilfeleistungen.

epd: Manche Experten weisen süffisant darauf hin, dass hier politisch nichts geschieht, weil diese Grauzone der Betreuung eigentlich die Pflegeheime entlastet, es also bei einem strikten Verbot für viele Betroffene gar nicht möglich wäre, ad hoc einen Heimplatz zu finden. Ist dem so?

Kurz-Ketterer: Stimmt! Aber zum großen Teil ist es auch so, dass die Pflegebedürftigen nicht ins Heim möchten. Das Heim hat immer noch ein schlechtes Image. Das selbstbestimmte Leben ist vorbei im Heim. Es gibt so viele Vorschriften, dass nicht mehr der Wunsch des „Kunden“/Bewohners im Vordergrund steht. Zudem hat der Pflegenotstand nicht vor dem Heim Halt gemacht. Mangelnde Wertschätzung des Berufes in der Pflege hat hier ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen. Jedoch gibt es dieses Problem nicht nur im stationären Bereich. Die ambulante Versorgung braucht ebenfalls qualifizierte Kräfte, die der Aufgabe gewachsen sind. Aber auch hier ist keine Wertschätzung zu finden. Einen Waschlappen schwingen, das kann jeder. Aber eine gute Pflege leisten, kann nicht jeder.

epd: Der Bedarf an professioneller Pflege wird künftig noch deutlich steigen. Sicher ist es falsch, allein die Heimplätze auszubauen. Was müsste die Politik tun, um auch im ambulanten Bereich mehr Kapazitäten zu schaffen?

Kurz-Ketterer: Dazu müssen Personalkosten zu 100 Prozent refinanziert werden, wie in den Kliniken, auch, um die Abwerbung von Fachkräften zu vermeiden. Und wir brauchen gute Löhne, legal und bezahlbar. Um die ambulante Pflege zu stärken, sollte die Pflegeversicherung umgestaltet werden. Die klassische Pflege sollte wie im stationären Bereich von der Pflegekasse übernommen werden. Also: Körperpflege und Essen reichen gehören in die Pflegeversicherung. Haushaltsführung und vor allem Reinigung der Wohnung hat nichts mit Grundpflege zu tun.

epd: Die jüngste Pflegereform der Bundesregierung, die auch Heimbewohner bei den selbst zu tragenden Kosten entlasten soll, wird als „Reförmchen“ kritisiert. Das Thema bleibt also eines für die künftige Bundesregierung. Wie kann aus Ihrer Sicht eine wirklich wirksame Entlastung der Heimbewohner gelingen und wie lässt sich das refinanzieren?

Kurz-Ketterer: Durch den Ansatz ambulant vor stationär, so steht es im Gesetz. Leider wird das immer mehr vergessen. Nicht jeder muss 24 Stunden betreut werden. Auch im stationären Bereich passiert das nicht. Es gäbe viele Lösungen, wenn man hier mal mit den Praktikern sprechen würde. Auch gibt es viele weitere Versorgungsformen. Die sollten unterstützt werden und nicht durch Bürokratie unnötig verteuert werden. Über die Pflege reden viele, selten die Pflegefachkräfte - und nur ganz selten die Pflegebedürftigen selbst. Als rein ambulanter Verband wissen wir, wo die Probleme liegen. Viele ambulante Wohnformen könnten umgesetzt werden, wenn man die vielen vorhandenen Konzepte fördern würde. Leider reden hier aber Menschen mit, ohne dass Kunden, Heimbewohner oder Patienten am Ende davon etwas haben.