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Corona

Wenn die Maske den Blick verdeckt




Der gehörlose Stefan Palm-Ziesenitz in seinem Wohnzimmer in Hamburg, während sich hinter ihm zwei Personen mit Mundschutz unterhalten
epd-bild/Philipp Reiss
Viele gehörlose Menschen sind in Gesprächen darauf angewiesen, anderen Menschen auf den Mund zu sehen. Durch die Maskenpflicht während der Corona-Pandemie können sie sie sich nur schwer verständigen.

Wenn Stefan Palm-Ziesenitz Brot kauft, dann sieht das zurzeit oft ein bisschen anders aus als früher: Eigentlich ist er es gewohnt, mit der Hand die kurzen Schnitte eine Brotmaschine nachzuahmen und dies mit einem kurzen Zischen zu unterstreichen - das ist Gebärdensprache. Die Geste wird auch von Menschen verstanden, die diese nicht können. Aber unter der Maske wird das Zischen nicht wahrgenommen, Palm-Ziesenitz kann seine Geste nicht mehr akustisch unterstreichen. Also improvisiert er nun, stellt die Schnitte mit einer viel ausladenderen Handbewegung nach, als würde er ein Messer halten - eigentlich sogar ein Beil. "Das wird meistens verstanden", sagt er.

Lippenlesen als wichtiges Hilfsmittel

Der 47-Jährige kann nicht hören und sich nur wenig durch seine Stimme verständlich machen. Er kennt es aus seinem Alltag, dass es manchmal etwas länger dauert, bis Menschen ihn verstanden haben oder er sie - aber dass es meistens irgendwann klappt. Seit in Deutschland wegen der Corona-Pandemie an vielen Orten eine Maskenpflicht gilt, dauert es manchmal aber ein bisschen länger. Denn die Maske verstellt den Blick auf den Mund. Das ist für die Kommunikation von gehörlosen Menschen ein Problem - diese sei "stark erschwert", erklärt der Deutsche Gehörlosen-Bund. Aber viele Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung wissen sich zu helfen.

Beim Gespräch in Palm-Ziesenitz' Wohnzimmer ist eine Gebärdensprachendolmetscherin dabei - Palm-Ziesenitz hat dafür eigens eine Ausnahmegenehmigung vom Hamburger Senat eingeholt: ein Reporter, ein Interviewpartner, eine Dolmetscherin - für die aktuellen Corona-Regeln ist das eigentlich ein Haushalt zu viel. "Lippenlesen ist ohnehin schwierig. Man versteht meist nur ein Drittel des Gesprochenen. Worte wie 'Butter' oder 'Mutter' kann man nicht auseinanderhalten", sagt Palm-Ziesenitz. Allerdings komme es immer auf den Kontext an, so sei es in einer Bäckerei ja recht wahrscheinlich, dass das Wort "Brot" falle. "Deswegen kann Lippenlesen ein wichtiges Hilfsmittel sein, um Menschen zu verstehen. Aber das ist mit der Maske nicht mehr möglich."

Auch das Gebärdensprechen sei beeinträchtigt. Das falle insbesondere in der Kommunikation mit Menschen ins Gewicht, die ebenfalls Gebärdensprache beherrschen. Diese sei viel komplexer, weswegen auch deutlich mehr verloren gehe: "Ich habe vor kurzem jemanden in der U-Bahn getroffen. Das Gespräch mit Maske war wirklich mühsam durch Wegfall der Gesichtsmimik und des Mundbildes", sagt Palm-Ziesenitz.

Auf Wohlwollen angewiesen

Lösungsvorschläge für diese Probleme gibt es durchaus. Eine der ersten Ideen, gleich mit dem Aufkommen der Corona-Krise im Frühjahr, war das Tragen von Masken mit Sichtschutz. Gehörlosen-Verbände hatten dies selbst angeregt, die Idee aber schnell wieder verworfen. "In der Praxis haben Masken mit Sichtfenster den Nachteil, dass die Fenster durch die Atemluft schnell beschlagen", erklärte der Gehörlosen-Bund schließlich. Inzwischen sind die Bundesländer in ihren Verordnungen dazu übergegangen, Gehörlose und deren Gesprächspartner situationsbezogen von der Maskenpflicht zu befreien. Die Maske dürfe abgenommen werden, wenn es "zwingend erforderlich" sei, heißt es etwa in der Hamburger Verordnung.

Palm-Ziesenitz darf also auf seinen Mund und seine Ohren deuten und seinen Gesprächspartner so bitten, die Masken für ein Gespräch abzunehmen. Das funktioniert auch meistens, aber natürlich ist niemand verpflichtet, dem Folge zu leisten - Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderung sind also auf das Wohlwollen und die Mitarbeit anderer Menschen angewiesen. Eine bessere Idee als schlichte Rücksichtnahme hat derzeit niemand. Man hoffe "auf das einfühlsame Miteinander der Gesellschaft", sagt Norbert Böttges, Vorsitzender des Schwerhörigenbundes in Nordrhein-Westfalen.

Sebastian Stoll