sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

alle Hoffnungen der Politik und auch vieler Bürgerinnen und Bürger im Kampf gegen Corona liegen auf dem Impfen. Inzwischen sind zwei Vakzine in Deutschland zugelassen. Doch die Hoffnungen auf schnelle Immunisierung aller sind zerstoben: Die Dosen reichen zum Auftakt nicht einmal für die besonders gefährdeten Zielgruppen aus. Es hagelt Kritik. Auch, weil bis heute ein Konzept fehlt, wie zum Beispiel Hochbetagte, die daheim leben und ihre Wohnung nicht mehr verlassen können, mobil geimpft werden können. In den Pflegeheimen sind die Impfaktionen angelaufen, wenn teilweise auch nur langsam. Auch das hat seine Gründe.

Die Corona-Schnelltests in Pflegeheimen bleiben ein Streitthema. Jetzt hat die Bundesregierung beschlossen, Personal zu fördern, das den Einrichtungen beim hohen Testaufwand hilft. Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Mönchengladbacher Sozial-Holding, hat zwar genügend Testkits, weil er früh bestellt hat. Doch mit der Teststrategie hat er so seine Probleme. Es sei nicht zu verstehen, warum primär Bewohnerinnen und Bewohner getestet werden sollen: "Wenn irgendjemand negativ ist, dann ist das der Heimbewohner - im Normalfall." Zielführender sei es, Personal und Besucher engmaschig zu testen: "Das Virus kommt immer von draußen", sagt er im Interview mit epd sozial.

Die Dienste der Wohnungslosenhilfe haben alle Hände voll zu tun. Denn die Zahlen von Familien, die dringend eine Bleibe brauchen, steigt. Ein großer Teil der Wohnungslosen - knapp 60 Prozent - lebt Statistiken zufolge bei Familienangehörigen, Partnern und Bekannten in prekären Mitwohnverhältnissen. Neun Prozent leben in Notunterkünften, darunter auch viele Flüchtlinge. Wie auch die sechsköpfige Familie Affizie in Bremen. epd-Redakteur Dieter Sell hat sich dort umgesehen.

Seit zwei Jahren gibt es das Teilhabegesetz. Es soll die Chancen Langzeitarbeitsloser auf eine Rückkehr in den Job verbessern. Die Bundesagentur für Arbeit ist mit dem bisherigen Verlauf des Programmes zufrieden: Im November waren 54.000 Personen in der Förderung. Einer, der es aus einer tiefen persönlichen Krise samt Jobverlust zurück in den Arbeitsmarkt geschafft hat, ist Sven Meinburg (44) aus Hamburg, der heute als Verkäufer arbeitet.

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Dirk Baas




sozial-Thema

Corona

Zwischen Hoffnung, Skepsis und fehlenden Impfstoffen




Corona-Impfung im Pflegezentrum Lore Malsch in Riemerling bei München
epd-bild/Klaus Honigschnabel
Die Impfstoffe gegen das Coronavirus wecken Hoffnungen und Ängste zugleich: Die einen sind zuversichtlich, dass sie mit den Mitteln immun werden und die Gesellschaft wieder zurückfindet zu ihrem gewohnten Gang. Andere trauen dem Serum nicht. Dazu kommt: Der Impfstart in Deutschland verlief alles andere als reibungslos.

Die neuen Corona-Impfstoffe wurden in Rekordzeit entwickelt. Seit dem 26. Dezember wird nun geimpft. Werden die Vakzine wirklich wirken? Sind sie sicher? Permanent klingelt bei der Deutschen Gesundheitshilfe in Frankfurt am Main derzeit das Telefon und Patienten melden sich mit solchen Fragen. Eine eindeutige, rundum beruhigende Antwort kann der Geschäftsführer des Vereins, Patrick Heinz, nicht geben. Doch er rät Anrufern, Vertrauen zu haben in die Politik und die Impfstoffhersteller. "Denn bestimmt will niemand, dass es durch die Impfung zu Schäden kommt", sagt er.

Nicht mehr unter Quarantäne gestellt zu werden, weil man "positiv" ist, endlich keine Angst mehr haben zu müssen, dass man krank wird oder als Virusträger andere krankmachen kann: Die mit dem Impfstoff verbundenen Hoffnungen sind riesig. Gleichzeitig ist die Impfbereitschaft allerdings im Sinkflug begriffen. Das geht aus Daten des Gemeinschaftsprojekts "Covid-19 Snapshot Monitoring" der Uni Erfurt hervor. Hätten sich im April noch 79 Prozent der Befragten impfen lassen, waren es am 15. September nur noch 56 Prozent. Inzwischen liegt der Wert unter der 50-Prozent-Marke. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen jüngst Wissenschaftler aus Heidelberg.

Impfskepsis bei Fachkräften

Dazu kommt eine Tatsache, die viele Branchenvertreter mit großer Sorge sehen: Die Impfbereitschaft beim Personal in Pflegeheimen und Kliniken, bei Fachkräften und Ärzten ist offenbar ebenfalls nicht sehr hoch - obwohl alle diese Personen permanent mit Infizierten oder Angehörigen von Risikogruppen zu tun haben. Aus einer Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin von Anfang Dezember geht hervor, dass sich rund die Hälfte der Pflegekräfte momentan nicht impfen lassen will.

Kritik kommt an den Abläufen der Impfungen. Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, betonte am 6. Januar in Berlin: "Gerade ältere und gebrechliche Menschen, die zu Hause gepflegt werden, müssen einfacheren Zugang zur Impfung erhalten." Dafür sei es zwingend erforderlich, dass Transporthilfen in die Impfzentren etwa durch Freifahrtscheine für Taxis zur Verfügung gestellt werden oder Rettungssanitäter diese Aufgabe übernehmen. "Hilfreich wäre auch, wenn Angehörige für die Fahrt ins Impfzentrum von der Arbeit freigestellt würden."

Im Fokus steht auch das Vergabesystem für die Impftermine. "Es kann nicht sein, dass Ältere mitunter stundenlang am Telefon sitzen, weil die Leitungen für die Terminvergabe überlastet sind." Den VdK hätten seit dem Impfstart zahlreiche Beschwerden erreicht. Bentele: "Wir fordern ein transparentes und bundeseinheitliches Konzept der Terminvergabe für ältere Pflegebedürftige."

Experten halten Impfstoff für sicher

Sicherheit hat bei der Entwicklung von Impfstoffen einen extrem hohen Stellenwert. In Deutschland ist das im hessischen Langen ansässige Paul-Ehrlich-Institut zuständig für die Zulassung von Impfstoffen. Zum Thema "Sicherheit" erreichte das Institut vor der Impfstoffzulassung laut Pressesprecherin Susanne Stöcker "unzählige Anfragen". Das Institut reagierte darauf, indem es seine Corona-FAQs um Fragen zur Sicherheit ergänzte.

Trotz massiver Aufklärung besteht die Angst, dass die Impfung ein Pyrrhus-Sieg über das Virus werden könnte - nämlich dann, wenn gravierende Nebenwirkungen auftreten. Der Münchner Kinderarzt Steffen Rabe teilt diese Ängste. "Kein Corona-Impfstoff hat das reguläre Zulassungsverfahren durchlaufen", sagt der Initiator des 2006 gegründeten Vereins "Ärzte für individuelle Impfentscheidung" mit nach eigener Angabe derzeit 1.300 Ärzten als Mitgliedern.

Besorgte Patienten bei Hausärzten

Trotz solcher beruhigender Worte scheint Skepsis weit verbreitet. Besorgte Patienten schlagen in Apotheken und Arztpraxen auf. "Wir Hausärztinnen und Hausärzte merken seit Wochen in unseren Praxen, wie groß die Verunsicherung ist,", berichtet Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands. Durch "gute Argumente" werde versucht, die Impfbereitschaft zu fördern. Zu diesen Argumenten gehört laut Weigeldt, dass die bisherige Studienlage zeigt: "Der neue Impfstoff ist sicher, und er schützt in einem hohen Maße vor Erkrankung."

Doch selbst wenn sich die Bürger nun vermehrt immunisieren lassen wollten - dazu kommt es in den nächsten Monaten nicht. Zum Start steht nur ein Bruchteil der Impfdosen bereit, die eigentlich benötigt werden. 1,3 Millionen Impfdosen wurden laut Bundesgesundheitsministerium wie vereinbart bis Ende 2020 ausgeliefert. Bis Ende Januar erwartet Spahn vier Millionen Impfdosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs. Inzwischen ist auch das Vakzin von Moderna von der EU zugelassen. Bis Ende März soll die US-Firma zwei Millionen Dosen nach Deutschland liefern.

Doch auch die werden nicht reichen, um alle besonders gefährdeten Personengruppen schnell zu immunisieren: 2018 gab es laut Statistischem Bundesamt allein rund 3,63 Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen in Deutschland mit direkten Patientenkontakt.

Aktion in Heimen läuft langsam an

Jetzt, so sieht es die Impfstrategie vor, sind zunächst über 80-Jährige an der Reihe, die in Heimen leben, und deren Pflegepersonal. Dazu die Hochaltrigen, die noch in den eigenen vier Wänden leben. Und selbst für ein zügiges, zweistufiges Impfen dieser Gruppen reichen die Impfstoffe derzeit nicht aus. Die Folge: Mobile Impfteams treten auf der Stelle, in vielen Impfzentrentren herrscht noch gähnende Leere.

Eine Folge davon ist auch die Diskrepanz zwischen gelieferten Impfdosen und bereits erfolgten Impfungen. Rund 367.300 Impfdosen sind laut Robert Koch-Institut bisher (Stand 6. Januar) verimpft worden. Dabei standen bereits 1,3 Millionen Impfdosen zur Verfügung.

"Mit der Entscheidung, zuerst in Pflegeheimen zu impfen, war klar, dass es langsamer losgeht. Dort müssen mobile Teams eingesetzt werden, das ist aufwändiger als im Impfzentrum", erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den eher schleppenden Start. Er sei aber zuversichtlich, dass noch im Januar alle Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen ein Impfangebot bekämen.

Heime müssen Termine vorbereiten

Dass die Immunisierung in den Pflegeheimen nur zögerlich anläuft, hat seine Gründe - unabhängig vom knappen Impfstoff. Die Heime müssen vorab alle Impfwilligen erfassen, inklusive des eigenen Personals. Dazu müssen in vielen Fällen auch die Einverständniserklärungen von Demenzpatienten bei Betreuern eingeholt werden. Diese Papiere gehen an die zuständigen Gesundheitsämter, die dann die Heime informieren, wann die Impfungen durch mobile Teams erfolgen.

All das braucht Zeit. Wieviel, ist derzeit offen. Niedersachsen will bis Ende Januar den größten Teil der Menschen in den Alten- und Pflegeheimen gegen Covid-19 geimpft haben. Die stellvertretende Leiterin des Corona-Krisenstabs der Landesregierung, Claudia Schröder, sagte am 5. Januar in Hannover: "Innerhalb der nächsten vier bis sechs Wochen werden wir durch sein." Erst danach sollen die Impfungen in den landesweit rund 50 Impfzentren beginnen.

Dirk Baas, Pat Christ


Corona

Impfbeginn: Wie die Teams in die Heime kommen



Seit dem 26. Dezember, als Sachsen-Anhalt als erstes Bundesland mit der Corona-Impfung bei hochbetagten Heimbewohnern begonnen hat, sind die mobilen Teams bundesweit im Einsatz. Doch das Impfen in den Heimen wird noch etliche Zeit brauchen, denn die Impfdosen reichen zunächst bei weitem nicht aus - woran bereits Kritik laut wird. epd sozial hat bei der Diakonie Niedersachsen nachgefragt, wie die Terminvergabe für die Heime erfolgt und wer die Einsätze der mobilen Teams steuert.

Wie bewertet die Diakonie die beschlossene Priorisierung beim Impfen?

Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke: "Wir begrüßen die Impfstrategie der Bundesregierung und Länder, die sich zunächst auf die Altenheime und die Pflegekräfte konzentriert. Denn hier ist die Gefahr einer Infektion mit schwerem Krankheitsverlauf besonders hoch. Und wir bitten die Mitarbeitenden im Gesundheitssystem, sich selbst impfen zu lassen. Für die Aufrechterhaltung der Versorgung wäre das ein wichtiger Beitrag." In Niedersachsen wurde den Angaben nach in jenen Landkreisen mit dem Impfen begonnen, in denen die meisten Infektionen gemeldet wurden. Aus dem Sozialministerium hieß es, dass bis zum 4. Januar weniger Dosen als erwartet geliefert wurden. Bis Ende März soll das Land rund eine Million Dosen erhalten.

Kann in Heimen geimpft werden, wo sich bereits Infizierte befinden?

Nein, in Einrichtungen, wo ein Infektionsgeschehen stattfindet, können zunächst keine Impfung stattfinden, das muss nachgeholt werden. Die Heime müssen vorab die zu impfenden Personen informieren und Einverständniserklärungen einholen. Sie erstellen Meldelisten als Planungsgrundlage für einen Impftermin.

Wie gehen die Teams mit Blick auf die zweite Impfung vor, die jede Person erhalten muss?

Die verfügbaren Impfdosen müssen halbiert werden, weil die begonnene Impfung mit der entsprechenden Charge des Impfstoffes auch für die zweite Impfung nach 21 Tagen genutzt werden muss. Danach ist das Risiko, ein Ausbruchsgeschehen in der Einrichtung zu haben, deutlich geringer, so die Diakonie.

Wie sieht es mit dem Nachschub der Vakzine aus?

Die Produktion und Auslieferung des Impfstoffes läuft pausenlos weiter. Es wird bereits seit mehreren Wochen im Hintergrund an den logistischen und organisatorischen Herausforderungen zur Umsetzung gearbeitet. In Heimen, wo derzeit kein Infektionsgeschehen ist, können die Impfungen also nach und nach erfolgen. Wann diese Aktion angeschossen sein wird, ist offen.

Wer wählt in Niedersachsen aus, in welchen Pflegeheimen beziehungsweise auch ambulanten Diensten zuerst geimpft wird?

Das erfolgt in Absprache mit den zuständigen Landkreisen. Sie stehen in engem Kontakt mit den Einrichtungen. Die wurden über die Verbände und die Landkreise bereits in der Woche vor Weihnachten mit den Informations-, Aufklärungs- und Einwilligungsformularen auf den Beginn der Impfungen vorbereitet. Die Koordination wird über die Landkreise, die auch für die Impfzentren und deren mobile Impfteams zuständig sind, gesteuert. Hierzu gibt es ein zentrales Terminmanagementsystem.

Müssen die Heime selbst aktiv werden oder regeln das die Gesundheitsämter?

Die Pflegeheime müssen die Meldelisten, die Angaben über zu impfende Beschäftigte und Bewohner enthalten, an die Gesundheitsämter zurücksenden. Bei Vorliegen dieser Papiere werden die Impftermine vergeben. Der zweite Impftermin und die damit verbundene Impfstoffmenge wird gleich mit reserviert.

Dirk Baas


Corona

Geriater: Hochbetagte mobil daheim impfen



Mehr als 71 Prozent der Hochbetagten möchte sich gegen COVID-19 impfen lassen. Das geht aus einer am 30. Dezember veröffentlichten nicht repräsentativen Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) unter geriatrischen Klinikpatienten hervor. "Doch die Logistik ist für die Hauptzielgruppe der hochaltrigen Patienten der ersten Impfkohorte nicht durchdacht", rügte Präsident Hans Jürgen Heppner, Chefarzt der Klinik für Geriatrie am Helios Klinikum Schwelm und Lehrstuhlinhaber für Geriatrie an der Universität Witten/Herdecke. Die Anmeldung für die Impfung, die Erreichbarkeit der Impfzentren sowie die erforderliche Mobilität stelle viele Seniorinnen und Senioren vor eine nahezu unlösbare Aufgabe.

Er forderte Bund und Länder auf, zügig effektive Möglichkeiten zu schaffen, die alten Menschen bei der Terminvereinbarung und dem Transport in die Impfzentren zu unterstützen.

Petra Benzinger von der Universität Heidelberg und Koordinatorin der Ad-hoc-Umfrage sagte, die hohe Impfmotivation in der Höchstrisikogruppe sei sehr ermutigend. Viele Befragte, die sich in klinischer Behandlung befanden, baten demnach um einen umgehenden Impftermin und einige erklärten sogar, länger in der Klinik bleiben zu wollen, wenn das zu einer Impfung führen würde.

"Arzt und Patient zusammenbringen"

Es gelte jetzt, Patient und Arzt zusammenzubringen. "Während die Bewohner von Pflegeheimen bereits geimpft werden, überlegt der Großteil der Zielgruppe 80+ zu Hause, wie sie die Impfung bekommen kann", erläuterte Clemens Becker, Chefarzt der Geriatrie am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart und Experte für Mobilität im Alter. "Viele der Impfzentren scheinen nicht barrierefrei gestaltet zu sein. Das ist ein echtes Problem."

Benzinger sprach sich dafür aus, auf kommunaler Ebene ergänzende Impfangebote für die Gruppe der noch selbstständig lebenden, hochbetagten Menschen zu schaffen.

Senioren mobil daheim impfen

"Warum sollten die mobilen Impfteams nicht auch in den nächsten Wochen am Morgen zentral ihre Spritzen aufziehen und dann Hausbesuche durchführen?“, fragte Heppner. Eine Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen könne bereits im Vorfeld schriftlich oder auch mit Hilfe eines kurzen Films erfolgen. „Wer dann noch Fragen hat, kann sie ja direkt stellen. Aber nicht jeder Impfwillige muss noch einmal einzeln lang und breit aufgeklärt werden."

Für die nicht repräsentative Erhebung wurden den Angaben nach 118 Personen in der Zeit zwischen dem 18. und 22. Dezember interviewt.

Dirk Baas


Corona

Sozialethiker Dabrock sieht "moralische Impfpflicht" bei Corona




Peter Dabrock
epd-bild/Peter Roggenthin
Der Ethiker und Theologe Peter Dabrock hält die Bereitschaft, sich gegen Corona impfen zu lassen, für ein Gebot der Solidarität.

Der Ethiker und Theologe Peter Dabrock, einstiger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, hält nichts von einer gesetztlichen Impflicht. Die die Bereitschaft der Bürger, sich gegen das Corona-Virus impfen zu lassen, sei für ihn ein Gebot der Solidarität, sagte Dabrock dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er sehe eine "moralische Impfpflicht". Und er fügte an: "Es kann doch keiner wollen, dass die Situation weiter so bleibt oder sogar eskaliert." Mit der Impfung könne jeder etwas dafür tun, dass sich die Zeit bis zu einer Normalisierung des Alltags verkürze.

Der Theologe ergänzte, die Impfungen müssten unterfüttert werden mit einer Informationskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Es sei noch immer nicht jedem bekannt, wie der neuartige mRNA-Impfstoff wirke und dass er wahrscheinlich viel sicherer sei als frühere Vakzine.

Schwere Krankheitsverläufe werden unterbunden

Wer sich gegen Corona impfen lasse, übertrage das Virus im besten Fall nicht mehr auf andere, sagte Dabrock. Zumindest aber falle ein Geimpfter dem Gesundheitssystem nicht zur Last, weil die Impfung nach bisherigem Wissensstand schwere Krankheitsverläufe verhindere. Mit der Abwägung zwischen Risiko und Chance einer Impfung müsse sich jeder befassen. "Wer sich nicht Rechenschaft darüber ablegt, wie proportional gering das eigene Risiko im Verhältnis zu dem von anderen und der Gesellschaft ist, handelt fahrlässig und unsolidarisch", sagte er.

Dabrock riet, das Risiko einer Impfung mit sonstigen Lebensrisiken abzugleichen. Der Test an Zehntausenden Geimpften habe gezeigt, dass die Nebenwirkungen ähnlich wie bei einer Grippe-Impfung seien. "Ich sollte also den statistischen Wahrscheinlichkeiten trauen wie ich es bei der Gondel tue, mit der ich auf einen Berg in den Alpen fahre. Da denke ich auch nicht, dass jeden Moment das Seil reißt", sagte der Erlanger Theologieprofessor.

Gegen Impfpflicht durch die Hintertür

Er selbst wolle sich impfen lassen, sobald er dran sei, sagte Dabrock und ergänzte, er finde es richtig, dass auch führende Politiker abwarten und sich nicht als erste impfen lassen: "Das ist eine starke Botschaft gegen das Vorurteil 'Die denken ja nur an sich'". In Deutschland sollen laut erlassener Verordnung zunächst vor allem Risikogruppen wie Hochaltrige geimpft werden.

Zur Diskussion über eine "Impfpflicht durch die Hintertür", bei der Unternehmen oder Veranstalter eine Impfung von Besuchern oder Kunden verlangen, sagte Dabrock, es werde wohl so kommen, dass Menschen durch den Impfpass oder Immunitätsausweis wieder mehr ihre grundrechtlich verbürgte Freiheit erfolgreich einklagen werden, wenn ausgeschlossen ist, dass sie andere anstecken können. "Wichtig ist aber, dass für alle Menschen ein diskriminierungsfreier Zugang gewährleistet wird", sagte er.

Dies könne man erreichen, indem in Hotels, Restaurants, vor Bundesligaspielen oder einem Konzert jeder, der nicht geimpft ist, einen Schnelltest machen kann. "Diese Tests müsste im Sinne des diskriminierungsfreien Zugangs der Veranstalter zahlen", sagte Dabrock.

Corinna Buschow



sozial-Politik

Armut

Wohnungslosigkeit: Hilfsanfragen von Familien nehmen zu




Wisdorne Affizie (re.) und sein Sohn Claudio vor einem Übergangswohnheim für Flüchtlinge in Bremen
epd-bild/Dieter Sell
Von einem eigenen Zimmer können Kinder wohnungsloser Familien nur träumen. Für sie und ihre Eltern besteht der Alltag aus der Enge einer Notunterkunft. Wie für die sechsköpfige Familie Affizie, die aus Westafrika nach Bremen gekommen ist.

Wer Familie Affizie besuchen will, scheitert derzeit an der Eingangstür. "Absolutes Besuchsverbot, wegen Corona", sagt der Mann vom Sicherheitsdienst. Er steht an der Pforte zu dem mehrstöckigen Übergangswohnheim in Bremen und bittet um Verständnis. Doch im Vorflur ist ein Treffen mit Wisdorne Affizie möglich, dem Vater der sechsköpfigen Familie. Er sei froh, hier untergekommen zu sein, meint der Mann, der aus Westafrika in die Stadt gekommen ist. Vor einiger Zeit haben er und seine Familie ihre Wohnung verloren.

So hat die Sozialbehörde sie zunächst in einem Übergangswohnheim für Geflüchtete untergebracht. Es sei eng, beschreibt Wisdorne Affizie die Situation: "Meine Frau und ich schlafen zusammen mit der einjährigen Tochter in einem Raum." Seine drei Söhne - drei, acht und 17 Jahre alt - sind im zweiten Zimmer untergebracht.

Kündigung nach Mietrückständen

Bei dem Wohnungsverlust hätten Mietrückstände eine Rolle gespielt, außerdem eine Krankheit und auch Corona, meint der 46-Jährige, der in Nachtschichten bei einem Paketdienst arbeitet. Maßgeblich unterstützt von der Zentralen Fachstelle Wohnen in Bremen bemüht er sich nun um ein neues Dach über dem Kopf - um eine Wohnung, in der die Familie selbst entscheiden kann, wann wer kommt. "Die Suche ist schwierig", sagt Affizie.

Die Normalität eines normmalen Familienlebens gibt es hier kaum. Die Affizies sind da keine Ausnahme. Zunehmend suchten Haushalte mit minderjährigen Kindern Unterstützung in den Einrichtungen und Diensten der Wohnungslosenhilfe, das ist die Erfahrung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) mit Sitz in Berlin.

Im aktuellen Jahresbericht des Verbandes zur Lebenslage von Menschen in Wohnungsnot heißt es, die Unterkunftssituation wohnungsloser Familien sei oft alarmierend. Ein großer Teil - knapp 60 Prozent - lebe bei Familienangehörigen, Partnern und Bekannten in prekären Mitwohnverhältnissen. Neun Prozent seien in Notunterkünften beziehungsweise in Übernachtungsstellen untergebracht, elf Prozent gänzlich ohne Obdach auf der Straße.

Hohes Risiko für Alleinerziehende

"Oft", erläutert BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke, "sind Alleinerziehende betroffen, die ohnehin das größte Armutsrisiko in Deutschland tragen." Auch der Anteil der Hilfesuchenden ohne deutsche Staatsbürgerschaft steigt.

Aber nach einem Schicksalsschlag wie einer Trennung oder Jobverlust könne es jeden treffen, sagt Sozialarbeiterin Julia Berner, die bei "RE_StaRT" in Hannover arbeitet. Das Hilfsprojekt kümmert sich um wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Besonders schwierig sei es, wenn Menschen hoch verschuldet seien.

Wie die schwangere Mutter von drei Kindern, die zunächst bei einer Freundin untergekommen ist. "Irgendwann ging das nicht mehr, dann stand sie praktisch auf der Straße", berichtet Berner. Sie konnte ihr eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in einer Notunterkunft vermitteln. Eine Atempause, immerhin.

Gerade jetzt in Corona-Zeiten, in denen Menschen in Kurzarbeit kommen oder ihren Job verlieren, können viele das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen. Denn meistens sind es Mietschulden, die zu einer fristlosen Kündigung führen.

Angespannter Wohnungsmarkt als Problem

Dazu komme die grundsätzlich schwierige Situation auf dem Wohnungsmarkt, sagt Joachim Barloschky, Sprecher des Bremer Aktionsbündnisses "Menschenrecht auf Wohnen": "Das ist dramatisch: Seit Jahren konkurrieren Studenten, Hartz-IV-Bezieher, kinderreiche Familien, Menschen mit kleiner Rente, Alleinerziehende und Geflüchtete um guten und gleichzeitig bezahlbaren Wohnraum." Mehr sozialer Wohnungsbau mit mindestens 30 Jahren Bindung, eine Sozialquote bei Neubauprojekten, ein befristeter Mietpreisstopp, all das könnte auf dem Wohnungsmarkt Entlastung bringen.

BAGW-Geschäftsführerin Rosenke fordert aber auch eine Ausweitung der präventiven Arbeit, damit Menschen gar nicht erst ihre Wohnung verlieren. Die leistet zum Beispiel die Zentrale Fachstelle Wohnen in Bremen, in der die Stadt und Akteure der Wohnungslosenhilfe zusammenarbeiten.

"Der Grundgedanke ist, dass wir Menschen, die obdachlos oder von Obdachlosigkeit bedroht sind, nicht durch die Stadt zu unterschiedlichen Anlaufstellen schicken wollen", erläutert der Sprecher der Sozialbehörde, Bernd Schneider. "Es kann direkt vor Ort geprüft werden, ob Ansprüche bestehen, eine erste Unterbringung organisiert und die Frage der Kostenträgerschaft geklärt werden." Damit werde vermieden, dass viele Menschen "verloren gehen", wenn sie von einer Einrichtung zu einer anderen geschickt würden. Generell versuche die Fachstelle Wohnen, eine Räumung im Vorfeld abzuwenden - was aber nur gelinge, wenn sie rechtzeitig eingeschaltet werde.

Manchmal allerdings fehlt es schlicht an Informationen, sowohl bei Mietern wie auch bei Vermietern. "Viele wissen gar nicht, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt, um Wohnungsverlust zu vermeiden", stellt Rosenke fest. Das mag ein Grund dafür sein, dass etliche Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, sich erst einmal ohne Hilfe durchschlagen, bei Freunden, Bekannten und Familienangehörigen unterkommen.

Wenn das nicht mehr funktioniert, bleibt die Notunterkunft - oder die Straße. Das konnte die Zentrale Fachstelle in Bremen beim Ehepaar Affizie und ihren vier Kindern verhindern.

Dieter Sell


Arbeit

Neue Perspektiven für Langzeitarbeitslose




Sven Meinburg
epd-bild/Mauricio Bustamante
Ein Arbeitsplatz als Verkäufer in einem ganz normalen Geschäft: Das ist der Zukunftstraum von Sven Meinburg. Dass der ehemals Langzeitarbeitslose trotz gebrochener Biografie durchaus Chancen hat, verdankt er auch dem Teilhabechancengesetz. Das gilt seit zwei Jahren.

Sven Meinburg ist zufrieden: "Für mich ist dieser Job hier genau richtig", sagt der 44-Jährige. Seit knapp zwei Jahren verkauft der ehemals Langzeitarbeitslose Second-Hand-Kleidung bei "Zweitwert", einem kleinen Laden des Beschäftigungsträgers "einfal" in Hamburg-Eimsbüttel. Seine Rückkehr auf den Arbeitsmarkt hat das vor zwei Jahren in Kraft getretene Teilhabechancengesetz möglich gemacht. Meinburg hatte mal eine schlimme Zeit: Arbeitgeber pleite, Ehe kaputt, Alkohol, Absturz. Er hat sich wieder hochgekämpft, Ein-Euro-Maßnahmen ergattert, und sagt über seinen heutigen Job: "Ein himmelweiter Unterschied. Hier habe ich viel mehr Verantwortung."

Sozialversicherungspflichtige Jobs für Langzeitarbeitslose schaffen: Das ist das Ziel des Teilhabechancengesetzes. Gut 54.000 Menschen bundesweit profitierten nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit im November von dem Programm. Innerhalb der vergangenen zwölf Monate ist die Zahl der Geförderten um rund 14.000 gestiegen - trotz Corona-Pandemie. In vier von fünf Fällen sind die Betroffenen vorher mindestens sechs Jahre arbeitslos gewesen. Das Programm laufe "bislang erfolgreich", sagte der Bundesagentur-Vorstandsvorsitzende Detlef Scheele dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Besonders erfreulich ist, dass die geförderten Beschäftigungsverhältnisse auch während der Pandemie weitestgehend stabil geblieben sind."

Dachverband zeigt sich zufrieden

Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Arbeit, der Dachverband von Sozialbetrieben in der Arbeits- und Bildungsförderung, zieht ebenfalls eine positive Zwischenbilanz: "Für die Menschen, die davon profitieren, ist es ein Riesengewinn", sagt Vorstandsmitglied Marc Hentschke, der die Geschäfte der "Neuen Arbeit" in Stuttgart führt, einem diakonischen Sozialunternehmen mit rund 1.400 Beschäftigten. Allerdings gebe es einen Konstruktionsfehler: Die Jobcenter zahlten die Förderung aus ihrem allgemeinen Budget und nicht aus einem gesonderten Topf. "Und im Verhältnis ist das ein teures Instrument."

Welche Folgen das hat, zeige sich nun in der Corona-Krise: Weil die Jobcenter für die kommenden Jahre mit weniger Haushaltsmitteln rechnen, werde es für Beschäftigungsträger zunehmend schwieriger, Fördermittel für Jobs nach dem Teilhabechancengesetz zu bekommen. "Wir merken schon jetzt eine Zurückhaltung bei den Jobcentern, weil jede Bewilligung heute Gelder bis 2024 bindet und den Handlungsspielraum reduziert", sagt Hentschke. Die Lösung des Problems liegt für ihn auf der Hand: "Hier wären getrennte Haushaltsmittel sinnvoll."

Keine Vollfinanzierung für Unternehmen

Und noch ein weiteres Problem gibt es: Arbeitgebern würden im günstigsten Fall zwar zunächst die kompletten Lohnkosten finanziert, nicht aber Einarbeitung und Anleitung der ehemals Langzeitarbeitslosen. "Für die freie Wirtschaft ist das Programm nur interessant, wenn der Mensch Output bringt", sagt Karen Risse, Geschäftsführerin des Hamburger Beschäftigungsträgers einfal. Immerhin: Mancherorts, etwa in Dresden oder im Kreis Herford, zahlen die Kommunen Sozialbetrieben einen Zuschuss obendrauf - aber eben nicht überall.

Wie viele der geförderten Jobs auf dem regulären Arbeitsmarkt entstanden sind, wird laut Bundesagentur nicht erfasst. Nach Einschätzung des Hamburger Jobcenters arbeiten in der Hansestadt rund ein Drittel der Geförderten bei sozialen Beschäftigungsträgern. Die anderen zwei Drittel hätten bei herkömmlichen Arbeitgebern eine Chance bekommen - "zum Großteil" bei Privatfirmen, teilte eine Sprecherin mit, aber auch bei öffentlichen Unternehmen wie der Stadtreinigung.

Der ehemalige Langzeitarbeitslose Sven Meinburg blickt mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Zwar wird sein Vertrag wohl verlängert werden. Doch ist klar, dass er über kurz oder lang einen regulären Job finden muss. Im Verkauf wolle er bleiben, sagt Meinburg, "gerne dort, wo auch mal längere Kundengespräche möglich sind". Und fügt an: "Ich bin guter Dinge. Ich traue mir das zu."

Ulrich Jonas


Arbeit

Hintergrund: Sozialversicherungspflichtige Jobs für Langzeitarbeitslose



Gut 910.000 Menschen in Deutschland gelten laut Bundesagentur für Arbeit (BA) als langzeitarbeitslos. Denen, die besonders lange ohne Job sind, soll das vor zwei Jahren in Kraft getretene Teilhabechancengesetz neue Chancen eröffnen. Gelingt das? Und wie funktioniert das Programm? Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Warum wurde das Programm gestartet? Seit vielen Jahren fordern Sozial- und Erwerbslosenverbände sozialversicherungspflichtige Jobs für Langzeitarbeitslose. Ihr Argument: Arbeitsplätze zu bezahlen, ist sinnvoller als Arbeitslosigkeit und kostet perspektivisch auch nicht mehr Geld. Mit dem Teilhabechancengesetz, das Anfang 2019 in Kraft trat, erfüllten Union und SPD diese Forderung. Bis zu 150.000 geförderte Jobs stellte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in Aussicht, gut 54.000 sind es derzeit. Mit dem Gesetz wurden zwei neue Förderinstrumente geschaffen: Die "Teilhabe am Arbeitsmarkt" (Paragraf 16i des Sozialgesetzbuches II) und die "Eingliederung von Langzeitarbeitslosen" (Paragraf 16e SGB II).

Wer kann gefördert werden? Das Programm richtet sich an Menschen, die seit mindestens zwei Jahren arbeitslos gemeldet sind. Wie viele theoretisch davon profitieren könnten, kann die Bundesagentur für Arbeit auf Nachfrage nicht sagen. Es dürften in jedem Fall mehrere hunderttausend Menschen sein. Das Programm bietet zwei verschiedene Modelle: Wer innerhalb der vergangenen sieben Jahre mindestens sechs Jahre lang arbeitslos war, kann vom Jobcenter bis zu fünf Jahre lang mit Lohnkostenzuschüssen gefördert werden. Diese Zuschüsse betragen in den ersten beiden Jahren 100 Prozent, im dritten Jahr 90, im vierten Jahr 80 und im fünften Jahr 70 Prozent. Für Menschen, die mindestens zwei Jahre arbeitslos waren, werden zwei Jahre lang Zuschüsse gewährt: 75 Prozent im ersten und 50 Prozent im zweiten Jahr. Zusätzlich zahlt der Bund Qualifizierungs- und Coachingkosten – aber keine Kosten für Anleitung oder Infrastruktur wie bei anderen Programmen.

Wer kann Langzeitarbeitslose mit Förderung einstellen? Das Programm richtet sich ausdrücklich auch an herkömmliche Arbeitgeber und nicht nur an soziale Betriebe. Wie sich die Arbeitgeber verteilen, wird laut BA nicht regelmäßig erfasst. Die aktuellsten Daten stammen aus dem Frühjahr dieses Jahres aus einer repräsentativen Arbeitgeberbefragung der BA. Allerdings wurde hier nur die "Teilhabe am Arbeitsmarkt" untersucht, also die Förderung von Hilfeempfängern, die mindestens sechs Jahre lang arbeitslos waren. Demnach sind 71 Prozent der Arbeitgeber private Betriebe, 22 Prozent kommunale oder öffentliche Arbeitgeber und sieben Prozent kirchliche Arbeitgeber. Jeder dritte Job entfällt auf einen sozialen Betrieb.

Laut BA-Daten aus dem Juni diesen Jahres fördern die Jobcenter bei der "Teilhabe am Arbeitsmarkt" vor allem Jobs im Bereich Erziehung und Soziales wie etwa der Haus- und Familienpflege, der Hauswirtschaft und der Kinderbetreuung, sowie in der Gebäudetechnik (z. B. Hausmeisterdienste). Die "Eingliederung von Langzeitarbeitslosen" nutzten vor allem Arbeitgeber aus dem Handel, Kfz-Werkstätten sowie Dienstleister im Garten- und Landschaftsbau, aber auch Sportvereine und Bildungseinrichtungen.

Wie lange läuft das Programm? Bis 2022 können die Jobcenter vier Milliarden Euro für die Förderung sozialversicherungspflichtiger Jobs für Langzeitarbeitslose ausgeben. Wie es danach weitergeht, ist unklar. Stimmen aus der Sozialbranche fordern Verlässlichkeit: Welches Parteienbündnis auch immer die Bundestagswahlen im kommenden Jahr gewinnen werde, müsse die Fortschreibung des Programms im Koalitionsvertrag festschreiben.

Ulrich Jonas


Gesetzesänderungen

Was sich 2021 im Arbeits- und Sozialrecht ändert



Im jetzt gestarteten Jahr ändern sich viele Regelungen für Beschäftigte, Rentnerinnen und Rentner, Familien mit Kindern und Beziehern von Sozial- und Familienleistungen. Sonderregelungen zur Abmilderung der Folgen der Corona-Krise werden verlängert. Dazu zählt auch das erhöhte und vereinfachte Kurzarbeitergeld. 2021 erhalten Geringverdiener erstmals die Grundrente. epd sozial hat die wesentlichen Neuerungen zusammengestellt.

Kurzarbeitergeld: Die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes von 60 auf 70 Prozent des Netto-Entgelts (für Beschäftigte mit mindestens einem Kind von 67 auf 77 Prozent) ab dem vierten Monat und auf 80 beziehungsweise 87 Prozent ab dem siebten Monat wird bis zum 31. Dezember 2021 verlängert. Das gilt für alle Beschäftigten, deren Anspruch auf Kurzarbeitergeld bis zum 31. März 2021 entstanden ist. Entgelte aus einer geringfügigen Beschäftigung während der Kurzarbeit werden nicht angerechnet.

Die Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld wird für Betriebe, die bis zum 31. Dezember 2020 mit Kurzarbeit begonnen haben, auf bis zu 24 Monate, längstens bis zum 31. Dezember 2021, verlängert. Der erleichterte Zugang bleibt ebenfalls erhalten. Die Bundesagentur für Arbeit bezahlt Kurzarbeitergeld, wenn ein Unternehmen für mindestens zehn Prozent der Belegschaft Kurzarbeit beantragt. Diese Regelung gilt nur in der Corona-Pandemie.

Die durch die Lohnkürzung reduzierten Sozialversicherungsbeiträge werden bis zum 30. Juni 2021 vollständig erstattet. In der zweiten Jahreshälfte werden die Sozialversicherungsbeiträge zur Hälfte erstattet, und zwar längstens bis zum 31. Dezember 2021 für Betriebe, die bis 30. Juni 2021 mit Kurzarbeit begonnen haben. Die hälftige Erstattung der Beiträge kann durch Qualifizierungsmaßnahmen der Beschäftigten auf 100 Prozent erhöht werden.

Grundsicherung/Asylbewerberleistungen: Seit dem 1. Januar gelten für Bezieherinnen und Bezieher der Grundsicherung sowie Langzeitarbeitslose höhere Regelsätze: Alleinstehende und alleinerziehende Leistungsberechtigte erhalten dann monatlich 446 Euro (bislang 432 Euro). Für zwei erwachsene Partner einer Bedarfsgemeinschaft werden jeweils 401 Euro gezahlt (bislang 389 Euro). Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren erhalten 373 Euro (328 Euro), Kinder zwischen 6 und 14 Jahren 309 Euro (308 Euro), Kinder unter sechs Jahren 283 Euro (250 Euro). Entsprechend wurden auch die Regelsätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zum 1. Januar 2021 angepasst.

Des Weiteren ist mit Blick auf die Corona-Krise der Zeitraum für den vereinfachten Zugang zu den Grundsicherungssystemen bis zum 31. März verlängert worden. Das richtet sich insbesondere an Solo-Selbstständige, die keine Einkünfte mehr haben.

Mindestlohn: Der gesetzliche Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro pro Stunde steigt am 1. Januar auf 9,50 Euro und zum 1. Juli 2021 auf 9,60 Euro. Im Jahr 2022 soll er auf 10,45 Euro steigen. Die kleinen Schritte im kommenden Jahr sollen in der Corona-Krise die Unternehmen nicht überfordern.

Grundrente: Zum 1. Januar ist die Grundrente in Kraft getreten. Dabei handelt es sich um einen Zuschlag zur Rente für diejenigen, die jahrzehntelang wenig verdient haben. Rund 1,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner werden davon profitieren. Der durchschnittliche Zuschlag beträgt monatlich etwa 75 Euro brutto, der höchstmögliche Zuschlag kann rund 418 Euro betragen. Die Grundrente geht vor allem an Frauen, die in weniger gut bezahlten Berufen gearbeitet haben oder der Familie wegen nur in Teilzeit tätig waren. Auch viele Rentnerinnen und Rentner in Ostdeutschland, die lange zu niedrigen Löhnen gearbeitet haben, sollen von dem Zuschlag profitieren.

Anspruch auf eine Grundrente besteht bei mindestens 33 Beitragsjahren. Es muss kein Antrag gestellt werden. Die Rentenversicherung prüft bis Ende 2022 automatisch etwa 26 Millionen Bestandsrenten und zahlt den Grundrentenzuschlag rückwirkend aus. Mit der Auszahlung ist voraussichtlich ab Mitte 2021 zu rechnen.

Rentenbeitrag: Der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung beträgt ab dem 1. Januar weiterhin 18,6 Prozent in der allgemeinen Rentenversicherung und 24,7 Prozent in der knappschaftlichen Rentenversicherung. Im Zuge der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters ("Rente mit 67") steigen im Jahr 2021 die Altersgrenzen um einen weiteren Monat auf 65 Jahre und 9 Monate (Jahrgang 1955) beziehungsweise 65 Jahre und zehn Monate (Jahrgang 1956).

Erwerbsminderung: Wer als junger Erwachsener erwerbsunfähig wird oder nur noch eingeschränkt arbeiten kann, hat keine ausreichenden Rentenanwartschaften aufbauen können. Deshalb werden Bezieher einer Erwerbsminderungsrente so gestellt, als hätten sie über den Eintritt der Erwerbsminderung hinaus so weitergearbeitet wie zuvor (Zurechnungszeit). Diese Zurechnungszeit wird analog zum Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2031 schrittweise bis auf 67 Jahre verlängert. Bei einem Beginn der Erwerbsminderungsrente im Jahr 2021 endet die Zurechnungszeit mit 65 Jahren und 10 Monaten.

Kindergeld/Kinderzuschlag: Das Kindergeld wurde zum Jahreswechsel um 15 Euro pro Kind und Monat erhöht. Es beträgt dann für das erste und zweite Kind 219 Euro, für das dritte Kind 225 Euro und für jedes weitere Kind 250 Euro. Entsprechend werden auch die steuerlichen Freibeträge für Kinder auf 8.388 Euro jährlich erhöht. Der Kinderzuschlag für Familien mit kleinen Einkommen steigt von 185 Euro auf 205 Euro pro Monat und Kind.

Unterhaltsvorschuss: Für Kinder alleinerziehender Elternteile steigt der Unterhaltsvorschuss ab dem 1. Januar um 9 bis 16 Euro pro Monat. Kinder unter sechs Jahren erhalten dann monatlich bis zu 174 Euro, Kinder von sechs bis elf Jahren bis zu 232 Euro und Jugendliche von 12 bis 17 Jahren bis zu 309 Euro.

Schwerbehinderten-Abgabe: In Deutschland sind Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, schwerbehinderte Menschen einzustellen. Fünf Prozent der Arbeitsplätze müssen mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden. Erfüllt das Unternehmen diese Quote nicht, muss die Ausgleichsabgabe entrichtet werden: je Monat und unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Zum 1. Januar 2021 steigt die Ausgleichsabgabe. Die Mindestabgabe steigt von 125 auf 140 Euro, die maximale Abgabe von 320 auf 360 Euro. Die Erhöhung wirkt aber erst im Jahr 2022, da diese für unbesetzte Arbeitsplätze im Jahr 2021 entrichtet wird.

Eigenbeteiligung für die unentgeltliche Beförderung: Schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, haben Anspruch darauf, im öffentlichen Personennahverkehr unentgeltlich befördert zu werden. Die Eigenbeteiligung für die unentgeltliche Beförderung erhöht sich von jährlich 80 auf 91 Euro.

Markus Jantzer


Gesetzesänderungen

Was sich 2021 bei Gesundheit und Pflege ändert



Mit dem Jahreswechsel haben sich etliche Regelungen im Gesundheits- und Pflegewesen geändert. Insbesondere die geplante Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ist dabei eine Reaktion auf die Corona-Pandemie. Eine Übersicht über die wesentlichen neuen Regelungen:

Elektronische Patientenakte: Die Krankenkassen sind verpflichtet, ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte (ePA) in mehreren Ausbaustufen zur Verfügung zu stellen. Die Versicherten haben nach Abschluss der ebenfalls am 1. Januar beginnenden Test- und Einführungsphase einen Anspruch darauf, dass Ärztinnen und Ärzte in die ePA Behandlungsdaten eintragen. Die Nutzung der ePA ist freiwillig. Der Versicherte entscheidet, welche Daten gespeichert oder wieder gelöscht werden. Er entscheidet auch in jedem Einzelfall, wer auf die elektronische Akte zugreifen darf.

Öffentlicher Gesundheitsdienst: Bis zum 31. Dezember 2021 sollen mindestens 1.500 neue und unbefristete Vollzeitstellen in den kommunalen Gesundheitsämtern geschaffen werden. Damit wird der Öffentliche Gesundheitsdienst für seine Aufgaben in der Corona-Pandemie gestärkt. Der Bund stellt hierfür 200 Millionen Euro zur Verfügung.

Altenpflege: In Pflegeheimen werden 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte finanziert. Die Personalkosten werden vollständig durch die Pflegeversicherung bezahlt, damit die Eigenanteile der Bewohnerinnen und Bewohner nicht steigen müssen. Die Finanzierung der Stellen soll ein erster Schritt sein zu verbindlichen Vorgaben, wie viel Fach- und Hilfspersonal in einem Heim jeweils eingesetzt werden muss.

Klinik-Hebammen: Krankenhäuser können zur Versorgung von Schwangeren mehr Personal einstellen. Neue Hebammenstellen werden drei Jahre lang mit je 100 Millionen Euro gefördert. Mit dem Programm können etwa 600 zusätzliche Hebammenstellen und bis zu 1.750 weitere Stellen für Fachpersonal in Geburtshilfeabteilungen geschaffen werden.

Gesetzliche Krankenversicherung: Um die gesetzliche Krankenversicherung in und nach der Corona-Krise finanziell zu stabilisieren, erhalten die Kassen einen ergänzenden Bundeszuschuss in Höhe von fünf Milliarden Euro. Außerdem müssen die Krankenkassen im kommenden Jahr selbst aus ihren Finanzreserven acht Milliarden Euro beisteuern und dem Gesundheitsfonds zuführen.

Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung wird um 0,2 Prozentpunkte auf 1,3 Prozent des Einkommens angehoben. Wie hoch der individuelle Zusatzbeitragssatz tatsächlich ausfällt, legt jede Krankenkasse selbst fest.

Markus Jantzer


Corona

Das sind die verschärften Regeln für den Januar



Die Corona-Pandemie sorgt in Deutschland weiter für einen Stillstand des öffentlichen Lebens. Bund und Länder haben sich am 5. Januar darauf verständigt, den Lockdown bis zum 31. Januar zu verlängern. Kontakte sollen sogar noch stärker begrenzt, innerdeutsche Reisen und Ausflüge aus Regionen mit besonders vielen Neuansteckungen verboten werden. Das sind die Regeln für den Januar:

Schließungen: Freizeit-, Kultur- und Sporteinrichtungen, Restaurants, Kneipen und Bars bleiben weiter geschlossen. Das gilt auch für den Einzelhandel mit Ausnahme der Geschäfte, die notwendige Waren oder Dienstleistungen anbieten wie beispielsweise Lebensmittelläden, Optiker, Drogerien, Banken oder Werkstätten für Autos und Fahrräder.

Kontaktbeschränkungen: Die Treffen werden weiter eingeschränkt. Künftig sollen sich Angehörige eines Haushalts oder Einzelpersonen nur noch mit einer weiteren Person aus einem anderen Haushalt treffen dürfen. Bislang galt als Maximum fünf Personen aus zwei Haushalten, wobei Kinder unter 14 Jahren nicht mitgezählt wurden. Die am Dienstag beschlossene Verschärfung ähnelt den strikten Kontaktbeschränkungen aus dem Lockdown im Frühjahr.

Begrenzter Bewegungsradius: In Regionen mit mehr als 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche soll der Bewegungsradius der Bürger eingeschränkt werden. Sie dürfen ihren Wohnort dann nur noch im Umkreis von 15 Kilometern verlassen. Ausnahmen gibt es für triftige Gründe wie Arzttermine, notwendige Einkäufe oder den Weg zur Arbeit - aber explizit nicht für touristische Tagesausflüge. Durch die Unterbindung auch innerdeutscher Reisen soll die weitere Ausbreitung des Coronavirus verhindert werden. Am 5. Januar lag die Inzidenz in über 70 Land- und Stadtkreisen bei mehr als 200. Die Liste führen insbesondere Landkreise in Sachsen, Thüringen und Bayern an.

Schulen und Kitas: Schulen und Kindertagesstätten bleiben ebenfalls geschlossen und bieten nur eine Notbetreuung an. Der Bund will nun gesetzlich regeln, dass in diesem Jahr das Kinderkrankengeld für zehn zusätzliche Tage pro Elternteil und 20 zusätzliche Tage für Alleinerziehende gewährt wird. Dies soll auch für die Zeit gelten, in der Väter oder Mütter wegen des Lockdowns ihr Kind zu Hause betreuen müssen.

Pflegeheime: Für mehr Sicherheit in Pflegeheimen sollen freiwillige Helferinnen und Helfer das Personal in Pflegeheimen bei den Schnelltests unterstützen. Hilfsorganisationen in Deutschland übernehmen die dafür notwendigen Schulungen, die Bundesagentur für Arbeit hilft bei der Vermittlung.

Arbeit: Erneut werden Arbeitgeber dringend gebeten "großzügige" Möglichkeiten für Home-Office zu schaffen. Betriebskantinen sollen, wo immer möglich, geschlossen werden.



Corona

Ethikrat: Altenheime brauchen dringend mehr Hilfe von außen



Angesichts der Überlastung des Pflegepersonals und der wegen hoher Ansteckungszahlen erneut drohenden Isolation von alten Menschen in Pflegeheimen fordert der Deutsche Ethikrat mehr Unterstützung durch externe Kräfte.

Der Deutsche Ethikrat fordert in der Corona-Pandemie mehr Unterstützung für die Pflegeheime. Bund und Länder müssten schnellstens einen Rahmen dafür schaffen, dass Ehrenamtliche und Freiwillige in den Einrichtungen helfen und das Pflegepersonal entlasten könnten, heißt es in einer am 18. Dezember in Berlin vorgestellten Empfehlung des Ethikrats. Dabei müssten die Sicherheitsstandards zum Schutz vor Infektionen gewährleistet werden.

Die Langzeitpflege sei ein "ethischer Brennpunkt", sagte die Vorsitzende des Ethikrats, Alena Buyx. Pflegebedürftige Menschen und Bewohner von Altenheimen hätten das höchste Risiko, an einer Corona-Infektion zu sterben und seien zugleich besonders hart von den Schutzmaßnahmen, insbesondere dem Gebot der physischen Distanz, betroffen. Für die alten Menschen erhöhe sich die Gefahr von Isolation, fehlender Gemeinschaftserlebnisse und einer erheblichen Verschlechterung der Gesundheit. Ein Mindestmaß an Kontakten müsse daher gewahrt und auch kontrolliert werden, forderte Buyx bei der Vorstellung der Empfehlung des Ethikrats über ein "Mindestmaß sozialer Kontakte in der Langzeitpflege während der Covid-19-Pandemie".

Appell an die Politik

Die Mitglieder des Gremiums richteten einen eindringlichen Appell an Politik und Gesellschaft, Bewohnern und Personal in Pflegeheimen jetzt zu helfen. Sie sollten durch externe Kräfte, etwa Medizinstudenten, Ehrenamtliche oder ehemalige Beschäftigte des Gesundheitswesens unterstützt werden. Entlohnung und Zusatzkosten müssten von der Pflegeversicherung übernommen werden. Für die Ermöglichung von Besuchen im Heim seien Corona-Tests das wichtigste Instrument. Die Durchführung müsse durch zusätzliche Helferinnen und Helfer gesichert werden.

Der Gerontologe Andreas Kruse betonte, der Ethikrat sage nicht, dass die Pflegekräfte nun noch mehr leisten müssten. Vielmehr sollten sie dringend von außen unterstützt werden - nicht nur bei den Testungen, sondern auch um die Arbeit im Heim aufrechterhalten zu können. Auf Gruppenangebote etwa dürfe "keinesfalls verzichtet werden", betonte Kruse. Die Aktivierung der Pflegebedürftigen gehöre zu den Kernaufgaben einer menschenwürdigen Pflege. Außerdem müsse die Begleitung von sterbenden Menschen gesichert sein. Sie in dieser Grenzsituation allein zu lassen, sei "ethisch und fachlich ein Unding" und auch für das Personal "eine unerträgliche Erfahrung", sagte Kruse. Sterbende bräuchten Beistand, wo gewünscht auch eine seelsorgerliche Begleitung.

Mindestmaß an sozialen Kontakten sichern

In seiner Stellungnahme begrüßte der Ethikrat, dass im Infektionsschutzgesetz inzwischen ein Mindestmaß an sozialen Kontakten festgeschrieben wurde. Die Vorschrift erfasse aber die konkreten Probleme nicht, etwa bei zusätzlich verfügten Besuchsbeschränkungen. Offen bleibe, wie dieses Mindestmaß bestimmt und im Alltag der Einrichtungen gesichert werde, gibt der Ethikrat zu bedenken.

Das Bundesgesundheitsministerium hatte Anfang Dezember eine Handreichung des Pflegebeauftragten Andreas Westerfellhaus (CDU) für Besuchskonzepte in Pflegeheimen vorgestellt. Ziel ist, dass Bewohner und Bewohnerinnen trotz des notwendigen Infektionsschutzes Besuche erhalten. Sozialverbände hatten kritisiert, das Papier komme spät und gebe zudem keine Hinweise, wie Corona-Tests eingesetzt und durchgeführt werden sollen.

Der niedersächsische Landesverband der privaten Anbieter in der Pflege (bpa) rief in Hannover Bürgerinnen und Bürger mit medizinisch-pflegerischen Vorkenntnissen auf, sich bei ambulanten Pflegediensten oder Heimen in der Region zu melden, um bei den Corona-Testungen zu helfen.

Bettina Markmeyer


Corona

IAB-Direktor: Pandemie trifft Berufseinsteiger besonders hart



Berufseinsteiger haben nach Einschätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) wegen der Corona-Krise besonders schlechte Chancen, eine Stelle zu finden. "Die Jobangebote für Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger sind drastisch zurückgegangen und damit auch die Zahl der Neueinstellungen", sagte IAB-Direktor Bernd Fitzenberger dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Nürnberg. Der Direktor der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit sprach angesichts der aktuellen Situation von einer "Einstellungskrise". Jährlich gibt es laut IAB bis zu 900.000 Berufseinsteiger.

Wie stark die Zahl der für Berufseinsteiger ausgeschriebenen Stellen zurückgegangen ist, erhebt das IAB nicht. Die Zahl der Stellenangebote sei insgesamt zwischen April und Juni 2020 um 500.000 Stellen auf rund 890.000 Angebote zurückgegangen – das entspreche einem Rückgang von 36 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Vorjahresquartal. "Das ist ein Rückgang, wie wir ihn seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 nicht gesehen haben", sagte Fitzenberger. Bis September habe sich die Zahl zwar leicht erholt, mit 930.000 offenen Stellen sei sie aber um 31 Prozent (430.000 Stellen) niedriger als zum Vorjahreszeitpunkt.

Weniger Aufträge, weniger Personal

In vielen Betrieben sei die Nachfrage nach Produkten infolge der Corona-Beschränkungen gesunken, erklärte der IAB-Direktor. Um den Auftragsrückgang abzufedern, hätten die Unternehmen zunächst die Einstellungen von neuem Personal reduziert. "Bevor sie jemanden entlassen, fahren sie die Einstellungen zurück", sagte er. Gleichzeitig gebe es infolge der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt weniger Arbeitnehmer, die ihre Stellen wechselten, um etwa ihre Karriere voranzutreiben. Das führe wiederum zu weniger Einstiegsmöglichkeiten für neue Bewerber, fügte der 57-Jährige hinzu, der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Professor für Quantitative Arbeitsökonomik lehrt.

Fitzenberger rät jungen Erwachsenen, die nach ihrem Berufsabschluss aktuell keinen Job finden, ihre Qualifizierung voranzutreiben. "Um sich für den Moment, wenn die Einstellungskrise beendet ist und Firmen wieder Personal einstellen, in eine gute Position zu bringen, ist Qualifizierung entscheidend."

Patricia Averesch


Asyl

Menschenrechts-Institut: Familiennachzug dringend reformieren



Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIM) fordert von der Bundesregierung Gesetzesreformen, um mehr Familiennachzüge von Flüchtlingen möglich zu machen. "Die Zahl der erteilten Visa zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ist im ersten Halbjahr 2020 weiter rapide zurückgegangen", sagte Anna Suerhoff, Mitarbeiterin des Instituts, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Laut Angaben der Bundesregierung wurden im ersten Quartal des Vorjahres 1.856 Visa erteilt, im zweiten Quartal 2020 lediglich 42. Besonders betroffen seien unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, etwa in Elendslagern auf den griechischen Inseln.

Auch als Folge der Corona-Pandemie unterlaufe die Regierung ihre eigenen Ziele. Am 1. August 2018 trat das "Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten" in Kraft. Maximal 1.000 Personen im Monat können seither zu Familienmitgliedern nach Deutschland ziehen. Möglich ist das für Eltern von minderjährigen Kindern, die ohne Sorgeberechtigte in Deutschland leben. Auch Kinder können nachkommen, oder Ehepartner, wenn die Ehe vor der Flucht geschlossen wurde.

Heute zeige sich, dass das komplizierte Verfahren bei der Antragsprüfung sowohl die Betroffenen als auch die Behörden vor große Schwierigkeiten stelle, urteilte Suerhoff. "Der Gesetzgeber sollte subsidiär Schutzberechtigte wieder mit anerkannten Flüchtlingen gleichstellen, zur Gesetzeslage von 2015 zurückkehren und damit von jeglicher Art der Kontingentierung absehen", sagte die Expertin.

Zusammenführung ist alternativlos

In einer vom DIM veröffentlichten Stellungnahme heißt es, weder die gesetzlichen Regelungen noch die behördlichen Entscheidungen berücksichtigten hinreichend, dass die Familien wegen Verfolgung und Krieg in ihrem Herkunftsland keine andere Möglichkeit haben, als in Deutschland als Familie zusammenzuleben.

Zur Begründung für die niedrigen Visa-Zahlen sagte Suerhoff, die Anträge hätten nur eine beschränkte zeitliche Gültigkeit. Deshalb müssten Betroffene Personen jetzt nach dem Jahreswechsel eine erneute Visa-Ausstellung bei den Auslandsvertretungen beantragen.

Dirk Baas


Integration

Fachkräfte-Einwanderung wird zentral in Kaiserslautern bearbeitet



Zum Jahreswechsel sollen alle Anträge für die Einwanderung ausländischer Fachkräfte nach Rheinland-Pfalz zentral über das Ausländeramt der Stadt Kaiserslautern bearbeitet werden. Die Behörde sei künftig unter anderem für die Beratung von Arbeitgebern und die Prüfung der Berufsabschlüsse ausländischer Stellen-Interessenten zuständig, teilte das Mainzer Integrationsministerium am 29. Dezember mit. Die Neuorganisation soll dazu beitragen, die bislang oft sehr langen Bearbeitungszeiten zu verkürzen.

Nach Auskunft der Stadt Kaiserslautern soll anfangs ein fünfköpfiges Team für das neue Aufgabenfeld zuständig sein. "Wenn die Anzahl der Verfahren über diese Kapazitäten hinausgeht, besteht die Möglichkeit, das Personal zügig zu erweitern", teilte ein Sprecher der Stadtverwaltung auf Nachfrage dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit. Die Behörde rechne mit den ersten Anträgen unmittelbar nach Neujahr. Das Integrationsministerium hatte bereits Anfang 2020 angekündigt, die Anträge auf Einwanderung ausländischer Fachkräfte landesweit künftig in einer oder zwei Ausländerbehörden zu bündeln.

Anlass für die Maßnahme war das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das im Frühjahr in Kraft getreten war und Unternehmen die Einstellung von Mitarbeitern aus Nicht-EU-Staaten erleichtern soll. Unternehmen müssen seither nicht mehr nachweisen, dass sie für eine offene Stelle keine passenden deutschen Bewerber oder Personen aus EU-Ländern finden können. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie führte die Neuregelung bislang aber noch nicht zu dem erwarteten Anstieg der Fallzahlen.




sozial-Branche

Corona

Diakonie fordert Computer und Internet für alle




Schülerin mit Tablet, auf dem eine Lernsoftware läuft
epd-bild/Anke Bingel
Die Corona-Pandemie beschleunigt die Ausgrenzung von Menschen, die digital nicht mithalten können, sagt die Diakonie und fordert, dass der Staat Computer und Internet für alle garantiert. Digital dabei zu sein, sei heute Teil des Existenzminimums.

Die Diakonie fordert ein Milliardenprogramm, um allen Menschen in Deutschland Zugang zu Computern und Internet zu verschaffen. Digitale Beteiligungsmöglichkeiten seien Teil des Existenzminimums, erklärte der evangelische Wohlfahrtsverband am 5. Januar in Berlin. Die Corona-Pandemie habe den Handlungsdruck erhöht. Menschen, die in Armut oder in prekären Verhältnissen leben, seien ohne Computer und WLAN von fast allem ausgeschlossen, angefangen von Behördengängen bis hin zu digitalen Beratungs- und Kulturangeboten sowie Freundestreffen.

Dramatisch sei die Situation für Schülerinnen und Schüler, sagte Vorstandsmitglied Maria Loheide mit Blick auf die Videokonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder, auf der angesichts der weiterhin hohen Infektionszahlen auch über die Fortsetzung des Unterrichts in den Schulen entschieden werden soll.

Bildungspaket sorgt nicht für Computer

Bei Homeschooling, Unterrichtsausfall, Quarantäne oder Unterricht im Wechselmodell brauchten alle Schülerinnen und Schüler einen Computer und einen Drucker, erklärte Loheide. Dies sei aber im Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder aus armen Familien nicht vorgesehen. Die Diakonie fordert deshalb eine digitale Grundversorgung der Schüler, die über den Digitalpakt für Schulen bisher keine Endgeräte bekommen haben.

Binnen vier Jahren müsse allen Bevölkerungsgruppen öffentliches WLAN und eine digitale Mindestausstattung aus Computer oder Laptop mit einem Drucker flächendeckend zur Verfügung stehen, fordert die Diakonie. Bund, Länder und Kommunen müssten handeln. Der Verband kalkuliert die Kosten für die öffentliche Hand auf sechs Milliarden Euro.

Kosten von zwei Milliarden Euro

Den Berechnungen der Diakonie zufolge hätten rund sechs Millionen Empfänger von Hartz-IV-Leistungen Anspruch auf einen Computer und Drucker, außerdem weitere 1,8 Millionen Menschen, die den Kinderzuschlag oder Wohngeld für einkommensarme Familien beziehen. Bei 400 Euro pro Kopf lägen die Anschaffungskosten bei zwei Milliarden Euro, weil die Hälfte der insgesamt rund drei Millionen bedürftigen Kinder bereits im Rahmen des Digitalpakts für Schulen mit Endgeräten versorgt worden sei.

Weitere vier Milliarden Euro veranschlagt die Diakonie für Schulungsangebote, die sich an insgesamt zehn Millionen Menschen richten müssten sowie für die Übernahme von Gebühren für Hartz-IV-Empfänger und den Ausbau öffentlich zugänglicher WLAN-Angebote.

Der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober, unterstützte die Diakonie, machte aber einen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Kinder bräuchten den Zugriff auf digitale Endgeräte zur schulischen Nutzung, sagte er. Erwachsene Sozialleistungsbezieher erreiche man aber bereits gut mit Smartphones. Intelligente Lösungen, etwa für die Antragstellung bei Behörden, könnten hier weiterhelfen, erklärte Kober.

In den Hartz-IV-Regelsätzen werden seit Jahresanfang erstmals Ausgaben für die Handy-Nutzung berücksichtigt, weil sie laut Gesetz inzwischen zum soziokulturellen Existenzminimum zäht. Insgesamt stehen einem Erwachsenen 38,89 Euro im Monat für Post- und Telekommunikationsleistungen zu. Der Regelsatz beträgt 446 Euro, Miete und Heizkosten werden zusätzlich übernommen.

Bettina Markmeyer


Corona

Studie: Pandemie verschärft wirtschaftliche Lage der Krankenhäuser




Trigeminus-Operation in Hannover
epd-bild/Jens Schulze
Das Phänomen ist nicht neu, verstärkt sich aber durch Corona: Kliniken beklagen eine zunehmende wirtschaftliche Schieflage. Die Opposition sieht Handlungsbedarf und fordert durchgreifende Reformen zur Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens.

Einer neuen Studie zufolge geraten viele Kliniken in Deutschland wegen der anhaltenden Corona-Pandemie in wirtschaftliche Schieflage. Hauptgrund seien Einnahmeverluste durch verschobene Operationen, teilte die Deutsche Krankenhausgesellschaft am 29. Dezember in Berlin mit. Sie verwies auf die Resultate des jüngsten Krankenhaus-Barometers des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI). Die Linkspartei und die Grünen fordern ein generell anderes Finanzierungssystem des Gesundheitswesens.

Nach der Studie hat die Pandemie nicht nur Auswirkungen auf die Allgemein- und Intensivstationen. Auch in den OP-Bereichen führte sie zu merklichen Beeinträchtigungen. In der ersten Pandemiewelle von März bis Mai 2020 ist die Zahl der stationär durchgeführten Operationen den Angaben nach im Durchschnitt um 41 Prozent und bei ambulanten Operationen um 58 Prozent zurückgegangen. "Allein in diesem Zeitraum lagen die Erlösverluste bei den betroffenen Kliniken bei etwa 2,5 Millionen Euro pro Haus", teilte die DKG mit.

Schlechte OP-Auslastung

Die meisten Kliniken hätten die OP-Auslastung von 2018 noch nicht erreicht. Grund hierfür seien nach wie vor die Zurückhaltung der Patienten bei planbaren Operationen, erforderliche Schutzmaßnahmen und gestiegene Hygiene-Anforderungen sowie Freihaltekapazitäten für Corona-Patienten in den Intensivbereichen. Der Dachverband geht davon aus, dass die hohen Infektionszahlen einen normalen OP-Betrieb vielerorts weiter erschweren werden.

"Die Krankenhäuser stehen vor einer ungewissen Zukunft. Es ist zu befürchten, dass sich die Entwicklung aus der ersten Welle während der zweiten Welle verstärkt. Die Versorgung hilfsbedürftiger Patienten ist in unseren Kliniken aber zu keinem Zeitpunkt gefährdet", erklärte der DKG-Präsident Gerald Gaß.

Schon vor der Krise sei die Lage vieler, meist kleinerer Krankenhäuser nicht rosig gewesen. Jetzt aber hätten sich die Probleme dramatisch zugespitzt. Bereits 2019 hat laut DKG fast jede zweite Klinik (44 Prozent) rote Zahlen geschrieben. Aktuell erwartet weniger als ein Drittel der Häuser für 2020 ein positives Jahresergebnis. Nur noch 18 Prozent der Kliniken beurteilen ihre aktuelle wirtschaftliche Lage als gut.

Negativtrend verschärft sich

Damit setzt sich der Abwärtstrend der vergangenen Jahre fort. Seit 2016 ist der Anteil der Krankenhäuser mit positivem Jahresergebnis von 61 (DKI-Umfrage 2017) auf aktuell 29 Prozent gesunken. Umgekehrt ist der Anteil der Häuser in schwieriger wirtschaftlicher Lage kontinuierlich gestiegen. Für 2021 erwartet nur knapp ein Viertel der Krankenhäuser eine wirtschaftliche Verbesserung.

"Weil nicht alle Corona-bedingten Erlösausfälle und Mehrkosten eins zu eins gedeckt werden, ist davon auszugehen, dass sich für viele Kliniken die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert", sagte Gaß. Vor diesem Hintergrund forderte der DKG-Präsident weitere unterstützende Maßnahmen zur Bewältigung der Lasten der Pandemie.

Gleichzeitig hat der Fachkräftemangel laut DKI-Studie im Krankenhaus die OP-Bereiche erreicht. 2020 konnte fast jede zweite Klinik offene Stellen im nicht-ärztlichen OP- und Anästhesiedienst nicht besetzen. Bundesweit sind hier 3.000 Vollzeitstellen unbesetzt.

Die Ergebnisse des Krankenhaus-Barometers 2020 beruhen nach den Angaben auf einer schriftlichen Umfrage. Beteiligt haben sich insgesamt 438 Krankenhäuser ab einer Größe von 100 Betten.

Riexinger für grundlegende Reformen

Bernd Riexinger, Vorsitzender der Links-Partei, sagte, dass Krankenhäuser in einer Pandemie pleite gehen, sei absurd. "Der Gesundheitsminister muss sofort handeln und das System der Fallkostenpauschale aussetzen. Den Krankenhäusern muss finanziell geholfen werden."

Mittelfristig brauche es eine solidarische Gesundheitsversicherung, in die alle mit allen Einkommen einzahlen. "Dann können Krankenhäuser bedarfsgerecht finanziert werden", sagte der Parteichef.

Maria Klein-Schmeink, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Gesundheitspolitik der Grünen, sagte, der drohende Finanzierungsengpass bei den Krankenhäusern zeige sehr deutlich, "dass es einen drängenden Reformbedarf in der Krankenhauspolitik und bei der Krankenhausfinanzierung gibt".

Grüne sehen dringenden Handlungsbedarf

Es sei gut, dass Minister Spahn schnell klar gestellt habe, dass die drohenden Liquiditätsprobleme im neuen Jahr angegangen werden sollen. "Alles andere wäre unverantwortlich. Die Krankenhäuser müssen handlungsfähig bleiben", fordert die Grünen-Politikerin. Es müsse sichergestellt werden, dass Krankenhäuser, die zur Sicherstellung der Versorgung nötig seien, nicht aus finanziellen Schwierigkeiten schließen müssten.

Klein-Schmeink warb für eine andere Finanzierung der Gesundheitspolitik: "Wir haben Vorschläge für die Reform des Entgeltsystems und der Krankenhausplanung vorgelegt. Wir halten einen deutlich höheren Anteil an einer fallzahlunabhängigen Finanzierung der Vorhaltekosten und eine stärkere Differenzierung nach Versorgungsstufen für notwendig."

Dirk Baas


Corona

Interview

Geschäftsführer: Statt Bewohner vorrangig Pflegepersonal und Besucher testen




Helmut Wallrafen
epd-bild/Sozial-Holding
Helmut Wallrafen ist Geschäftsführer von sieben städtischen Heimen in Mönchengladbach. Seine Sozial-Holding hat 900 Beschäftigte und betreut 620 Seniorinnen. Über Schnelltests in Heimen, fragwürdige Teststrategien und Versäumnisse der Politik im Kampf gegen Corona spricht er im Interview mit epd sozial.

Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Mönchengladbacher Sozial-Holding, ist froh, dass er rechtzeitig Schnelltests geordert hat. Doch mit der Teststrategie hat er so seine Probleme. Es sei nicht zu verstehen, warum primär Bewohnerinnen und Bewohner getestet werden sollen: "Wenn irgendjemand negativ ist, dann ist das der Heimbewohner - im Normalfall." Zielführender sei es, Personal und Besucher engmaschig zu testen: "Das Virus kommt immer von draußen." Die Fragen stellte Dirk Baas

epd sozial: Herr Wallrafen, fast überall in Deutschland klagt die Pflegebranche, dass Schnelltests fehlen oder kein Fachpersonal für die Tests abgezogen werden kann. Ihre Sozial-Holding Mönchengladbach kennt diese Probleme nicht. Wie ist das zu erklären?

Helmut Wallrafen: Das hat zwei Gründe: Zum einen haben wir scheinbar früher als andere Heimträger erkannt, dass es zu Engpässen bei den Schnelltests kommen wird. Das galt übrigens auch für die früheren Probleme, ausreichend Schutzkittel, Masken und Einmalhandschuhen zu kriegen. Dieses Material haben wir schon gekauft und eingelagert, als andere Träger noch gar an die Bestellungen gedacht haben. Und wir haben durch unsere vielen Kontakte und ein gutes Image sicher so was wie einen Wettbewerbsvorteil. Den haben wir genutzt, und deshalb können wir schon seit Wochen in unseren Heimen testen.

epd: Das heißt, auch andere Einrichtungsträger hätten so viel Weitsicht haben können, ja müssen?

Wallrafen: Sicher. Es war doch klar, spätestens nach der offiziellen Bekanntgabe, dass es Schnelltests in den Heimen geben soll, dass es schwierig werden wird, an das Material zu kommen. Das war völlig klar, weil weltweit eine enorme Nachfrage bestand. Aber nicht jedes Heim konnte so handeln wie wir, schon aus finanziellen Gründen.

epd: Warum nicht?

Wallrafen: Weil das schlicht eine Geldfrage ist. Wir haben 30.000 Schnelltests im Keller, die wir schon gekauft haben, als noch munter mit den Kassen über die Kostenerstattung gestritten wurde. Da liegen in unserem Lager 190.000 Euro, die erst mal vorfinanziert sind. Das geht an unsere Liquidität, denn abrechnen mit den Kassen können wir erst, wenn die Tests tatsächlich verbraucht werden. Das kann ein Pflegeheim normalerweise nur schwer stemmen. Aber, das muss man auch klar sagen, in vielen Verbänden ist auch tief geschlafen worden, als klar wurde, dass sich die Versorgungslage mit Test- und Schutzmaterial schlechter wurde. Hier wäre mehr Unterstützung und Koordination wünschenswert gewesen. Aber die Funktionäre agieren nun mal anders als die Verantwortlichen vor Ort, die immer die Belange ihres Personals am Bett im Auge haben.

epd: Als fängt nur der frühe Vogel den Wurm?

Wallrafen: Natürlich, so ist das nun mal im Kapitalismus. Wollte man auf der sicheren Seite sein, musste man innerhalb einer Woche die benötigten Kits bestellen, egal, ob das schon refinanziert ist oder nicht. Wer nicht schnell geordert hat, hatte verloren. Punkt. Und in dieser Situation sind wir jetzt immer noch. Auch das Gesundheitswesen ist Teil des Kapitalismus. Bei knappen Produkten, das weiß man, steigt immer sofort der Preis, und dann macht sich die Großindustrie richtig die Taschen voll. Inzwischen sind die Schnelltests jedoch besser zu bekommen, und die Preise sind vertretbar.

epd: Die Kostenübernahme für die Tests ist bei Heimen und Kliniken durch die Kassen unterschiedlich. Verstehen Sie, warum?

Wallrafen: Nein, kein Mensch versteht das. Aber es überrascht mich auch nicht. Denn es ist wie immer in Deutschland, und ich beobachte die Bevorzugung der Krankenhäuser gegenüber der Pflege schon seit 44 Jahren. Der Staat bedient die Kliniken immer schneller und besser, die Lobbyisten dort sind nämlich sehr auf Zack. Das ist auch jetzt in der Corona-Krise wieder zu sehen. Der Staat hilft den Kliniken mit Riesensummen. Das setzt sich fort bis hin zu den Unterschieden bei der Entlohnung der Beschäftigten. Es gibt seit Jahrzehnten systematische Nachteile für uns. Jetzt unter Corona brechen die seit jeher unter den Teppich gekehrten Mängel in der Pflege auf: das fehlende Personal, die unzureichende Bezahlung und nicht zuletzt die fehlende Anerkennung. Vielleicht wird das jetzt den Verantwortlichen so deutlich, dass endlich mal was passiert gegen den Pflegenotstand.

epd: Wie teuer war ein Schnelltest, als Sie Ihr Depot gefüllt haben?

Wallrafen: Wir haben für die Kits für fünf, sechs Euro bezahlt. Das war ein guter Preis. Wir hatten schon bei der Schutzkleidung früh gesehen, was da auf uns zukommt. Im März ging das mit den Infektionen richtig los, und unmittelbar danach, etwa Mitte des Monats, habe ich meinen Chefeinkäufer gebeten, alle Materialien vom Einmalhandschuh bis zum Schutzkittel für ein halbes Jahr im voraus zu besorgen. Damit hatten wir zumindest mal etwas Luft. Aber schnell wurde auch klar, ein Vorrat für ein halbes Jahr reicht nicht, wir müssen nachlegen und haben das dann auch gemacht. Ab Ende März war klar, das wir eine Pandemie haben, und man wusste, wo es hingeht. Was spricht denn gegen eine ordentliche Vorratshaltung? Das Schutzmaterial braucht man auch in anderen Fällen, etwa gegen Noroviren. Schlimmstenfalls hätten die Sachen zwei Jahre lang unsere Keller verstopft.

epd: Dass es Engpässe geben würde, war doch jedem klar. Hätte der Staat hier strikt regulierend eingreifen müssen?

Wallrafen: Ich meine schon. Zumindest hätten die Behörden besser steuern können. Warum hat die Lufthansa Schnelltests bekommen, wo die Heime sie noch nicht hatten? Und das vor dem Hintergrund, dass die geforderten 30 Tests pro Monat und Heimbewohner nirgendwo am Markt zu haben sind. Reine Phantasiezahlen. Purer Populismus. Und das ist nicht nur hier in Nordrhein-Westfalen so. Es ist aber nicht die Schuld der da ja auch oft personell ausgedünnten Ministerien. Das sind politische Fehler.

epd: Testen darf nur qualifiziertes Personal. Daran fehlt es allerorten, denn man muss die Fachkräfte aus dem Pflegealltag abziehen. Wie haben Sie dieses Problem gelöst?

Wallrafen: Vorab mal der Hinweis, dass eigentlich laut Politik Bewohnerinnen und Bewohner, Personal und Besucher getestet werden sollen. Formaljuristisch bekomme ich aber nur Tests für die Bewohner. 30 Tests je Bewohner im Monat. Völliger Schwachsinn. Wenn man die nicht verbraucht, könne man sie ja dann für Personal und Besucher nutzen, hat man uns gesagt. Es wird von drei Testgruppen gesprochen, formal aber nur einer das Material genehmigt. Zudem sind die Fragen des persönlichen Haftungsrechts noch nicht geklärt. Wenn beim Testen in Nase und Rachen eine Verletzung auftritt, wird es richtig heikel. Da ist es doch normal, dass die, die Schnelltests machen, gerne Sicherheit hätten.

epd: Über den zeitlichen Aufwand der Tests gibt es sehr unterschiedliche Aussagen aus der Branche. Wie sind Ihre Erfahrungswerte?

Wallrafen: Seriös betrachtet braucht man für einen Test mit allem drum und dran eine halbe Stunde. Zumindest, wenn man den Beipackzettel ernst nimmt: Bis das Ergebnis vorliegt, muss man unbedingt eine Viertelstunde abwarten. Dazu kommt die Zeit, die unsere Leute brauchen, um das Warum und Wie der Tests zu erklären, plus die Zeit für den Test selbst. Und dann noch die Dokumentation, also das Ausfüllen von Unterlagen, um die ganze Chose später auch bezahlt zu kriegen, da ist die halbe Stunde dann fast um. Beim 100-Personen-Pflegeheim dauert es also 50 Stunden, wenn man jeden Bewohner einmal testen will.

epd: Wie rechnet sich dieser enorme Aufwand unter dem Strich?

Wallrafen: Gar nicht. Von den Kassen bekommen wir maximal 16 Euro, sieben Euro für das Testkit, neun Euro für den Aufwand. Also werden für eine volle Arbeitsstunde einer Pflegefachkraft, die die Tests macht, höchstens 18 Euro von der Pflegekasse übernommen. Das ist im Vergleich zum Arbeitgeberbrutto, das wir ja kalkulieren müssen, ein reines Verlustgeschäft. Das sind die Fakten, aber die will die Politik, und in unserem Fall in NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), nicht hören.

epd: Wie haben Sie die Tests in Ihren Heimen vorbereitet?

Wallrafen: In jeder unserer Einrichtung wurden 20 Fachkräfte von einem Betriebsarzt geschult. Das ließ sich machen, weil wir noch eine Fachkraftquote von 60 Prozent haben, also genug Fachpersonal. Die haben alle ein Zertifikat bekommen, dass sie geschult wurden. In der Dienstplangestaltung muss man den Testaufwand berücksichtigen, das ist aber noch gerade so machbar, auch weil wir kaum Ausfälle wegen infiziertem Personal haben Und dass das so ist, verdanken wir dem Umstand, dass wir seit März Screenings machen, desinfizieren, Abstandsregeln geschaffen haben und strikt Mundschutz tragen, jetzt nur noch FFP-2-Masken.

epd: Und was passiert, wenn es doch zu Infektionen kommt?

Wallrafen: Wir isolieren schnell infizierte Bewohner. Unsere Tagespflege ist geschlossen. Die hat große Räume, in die bis zu zehn Personen passen und dennoch auf Abstand gehen können. Das nutzen wir. Positiv Getestete schlafen im Doppelzimmer, haben dort viel Platz und wir brauchen auf die gesamte Betreuungszeit gerechnet nur drei Fachkräfte. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Aber nicht jedes Heim hat auch eine Tagespflege, in die man Infizierte mal eben auslagern kann.

epd: Ist es überhaupt zielführend, dauernd die Bewohner zu testen, die ja in den meisten Fällen die Einrichtungen derzeit kaum verlassen? Müsste man nicht besser Personal und Besucher testen, die das Virus von draußen einschleppen?

Wallrafen: Sie haben völlig recht. Ich kann die derzeitigen Testvorgaben nicht wirklich nachvollziehen. Das scheint mal wieder weit ab von der Praxis erdacht worden zu sein. Wenn irgendjemand negativ ist, dann ist das der Heimbewohner - im Normalfall. Und wenn mal ein Test positiv ausfällt, dann kommt das Virus von draußen. Das ist völlig logisch und hat sich auch bei uns gezeigt. Die Gefahr, dass sich die Bewohner selbst infizieren, wenn sie etwa in der Stadt unterwegs sind, ist minimal, denn die Außenkontakte sind rigoros reduziert. Und wenn man seine Bewohner kennt, weiß man auch, wer gefährdet ist. Damit kann man gut umgehen. Daraus folgt, dass man eigentlich die Beschäftigten und auch zwingend die Besucher wiederholt testen müsste. Doch wirkliche Sicherheit kann man mit den Schnelltests niemals erlangen. Die Inkubationszeit bei Covid-19 beträgt zwischen zwei und neun Tagen. Da müsste man so oft testen, dass das Personal irre wird. Der Weg muss ein anderer sein. Haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesundheitliche Probleme, die auf eine Corona-Infektion hindeuten, gibt es bei uns nur eins: Sie machen sofort den sicheren PCR-Test und werden in Quarantäne geschickt. Wer meint, in diesen Zeiten trotz Beschwerden doch noch irgendwie arbeiten zu können, ist eine menschliche Zeitbombe. Nur wenn man bei den Mitarbeitern übervorsichtig ist, kann man das Virus draußen halten.



Corona

Wenn die Maske den Blick verdeckt




Der gehörlose Stefan Palm-Ziesenitz in seinem Wohnzimmer in Hamburg, während sich hinter ihm zwei Personen mit Mundschutz unterhalten
epd-bild/Philipp Reiss
Viele gehörlose Menschen sind in Gesprächen darauf angewiesen, anderen Menschen auf den Mund zu sehen. Durch die Maskenpflicht während der Corona-Pandemie können sie sie sich nur schwer verständigen.

Wenn Stefan Palm-Ziesenitz Brot kauft, dann sieht das zurzeit oft ein bisschen anders aus als früher: Eigentlich ist er es gewohnt, mit der Hand die kurzen Schnitte eine Brotmaschine nachzuahmen und dies mit einem kurzen Zischen zu unterstreichen - das ist Gebärdensprache. Die Geste wird auch von Menschen verstanden, die diese nicht können. Aber unter der Maske wird das Zischen nicht wahrgenommen, Palm-Ziesenitz kann seine Geste nicht mehr akustisch unterstreichen. Also improvisiert er nun, stellt die Schnitte mit einer viel ausladenderen Handbewegung nach, als würde er ein Messer halten - eigentlich sogar ein Beil. "Das wird meistens verstanden", sagt er.

Lippenlesen als wichtiges Hilfsmittel

Der 47-Jährige kann nicht hören und sich nur wenig durch seine Stimme verständlich machen. Er kennt es aus seinem Alltag, dass es manchmal etwas länger dauert, bis Menschen ihn verstanden haben oder er sie - aber dass es meistens irgendwann klappt. Seit in Deutschland wegen der Corona-Pandemie an vielen Orten eine Maskenpflicht gilt, dauert es manchmal aber ein bisschen länger. Denn die Maske verstellt den Blick auf den Mund. Das ist für die Kommunikation von gehörlosen Menschen ein Problem - diese sei "stark erschwert", erklärt der Deutsche Gehörlosen-Bund. Aber viele Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung wissen sich zu helfen.

Beim Gespräch in Palm-Ziesenitz' Wohnzimmer ist eine Gebärdensprachendolmetscherin dabei - Palm-Ziesenitz hat dafür eigens eine Ausnahmegenehmigung vom Hamburger Senat eingeholt: ein Reporter, ein Interviewpartner, eine Dolmetscherin - für die aktuellen Corona-Regeln ist das eigentlich ein Haushalt zu viel. "Lippenlesen ist ohnehin schwierig. Man versteht meist nur ein Drittel des Gesprochenen. Worte wie 'Butter' oder 'Mutter' kann man nicht auseinanderhalten", sagt Palm-Ziesenitz. Allerdings komme es immer auf den Kontext an, so sei es in einer Bäckerei ja recht wahrscheinlich, dass das Wort "Brot" falle. "Deswegen kann Lippenlesen ein wichtiges Hilfsmittel sein, um Menschen zu verstehen. Aber das ist mit der Maske nicht mehr möglich."

Auch das Gebärdensprechen sei beeinträchtigt. Das falle insbesondere in der Kommunikation mit Menschen ins Gewicht, die ebenfalls Gebärdensprache beherrschen. Diese sei viel komplexer, weswegen auch deutlich mehr verloren gehe: "Ich habe vor kurzem jemanden in der U-Bahn getroffen. Das Gespräch mit Maske war wirklich mühsam durch Wegfall der Gesichtsmimik und des Mundbildes", sagt Palm-Ziesenitz.

Auf Wohlwollen angewiesen

Lösungsvorschläge für diese Probleme gibt es durchaus. Eine der ersten Ideen, gleich mit dem Aufkommen der Corona-Krise im Frühjahr, war das Tragen von Masken mit Sichtschutz. Gehörlosen-Verbände hatten dies selbst angeregt, die Idee aber schnell wieder verworfen. "In der Praxis haben Masken mit Sichtfenster den Nachteil, dass die Fenster durch die Atemluft schnell beschlagen", erklärte der Gehörlosen-Bund schließlich. Inzwischen sind die Bundesländer in ihren Verordnungen dazu übergegangen, Gehörlose und deren Gesprächspartner situationsbezogen von der Maskenpflicht zu befreien. Die Maske dürfe abgenommen werden, wenn es "zwingend erforderlich" sei, heißt es etwa in der Hamburger Verordnung.

Palm-Ziesenitz darf also auf seinen Mund und seine Ohren deuten und seinen Gesprächspartner so bitten, die Masken für ein Gespräch abzunehmen. Das funktioniert auch meistens, aber natürlich ist niemand verpflichtet, dem Folge zu leisten - Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung sind also auf das Wohlwollen und die Mitarbeit anderer Menschen angewiesen. Eine bessere Idee als schlichte Rücksichtnahme hat derzeit niemand. Man hoffe "auf das einfühlsame Miteinander der Gesellschaft", sagt Norbert Böttges, Vorsitzender des Schwerhörigenbundes in Nordrhein-Westfalen.

Sebastian Stoll


Armut

Appell für deutlich höhere Hartz-IV-Sätze




Mann füllt Hartz-IV-Antrag aus
epd-bild/Norbert Neetz
In diesem Jahr steigen die Hartz-IV-Sätze. Die Diakonie kritisiert die Leistungen für Langzeitarbeitslose dennoch als zu gering und falsch berechnet. Sie hat ein Verfahren vorgelegt, das Hartz-IV-Bezieher besserstellt.

Die Diakonie kritisiert die Regelsätze in der Grundsicherung und bei Hartz-IV-Leistungen als deutlich zu niedrig. Die monatlichen Leistungen für einen alleinstehenden Erwachsenen sollten nach Auffassung des evangelischen Wohlfahrtsverbandes um rund 180 Euro höher liegen als derzeit, sagte Vorstandsmitglied Maria Loheide am 18. Dezember in Berlin. Ein alleinstehender Leistungsbezieher erhält ab 1. Januar monatlich 446 Euro, das sind 14 Euro mehr als in diesem Jahr.

Die Diakonie Deutschland forderte den Gesetzgeber auf, die Berechnungsmethode für die Regelsätze grundlegend zu ändern. Dazu hat der Verband ein wissenschaftlich erarbeitetes Konzept vorgelegt. Dieses vermeide die Fehler des aktuell geltenden Verfahrens, sagte Loheide. Die Grünen und die Linke begrüßten den Vorstoß und erklärten, sich mit der Diakonie für höhere Regelsätze einzusetzen.

"Unsauber" ermittelte Regelsätze

Loheide nannte die Methode des Gesetzgebers zur Ermittlung der Regelsätze "unsauber". Denn hier würden willkürliche Streichungen von bis zu 180 Euro im Monat vorgenommen - etwa bei Ausgaben für einen Weihnachtsbaum, für Speiseeis oder Haustierfutter. Auch würden über das Sparverhalten von Einkommensarmen "völlig lebensfremde Annahmen" getroffen, die zu Lasten der Leistungsbezieher gingen, sagte Loheide. Trotz der vielen methodischen Mängel hätten Bundestag und Bundesrat im November die Regelsätze für 2021 verabschiedet.

Der Kern des Diakonie-Rechenmodells ist: Die Ausgaben, die Hartz-IV-Beziehern für Grundbedarfe wie Nahrung und Kleidung vom Gesetzgeber zugebilligt werden, dürfen um maximal 25 Prozent hinter dem zurückbleiben, was Privathaushalte mit mittlerem Einkommen hierfür ausgeben. Bei den weiteren Ausgaben darf die Differenz bei höchstens 40 Prozent liegen, wie die Diakonie betont. Auf dieser Basis solle der Regelsatz in der Grundsicherung ermittelt werden.

Keine willkürlichen Kürzungen vorgenommen

"Das neue Verfahren stellt sicher, dass der Abstand zwischen dem Existenzminimum und dem mittleren Lebensstandard nicht zu groß ist. Es ist transparent und nimmt keine willkürlichen Kürzungen vor", sagte die Gutachterin der Diakonie, die Verteilungsforscherin Irene Becker: Somit führe es im Unterschied zum aktuellen Berechnungsverfahren zu einer sachgerechten Berechnung des Grundbedarfs.

Die Diakonie schlägt vor, eine Sachverständigenkommission einzusetzen, die die Methodik der Regelsatzermittlung weiterentwickelt. "Wir müssen bereits jetzt Weichen für eine korrekte Berechnung im Jahr 2024 stellen. Es ist genug Zeit, Expertise aus Wissenschaft und Verbänden zu nutzen, damit methodische Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden", sagte Loheide. So würden die Hartz-IV-Regelsätze, wie vom Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 2010 gefordert, transparent, sach- und realitätsgerecht ermittelt.

Grüne: "Großer Gewinn"

Der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Sven Lehmann, erklärte: "Das Rechenkonzept der Diakonie ist ein großer Gewinn für die Diskussion zu menschenwürdigen Regelsätzen", sagte Lehmann. Die Linksfraktion im Bundestag kommt in eigenen Berechnungen zu dem Ergebnis, dass der Regelbedarf 658 Euro betragen sollte. "Dazu kämen noch Strom- und Wohnkosten", erklärte Katja Kipping, die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion und Parteivorsitzende.

Die FDP sprach sich dafür aus, Hartz-IV-Empfängern mehr von zuverdientem Geld zu lassen. "Dafür müssen die Hinzuverdienstgrenzen angepasst werden", sagte der FDP-Sozialexperte Pascal Kober.

Markus Jantzer


Kirchen

Diakonie-Chefin warnt vor Kahlschlag bei sozialer Infrastruktur




Barbara Eschen
epd-bild/DWBO/Zellentin
Die Berliner Diakonie-Chefin Barbara Eschen hat außer der Bewältigung der Corona-Pandemie für 2021 weitere drängende Themen auf ihrer Agenda: Neben dem Fachkräftemangel in den sozialen Berufen treiben sie die verbreitete Armut und die Versorgungslage auf dem Land um.

Für Barbara Eschen, die Berliner Diakonie-Chefin, ist in diesem Jahr sozialpolitisch viel zu tun - neben dem Kampf gegen die Corona-Pandemie. Wichtig seien vor allem Reformen in der Pflege, Schritte gegen die wachsende Wohnungsnot und mehr Elan, um die Kinder- und Familienarmut zu besiegen, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Die Fragen stellte Lukas Philippi.

epd: Frau Eschen, welches sind Ihres Erachtens die dringendsten sozialpolitischen Aufgaben des neuen Jahres?

Barbara Eschen: Die dringendsten Aufgaben sind der Fachkräftemangel in den sozialen Berufen, die Mietenexplosion, die Armut von Kindern und Familien sowie die soziale Infrastruktur im ländlichen Raum.

epd: Was schlagen Sie für die Pflege vor?

Eschen: Wir brauchen eine bessere ideelle und finanzielle Honorierung der sozialen Berufe. Schon vor der Corona-Krise war die Personaldecke insbesondere in den Alten- und Pflegeheimen dünn. Durch Corona können Einrichtungen ganz schnell vor der Situation stehen, kein Personal mehr für die nächsten Schichten zu haben. Bund und Länder müssen hier gemeinsam an einem Strang ziehen und in die Pflege investieren. Ich kenne viele Mitarbeitende in der Pflege, die ihre Arbeit gerne mit hoher Identifikation machen, aber darunter leiden, dass Kolleginnen und Kollegen fehlen. Das gilt für die ganze Sozial- und Bildungsarbeit.

epd: Und beim Thema Wohnungsnot?

Eschen: In Berlin, aber auch in Teilen von Brandenburg, steigen seit Jahren die Mieten, bezahlbarer Wohnraum fehlt eklatant. Seit dem Inkrafttreten des Berliner Mietendeckels ist der Wohnungsmarkt erstarrt, alle warten, wie das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Berliner Sonderweges entscheiden wird. Ganz gleich, wie die Entscheidung aussieht: Berlin muss noch stärker den Neubau bezahlbarer Wohnungen vorantreiben und geförderte Sozialwohnungen schaffen. Außerdem muss die Landesregierung Maßnahmen ergreifen, damit Mieterinnen und Mieter nicht ihre Wohnung verlieren, sollte der Mietendeckel für rechtsungültig erklärt werden und es zu Mietrückforderungen kommen.

epd: Berlin nimmt beim Thema Kinder- und Familienarmut einen der vorderen Plätze im Armutsbericht des Bundes ein...

Eschen: Der vierte Platz ist beschämend. Besonders besorgt mich die Situation von Kindern und Jugendlichen. Ich wünsche mir von der Landespolitik, dass die Landeskommission gegen Kinderarmut schlagkräftige Maßnahmen vorschlägt, um auch armen Familien die soziale Teilhabe zu ermöglichen. Das gilt auch für die digitale Teilhabe: Wie sollen Kinder am Homeschooling teilnehmen, wenn sich die ganze Familie ein Tablet teilt? Grundsätzlich erwarte ich von der Landespolitik, dass Armutsbekämpfung in allen Politikfeldern eine wesentliche Rolle spielt, also in der Stadtentwicklung, Wirtschafts-, Jugend-, Sozial- und Gesundheitspolitik.

epd: Wie sieht es damit auf dem Land aus?

Eschen: Wir dürfen nicht zulassen, dass in ländlichen Gebieten die Infrastruktur abgeschnitten wird. Zugang zu Bildung, Gemeinschaft und medizinischen Angeboten muss auch in kleinen Gemeinden gefördert werden, damit Menschen nicht abgehängt werden. Kirche und Diakonie haben da viele Ideen. Ich wünsche mir dazu einen engeren Austausch mit den politisch Verantwortlichen.

epd: Welche Fehler, welche Defizite in der Sozialpolitik des vergangenen Jahres sollten nicht wiederholt werden?

Eschen: Die Auswirkungen der größten Fehler spüren wir heute noch: Der massive Verkauf von Wohneigentum der landeseigenen Wohnungsunternehmen, das Kaputtsparen der Berliner Verwaltung insbesondere im Bereich Jugend und auch, dass das Land Berlin leider verschlafen hat, sich frühzeitig um den Ausbau von Schul- und Kindergartenplätzen zu kümmern. Aber ich halte nicht viel davon, die damaligen Entscheidungen aus der heutigen Perspektive zu beurteilen. Wir als Diakonisches Werk wollen uns lieber dafür einsetzen, Berlin und Brandenburg für alle lebenswert und gerecht zu gestalten.

Lukas Philippi


Digitalisierung

Expertin rät sozialen Diensten zu differenziertem Software-Umgang




Nadia Kutscher
epd-bild/Ralf Bauer
Ohne Computer läuft auch in der sozialen Arbeit schon lange nichts mehr. Doch welche Programme kommen zum Einsatz? Die Expertin für Digitalisierung und Soziale Arbeit, Nadia Kutscher, rät Sozialunternehmen, den Software-Einsatz in ihren Einrichtungen immer engmaschig zu begleiten.

Nadia Kutscher zufolge könnten softwarebasierte Programme viele Prozesse in den sozialen Diensten zwar deutlich vereinfachen. "Es muss aber genau hingesehen und stetig geprüft werden, ob die Software auch tatsächlich den fachlichen Anforderungen der Praxis entspricht", sagte die Professorin für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit der Universität zu Köln dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sozialdienste und -träger setzen Software im Bereich der Falldokumentation, der Risikoberechnung und des Controllings ein.

Software-Entwickler stünden gerade in der sozialen Arbeit vor der Herausforderung, "eine sehr komplexe und teils widersprüchliche Realität auf anklickbare Kriterien verdichten" zu müssen, sagte Kutscher. Wichtig sei, dass die Software auf die Anforderungen der jeweiligen Einrichtung angepasst ist. "Wir müssen aufpassen, dass wir uns keine Logiken hereinholen, die zwar auf der Ebene der Software Sinn machen, aber die komplexen Handlungszusammenhänge sozialer Arbeit nicht angemessen abbilden."

Programme nicht zu eng konzipieren

Softwareprogramme für Jugendämter dürften zum Beispiel nicht zu eng konzipiert sein, erklärte die Expertin. Es müsse den Mitarbeitenden beispielsweise bei der Falldokumentation möglich sein, nicht nur vom System vorgegebene Kriterien auszufüllen, sondern auch eigene Kommentare hinzuzufügen. Sonst könnten wichtige Informationen darin möglicherweise nicht abgebildet werden, fügte sie hinzu.

In einer Reihe von Jugendämtern berechnen Programme auf der Grundlage der Falldokumentation das Risiko für eine Kindeswohlgefährdung. So kann die Software den Mitarbeitenden beispielsweise empfehlen, ein Kind in Obhut zu nehmen. "Die Software kann eine Unterstützung dabei sein, auf bestimmte Dinge zu achten", sagt Kutscher. "Es darf aber nicht passieren, dass man der Software die Verantwortung überträgt, weil sie vielleicht vom Anschein her objektiver daherkommt als eine Fachkraftentscheidung." Die Verantwortung liege letztlich allein bei den Fachkräften.

Systematische Erhebungen darüber, wie viele soziale Dienste und Träger in Deutschland Software-basierte Programme nutzen und welche Folgen das für das fachliche Handeln hat, gibt es Kutscher zufolge nicht. Die Entwicklung sei in den verschiedenen Bereichen der sozialen Arbeit auf unterschiedliche Weise vorangeschritten, sagte sie. Ausschlaggebend sei, "ob und wie die Führungspersonen Digitalisierung in ihren Einrichtungen vorantreiben".

Patricia Averesch


Tarife

Liebenau Leben im Alter geht für Beschäftigte den Dritten Weg



In den Altenhilfeeinrichtungen der Liebenau Leben im Alter gemeinnützige GmbH mit Sitz in Meckenbeuren gelten für die etwa 870 Beschäftigten ab 1. Januar 2021 die Arbeitsvertragsrichtlinien der Caritas (AVR). Damit ist ein rund ein Jahrzehnt andauernder Konflikt um ungleiche Bezahlung in der Stiftung Liebenau, die Gesellschafterin der LiLA ist, beendet. Das seien "beruhigende Zeichen zum Jahresausklang", teilten der Betriebsrat der LiLA, die Regionalkommission Baden-Württemberg der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas und ver.di Baden-Württemberg am 29. Dezember gemeinsam mit.

Die Regionalkommission hatte in ihrer Dezembersitzung grünes Licht gegeben für die Aufnahme der LiLA in das kirchliche Arbeitsrecht. Der Aufsichtsrat der Stiftung Liebenau hatte zuvor für LiLA die Grundordnung des kirchlichen Dienstes übernommen.

Zähe Verhandlungen beendet

Vorausgegangen waren zähe Tarifverhandlungen zwischen LiLA und ver.di, die im Herbst seitens der Arbeitgeber abgebrochen wurden. Begründet wurde dies bereits damit, dass in den Einrichtungen nun doch der kirchliche sogenannte Dritte Weg, so wie in der gesamten Stiftung Liebenau, gelten solle.

Bernd Widon, Vorsitzender der Mitarbeiterseite der Caritas-Regionalkommission Baden-Württemberg bilanzierte: "Dass die Beschäftigten der LiLA nach Jahren der Auseinandersetzung endlich die gleiche Vergütungsstruktur wie in den anderen Caritaseinrichtungen haben, verwirklicht endlich die Wertschätzung, die seit Jahren vonseiten der Stiftung gefehlt hat." Jetzt stehen für alle Beschäftigten neue Arbeitsverträge mit Besitzstandsregelung an.




sozial-Recht

Oberverwaltungsgericht

Zuwanderer muss vor Einbürgerung Deutsch schreiben können




Deutschkurs für Flüchtlinge in Cottbus
epd-bild/Christian Ditsch
Für eine Einbürgerung müssen Zuwanderer nicht nur lang genug in Deutschland leben und auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, auch ausreichende Deutschkenntnisse sowohl in Wort als auch Schrift sind erforderlich, entschied das Oberverwaltungsgericht Münster.

Ohne ausreichende Deutschkenntnisse in Wort und Schrift können sich Ausländer nicht einbürgern lassen. Erreicht ein Zuwanderer im Deutsch-Test im Schreiben nur das niedrige Niveau A2, kann er keinen deutschen Pass verlangen, urteilte am 10. Dezember das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen in Münster.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen müssen Zuwanderer für eine Einbürgerung einen langen Atem haben. Voraussetzung ist nicht nur die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts, Ausländer müssen auch einen Einbürgerungstest mit Fragen zur Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland bestehen sowie ausreichende Sprachkenntnisse vorweisen. Zudem ist ein seit acht Jahren dauernder rechtmäßiger Aufenthalt erforderlich. Die Frist kann bei "besonderen Integrationsleistungen" auf sechs Jahre verringert werden. Wann genau all diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist regelmäßig vor Gerichten im Streit.

Schlechte Schriftkenntnisse

So hatte die Städteregion Aachen im Verfahren vor dem OVG Münster einem seit 2003 in Deutschland lebenden Syrer die Einbürgerung verweigert. Er verfüge nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, begründete die zuständige Behörde ihre Ablehnung. Im Deutschtest habe er zwar beim Hören/Lesen sowie beim Sprechen dass erforderliche fortgeschrittene Anfängerniveau mit der Bewertung B1 erreicht. Beim Schreiben sei ihm aber das niedrigere Niveau A2 bescheinigt worden. Das reiche nicht, hieß es.

Dem folgte jetzt auch das OVG. Im Deutsch-Test für Zuwanderer habe der Kläger zwar das Gesamtergebnis B2 erreicht, erforderlich sei aber, dass er in allen Sprachbereichen diese Bewertung nachweist. Beim Schreiben habe er das erforderliche Sprachniveau nicht erfüllt. Die Einbürgerung sei zu Recht abgelehnt worden.

Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg hatte in einem am 16. Oktober 2020 veröffentlichten Urteil betont, dass Einbürgerungsbewerber sich auch an die deutschen Lebensverhältnisse anpassen müssen, so die Mannheimer Richter zu einem aus dem Libanon stammenden und seit 2002 in Deutschland lebenden Oberarzt.

Der Mann hatte den Einbürgerungstest mit der höchsten Punktzahl und auch den Sprachtest problemlos geschafft. Bei der Überreichung der Einbürgerungsurkunde verweigerte er jedoch den Handschlag mit der Sachbearbeiterin des Landratsamtes, weil diese eine Frau ist. Die Einbürgerung wurde deshalb verweigert.

Handschlag kann nicht verweigert werden

Zu Recht, befand der VGH. Zu den deutschen Lebensverhältnissen gehörten der Handschlag und das Händeschütteln als gängige nonverbale Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, "die unabhängig von sozialem Status, Geschlecht oder anderen personellen Merkmalen" erfolgen und auf eine jahrhundertelange Praxis zurückgehen. Verweigere ein Einbürgerungsbewerber den Handschlag aus geschlechtsspezifischen Gründen, liege keine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse vor. Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde zugelassen.

Bereits am 8. Oktober 2019 hatte das OVG Rheinland-Pfalz in Koblenz die Entlassung eines muslimischen Soldaten für rechtmäßig gehalten, der aus religiösen Gründen ebenfalls Frauen generell den Handschlag verweigerte. Es bestünden Zweifel, ob der Soldat in der Lage sei, den Auftrag der Bundeswehr zu erfüllen und auch für Soldatinnen einzustehen. Das Ansehen der Bundeswehr könne wegen solch eines Verhaltens beeinträchtigt werden, hieß es seitens des Gerichts.

Beten in Moschee ist statthaft

Dagegen ist allein das Beten in einem vom Verfassungsschutz beobachteten islamischen Kulturzentrum noch kein Grund, die Einbürgerung zu verweigern. Das gilt auch dann, wenn ein Muslim Geld in den Klingelbeutel gelegt hat, entschied das OVG Bremen in einem am 5. November 2018 veröffentlichten Beschluss. Zwar werde der Moscheeverein vom Verfassungsschutz beobachtet. In dem Verein gebe es aber nicht nur salafistische, sondern unterschiedliche Strömungen und Glaubensrichtungen.

Ist ein Ausländer in seinem Heimatland eine dort zulässige zweite Ehe eingegangen, ist die Einbürgerung als Deutscher trotz seiner Doppel-Heirat möglich, urteilte am 30. Mai 2018 das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Nach dem Gesetz werde "ein Bekenntnis zu einem auf Recht und Gesetz sowie der Achtung und dem Schutz der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte gründenden Gemeinwesen, aber kein Bekenntnis zum Prinzip der bürgerlich-rechtlichen Einehe" verlangt.

Az.: 19 A 2379/18 (OVG Sprachtest)

Az.: 12 S 629/19 (VGH Handschlag Oberarzt)

Az.: 10 A 11109/19.OVG (OVG Handschlag Soldat)

Az.: 1 LA 78/17 (OVG Bremen)

Az.: 1 C 15.17 (Bundesverwaltungsgericht Mehrehe)

Frank Leth


Bundesarbeitsgericht

Entschädigung nach Ausschluss aus Vorstellungsrunde



Öffentliche Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Stellenbewerber in fairer Weise an Vorstellungsgesprächen teilnehmen lassen. Wird ein Bewerber nur zu einem relativ knappen Erstgespräch, nicht aber zu einer weiteren Auswahlrunde eingeladen, kann dies ein Indiz für eine Diskriminierung wegen der Behinderung sein, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in einem am 5. Januar veröffentlichten Urteil. Die Erfurter Richter sprachen damit dem schwerbehinderten Kläger eine Diskriminierungsentschädigung in Höhe von 7.674 Euro zu.

Der Mann hatte sich im November 2016 auf eine vom Land Nordrhein-Westfalen ausgeschriebene Stelle einer "Fachbereichsleitung Marketing und Kommunikation" in der Zentrale eines Bau- und Liegenschaftsbetriebs beworben. Dem Bewerber wurde mitgeteilt, dass das Auswahlverfahren zunächst ein einstündiges Gespräch umfasst. In einer zweiten Stufe sollte dann eine weitere Auswahlrunde in Form einer fünfstündigen sogenannten Potenzialanalyse erfolgen, bei der die einzelnen Kompetenzen geprüft werden.

Weitere Einladung unterblieb

Der Kläger wurde zwar zu dem Personalgespräch eingeladen, aber nicht mehr zur Potenzialanalyse. Die unterbliebene Einladung zur zweiten Stufe des Vorstellungsgesprächs stelle eine Diskriminierung wegen seiner Behinderung dar, erklärte der Mann. Nach dem Gesetz seien öffentliche Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, sofern sie für die Stelle grundsätzlich geeignet seien. Das Land meinte, dass der Bewerber doch zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde.

Das BAG urteilte, dass der Kläger wegen seiner Behinderung diskriminiert wurde. Ihm stehe eine Entschädigung in Höhe von eineinhalb Monatsgehältern zu, insgesamt 7.674 Euro.

Indiz für Diskriminierung

Öffentliche Arbeitgeber seien gesetzlich verpflichtet, fachlich geeignete schwerbehinderte Stellenbewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Werde dies unterlassen, stelle dies ein Indiz für eine Diskriminierung dar. Der Begriff des Vorstellungsgesprächs sei weit zu fassen. Es beinhalte nicht nur ein erstes Gespräch zum Kennenlernen, sondern auch weitere, mehrstufige Auswahlprozesse, etwa in Form von Tests.

Nur wenn der Arbeitgeber sich bereits im Erstgespräch einen umfassenden Eindruck über den Bewerber verschaffen konnte, könne auf eine Einladung zu weiteren Auswahlprozessen verzichtet werden. Darauf habe sich das Land aber nicht berufen, entschied das Gericht.

Az.: 8AZR 45/19



Bundesgerichtshof

Schwangerschaftsabbruch ab Geburtsbeginn ist strafbar



Nach einem Kaiserschnitt können Ärzte keinen legalen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Ist erst einmal die Gebärmutter geöffnet, stellt die dann erfolgte Tötung des Kindes einen strafbaren Totschlag dar, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am Montag veröffentlichten Beschluss. Der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig bestätigte damit die Verurteilung zweier Geburtsmediziner wegen Totschlags in minder schwerem Fall.

Hintergrund des Verfahrens war die Schwangerschaft einer Frau mit Zwillingen. Bei einem Kind entwickelten sich schwere Hirnschäden, der andere Zwilling entwickelte sich normal. Nach einer Beratung wollte die Frau einen sogenannten selektiven Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen: Der hirngeschädigte Zwilling sollte abgetötet, der andere entbunden werden. Solch ein Schwangerschaftsabbruch kann bis zur Geburt straffrei sein.

Mutter stimmte Eingriff zu

Die behandelnden Geburtsmediziner wandten jedoch nicht die übliche Methode für einen selektiven Schwangerschaftsabbruch an. Stattdessen führten sie in Absprache mit der Mutter einen Kaiserschnitt durch, um das gesunde Kind zu entbinden. Anschließend wurde der andere, schwer geschädigte Zwilling mit einer Kaliumchlorid-Injektion getötet.

Nach mehreren Jahren erfuhr die Staatsanwaltschaft über eine anonyme Anzeige von dem Vorgehen der Ärzte. Das Landgericht Berlin bestätigte den Vorwurf des gemeinschaftlichen Totschlags und verurteilte die Mediziner zu Bewährungsstrafen von eineinhalb Jahren bzw. einem Jahr und neun Monaten.

Der BGH bestätigte das Urteil im Grundsatz. Die Tötung des schwer geschädigten Zwillings sei Totschlag und nicht ein straffreier Schwangerschaftsabbruch gewesen. Ein straffreier Schwangerschaftsabbruch sei nur bis zum Beginn der Geburt möglich.

Hier habe die Geburt aber bereits mit dem Kaiserschnitt und der Öffnung der Gebärmutter begonnen, so dass die anschließende Tötung des geschädigten Kindes als Totschlag zu werten sei. Zu Unrecht habe das Landgericht jedoch den Ärzten zur Last gelegt, dass sie die Tat geplant und nicht in einer Notsituation begangen hätten. Die Höhe der Strafen müsse daher noch einmal neu verhandelt werden.

(AZ: 5 StR 256/20)



Bundesverwaltungsgericht

Heirat nach der Flucht muss Ehegattennachzug nicht entgegenstehen



Die Heirat von Flüchtlingen erst nach ihrer Flucht im Ausland muss einem späteren Ehegattennachzug nach Deutschland nicht entgegenstehen. Entscheidend ist, ob dem Paar eine längere Trennung zumutbar ist, urteilte am 17. Dezember das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. "Besonderes Gewicht" habe bei der Festlegung der zumutbaren Trennungsdauer auch die Frage, ob auch das Wohl eines gemeinsamen Kindes davon betroffen ist.

Derzeit ist der Familien-und Ehegattennachzug für Flüchtlinge, die in Deutschland einen eingeschränkten "subsidiären Schutz" erhalten haben, auf 1.000 Personen pro Monat begrenzt. Ein Anspruch auf Ehegattennachzug besteht in der Regel aber nicht, wenn Eheleute erst nach der Flucht aus ihrer Heimat heiraten.

Schutz von Ehe und Familie

Im Streitfall ging es um ein syrisches Paar, das 2012 aus ihrer Heimat zunächst ins benachbarte Jordanien geflohen war. 2014 hatten sie dort geheiratet. Das Paar bekam ein gemeinsames Kind. Als der Mann allein 2015 nach Deutschland kam, wurde ihm subsidiärer Schutz zuerkannt. Zwei Jahre später erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis. Seinen Antrag auf Familiennachzug war nur für das Kind erfolgreich. Ein Anspruch auf Ehegattennachzug bestehe dagegen nicht, weil die Ehe vor der Flucht noch nicht bestand, entschieden die deutschen Behörden.

Doch so pauschal gilt dies nicht, urteilte das Bundesverwaltungsgericht und verwies den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Berlin zurück. Ein Ehegattennachzug sei hier nicht ausgeschlossen. Denn es könne etwa möglich sein, dass die Situation im Herkunftsland eine Heirat gar nicht erlaubte. Auch darüber hinaus sei "das Interesse an der Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft (…) angemessen zu berücksichtigen". Das gebiete der im Grundgesetz verankerte besondere Schutz von Ehe und Familie.

Maßgeblich sei danach, inwieweit dem Paar eine längere Trennung zumutbar ist. Dabei sei dem Wohl eines gemeinsamen Kleinkindes besonderes Gewicht beizumessen. Das muss nun das Verwaltungsgericht nun prüfen.

Az.: 1 C 30.19



Bundessozialgericht

Barthaarentfernung für Transsexuelle nur durch Arzt



Transsexuelle Menschen können sich bei der Geschlechtsangleichung hin zur Frau ihre Barthaare nur von einem Arzt auf Krankenkassenkosten entfernen lassen. Betroffene können keine Kostenübernahme für die Behandlung beim Kosmetiker oder einem sogenannten Elektrologisten verlangen, entschied das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel in drei am 18. Dezember bekanntgegebenen Urteilen vom Vortag.

In einem Fall ging es um eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle aus Niedersachsen. Die Klägerin ließ auf Krankenkassenkosten geschlechtsangleichende Maßnahmen vornehmen. Dabei wollte sie insbesondere ihre Barthaare mit der sogenannten Nadelepilation entfernen lassen. Dabei werden die Barthaarwurzeln mit Stromimpulsen dauerhaft entfernt.

Elektrologist in Arztpraxis

Da die Klägerin keinen Arzt für die Behandlung fand, wollte sie diese bei einem darauf spezialisierten nicht-ärztlichen Elektrologisten vornehmen lassen. Die gesetzliche Krankenkasse lehnte die Übernahme der Kosten ab.

Zu Recht, befand das BSG. Die gesetzlichen Bestimmungen würden vorsehen, dass für eine Kostenübernahme der Barthaarentfernung bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen ein Arzt die Behandlung vornehmen müsse. Werde diese bei einem nicht-ärztlichen Elektrologisten vorgenommen, bestehe kein Anspruch auf Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse, selbst wenn der Behandler über eine Heilpraktikererlaubnis verfüge.

Eine Kostenübernahme sei aber möglich, wenn ein Elektrologist in einer Arztpraxis bei der Nadelepilation mithilft und der Arzt die Aufsicht hat. Gebe es eine Versorgungslücke, weil Kassenärzte die Behandlung nicht anbieten, sei auch der Gang zum Privatarzt denkbar, deren Kosten die Krankenkasse in solch einem Fall übernehmen müsste, entschied das BSG.

Az.: B 1 KR 6/20 R, B 1 KR 19/20 R und B 1 KR 28/20 R



Verwaltungsgericht

Pflegekammer muss Stellungnahme zu ihrer Auflösung zurückziehen



Die Pflegekammer Niedersachsen muss einem Gerichtsbeschluss zufolge eine Stellungnahme zu ihrer eigenen Abschaffung zurückziehen und darf sie nicht weiter verbreiten. Die Stellungnahme vom 25. November 2020 erfülle nicht die gebotenen Anforderungen an Sachlichkeit und Objektivität, teilte das Verwaltungsgericht Hannover am 6. Januar mit. In der umstrittenen Erklärung im Rahmen des derzeit noch laufenden Gesetzgebungsverfahrens zur Auflösung der Kammer habe sich die Einrichtung einseitig für ihren Erhalt ausgesprochen und abweichende Meinungen nicht berücksichtigt.

Das Gericht gab damit einer Antragstellerin recht, die selbst Mitglied der Pflegekammer ist. Sie hatte die Kammer aufgefordert, die Stellungnahme von ihrer Homepage zu entfernen und sie im Gesetzgebungsverfahren zurückzuziehen. Anders als private Interessenverbände müsse eine Kammer mit Pflichtmitgliedschaft das Gesamtinteresse ihrer Mitglieder vermitteln, befanden die Richter. Sie dürfe ihre Mehrheitsauffassung nicht apodiktisch mitteilen, sondern müsse auch Minderheitsmeinungen offenlegen und die Abwägung erkennbar machen.

Erklärung blendete bestimmte Positionen aus

Die vorgelegte Stellungnahme blende jedoch die Positionen derjenigen aus, die eine Auflösung der Kammer befürworteten, hieß es. Sie nenne vielmehr einseitig Argumente dafür, dass das Ergebnis einer Online-Befragung nicht zur Grundlage der Entscheidung über die Auflösung gemacht werden solle. Damit suggeriere sie ohne sachliche Anhaltspunkte, dass die nicht an der Umfrage beteiligten Mitglieder sich für den Fortbestand der Pflegekammer entscheiden würden.

An der Online-Befragung zur Zukunft der Pflegekammer nahmen im vergangenen Jahr rund 15.100 der insgesamt etwa 78.000 Mitglieder teil. 70,6 Prozent von ihnen sprachen sich gegen einen Fortbestand aus. Die Landesregierung beschloss daraufhin einen Gesetzentwurf zur Auflösung der Kammer. Letztgültig wird darüber der Landtag entscheiden.

Gegen den Beschluss der hannoverschen Richter kann die Pflegekammer Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einlegen. Das Oberverwaltungsgericht hatte allerdings bereits im Oktober angeordnet, dass die Pflegekammer eine umstrittene Pressemitteilung zu ihrer Auflösung von ihrer Homepage löschen musste. Auch in diesem Beitrag hatte die Kammer die Aussagekraft der Umfrage anzweifelt. Bereits damals bestätigten die Lüneburger Richter einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover.

Az.: 7 B 6300/20



Sozialgericht

Flüchtling muss für Kindergeld nicht nach Eltern suchen



Erwachsene Flüchtlingskinder, die eine Lehre machen, müssen für einen eigenen Kindergeldanspruch nicht erst nach dem Aufenthaltsort ihrer Eltern in ihrem Heimatland suchen. Nach den gesetzlichen Bestimmungen erhalten Kinder das Kindergeld an sich selbst ausgezahlt, wenn sie Vollwaise sind oder sie den Aufenthalt der eigentlich kindergeldberechtigten Eltern nicht kennen, entschied das Sozialgericht Fulda in einem am 4. Januar veröffentlichten Urteil. Dem Flüchtlingskind sei es nicht zuzumuten, über Suchdienste - etwa beim Deutschen Roten Kreuz - den unbekannten Aufenthaltsort der Eltern zu ermitteln, befand das Gericht.

Im Streitfall reiste der aus Syrien stammende Kläger im Oktober 2015 als Kind ohne seine Eltern nach Deutschland. Er wurde als Flüchtling anerkannt und erhielt eine Aufenthaltserlaubnis. Der Landkreis Fulda beantragte als Grundsicherungsträger für ihn Kindergeld, was auch zunächst gewährt wurde.

Grundsätzlich steht Eltern das Geld zu

Als der Flüchtling ein Studium begann, verlangte die Kindergeldstelle Angaben über den Aufenthaltsort seiner Eltern, weil nicht ihm, sondern grundsätzlich ihnen das Kindergeld zustehe.

Der Flüchtling gab an, dass seine Mutter verstorben und der Aufenthaltsort seines Vaters in Syrien angesichts des Bürgerkrieges unbekannt sei. Er habe das letzte Mal im September 2015 Kontakt zu ihm gehabt, so der Mann.

Daraufhin wurde die Kindergeldzahlung verweigert. Kindergeld an das Kind selbst könne unter anderem nur gewährt werden, wenn es Vollwaise ist oder der Aufenthalt der eigentlich kindergeldberechtigten Eltern unbekannt ist. Hier habe der Flüchtling aber gar nicht belegt, dass er überhaupt nach seinem Vater in Syrien gesucht habe.

Keine eigenen Recherchen nötig

Doch auf fehlende oder unzureichende Bemühungen, den Aufenthaltsort des Vaters in Syrien zu ermitteln, kommt es für den Kindergeldanspruch nicht an, urteilte das Sozialgericht. Ebenso wie bei Vollwaisen verfolge der Gesetzgeber bei Kindern, die den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen, das Ziel, dass ihnen der Kindergeldanspruch nicht verloren geht. Hier sei es angesichts des vom Bürgerkrieg zerstörten Syriens und der dort fehlenden Verwaltung und Infrastruktur zudem gar nicht realistisch, den Aufenthaltsort des Vaters zu ermitteln.

Auch die Inanspruchnahme des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuz sei nicht zumutbar, weil die syrischen Behörden das zum Anlass für weitere Verfolgungsmaßnahmen nehmen könnten. Der Kläger könne daher für sich selbst das Kindergeld beanspruchen, so das Urteil.

Az.: S 4 KG 1/20




sozial-Köpfe

Pflege

Sandra Achilles leitet Aufsichtsrat der Evangelischen Heimstiftung




Sandra Achilles
epd-bild/Evangelische Heimstiftung GmbH
Nach 20 Jahren gibt es einen Wechsel an der Spitze des Aufsichtsrates der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart: Sandra Achilles hat Herbert Mäule abgelöst.

Die Evangelische Heimstiftung, Baden-Württembergs größtes diakonisches Pflegeunternehmen, hat seit dem Jahreswechsel eine neue Aufsichtsratschefin. Sandra Achilles hat diese Aufgabe von Helmut Mäule übernommen. Er hatte nach 20 Jahren an der Spitze des Aufsichtsrats seinen Rückzug angekündigt. Insgesamt gehörte er dem Aufsichtsgremium 25 Jahre lang an.

Hauptgesellschafter der Evangelischen Heimstiftung GmbH ist mit 94 Prozent der Förderverein Evangelische Heimstiftung e.V. Wer als Vorsitzender des Fördervereins gewählt wird, ist automatisch auch Vorsitzender des Aufsichtsrats der EHS GmbH.

"In Herbert Mäules Amtszeit hat sich die Evangelische Heimstiftung von einem Pflegeheimträger mit 38 Pflegeheimen zu einem professionellen Pflegeunternehmen mit einem differenzierten Dienstleistungsangebot in 145 Einrichtungen entwickelt", würdigte Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider den ausscheidenden Vorsitzenden. Mäule erhielt die erstmals vergebene goldene Antonie-Kraut-Medaille für 25 Jahre Engagement in der EHS.

Sandra Achilles ist Vorstandsvorsitzende der Volksbank Plochingen und seit 2016 Mitglied im Aufsichtsrat der Heimstiftung. Seit 2011 gehört sie auch dem Förderverein an. Schneider sagte: "Wir freuen uns, mit Frau Achilles nicht nur eine hochkompetente Vorsitzende zu haben, sondern auch einen Menschen, der sich den Werten unseres Unternehmens verpflichtet fühlt."

Die Evangelische Heimstiftung wurde 1952 gegründet und ist Mitglied im Diakonischen Werk. Als größtes Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg betreut sie nach eigenen Angaben 13.500 Kunden in 145 Einrichtungen.

Das diakonische Unternehmen betreut nach eigenen Angaben 13.500 Kunden in 145 stationären und ambulanten Einrichtungen im Südwesten. Die Stiftung zählt aktuell 9.200 Mitarbeitende und 830 Auszubildende.



Weitere Personalien



Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, hat zum Jahreswechsel turnusgemäß auch das Amt des Präsidenten der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) übernommen. Er löste Gerda Hasselfeldt ab, die als Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes diese Funktion zwei Jahre innehatte. Damit wird die Diakonie zum federführenden Verband innerhalb der BAGFW. Im Präsidium arbeiten zudem zwei Vizepräsidenten: Jens Schubert, Vorstandsvorsitzender der AWO, als BAGFW-Präsident ab 2023 sowie die vormalige Präsidentin Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes.

Jens M. Schubert hat zum Jahreswechsel die Leitung des Bundesvorstandes der Arbeiterwohlfahrt (AWO) übernommen. Er tritt die Nachfolge von Wolfgang Stadler an, der bei seiner virtuellen Verabschiedung mit der AWO-Verdienstmedaille geehrt. Schubert ist Jurist und war zuvor Leiter des Bereichs Recht und Rechtspolitik in der Bundesverwaltung der Gewerkschaft ver.di. Er lehrt als außerplanmäßiger Juraprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg, Leuphana Law School. Stadler, der in den Ruhestand tritt, begann seine Laufbahn bei der AWO nach Abschluss eines Soziologiestudiums 1978 als Zivildienstleistender in der Altenhilfe und wurde nach weiteren Stationen 1993 Geschäftsführer des AWO Bezirksverbandes Ostwestfalen-Lippe. 2010 übernahm er den Bundesvorsitz.

Christian Schucht, Pfarrer und Theologischer Vorstand der Stiftung "kreuznacher diakonie", hat sein Amt niedergelegt. Er verlasse die Stiftung auf eigenen Wunsch, teilte deren Kuratorium am 18. Dezember mit. Seine Dienstgeschäfte übernimmt zunächst seine bisherige Stellvertreterin, Pfarrerin Sabine Richter. Schucht hatte das Amt am 1. Januar 2016 übernommen. Zuvor war er acht Jahre für die Stiftung als Klinikseelsorger tätig und hatte zudem 2014 die Aufgabe als Referent für Medizinethik übernommen. Es sei Schuchts Wunsch, wieder im pastoralen Dienst tätig zu sein, erklärte die Stiftung weiter. Er werde "in Kürze" wieder eine Aufgabe in der Evangelischen Kirche im Rheinland übernehmen. Die Stiftung "kreuznacher diakonie" ist Träger von Einrichtungen in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Hessen. Sie hat rund 6.800 Beschäftigte.

Gernot Marx, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care des Aachener Universitätsklinikums, ist neuer Präsident der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Der Professor und Facharzt für Anästhesiologie engagiert sich seit 20 Jahren in der DIVI für die Verbesserung der Intensivmedizin, unter anderem als Gründungsmitglied der interdisziplinären Arbeitsgruppe "Schock". 2008 wechselte er auf den bundesweit ersten Lehrstuhl für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin nach Aachen. Er löst Uwe Janssens ab, den Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler, die er seit 2005 leitet. In der DIVI engagiert sich Janssens bereits früh. Seit 2008 ist der Professor Sprecher der Sektion Ethik, in der er sich unter anderem mit der Frage befasst, bis zu welcher Grenze der Einsatz moderner intensivmedizinischer Mittel dem Wohl der Patienten dient. Seit dem 1. Januar 2019 war Janssens Präsident der DIVI.

Christian Sundermann, theologische Geschäftsführer der diakonischen Einrichtung "Bethel im Norden", ist zum Jahresende in den Ruhestand getreten. Der evangelische Pastor hat zehn Jahre lang als einer von drei Geschäftsführenden den Unternehmensbereich der von Bodelschwinghschen Anstalten geleitet. Mit rund 1.800 Mitarbeitenden in mehr als 70 Einrichtungen mit Schwerpunkten in Stadt und Region Hannover und in den Landkreisen Diepholz und Stade zählt Bethel im Norden zu den großen diakonischen Einrichtungen in Niedersachsen. Sundermann war zuständig für die Altenhilfeeinrichtungen in Hannover und Langenhagen, für die Gruppen der Jugendhilfe, für eine große Förderschule und das Birkenhof Bildungszentrum in Hannover-Kirchrode. Übergreifend verantwortete er das Thema Personal, den pastoralen Dienst und die Öffentlichkeitsarbeit. Sundermann war zuvor unter anderem als Superintendent in Hannover sowie als Gemeindepastor in Wolfsburg und in Langenhagen bei Hannover tätig.

Jochen Hanselmann, promovierter Wirtschaftsingenieur, ist neuer stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates des Diakonie-Klinikums Stuttgart. Er übernimmt das Amt von Arthur Eschenbach, der nach 17 Jahren aus Altersgründen den Posten abgibt. Er bleibt weiterhin Mitglied in dem Gremium. Vorsitzender bleibt der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer Alfred Lein. Hanselmann ist seit September 2019 Mitglied des Gremiums. Er ist geschäftsführender Gesellschafter der Hanselmann & Compagnie, eines in der Unternehmens- und Personalberatung sowie im Projektmanagement, in der Prozessoptimierung und Digitalisierung tätigen Unternehmens.

Elisabeth Veldhues, ehemaliges Vorstandsmitglied der Lebenshilfe Nordrhein-Westfalen, ist am 17. Dezember nach langer Krankheit gestorben. Die SPD-Politikerin engagierte sich sowohl auf lokaler Ebene im Kreis Steinfurt, als auch in der Landespolitik als Abgeordnete für die Menschen. So war sie seit 2016 auch Beauftragte für Menschen mit Behinderung in NRW. Veldhues war auch für ihr jahrzehntelanges engagiertes Wirken in zahlreichen Fachausschüssen wie zum Beispiel des Gesundheits- und Krankenhausausschusses des LWL über den Kreis Steinfurt hinaus bekannt.

Diana Wittig (53) ist seit dem 1. Januar neue Chefärztin im Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderung am Standort Marienstift (MZEB) sowie im Integrierten Gesundheitsdienst Neuerkerode (IGN) der Evangelischen Stiftung Neuerkerode. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie war bislang Oberärztin in beiden Einrichtungen. Wittig übernimmt die Nachfolge von Michael-Mark Theil, der die Stiftung zum Jahresende verlassen hat. Beide Einrichtungen gehören zur Lukas-Werk Gesundheitsdienste GmbH, einer Gesellschaft unter dem Dach der in Sickte ansässigen Stiftung Neuerkerode.

Max Heuchert ist als Geschäftsführer für Vitos Gießen-Marburg bestätigt worden. Er hatte die Gesellschaft bislang kommissarisch geleitet. Der Volkswirtschaftler, Ökonom und Philosoph ist dort seit 2016 in Leitungsfunktionen tätig, und zwar für Krankenhausmanagement, Prozess- und Qualitätsmanagement sowie das Klinikmanagement für den Standort Gießen. Davor sammelte er berufliche Erfahrungen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung und der Vereinigung ambulanter Pflege. Zu Vitos Gießen-Marburg gehören das Vitos Klinikum Gießen-Marburg mit den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen und Marburg, der Vitos Klinik Lahnhöhe in Marburg und der Vitos Klinik für Psychosomatik Gießen sowie die Vitos begleitenden psychiatrischen Dienste Gießen-Marburg in Gießen und die Vitos Schule für Gesundheitsberufe Oberhessen. Das gemeinnützige Unternehmen beschäftigt rund 1.100 Mitarbeiter.

Alexander Schirp hat als alternierenden Verwaltungsratsvorsitzender für die Arbeitgeberseite die Spitze des Verwaltungsrates der AOK Nordost zum Jahresende verlassen. Seit zwölf Jahren saß der Jurist für die Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB) im höchsten Selbstverwaltergremium der Kasse. Weil Schirp beim UVB künftig als stellvertretender Hauptgeschäftsführer mehr Verantwortung übernimmt, hatte er bereits vor einiger Zeit angekündigt, den ehrenamtlichen Vorsitz im AOK-Verwaltungsrat aufzugeben. Seine Nachfolge tritt Elmar Stollenwerk an.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Februar



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Januar

11.-13.1.:

Online-Tagung: "Sexualpädagogik reloaded - Fachwoche Katholische Schwangerschaftsberatung 2021"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001801

12.-13.1:

Online-Fortbildung: "Mitarbeiter entwickeln, fördern und binden"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282 17

14.-15.1.:

AWO-Jahrestagung (online): Suchthilfe und Wohnungsnotfallhilfe

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

19.-20.1. Berlin:

Seminar "Sexualpädagogische Konzeptentwicklung in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-27

21.1.:

Online-Seminar "Hass ist keine Meinung! Umgang mit Hate Speech im Netz"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

21.-27.1.:

Online-Seminar "Agile Führung - Teams und Organisationen in die Selbstorganisation führen" der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828215

22.1.-4.2.:

Online-Seminar "Ausländer- und Sozialrecht für EU-Bürger*innen"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

25.-29.1. Freiburg:

Fortbildung "Moderations- und Leitungskompetenz für Konferenzen, Arbeitsteams und Projektgruppen"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/2001700

26.1.:

Online-Seminar "Grundzüge des Arbeitsrechts aus Arbeitgebersicht"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282 17

26.1. Berlin:

Seminar "Chancen- und Risikomanagement in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - vom Umgang mit rechtlichen und wirtschaftlichen Risiken"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

26.-27.1.:

Webinar "Fachtag 8. Altersbericht - Digitalisierung und ältere Menschen" |

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980419

27.1. Berlin:

Seminar "Strategisches Management und Management-Modelle in Non-Profit-Organisationen - Wie kann besseres Management gelingen?"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

27.1.-10.3.:

Online-Fortbildung: "Qualität in stationären Hospizen sorgsam gestalten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

28.1.-8.2.:

Online-Seminar: "Online Seminar: Positive Corona-Effekte - was Führungskräfte aus der Corona-Krise gelernt haben"

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0160/5768667

Februar

8.2. Köln:

Seminar "Die Arbeitsergebnisrechnung von Werkstätten für behinderte Menschen in Zeiten einer Pandemie"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

10.2. Köln:

Seminar "Kostenrechnung für ambulante Pflege- und Betreuungsdienste"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

17.-19.2.:

Online-Seminar: "Sozialräumliches Arbeiten in migrantisch geprägten Quartieren"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

18.-19.2.:

Online-Seminar: "Mit Mitarbeiter/Innen sprechen 2.0"

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

22.-24.2.:

Online-Seminar "Der Offene Dialog als wertebasierte Kommunikation - Die harte Realität der weichen Organisationsentwicklung

der Fortbildungsakademie der Caritas

Tel.: 0761/200-1700

24.2.:

Online-Fortbildung "Die Herausforderungen und Chancen für die Führungskraft bei der Realisierung der Selbststeuerung"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488