sozial-Editorial

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Nils Sandrisser
epd-bild/Christiane Stock

Bahnhofsmissionen finanzieren sich in der Regel aus mehreren Quellen: öffentliches Geld, kirchliche Eigenmittel und Spenden. Aber seit geraumer Zeit versiegen diese Quellen mehr und mehr. Wie sehr Bahnhofsmissionen zu kämpfen haben, hat sich Helga Kristina Kothe in Kassel angeschaut. Der Vorsitzende der Bahnhofsmission Deutschland, Josef Lüttig, erklärt, warum und wie Bahnhofsmissionen in der Vergangenheit den Schwerpunkt ihrer Arbeit verändert haben und wie ihre Zukunft gesichert werden könnte.

Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien verabredet, die Einführung eines Familienpflegegelds zu prüfen, und nun hat Familienministerin Karin Prien dazu einen Vorstoß gemacht. Sozialverbände finden das überwiegend gut, die Arbeitgeber der professionellen Pflege eher nicht.

Die Krankheit Fibrodysplasia ossificans progressiva ist selten. Aber die Folgen für Betroffene sind schwerwiegend: Ihr Muskelgewebe wandelt sich in Knochen um. Frühe Symptome sind oft nicht eindeutig, und das Wissen über den seltenen Gendefekt unter Medizinern ist noch ausbaufähig. Die Folge sind Fehldiagnosen und falsche Behandlungen. Ein Selbsthilfeverein im hessischen Oberursel unterstützt Betroffene und ihre Angehörigen.

Für manche tödlich verlaufenden Krankheiten gibt es zwar Behandlungsmethoden, aber die sind teuer. Trotzdem darf eine Krankenkasse an ein Menschenleben kein Preisschild hängen, urteilte das Kasseler Bundessozialgericht im Fall eines Manns mit seltener Lungenerkrankung. Er hatte auf eine Behandlungsmethode aus den USA gehofft, seinen Antrag auf Kostenübernahme hatte die Kasse aber abgelehnt. Die Übernahmepflicht der Kassen gilt allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen.

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Ihr Nils Sandrisser




sozial-Thema

Kirchen

Bahnhofsmissionen kämpfen um Finanzierung




In der Kasseler Bahnhofsmission
epd-bild/Helga Kristina Kothe
Die Ökumenische Bahnhofsmission in Kassel wirbt unter der Überschrift "Seien Sie eine/r von 100" um Paten. Sie sollen helfen, die Versorgung Bedürftiger am Bahnhof sicherzustellen.

Kassel (epd). Rund um den ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe sind täglich viele Menschen auf der Suche nach Unterstützung. Weil sie allein eine Reise nicht bewältigen können oder weil sie in existenziellen Notlagen sind. Gerade für Menschen, die obdach- oder wohnungslos, suchtkrank oder anderweitig hilfsbedürftig sind, ist die Bahnhofsmission eine wichtige Anlaufstelle. Jeden Tag unterstützt das Team Bedürftige, schenkt ihnen ein offenes Ohr, gibt Essen, Trinken und Kleidung aus. Rund 30.000 Mal im Jahr wird die Kasseler Bahnhofsmission nach eigenen Angaben deshalb aufgesucht.

„Seit der Pandemie hat die Bahnhofsmission angesichts der Notlage vieler Menschen ihr Verpflegungsangebot ausgeweitet“, sagt Leiterin Karin Stürznickel-Holst. Viele Hilfesuchende klopften regelmäßig an. Sie bekommen Brot, Obst oder Gebäck zum Mitnehmen, ein Frühstück, warme Getränke oder auch eine heiße Suppe. Viele seien dankbar und erleichtert, hier zweimal täglich eine Mahlzeit zu erhalten.

Mehr Hilfesuchende an Monatsenden

Täglich nutzen zwischen 60 und 130 Menschen das Angebot - und je näher das Monatsende rückt, desto mehr werden es. Unter ihnen sind Menschen, die ihre Wohnung oder Arbeit verloren haben, mit psychischen Erkrankungen oder Suchtproblemen kämpfen oder deren Einkommen schlicht nicht zum Leben reicht. Eine Frau berichtet, ihre Rente sei so gering, dass sie auf die Hilfe angewiesen ist: „Das ist doch traurig, oder?“

Die Reisebegleitung etwa für Kinder oder Senioren sei stark zurückgegangen, berichtet Stürznickel-Holst. Schwerpunkt der Arbeit sei die Grundversorgung von Menschen in existenziellen Notlagen. In der Bahnhofsmission finden diese einen geschützten Ort zum Aufwärmen, für Gespräche und Beratung. „Für unsere Gäste ist das, was für viele selbstverständlich ist, ein Zeichen von Menschlichkeit - ein Brötchen und eine Tasse Kaffee“, sagt die Leiterin.

Die Versorgung Bedürftiger kostet jährlich rund 25.000 Euro - eine Regelfinanzierung gibt es nicht, erklärt Stürznickel-Holst. Bisher halfen Spenden, Mittel aus dem Kasseler „Pakt gegen Armut“ und dem Nothilfefonds des Bistums Fulda. Doch die Finanzierung wird schwieriger: Die Leiterin beobachtet eine wachsende Zurückhaltung der Spenderinnen und Spender. Gleichzeitig schränke der steigende finanzielle Druck auf die Kirchen deren Möglichkeiten für zusätzliche Unterstützung ein. Und Lebensmittel müssten wegen zurückgehender Lebensmittelspenden teuer zugekauft werden.

Zunehmende Finanzierungsprobleme

Durch die sinkenden Kirchensteuereinnahmen leiden die von der evangelischen und katholischen Kirche getragenen Bahnhofsmissionen zunehmend unter Finanzierungsproblemen. Die Einrichtung in Gießen musste deshalb im vergangenen Jahr ihre Arbeit einstellen. Mit ihrer Schließung hat sich die Zahl der Bahnhofsmissionen in Deutschland auf 99 verringert. Laut Ann-Katrin Jehn, Referentin Bahnhofsmission bei der Caritas im Bistum Fulda, und ihrer Kollegin Ursula Stegemann von der Diakonie Hessen ist ihre Finanzierung stets knapp kalkuliert und muss regelmäßig neu verhandelt werden. Dagegen steige der Bedarf an Hilfe durch wachsende Armut und Wohnungslosigkeit. Hinzu kämen geflüchtete Menschen, die Rat suchen.

Neben der Finanzierung durch die Träger Diakonie und Caritas sowie teilweise durch die Kommunen seien die Bahnhofsmissionen auf Spenden, Kollekten und Mittel aus Stiftungen und Fundraising angewiesen, sagen die Fachreferentinnen. Spenden eigneten sich gut, um besondere Ausgaben zu decken oder die Versorgung der Gäste mit Essen und Hygieneartikeln zu finanzieren. Sie kämen jedoch unregelmäßig und in schwankender Höhe, sodass sie sich nicht verlässlich ins Budget einplanen ließen.

Werbung um Paten

Deshalb hat die Kasseler Bahnhofsmission die Aktion „Seien Sie eine/r von 100“ gestartet und wirbt damit um Paten, die jeden Monat 20 Euro spenden. Beteiligten sich 100 Menschen, sei die Versorgung Bedürftiger gesichert, so die Leiterin. Die Ideengeberin ist eine Frau, die seit Jahren anonym 20 Euro monatlich spendet: „Wir kennen weder die Adresse noch den Hintergrund, aber diese Frau ist praktisch die erste von 100.“

Die Verpflegung Bedürftiger sei oft der Einstieg in die Sozialberatung, erklärt die Leiterin. Und hier gehe es häufig darum, Wohnraum und Existenz zu sichern. Die Bahnhofsmission verstehe sich als unbürokratische Anlaufstelle, als letzte soziale Auffanglinie und Drehscheibe zu weiteren Hilfsangeboten.

Helga Kristina Kothe


Kirchen

Bahnhofsmissionen: "Einzigartiges Hilfenetz sichern"




Josef Lüttig
epd-bild/Bahnhofsmission Deutschland
Nach Ansicht von Josef Lüttig, Vorsitzender von Bahnhofsmission Deutschland e.V. in Berlin, sind Bahnhofsmissionen unverzichtbare Schutz- und Rückzugsorte für Menschen, die von Ausgrenzung betroffen sind. Dieser Teil der Arbeit nehme an Umfang und Bedeutung zu.

Kassel, Berlin (epd). Josef Lüttig, Vorsitzender von Bahnhofsmission Deutschland, misst angesichts sinkender Kirchenmittel Spenden eine immer größere Bedeutung für ihre Arbeit bei, um das bundesweite Hilfenetz zu sichern. Wenn das nicht gelingt, sieht er die Gefahr von einem Abbau der Angebote bis hin zu Schließungen. Die Fragen stellte Helga Kristina Kothe.

epd sozial: Herr Lüttig, wie hat sich die finanzielle Situation der Bahnhofsmissionen in den vergangenen Jahren verändert?*

Josef Lüttig: Bahnhofsmissionen sind in der Regel mischfinanziert. Den überwiegenden Teil machen kirchliche Eigenmittel aus. In einer Abfrage, nicht repräsentativ, im Jahr 2023 betrug deren Anteil durchschnittlich etwa die Hälfte der Budgets, öffentliche Zuschüsse machten ein knappes Viertel aus, Spenden etwas mehr als ein Fünftel. Bei absehbar rückläufigen Kirchensteuereinnahmen wird das Einwerben von Spenden und weiteren Drittmitteln immer wichtiger. Wenn dies nicht gelingt, drohen Angebotsrückbau und Schließungen.

epd: Welche Auswirkungen hat dies auf die Versorgung bedürftiger Menschen?

Lüttig: Die Studie „Sichere Bahnhöfe für alle“ hat gerade eindrücklich herausgearbeitet, wie wichtig es ist, an Bahnhöfen Schutz- und Rückzugsräume für von Ausgrenzung betroffene Menschen zu schaffen und welchen Beitrag dies zur Sicherheit der Bahnhöfe leistet. Schließungen oder reduzierte Öffnungszeiten von Bahnhofsmissionen bedeuten für diese Menschen weniger Kontakt- und Hilfemöglichkeiten, den Verlust eines etablierten Schutzraums und eine Verdrängung in den potenziell unsicheren und angstauslösenden öffentlichen Raum.

epd: Wie gehen Bahnhofsmissionen mit der Herausforderung um, die steigende Nachfrage nach Unterstützung bei gleichzeitig sinkenden Budgets zu bewältigen?

Lüttig: Die Bahnhofsmissionen haben die Herausforderung angenommen und ihre Schwerpunkte zugunsten der wachsenden Nachfrage durch von Armut und Ausgrenzung betroffene Menschen verändert. Deren Anteil an den jährlich über zwei Millionen Gästen ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und machte 2023 zwei Drittel der Gästekontakte aus, in Metropolen sogar 85 Prozent. Die Unterstützung dieser Menschen ist zur Hauptaufgabe vieler Bahnhofsmissionen geworden; rückläufig sind trotz steigender Fahrgastzahlen die Hilfen für Reisende, für die mancherorts die Kapazitäten nicht ausreichen.

epd: Die Bahnhofsmission in Gießen musste im vergangenen Jahr wegen Geldmangels schließen. Gibt es weitere Beispiele?

Lüttig: Ja, die gibt es. Ihre Tore geschlossen haben in den vergangenen Jahren die Bahnhofsmissionen in Darmstadt, Kehl, Gießen, Ravensburg, Elze, Kempten und Recklinghausen sowie vorübergehend in Friedrichshafen und Bitterfeld. Für letztere haben sich mittlerweile neue Perspektiven ergeben. Bei weiteren Standorten konnten Schließungen abgewendet werden.

epd: Die Kirchen haben weniger Geld zur Verfügung und damit auch die Träger der Bahnhofsmissionen, Diakonie und Caritas. Wie kann ihre Finanzierung für die Zukunft sichergestellt werden?

Lüttig: Trotz mancher Sorgen freuen wir uns über ein weiter starkes Bekenntnis von Diakonie und Caritas zur Bahnhofsmission an fast 100 Standorten und werten dies als Zeichen der Solidarität mit benachteiligten Menschen im Sozialraum Bahnhof. Unser gemeinsames Anliegen muss es, sein, dieses weltweit einzigartige Hilfenetz für diese Menschen zu sichern und zukunftsfähig zu machen. Dafür müssen auch weiter kirchliche Mittel aufgewendet werden.

epd: Wie kann die Politik dazu beitragen, die finanziellen Ressourcen für die Arbeit von Bahnhofsmissionen zu sichern?

Lüttig: Politisch Verantwortliche bringen den Bahnhofsmissionen große Wertschätzung entgegen und bringen das in vielen Besuchen vor Ort zum Ausdruck. Damit Bahnhofsmissionen als bundesweites Hilfenetz eine Zukunft haben, muss daraus mehr werden als nur eine ideelle Unterstützung. In einigen Kommunen und auch auf Länderebene gibt es bereits Beispiele guter Förderpraxis, denen sich andere anschließen können.

epd: Können mit Spenden auch besondere Projekte realisiert werden?

Lüttig: Einerseits kommt ein beträchtlicher Teil direkt bedürftigen Gästen zugute, andererseits helfen sie, die Arbeit abzusichern und besondere Angebote zu ermöglichen, wie etwa die Schaffung von Schutz- und Begegnungsräumen für weibliche Gäste. Frauen meiden den Aufenthalt in unseren Räumen manchmal, weil vorwiegend von Männern genutzte Räume besonders für Frauen mit Gewalterfahrungen angstauslösend sein können. Spenden kann man übrigens auch seine Zeit, viele Bahnhofsmissionen suchen gerade dringend neue Freiwillige.




sozial-Politik

Pflege

Sozialverbände loben Pläne für ein Familienpflegegeld




Pflege durch Angehörige
epd-bild/Jörn Neumann
Aus Sicht von Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) sollte pflegenden Angehörigen ein Pflegegeld als Lohnersatz gezahlt werden. Pflege könne nicht allein von Fachkräften geleistet werden. Von Sozialverbänden kommt Zustimmung - trotz Bedenken bei der Finanzierung.

Berlin (epd). Ein Vorstoß von Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) für einen Lohnersatz für pflegende Angehörige stößt bei den großen Sozialverbänden auf Zustimmung. Zur Begründung für die Einführung eines Familienpflegegelds sagte Prien den Zeitungen der Funke Mediengruppe am 20. Mai: „Es wird mit unserer demografischen Entwicklung nicht möglich sein, dass Pflege allein von Fachkräften geleistet wird.“ Deshalb müsse man „einen Einstieg in ein Pflegegeld als Lohnersatz für pflegende Angehörige schaffen“. Als Vorbehalt für die neue Sozialleistung nannte sie aber die wirtschaftliche Entwicklung.

Genau das sieht der Sozialverband VdK kritisch. Es sei schwierig, „dass diese Lohnersatzleistung von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig gemacht werden soll“, sagte Präsidentin Verena Bentele in Berlin. Doch es sei gut, „pflegende Angehörige finanziell zu unterstützen, damit sie sich mit voller Kraft der Pflege widmen können und nicht finanzielle Sorgen haben müssen“. Sie forderte einen einkommensunabhängigen Pflegelohn, der nach Pflegegrad gestaffelt ist. Als Zwischenschritt sei das Familienpflegegeld denkbar, weil es eine finanzielle Verbesserung für pflegende Angehörige darstelle.

Diakonie spricht von großer Erleichterung

Diakonie-Bundesvorständin Elke Ronneberger sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), das Familienpflegegeld sei eine große Erleichterung für pflegende Angehörige: „Es ist ein wichtiger Schritt, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern.“ Die Pflege durch Angehörige sei das Rückgrat der Langzeitpflege in Deutschland und werde aktuell immer wichtiger. „Die Pflege zu Hause entspricht dem Wunsch der allermeisten pflegebedürftigen Menschen. Manchmal gibt es keine Alternative, weil es vor Ort keine passenden professionellen Angebote gibt.“ Vor diesem Hintergrund unterstütze die Diakonie Deutschland Priens Vorschlag nachdrücklich.

ASB-Hauptgeschäftsführer Uwe Martin Fichtmüller sagte dem epd, Pflegegeld als Lohnersatz sei gut, dürfe aber „nicht erneut zu einer Leistungsausweitung führen, die nicht durch Beiträge oder Steuermittel abgesichert ist“. Die nicht finanziell abgesicherten Leistungsausweitungen der vergangenen Jahre hätten neben dem demografischen Effekt zu dem jetzt viel diskutierten Finanzdesaster in der Pflegeversicherung geführt.

Caritas rechnet mit Kosten von jährlich zwei Milliarden Euro

Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, nannte eine Lohnersatzleistung einen wichtigen Baustein. Die jetzigen Regelungen im Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz seien kompliziert und nicht wirklich alltagstauglich. Die Freistellungsansprüche müssten flexibler gestaltet und der Kreis der Angehörigen dringend erweitert werden. „Die demografische Entwicklung duldet keinen Aufschub“, mahnte Welskop-Deffaa. Sie schätzte die jährlichen Kosten der Reformen samt der Zahlung des Familienpflegegelds auf jährlich rund zwei Milliarden Euro.

Im schwarz-roten Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir prüfen, wie perspektivisch ein Familienpflegegeld eingeführt werden kann.“ Ministerin Prien sagte, zum Einstieg seien „viele Varianten denkbar“: „Man kann über die Bezugsdauer reden, über die Höhe, über eine soziale Staffelung.“

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, nahm ebenfalls die Kosten in den Blick: „Erst wenn die Plünderung der Pflegeversicherung durch versicherungsfremde Leistungen gestoppt wird, sind Lohnersatzleistungen wie das Familienpflegegeld möglich.“ Das sei die Voraussetzung, um die Pflegeversicherung und das Langzeitpflege-System zukunftssicher und generationsgerecht zu machen.

Brysch: Plünderung der Pflegeversicherung stoppen

„Ein Lohnersatz für pflegende Erwerbstätige würde Frauen finanziell besser absichern und Männer ermutigen, sich ebenfalls um ihre Angehörigen zu kümmern“, erklärte die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Frauenrates, Anja Weusthoff. Man brauche auch in der Pflege Anreize für mehr Partnerschaftlichkeit.

Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende, sagte, eine Lohnersatzleistung für Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit reduzieren, um Angehörige zu pflegen, sei längst überfällig. Und weiter: „Wir brauchen dabei nicht nur eine finanzielle Leistung analog zum Elterngeld, sondern auch verbesserte Ansprüche auf Kündigungsschutz und Freistellung gegenüber dem Arbeitgeber - wie es der Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf vorgeschlagen hatte.“ Ebenso komme es darauf an, Betreuungsangebote für Pflegebedürftige auszubauen, damit pflegende Erwerbstätige durch ambulante Dienste und Angebote der Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege unterstützt werden.

AGVP: Plan setzt falschen Anreiz

Dagegen ging der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) auf Distanz zum Vorhaben der Ministerin: Der Vorstoß setze falsche Anreize, sagte Präsident Thomas Greiner: „Ein Lohnersatz für pflegende Angehörige ist gut gemeint, führt aber ökonomisch und gesellschaftlich in die falsche Richtung.“ Eine solche Reform habe negative Folgen für die Wirtschaft und für die Gleichstellung von Frauen. So werde der Ausstieg aus dem Erwerbsleben gefördert und der Wirtschaft dringend benötigte Fachkräfte entzogen.

Greiner: „Betroffen wären vor allem Frauen, denn meistens sind sie es, die sich zu Hause um die Pflegebedürftigen kümmern. Schon jetzt sind zwei Drittel der pflegenden Angehörigen Frauen.“ Die Bundesregierung müsse eine stabile und professionelle Pflegeinfrastruktur ermöglichen, nicht Angehörige aus dem Arbeitsmarkt drängen.

Berufsverband: Problem wäre nicht gelöst

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sieht Priens Ansatz zwar grundsätzlich positiv, aus dessen Sicht geht er aber nicht weit genug. DBfK-Bundesgeschäftsführerin Bernadette Klapper sagte, pflegende Angehörige bräuchten mehr Geld, erklärte aber zugleich: „Ein Pflegegeld ersetzt keine Fachkraft, keine Anleitung im Notfall und keine kontinuierliche Versorgungssicherheit.“

Es braucht nach Klappers Worten den flächendeckenden Einsatz von sogenannten Community Health Nurses. Diese Pflegefachkräfte mit akademischer Weiterbildung berieten, steuerten und stabilisierten in komplexen Pflegesituationen vor Ort und seien die Lösung für die strukturelle Überlastung von Angehörigen. Ein Lohnersatz hingegen sei nicht mehr als „ein wichtiges Signal“.

Dirk Baas


Pflege

DAK: Glauben der Bürger an gute Pflege schwindet



Mit einem neuen Gutachten untermauert die Krankenkasse DAK ihre Forderungen nach tiefgreifenden Reformen in der Pflege. Die Daten zeigen: Viele Bürgerinnen und Bürger haben den Glauben an eine gute und bezahlbare Pflege längst aufgegeben.

Hamburg (epd). Die Krankenkasse DAK fordert einen schnellen und umfassenden Umbau der gesetzlichen Pflegeversicherung. „Es ist richtig, dass die Bundesregierung dazu noch in diesem Jahr durch eine Kommission Vorschläge erarbeiten lassen will“, sagte Vorstandschef Andreas Storm am 22. Mai bei der Vorstellung des DAK-Pflegereports 2025 in Hamburg. Doch es brauche bereits jetzt schnelle Finanzhilfen des Bundes, um den drohenden Pflegekollaps abzuwenden.

Für die Untersuchung hat die Kasse nach eigener Darstellung 4.580 Personen zwischen 16 und 70 Jahren befragt, was sie von der Pflegeversorgung halten und wo sie auf Reformen der Politik hoffen. Die Antworten belegten einen eklatanten Vertrauensverlust in das bestehende System der Pflegeversicherung und nähmen die Politik in die Pflicht.

DAK-Chef mahnt zu schnellem Handeln

65 Prozent der Befragten hielten die Versorgung für nicht gut. 92 Prozent sagten, gute Pflege hänge vom eigenen Vermögen ab, berichtete Vorstandchef Storm. Zwei Drittel erwarten demnach, sich im Alter gar keine professionelle Pflegeunterstützung leisten zu können. Und 85 Prozent der Menschen sagten, die Politik müsse mehr für die Sicherstellung einer verlässlichen Pflege tun.

Mit Blick auf die großen Defizite in den Pflegekassen mahnte Storm, die Krise in der Pflege erzwinge schnelles Handeln. Die zum Jahreswechsel vorgenommene Beitragssatzerhöhung um 0,2 Prozentpunkte reiche nicht aus, um die Finanzierung der Leistungen zu sichern. Nach aktuellen Berechnungen der Pflegekasse bestehe schon in diesem Jahr ein Defizit von 1,65 Milliarden Euro, das sich 2026 voraussichtlich auf 3,5 Milliarden Euro mehr als verdoppeln werde. Ohne entschiedenes Gegensteuern müsse der Pflegebeitrag dann um mindestens 0,3 Beitragssatzpunkte steigen.

Storm rief die Regierung unter anderem zur kurzfristigen Rückzahlung der Corona-Hilfen an die Pflegekassen in Höhe von 5,2 Milliarden Euro auf. Während der Pandemie waren die Pflegekassen verpflichtet worden, unter anderem für Corona-Tests und Pflege-Boni in Pflegeheimen zu zahlen. Für eine Rückzahlung schlägt die DAK zwei Raten über jeweils 2,6 Milliarden Euro vor: die erste in diesem, die zweite im nächsten Jahr.

Viele Reformschritte nötig

Der Autor der Erhebung, Thomas Klie vom Institut AGP Sozialforschung, stellte klar, dass es nicht allein darum gehe, mehr Geld in die Pflegekasse zu bekommen. Um das System der Pflege effektiver und auch zukunftssicher zu machen, seien viele Reformschritte nötig. Die Umfrage belegt laut Klie, dass viele Menschen vorhandene Beratungsangebote wie die Pflegestützpunkte nicht kennen. Folglich fehle Betroffenen oft der Zugang zur professionellen pflegerischen Versorgung. Es gehe um die Frage, wie auch in der Pflege gleichwertige Lebensbedingungen in Deutschland gewährleistet werden könnten. „Hier braucht es einheitliche Standards, die sich an den Lebensrealitäten der Betroffenen und an den regionalen Gegebenheiten orientieren“, sagte Klie.

Er warb für das Konzept „Pflegestützpunkt plus“. Ziele seien unter anderem eine bessere Vernetzung und gezielte Steuerung der ehrenamtlichen Hilfen. Die Bundesregierung müsse die Pflegeberatung in den Kommunen ausbauen und gesetzlich neu konzipieren.

Der Arbeitgeberverband Pflege ging auf Distanz zu den Forderungen: „Pflegeberatung ist sinnvoll, aber wird überschätzt, wenn sie als Hauptlösung verkauft wird“, sagte Präsident Thomas Greiner. Zwar wünschten sich und verdienten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mehr Beratung. „Aber damit werden Heimsterben und Versorgungskrise nicht überwunden.“

Dirk Baas


Kinder

Forschungsbericht benennt Leid von Verschickungskindern




Koffer eines Verschickungskinds
epd-Bild/Jens Schulze
Missstände in Kinderkurheimen waren in der alten Bundesrepublik weit verbreitet. Wie weit genau, kann auch eine neue Untersuchung nicht klären. Aber der Forschungsbericht nennt einige Ursachen.

Berlin (epd). Heimweh, schlechte Hygienebedingungen und oft ein strenges Regiment. In Schlaf- und Ruhezeiten war mitunter sogar der Gang zur Toilette verboten. So schildert es Alexander Nützenadel. Der Historiker der Berliner Humboldt-Universität hat ein Forschungsprojekt zu Kinderkurheimen in der alten Bundesrepublik geleitet, in dem Verschickungskinder manchmal ihr Erbrochenes essen mussten und andere schlimme Dinge erlebten.

Die Untersuchung „Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945-1989“ fokussiert sich auf Heime ab der Nachkriegszeit. Ehemalige Heimträger wie der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland, Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und die Deutsche Rentenversicherung hatten die Studie beauftragt. „Es ging in den Heimen darum, Kinder, die schlecht ernährt waren oder Mangelkrankheiten hatten, wieder aufzubauen“, erklärt Nützenadel. Zudem sollten Eltern oder Mütter entlastet werden.

Grenze zu Gewalt überschritten

Dem Forschungsbericht zufolge waren Missstände in diesen Heimen weit verbreitet. Zwangsmaßnahmen waren oft hart und überschritten die Grenze zur Gewalt. Nicht nur Personal wurde gewalttätig, sondern manchmal auch andere Kinder. Auch sexualisierte Gewalt kam vor. Für diese Missstände benennt Nützenadel mehrere Ursachen.

Besonders hebt er die Unterfinanzierung der Heime hervor. Die Pflegesätze seien gering gewesen, sagt der Historiker. Der häufig geäußerte Vorwurf, Heimträger hätten sich bereichert, treffe eher nicht zu. Zudem sei die Aufsicht über die Heime oft unzulänglich gewesen, Fehlverhalten habe oft keine Konsequenzen gehabt, erklärt er: „Es wurde kein Heim geschlossen aufgrund von Beschwerden.“ Personal sei knapp gewesen, und Teile des vorhandenen Personals sei von Ideen der Pädagogik unter den Nazis infiziert gewesen. Das aber, schränkt der Forscher ein, sei eher nicht die Hauptursache gewesen, denn autoritäre Erziehungspraktiken gab es ja schon vor 1933.

Nützenadel weist auch darauf hin, dass die Spannbreite zwischen den Heimen sehr groß gewesen sei: „Es waren nicht alle Heime von Missständen geprägt.“ Kinder hätten von positiven Erinnerungen an ihre Kuraufenthalte berichtet. Wie groß das Problem gewesen sei, könne die Studie nicht aufklären, schränkt er ein: „Rückwirkend ist keine repräsentative Quantifizierung der Missstände möglich.“ Die Untersuchung mache aber deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle gehandelt habe, sondern dass Vorfälle strukturell bedingt gewesen seien.

Statistiken oft lückenhaft

Der Bericht basiert auf umfangreicher Archivarbeit. Die Berliner Forschenden sichteten Unterlagen aus staatlichen Archiven auf Landes- und Kommunalebene aus allen alten Bundesländern außer dem Saarland. Der regionale Schwerpunkt lag dabei auf Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. In diesen Ländern habe es auch die meisten der mehr als 2.000 Kinderkureinrichtungen gegeben, hieß es.

Offizielle Statistiken seien allerdings lückenhaft, stellt der Bericht fest. Es sei zu vermuten, dass hier lediglich die Heime einflossen, die unter Aufsicht der Jugendämter standen, während solche, für die Gesundheitsämter zuständig waren, außen vor blieben. Daher bezogen die Forschenden Archive von Wohlfahrtsverbänden wie DRK, Caritas und Diakonie sowie Dokumente aus privaten Beständen ein. Darüber hinaus führten sie leitfadengestützte Interviews mit Betroffenen und ließen online Fragebögen ausfüllen.

Im Fokus des Berichts stehen Heime von Caritas, Diakonie und DRK, die zu den größten Heimträgern zählten, hieß es. Die Deutsche Rentenversicherung und ihre Vorgängerorganisationen hätten ebenfalls Heime unterhalten und jahrzehntelang Kinderkuren finanziert.

Indizien für quantitative Verteilung

Christiane Dienel von der Initiative Verschickungskinder saß im Beirat des Forschungsprojekts. Bezüglich der Quantifizierbarkeit von Missständen weist sie darauf hin, dass es zwar Dankesbriefe an viele Einrichtungen für die schöne Zeit dort gibt, aber dass diese Briefe weit überwiegend aus der Feder von Eltern stammten, nicht von Kindern. Zudem gebe es als Reaktion auf das Forschungsprojekt zwar viele Rückmeldungen von Menschen, die von negativen Erlebnissen berichten, aber kaum solche, die schöne Kindheitserinnerungen verteidigten. „Das ist ein gewisses Indiz“, sagt Dienel.

Der Forschungsbericht ist Dienels Worten zufolge als historische Einordnung für viele Betroffene schwierig. Er könne von ihnen als „Angriff auf die Authentizität ihrer Schilderungen“ aufgefasst werden. Das Ziel des Berichts sei aber nicht, etwas zu verschleiern, sondern eben einzuordnen. Er komme auch genau im richtigen Moment. Dienel weist darauf hin, dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart habe, die Aufarbeitung der Kinderkuren zu unterstützen.

Kinderkuren gibt es heute zwar so gut wie nicht mehr, aber auch heute noch gibt es stationäre Einrichtungen für Kinder, etwa für Reha-Maßnahmen. Die Träger dieser Einrichtungen verweisen auf Verbesserungen, die eine Wiederholung solcher Zustände wie in den Kinderkurheimen erschwerten. Anna Steinfort vom Deutschen Caritasverband nennt das Konzept der geteilten Verantwortung, wenn beispielsweise der Medizinische Dienst Heime kontrolliere. Andreas Denk vom DRK verweist auf Gewaltschutzkonzepte und darauf, dass Kinder sich heute beteiligen können und sich beschweren können.

Situation in DDR bleibt unbeleuchtet

Nützenadel weist darauf hin, dass mit dem Fokus auf die alte Bundesrepublik „nicht gesagt sein soll, dass es in der DDR keine Kinderkuren und keine Missstände gab“. Das sei nämlich sehr wohl der Fall gewesen. Strukturen in der DDR hätten sich aber von denen in der BRD so deutlich unterschieden, dass ein Vergleich in diesem Forschungsprojekt nicht sinnvoll gewesen sei. Zu Verschickungskindern in der DDR müsse es eine eigene Forschung geben.

Nils Sandrisser


Kinder

Hintergrund

Das Stichwort: Kinderkurheime



Zwischen 1951 und 1990 haben laut dem Forschungsbericht „Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945-1989“ zwischen 9,8 und 13,2 Millionen westdeutsche Kinder Aufenthalte in Kinderkurheimen durchlaufen. Dabei seien viele Verschickungskinder Missständen wie mangelnden hygienischen Verhältnissen, schlechter Betreuung und Zwangsmaßnahmen bis hin zu physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen. Verschickungskinder waren meist zwischen 4 und 14 Jahre alt.

Am häufigsten befanden sich Kinderkurheime in privater Trägerschaft (674 von mehr als 2.000 Heimen). 411 Heime standen unter Trägerschaft der Caritas, 227 unter der der Diakonie. Die Kommunen betrieben 182 Heime, die Arbeiterwohlfahrt 111, das Deutsche Rote Kreuz 88, und die Deutsche Rentenversicherung 31. Es gab drei Säulen der Finanzierung: Geldgeber waren die Rentenversicherung, die Krankenversicherung und die Sozialfürsorge.

Missbrauch durch die Nazis

Die Wurzeln der Kinderkurheime liegen im 19. Jahrhundert. Sie wurden meist eingerichtet, um die schlechte Gesundheit vieler Kinder zu verbessern. Die Nazis missbrauchten die Heime, um ihre repressive Pädagogik und ihre Ideologie durchzusetzen.

Ab Mitte der 1970er Jahre sank die Nachfrage nach Kinderkuren. Ursachen waren der Geburtenrückgang, zunehmende Freizeit- und Urlaubsmöglichkeiten durch steigenden Wohlstand und Veränderungen im Sozialrecht. Ab den 1980er Jahren ab es kaum noch Heime.



Armut

Interview

Armutskonferenz: Staatliche Hilfen aus einer Hand anbieten




Michael David
epd-bild/NAK/Hermann Bredehorst
Die Nationale Armutskonferenz (NAK) blickt wenig euphorisch auf die künftige Politik gegen soziale Ausgrenzung. Sie vermisst konkrete Aussagen im Koalitionsvertrag. "Das alles ist noch recht unentschlossen", sagt Michael David, Mitglied im Koordinierungskreis der NAK, im Interview mit epd sozial.

Berlin (epd). Michael David, Zentrumsleiter Soziales und Beteiligung bei der Diakonie Deutschland, sagte, es gebe zwar einige Prüfaufträge, „aber Koalitionsverträge haben es so an sich, nur eine Grundlage zu legen. Es ist also offen, was bei möglichen Prüfungen herauskommt und dann auch umgesetzt wird“. Gleichwohl müsse es das Ziel der Regierung sein, staatliche Hilfen aus einer Hand anzubieten. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung finden sich nur wenige Sätze zum Thema Kinderarmut. Dämpft das die Erwartungen der Nationalen Armutskonferenz auf diesem sozialpolitischen Feld?

Michael David: Zunächst mal ist natürlich klar, dass es keine Kindergrundsicherung geben wird, obwohl vieles dafür gesprochen hat. Aber immerhin erwähnt der Koalitionsvertrag von Union und SPD das Ziel der neuen Regierung, die Kinderarmut zu bekämpfen. Und fest steht auch, dass das Geld im Bildungs- und Teilhabepaket um 5 auf 20 Euro angehoben wird.

epd: Aber wird dieses Geld künftig besser ankommen? Es gibt ja schon lange die Kritik, dass die Antragsverfahren sehr kompliziert sind.

David: Genau das ist das Problem. Die bestehenden familienpolitischen Leistungen sind im Antragsverfahren noch immer sehr bürokratisch. Man muss vier, fünf, sechs verschiedene Anträge auf verschiedene, sich ergänzende Leistungen stellen, damit das Existenzminimum samt dem der Kinder abgedeckt wird. Es wird viel hin- und hergerechnet, es gibt unterschiedliche Fristen, in denen das passieren muss. Die Folge ist, dass das viele Leute gar nicht hinbekommen. So nehmen zum Beispiel nur 50 Prozent der Berechtigten den ihnen zustehenden Kinderzuschlag überhaupt in Anspruch. Das hat man wohl jetzt erkannt, und so klingt im Koalitionsvertrag zumindest an, dass man das anders organisieren will.

epd: Wie könnte das besser und vor allem unbürokratischer geregelt werden?

David: Den Betroffenen würde es schon sehr helfen, wenn sie nur einen Antrag stellen müssten, um ihre Ansprüche prüfen zu lassen. Die Ämter untereinander müssten das klären, könnten die Leistungen prüfen und auch untereinander verrechnen. Am Ende stünde dann ein Bescheid, aus dem hervorgeht, wie viel Geld tatsächlich auszuzahlen ist. Da könnte dann auch drinstehen, welche Teilsummen von welcher Behörde kommen. So wäre das alles gut nachzuvollziehen und das bürokratische Kuddelmuddel hätte ein Ende.

epd: Der Koalitionsvertrag deutet nur knapp an, was anders laufen soll.

David: Ja, dort heißt es wörtlich nur: „Viele soziale Leistungen sind unzureichend aufeinander abgestimmt. Wir wollen Leistungen zusammenfassen und besser aufeinander abstimmen, etwa durch die Zusammenführung von Wohngeld und Kinderzuschlag.“ Aber präziser werden die Koalitionäre nicht, das ist noch recht unentschlossen. Dabei sollte es ja weiterhin das Ziel sein, Hilfen aus einer Hand zu ermöglichen.

epd: Wird es grundlegende Korrekturen geben, um das zu erreichen?

David: Ich bin da nicht sehr optimistisch. Es gibt zwar einige Prüfaufträge, aber Koalitionsverträge haben es so an sich, nur eine Grundlage zu legen. Doch entscheidend ist, was tatsächlich verwirklicht wird. Es ist also offen, was bei möglichen Prüfungen herauskommt und dann auch umgesetzt wird. Dabei gibt es schon einige Stellschrauben, an denen man relativ einfach ansetzen könnte.

epd: Welche sind das?

David: Zum Beispiel die automatische Auszahlung des Kindergelds, die auch als Idee im Koalitionsvertrag steht. Aber es ist unklar, ob auf dieser Basis die Antragsverfahren wirklich unkompliziert gestaltet werden. Die Rede ist auch von einer Teilhabe-App, die den Leistungsbezug vereinfachen soll. Gedacht ist hier an verschiedene Freizeitangebote vor Ort. Doch ob dieser Weg der Digitalisierung wirklich was bringt, ist mehr als fraglich.

epd: Warum haben Sie Zweifel?

David: Diese Idee hatte 2010 schon Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Damals gab es ein ewig langes Prüfverfahren, und dann kam die Digitalisierung nicht, weil man sie für nicht umsetzbar hielt. Stattdessen hat die Regierung das Bildungs- und Teilhabepaket eingeführt. Die Bedenken von damals gelten noch heute.

epd: Wo liegen denn die Probleme einer solchen App in der Praxis?

David: Schauen wir, um das zu erklären, beispielhaft nach Berlin. Hier gibt es mehrere Bezirke mit unterschiedlichen Zuständigkeiten für diese Hilfeleistungen. Es müssten also alle Anbieter bis hin zum letzten Sportverein ihre Daten in ein zentrales Portal einpflegen, wodurch dann auf diese App zugegriffen werden kann. Aus meiner Sicht ist das total unrealistisch, zumal das in den allermeisten Vereinen, die Angebote für Kinder und Jugendliche machen, ehrenamtlich erledigt werden müsste. Deshalb haben wir schon damals bei der Einführung des komplizierten Bildungs- und Teilhabepakets gesagt, dass es viel einfacher ist, das Geld in die Hand zu nehmen, und den Familien direkt für Aktivitäten im Sportverein oder für die Kultur auszuzahlen. Eine App ist viel zu kompliziert, das wird nicht funktionieren. Das ist schon einmal geprüft worden, das bringt nichts.

epd: Kommen wir zu den Debatten über die Höhe des Existenzminimums und des Regelsatzes in der Grundsicherung. Sehen Sie das auch so, dass hier dringend nach oben korrigiert werden müsste?

David: Zunächst käme es darauf an zu klären, dass der Staat transparent und nachvollziehbar handelt, wie und auf welcher Grundlage er Bedürftige unterstützt. Und das passiert nicht. Wir haben zur Berechnung derzeit eine Mischung aus Statistikmodell und Warenkorb. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wie man zu den Zahlen kommt. Das schafft kein Vertrauen in den Sozialstaat.

epd: Was wäre der bessere Ansatz?

David: Ein reines Statistikmodell wäre die klarere Grundlage. Das fordert auch die Sozialforscherin Irene Becker, die auch für die Diakonie schon mehrere Gutachten vorgelegt hat. Sie plädiert für ein reines Statistikmodell. Wenn der Gesetzgeber einen Abstand haben will bei den Leistungen, die Hilfebezieher im Vergleich zum Rest der Bevölkerung bekommen, dann muss man die statistische Mitte und eine Vergleichsgruppe definieren. Es kommt darauf an, in welcher Schichtung man die adäquate Vergleichsgruppe findet, und dass deren Ausgaben sauber ermittelt werden. Und dann muss die Politik klären, wie groß denn der Abstand maximal sein. Etwa bei Nahrungsmitteln oder Freizeitausgaben. Das muss man offen diskutieren.

epd: Höhere Leistungen müssen auch bezahlt werden.

David: Ja. Aber das ist erst der nächste Schritt. Mir geht es darum klarzustellen, dass es derzeit an der Objektivität der Berechnungen fehlt. Man tut so, als sei das alles sauber definiert, doch das ist nicht so. Was man daran sehen kann, dass nach Berechnungen von Sozialverbänden der Regelsatz mindestens 200 bis 300 Euro höher sein müsste, wenn auf der jetzigen Rechengrundlage das Statistikmodell durchgehalten würde. Das will man aber nicht, deshalb wird willkürlich gestrichen: die halbe Kinokarte und das Futter für das Meerschweinchen. Besser ist es, dann offen über Abstände zu diskutieren, statt das durch die Hintertür zurechtzuwurschteln.

epd: Wie würde denn der Regelsatz aussehen, wenn man Irene Becker folgt?

David: Das kann man so nicht genau sagen, denn es kommt darauf an, wie viel Abstand man zwischen Transferleistungen und gesellschaftlicher Mitte lassen will. Da gibt es verschiedene Szenarien. Lässt man demnach einen Abstand von 20 Prozent bei Ernährung und Kleidung und 40 Prozent etwa bei Büchern, Freizeitgestaltung und Mobilität, dann würde der Regelsatz mindestens 150 Euro höher liegen. Das ist dringend nötig, wenn man die Realkosten betrachtet. Es gibt massive Kaufkraftverluste bei den Hilfeempfängern. Viele kommen schlicht nicht mehr klar, können sich nicht mehr gesund ernähren.

epd: Kann man dieses Problem überhaupt dauerhaft lösen, wenn man nicht zu einer anderen Form der Regelsatzberechnung kommt, von der im Koalitionsvertrag ja nichts steht?

David: Selbst wenn die neue Regierung die Berechnungen nicht verändert, gibt es schon Wege, wie man die Lage der Betroffenen verbessern kann. Es geht darum, denjenigen, denen Leistungen zustehen, sie auch zukommen zu lassen. Im Bereich der Grundsicherung sind es über ein Drittel, die Hilfen trotz eines Anspruchs nicht nutzen, und bei der Grundsicherung im Alter sind es noch mehr.

epd: Was ist also zu tun?

David: Man muss die Antragsverfahren endlich wesentlich vereinfachen. Auch das wahnsinnig komplizierte System der Anrechnung von Zuverdiensten muss reformiert werden. Und schließlich muss die Arbeitsförderung wieder verbessert werden. Die Integration in den Arbeitsmarkt muss wieder zentral werden. Es gab unter der Ampel-Regierung das erfolgreiche Programm „Teilhabe durch Arbeit“. Das ist dann in der Haushaltssperre durch Finanzminister Christian Lindner (FDP) gestoppt worden. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zur Arbeitsförderung. Es braucht eben Angebote für ausreichend bezahlte Jobs, und die muss man dauerhaft finanzieren. Das ist viel wichtiger, als unnötige Debatten über Sanktionen für Arbeitsunwillige zu führen.



Umfragen

Jugend blickt überwiegend positiv in die Zukunft



14- bis 29-Jährige blicken eher optimistisch in die Zukunft, zeigt die Studie "Jugend in Deutschland 2025". Deutliche Unterschiede zeigen sich teils im Vergleich mit älteren Alterskohorten. Anlass zur Sorge bietet die mentale Verfassung.

Berlin (epd). Trotz Krieg und Krisen blicken einer Umfrage zufolge 60 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 29 Jahre positiv in die Zukunft. Das geht aus der achten Auflage der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ hervor, die am 20. Mai von den Jugendforschern Klaus Hurrelmann, Kilian Hampel und Simon Schnetzer vorgestellt wurde. Die diesjährige Ausgabe wurde um einen Generationenvergleich erweitert, die Befragten waren demnach bis zu 69 Jahre alt. Für die Befragung wurden jeweils rund 2.000 Personen aus den drei Altersgruppen befragt. Insgesamt nahmen an der Online-Befragung zwischen dem 10. Januar und 26. Februar 2025 6.034 Personen teil.

Nach einem Tiefpunkt der persönlichen und gesellschaftlichen Zufriedenheit bei der jungen Generation in der Vorjahresstudie hätten sich die Werte wieder leicht verbessert, erklärten die Herausgeber. Unter den 30- bis 49-Jährigen waren es nur 30 Prozent, die optimistisch auf die kommenden Jahre schauen. Bei den über 50-Jährigen erwarteten sogar nur sechs Prozent positive Veränderungen.

Männer zufriedener als Frauen

Deutliche Unterschiede zeigten sich bei den Geschlechtern. Während mehr als die Hälfte der 14- bis 29-jährigen Männer mit ihrer psychischen Gesundheit zufrieden waren, bewertete nur rund jede sechste junge Frau ihre mentale Verfassung als positiv. Die beiden älteren Alterskohorten waren mit ihrer Psyche im Schnitt deutlich zufriedener (45 und 57 Prozent).

So gab unter den 14- bis 29-Jährigen fast die Hälfte an, unter Stress zu leiden. Bei der Gruppe der 50- bis 69-Jährigen war es lediglich jede fünfte Person. Zudem plagte rund jede dritte Person unter den 14- bis 29-jährigen Erschöpfung, Selbstzweifel und Antriebslosigkeit. Im Gegensatz dazu gab die älteste Kohorte am ehesten an, unter keiner psychischen Belastung zu leiden (42 Prozent).

Ähnliche Zahlen lieferte die Studie auch beim Arbeitsstress. Während nur 18 Prozent der 50- bis 69-Jährigen angaben, sich innerlich ausgebrannt zu fühlen, war es jeder dritte junge Befragte. Dennoch würden auch sie bei der Arbeit ihr Bestes geben wollen, vier von fünf (81 Prozent) 14- bis 29-Jährigen stimmten dieser Aussage zu.

Sorgen vor Krieg, Inflation und Wohnraummangel

Allen Generationen bereiteten demnach die Kriege in Europa und Nahost die meisten Sorgen. Junge Menschen sorgten sich zudem am meisten vor der Inflation, teurem und knappem Wohnraum sowie dem Klimawandel. Während nur rund jeder dritte 14- bis 29-Jährige Bedenken wegen Geflüchteten hat, sorgten sich 56 Prozent der 50- bis 69-Jährigen.

Der Studie zufolge reflektieren junge Erwachsene zudem ihre Smartphone-Nutzung. Zwar sagten fast zwei Drittel (64 Prozent) der 14- bis 29-Jährigen, dass sie durch das Handy besser organisiert und effizienter seien. Gleichzeitig befand aber auch über die Hälfte (55 Prozent), dass Social Media zu mehr psychischen Belastungen führe. Zudem gab etwas mehr als ein Drittel (35 Prozent) zu, dass man das Nutzungsverhalten des Smartphones als "Sucht” bezeichnen könnte. Fast die Hälfte der jungen Befragten (47 Prozent) wollte deshalb die Zeit am Handy reduzieren. Unter den 50- bis 69-Jährigen sahen nur 7 Prozent eine problematische Nutzung bei sich selbst.



Jugendhilfe

Landesjugendämter legen neue Orientierungshilfe vor



Münster (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Landesjugendämter hat eine neue Orientierungshilfe zum Personaleinsatz in erlaubnispflichtigen (teil-)stationären Einrichtungen vorgelegt. Thematisiert würden sowohl der Fachkräftemangel als auch die Anforderungen an eine inklusivere Kinder- und Jugendhilfe, heißt es in einer Mitteilung. Hintergrund der Veröffentlichung: „Für Träger, Jugendämter und betriebserlaubniserteilende Behörden entstehen mehr Spielräume zum Handeln.“

In diesen Einrichtungen werden Kinder und Jugendliche von pädagogischen Fachkräften zumeist im Mehrschichtbetrieb betreut, was mit einem hohen personellen Aufwand verbunden ist. Der Fachkräftemangel stellt Leitungs- und Betreuungskräfte und die Träger der Einrichtungen vor erhebliche Herausforderungen. „Eine gute Betreuung für Kinder und Jugendliche aufrechtzuerhalten und ihnen eine umfassende Förderung zu bieten, hat für uns Priorität. Mit unserer Veröffentlichung wollen wir Hinweise zur Sicherstellung der Qualität auch in Zeiten des Fachkräftemangels geben und die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den Blick nehmen“, erklärte Birgit Westers, Vorsitzende der BAG Landesjugendämter.

Flexibler Umgang mit möglichem Personalmangel

Die Orientierungshilfe zeige Möglichkeiten auf, flexibel auf Personalmangel zu reagieren. Etwa durch multiprofessionelle Teams, die Ermöglichung von Quereinstiegen und von Mitarbeitenden mit ausländischen Berufsqualifikationen.

Die neue Publikation baue vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen und Entwicklungen auf der vorausgegangenen Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter „Das Fachkräftegebot in erlaubnispflichtigen teilstationären und stationären Einrichtungen“ aus dem November 2017 auf.




sozial-Branche

Gesundheit

Wenn aus Muskeln Knochen werden




Physiotherapeut Emmanuel Pagalos behandelt die Fibrodsyplasie-Patientin Sarah Fischer.
epd-bild/Michael Ruffert
Weltweit sind nur rund 900 Fälle der seltenen Krankheit FOP bekannt. In einer Selbsthilfegruppe mit Sitz in Oberursel organisieren sich Betroffene und Angehörige aus Deutschland und angrenzenden Nachbarländern.

Oberursel, Garmisch-Partenkirchen (epd). Emmanuel Pagalos muss bei Sarah Fischer ganz behutsam sein. Er behandelt die 29-Jährige mit der sogenannten Cranio-Sacral-Therapie. „Ich übe sanfte manuelle Impulse aus, um Spannungen im Gewebe und Disbalancen in den Muskeln zu behandeln“, erläutert der Physiotherapeut und Osteopath aus Frankfurt am Main. Die Behandlung darf nicht zu kräftig erfolgen, es könne zu „knöchernen Reaktionen“ kommen, sagt Pagalos. Denn Sarah Fischer leidet an der genetischen Erkrankung Fibrodysplasia ossificans progressiva, kurz FOP. Ihr Vater Ralf Fischer beschreibt den Krankheitsverlauf: „Dabei verknöchern in Schüben oder durch äußere Einflüsse wie Stürze oder Injektionen Muskeln und Gewebe.“

Der Gendefekt FOP ist extrem selten. Weltweit sind nur rund 900 Erkrankte bekannt, die Dunkelziffer gilt als deutlich höher. Mediziner gehen davon aus, dass es einen Fall unter einer Million Menschen gibt, aber die Symptome sind oft nicht eindeutig. „Viele Menschen wissen nicht, dass sie an FOP erkrankt sind“, berichtet Ralf Fischer.

Gesundheitliche Probleme kamen im Alter von sieben Jahren

Auch bei seiner Tochter hat es lange gedauert, bis die Diagnose feststand. Als Kind hat Sarah noch wie alle Gleichaltrigen Purzelbäume geschlagen, ist Rad gefahren und hat Federball gespielt: Erst mit sieben Jahren tauchten plötzlich Schwellungen am Rücken auf. Es begann eine Odyssee bei Ärzten und Kliniken. Erst bestand der Verdacht auf Krebs, dann wurde der Grund für die Krankheit des Mädchens entdeckt. Weil ihre Muskeln immer mehr verknöchert sind, ist Sarah heute auf den Rollstuhl angewiesen.

Um seiner Tochter und anderen Betroffenen zu helfen, engagiert sich Ralf Fischer seit elf Jahren als Vorsitzender des Fördervereins für FOP. Die Selbsthilfegruppe hat international 206 Mitglieder, davon sind 71 selbst FOP-Patienten. Jedes Jahr gibt es ein Treffen, bei dem Erfahrungen ausgetauscht und neueste medizinische Erkenntnisse besprochen werden. „Noch gibt es keine zugelassene Therapie, um FOP zu heilen oder das Fortschreiten zu verlangsamen“, bedauert Fischer.

Viele Mediziner sind mit der Behandlung überfordert

Viele Ärzte und Krankenhäuser sind mit der Behandlung der seltenen Krankheit überfordert. „Es besteht auch immer die Gefahr einer Fehldiagnose und einer falschen Therapie“, sagt Clemens Stockklausner, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Garmisch-Partenkirchen. Die Klinik in Bayern hat sich als Anlaufstelle für FOP-Patienten aus ganz Europa etabliert.

Die Erfahrungen, die dort gemacht werden, gibt Stockklausner an andere Kollegen weiter - denn er hat es schon erlebt, dass andere Ärzte FOP-Patienten operieren wollten, um Verknöcherungen zu entfernen. „Davor musste ich warnen, denn den Patienten wird massiv geschadet, wenn man chirurgisch eingreift“, erläutert Stockklausner. Der Stich mit der Spritze bei einer Impfung oder der Schnitt mit einem Skalpell in Haut und Muskeln können dazu führen, dass die weichen Teile zu Knochen werden. Das Klinikum beteiligt sich derzeit an einer Studie zusammen mit Universitäten in Amsterdam, Oxford und Cambridge/USA. Dabei wird ein Medikament erprobt, das verhindern soll, dass die Muskeln verknöchern, wenn FOP-Patienten operiert werden.

Krankheit wirkt sich sehr unterschiedlich aus

Aus seiner Praxis weiß Stockklausner, dass es bei FOP viele unbekannte Faktoren gibt - auch wenn alle Patienten den gleichen Gendefekt haben, sind die Verläufe sehr unterschiedlich. „Es gibt Kinder, die sehr schnelle Schübe haben, aber einige Erwachsene haben erst mit 30 Jahren ihre Diagnose“, beschreibt er die Situation.

Wie unterschiedlich sich FOP auf das Leben auswirkt, ist auch bei den Treffen der Selbsthilfe-Gruppe zu beobachten: Bei der jüngsten Versammlung war der Journalist Michael Scheyer mit der Kamera dabei, der über Sarah Fischer und die Krankheit FOP den Dokumentarfilm „Bis auf die Knochen“ gedreht hat. Dort kommt eine 24-jährige Österreicherin zu Wort, die „nur mit dem Handgelenk, dem Knie und dem Kiefer“ Probleme hat. Ein 47-jähriger Mann aus dem Elsass hat seine Arbeit verloren, „weil ich nicht mehr Auto fahren durfte“. Immerhin kann er noch laufen und schafft es, Fotos zu machen. Ein vierjähriges Mädchen aus Bayern weist die für FOP typischen Symptome bei Babys und Kindern auf: verkrümmte und verkürzte große Zehen.

Die Selbsthilfegruppe lädt zu ihren Versammlungen internationale Expertinnen und Experten ein. Die Fachleute berichten über die aktuellsten Studien und Forschungsergebnisse. Auch wenn es aktuell noch keine Heilung gebe, helfe die Arbeit den kommenden Generationen, unterstreicht Ralf Fischer.

Tochter Sarah beteiligt sich an Forschungen in Garmisch und Amsterdam - denn weil es nur wenige FOP-Patienten gibt, mangelt es mitunter auch an Studienteilnehmern. „Diese sind aber für valide Ergebnisse sehr wichtig“, sagt Clemens Stockklausner.

Michael Ruffert


Arbeit

"Der Dienstplan passt sich den Menschen an, nicht umgekehrt"




Ludmila Rogowski, Mitarbeiterin im Diakonischen Pflege- und Wohnstift "Lebensbaum" in Hessisch Oldendorf nahe Hameln, betreut eine Bewohnerin.
epd-bild/Jens Schulze
Morgens zur Arbeit, acht Stunden später nach Hause, fünf Tage die Woche. Dieser Rhythmus prägt den Alltag vieler, doch die Berufswelt verändert sich. Flexible Arbeitszeiten sind nur ein Beispiel für den rasanten Wandel. Auch in der Pflege.

Hessisch Oldendorf, Hannover (epd). Ljudmila Rogowski ist die Sache klar: „Die 'Muttidienste' sind ein Privileg - ohne sie könnte ich nicht arbeiten“, sagt die Pflegerin. Die dreifache Mutter ist im Seniorenheim „Lebensbaum“ in Hessisch Oldendorf nahe Hameln tätig. Ihr Mann arbeitet bei der Bahn im Schichtdienst, Rogowski kümmert sich um die Kinder, das jüngste geht noch in den Kindergarten.

Die „Muttidienste“ in dem diakonischen Pflegeheim liegen werktags im Zeitraum von 7.30 bis 14.30 Uhr. In diesem Zeitfenster kommen die Frauen zu individuell vereinbarten Zeiten zur Arbeit, manche für drei Stunden, andere für vier oder sechs. Die flexiblen Arbeitszeiten erlauben ihnen, mit ihren Kindern zu frühstücken und für sie da zu sein, wenn sie aus Kita oder Schule kommen. „Muttidienste“ heißen sie aller Gleichberechtigung zum Trotz, denn Väter, die das Angebot nutzen, gibt es nicht.

Pflegekräfte wollen oft keine Vollzeit

Grund für den „Muttidienst“ ist der Fachkräftemangel in der Pflege. „Wir müssen uns auf die Bewerber einstellen, viele wollen nicht Vollzeit arbeiten, gerade jüngere“, sagt Heimleiterin Karin Raestrup. „Wir sprechen bei der Bewerbung über Bedürfnisse und Vorstellungen und suchen passgenaue Lösungen.“

Auf individuelle Lebenssituationen zugeschnittene Arbeitszeiten - das war lange undenkbar. Wer Kinder zu betreuen oder Eltern zu pflegen hatte, musste sich selbst um Lösungen kümmern. Belastungen wie diese galten als privat. Das sieht heute anders aus. Work-Life-Balance, der Wunsch, Beruf und Privates gut zu vereinbaren, hat an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen.

Laut Statistischem Bundesamt waren 2024 rund 46 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig. Eine Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ergab: Rund 86 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die angaben, Einfluss auf ihre Arbeitszeit nehmen zu können, sind zufrieden damit, wie sie Arbeit und Privates ausbalancieren können. Unter denjenigen, die wenig Einfluss auf ihre Arbeitszeit nehmen können, sind es rund 70 Prozent. „In der Gestaltung flexibler Arbeitszeitmodelle liegen große Potenziale“, schreiben die Arbeitsexperten. Das gelte sowohl für die Wettbewerbsfähigkeit als auch für Gesundheit und Zufriedenheit der Beschäftigten.

Mehrere Treiber der Entwicklung

Maßgeschneiderte Arbeitszeiten sind nicht das Einzige, das sich in der Arbeitswelt in den vergangenen Jahren geändert hat. Treiber des Wandels sind neben der demografischen Entwicklung - etwa durch den Renteneintritt der Babyboomer - die fortschreitende Digitalisierung sowie die klimafreundliche Transformation der Wirtschaft. Neue Jobs, neue Märkte entstehen. Dienstleistungsjobs nehmen zu, Industriearbeitsplätze ab. Homeoffice ist für viele Menschen möglich geworden.

„New Work“ ist ein häufig verwendeter Sammelbegriff für den Wandel. Was er genau bedeutet, ist Stefan Rief vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation zufolge schwer zu fassen. Jeder lese seine eigenen Wünsche hinein, so der Arbeitswissenschaftler dem Fraunhofer-Magazin „An die Arbeit“. Neben der Flexibilisierung von Arbeit gehe es in den Unternehmen um Themen wie Verantwortung, Führung und Kommunikation.

Diese Themen hält auch der Arbeitswissenschaftler Axel Haunschild von der Leibniz Universität Hannover für zentral. Projektbezogenes Arbeiten sei in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort. „Für den IT-Bereich gilt das schon lange, aber auch Behörden arbeiten inzwischen in Projekten“, sagt Haunschild. Von den Menschen erfordere das neue Fähigkeiten. Nicht mehr der Chef sagt, was zu tun ist, die Menschen müssen sich selbst steuern, koordinieren, Ziele setzen.

Möglichkeiten vor allem für Gebildete

Positiv sieht Haunschild bei dieser Form der Arbeit die höhere Selbstbestimmung, Kehrseite könnten Überforderung und Erschöpfung sein. Lebenslanges Lernen höre sich zwar gut an, könne aber auch das Gefühl auslösen, nicht zu genügen und daran auch noch selbst schuld zu sein, sagte Haunschild. „Ob Arbeiten in Projekten gut gelingt, hängt von den Rahmenbedingungen in den Firmen ab.“ Nicht alle neuen Möglichkeiten erreichten alle Arbeitnehmer. „Es sind vor allem die höher Gebildeten, die Mittelschicht, die sich Gehör verschaffen kann, die profitieren“, sagt der Professor.

Der „Muttidienst“ im Seniorenheim „Lebensbaum“ beweist, dass sich „New Work“ mit etwas gutem Willen auch in einem Bereich wie der Altenpflege umsetzen lässt. Dafür, dass die flexiblen Dienstzeiten „funktionieren“, sorgt Pflegedienstleiterin Elke Kühn. Eine komplexe Aufgabe. „Jede Mutter hat unterschiedliche Arbeitszeiten und Wochenstunden“, sagt Kühn. „Aber wir bekommen das hin, bei uns passt sich der Dienstplan den Menschen an, nicht umgekehrt.“

Davon profitiert auch Plamena Dimitrova. Sie arbeitet jedes zweite Wochenende sowie werktags von nachmittags bis in den Abend im „Lebensbaum“. Dann ist ihr Mann, der morgens ab sechs Uhr auf dem Bau arbeitet, zu Hause. „Oder meine Oma übernimmt ihre Urenkel“, sagt die 35-jährige Pflegerin, „es funktioniert gut.“

Julia Pennigsdorf


Arbeit

Hintergrund

Remote Work und Co-Working-Spaces: Neue Formen prägen die Arbeitswelt



Hannover (epd). Mobiles Arbeiten, Sabbatical, Downshifting: Der Wandel in der Arbeitswelt drückt sich auch in neuen, häufig englischen Begriffen aus. Nicht immer sind diese klar definiert oder voneinander abgrenzbar. Eine Begriffsklärung:

Mobiles Arbeiten und Homeoffice Mobil arbeiten bedeutet, dass Menschen ihre Arbeit an einem Ort außerhalb ihres eigentlichen Arbeitsplatzes erbringen können. Für viele Tätigkeiten reichen heute Telefon, Computer und Internetanschluss. Der Arbeitnehmer wählt seinen Arbeitsplatz selbst, etwa seine eigenen vier Wände, das Homeoffice. Laut Statistischem Bundesamt hat fast ein Viertel aller Erwerbstätigen 2023 zeitweise von zu Hause gearbeitet.

Remote Work lässt sich mit „Fernarbeit“ übersetzen und meint ein zeit- und ortsunabhängiges Modell, bei dem die Arbeit überall erbracht werden kann, fernab des Firmenbüros.

Hybrides Arbeiten bezeichnet die Mischung aus mobilem Arbeiten sowie dem Arbeiten vor Ort beim Unternehmen. Das lateinische Wort hybrida bedeutet „Mischung“.

Agiles Arbeiten bedeutet beweglich, wendig im Geist zu sein, neue Wege auszuprobieren. Mit agilen Methoden sind Methoden gemeint, die es Teams ermöglichen, flexibel und selbstorganisiert zu arbeiten. Im Fokus stehen stetiges Lernen und die Möglichkeit, ohne Angst vor Fehlern Neues auszuprobieren. Der Begriff stammt aus der Softwareentwicklung.

Co-Working-Spaces sind Räume, die sich Menschen zum Arbeiten teilen. Oft arbeiten hier Freiberufler, Kreative, Start-ups. Sie nutzen die Infrastruktur, etwa WLAN, gemeinsam und vernetzen sich zum Teil gegenseitig.

Sabbaticals ermöglichen, neben dem jährlichen Erholungsurlaub einen unbezahlten Sonderurlaub zu nehmen, um über einen längeren Zeitraum etwas zu machen, das einem am Herzen liegt, etwa eine längere Reise. Eine Sabbatzeit dauert meist zwischen drei und zwölf Monaten.

Work-Life-Balance strebt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben an. Es geht um Arbeitsbedingungen, die es Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen ermöglichen, Karriereziele und familiäre Verpflichtungen und Wünsche in Einklang zu bringen.

Downshifting bezeichnet den Wunsch von Menschen, weniger zu arbeiten. Sie sind bereit, ihre Karriereziele zurückzustellen, um mehr Freiheit zu haben.

Wochenarbeitszeit statt Acht-Stunden-Tag lautet ein Plan der neuen Bundesregierung. Sie möchte dem Koalitionsvertrag zufolge eine wöchentliche Höchstarbeitszeit statt der derzeit geltenden täglichen Höchstarbeitszeit - acht Stunden, unter bestimmten Bedingungen bis zu zehn Stunden - umsetzen. Der Acht-Stunden-Tag, eine Forderung der Arbeitnehmerbewegung, wurde erstmals 1918 in Deutschland eingeführt.



Pflege

Gastbeitrag

Bitteres Aus: Hilfsprojekt für Pflegeazubis endet




Claudia Kröll
epd-bild/IN VIA
Trotz Fachkräftemangel endet in Nordrhein-Westfalen ein Unterstützungsprojekt für Pflegeauszubildende. In ihrem Gastbeitrag für epd sozial beschreibt Claudia Kröll von IN VIA, dass "PfAu - Pflegeauszubildende unterstützen" Ausbildungsabbrüche verhindern konnte.

Am 30. April 2025 ging das Modellprojekt „PfAu - Pflegeauszubildende unterstützen“ nach zwei intensiven Jahren zu Ende. Was bleibt, ist ein klares Fazit: Die gezielte sozialpädagogische Begleitung von Auszubildenden in der Pflegefachassistenz wirkt. Sie trägt messbar dazu bei, Ausbildungsabbrüche zu vermeiden, stärkt die persönliche und berufliche Entwicklung der Teilnehmenden und schafft langfristige Perspektiven für einen Berufszweig, der mit einem akuten Fachkräftemangel kämpft. Umso unverständlicher ist es, dass dieses nachweislich erfolgreiche Modellprojekt nun ohne Anschlussfinanzierung ausläuft.

Pflege: Systemrelevant - aber Ausbildung gefährdet

Der Mangel an qualifiziertem Personal in der Pflege ist seit Jahren ein zentrales Problem im deutschen Gesundheitswesen. Während viele politische und fachliche Diskussionen sich darauf konzentrieren, wie mehr Menschen für Pflegeberufe gewonnen werden können, bleibt eine andere Frage oft unbeantwortet: Wie können diejenigen, die sich für diesen Beruf entscheiden, auch erfolgreich durch die Ausbildung begleitet werden?

Gerade in der einjährigen Ausbildung zur Pflegefachassistenz ist die Abbruchquote hoch. Die Gründe dafür sind vielfältig: Fehlende soziale und fachliche Unterstützung, Überforderung in der Praxis, Sprachbarrieren oder persönliche Belastungen - all das kann dazu führen, dass Auszubildende aufgeben, bevor sie überhaupt im Beruf ankommen. Strukturelle Unterstützungsangebote speziell für diese Zielgruppe existieren bislang kaum - jedenfalls nicht in einem Umfang, der dem tatsächlichen Bedarf gerecht würde.

Während in der dreijährigen Pflegeausbildung mit Programmen wie „AsaFlex“ Förderansätze erprobt werden, fehlen vergleichbare Konzepte für die kürzere Pflegefachassistenz nahezu vollständig. Dabei ist gerade diese Ausbildung für viele junge Menschen mit Förderbedarf oder Migrationsgeschichte oft der erste realistische Zugang zu einer beruflichen Perspektive im Pflegebereich.

Das Projekt PfAu: Ein Modell mit Wirkung

Hier setzte das Projekt „PfAu - Pflegeauszubildende unterstützen“ an. Es wurde von IN VIA Köln gemeinsam mit vier Pflegeschulen in Köln und Bonn entwickelt und realisiert. Ziel war es, Auszubildende in der Pflegefachassistenz über alle Phasen ihrer Ausbildung hinweg sozialpädagogisch zu begleiten - individuell, praxisnah und ressourcenorientiert. Das Unterstützungsmodell von PfAu umfasste sechs aufeinander abgestimmte Bausteine:

1. Systemisches Casemanagement als niedrigschwellige Einzelberatung

2. Coaching in den Praxisphasen zur Reflexion und Stabilisierung

3. Lernbegleitung in Kleingruppen zur fachlichen Stärkung und Prüfungsvorbereitung

4. Module zum Thema „Lernen lernen“ vermitteln grundlegende Lernstrategien

5. Berufliche Identitätsentwicklung zur Stärkung der Motivation

6. Unterrichtsbegleitung mit Blick auf didaktische Barrieren oder Sprachschwierigkeiten

Ein zentrales Merkmal des Projekts war die enge Verzahnung aller Angebote mit den Lernorten Schule und Praxis. Die Begleitung fand direkt dort statt, wo die Auszubildenden lernen und arbeiten - niederschwellig, verbindlich und auf Augenhöhe. Die enge Zusammenarbeit zwischen Fachlehrkräften, Praxisanleitungen, Projektmitarbeitenden und Trägerorganisation erwies sich dabei als Schlüssel zum Erfolg. Sie ermöglichte es, frühzeitig auf Schwierigkeiten zu reagieren und passgenaue Hilfen zu entwickeln.

Insgesamt wurden durch PfAu rund 300 Auszubildende erreicht - viele davon mit erhöhtem Unterstützungsbedarf. Die Rückmeldungen sprechen eine deutliche Sprache: Die Abbruchquote sank signifikant. Fachlehrkräfte und Praxisanleitungen berichteten von einer spürbaren Entlastung im Ausbildungsalltag. Die Auszubildenden selbst gaben in Evaluationen an, durch die kontinuierliche Begleitung mehr Sicherheit, Selbstvertrauen und Motivation entwickelt zu haben. Die Praxisphasen, die häufig als besonders belastend empfunden werden, wurden durch die projektgestützte Reflexion und Unterstützung deutlich besser bewältigt.

Der in der Projektlaufzeit entwickelte Handlungsleitfaden von IN VIA Köln fasst die Erkenntnisse praxisnah zusammen und bietet Bildungsträgern, Schulen sowie politischen Entscheidungsträgerinnen und -tägern konkrete Empfehlungen. Er benennt die Bedingungen, unter denen Ausbildung erfolgreich verläuft - und wie Unterstützungsstrukturen so gestaltet werden können, dass sie wirken. Was jetzt zählt: Dauerhafte Integration statt befristeter Projekte.

Belastbare Ergebnisse

Das Projekt PfAu hat gezeigt, wie Ausbildungserfolge gezielt gefördert werden können - gerade für diejenigen, die ohne Unterstützung durch das Raster fallen würden. Die Ergebnisse sind belastbar, das Konzept erprobt und die Wirkung belegt. Doch statt dieses Wissen in dauerhafte Strukturen zu überführen, läuft das Projekt nun aus - allein deshalb, weil die Projektförderung endet.

Was es jetzt braucht, ist ein Umdenken auf politischer und institutioneller Ebene: Projekte wie PfAu dürfen nicht als einmalige Impulse betrachtet werden. Sie müssen als fester Bestandteil eines zukunftsfähigen Ausbildungssystems verankert werden. Eine strukturelle Förderung solcher Begleitmodelle ist kein „Nice-to-have“, sondern eine notwendige Investition in die Qualität und Nachhaltigkeit der Pflegeausbildung. Wenn der Pflegeberuf tatsächlich die gesellschaftliche Anerkennung erfahren soll, die seiner Bedeutung entspricht, dann muss das auch an der Basis beginnen: mit einer Ausbildung, die alle mitnimmt - und niemanden zurücklässt.

Claudia Kröll ist Fachbereichsleitung Inklusion und Arbeitsmarkt bei IN VIA Kath. Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit Köln.


Armut

Firmengründer Michael Thiem will Obdachlose unterstützen




Michael Thiem
epd-bild/Thomas Tjiang
Aus seiner eigenen schweren Alkoholabhängigkeit entstand der Wunsch, anderen Betroffenen auf dem Weg zurück ins Leben zu helfen. Jetzt plant der mittelfränkische Sozialunternehmer Michael Thiem statt Ruhestand ein neues Projekt für Obdachlose.

Höchstadt/Aisch (epd). Im KreisLauf-Kaufhaus im mittelfränkischen Höchstadt/Aisch herrscht an diesem frühlingshaften Vormittag mäßiger Betrieb. Einige Kunden stöbern durch die Möbelausstellung, begutachten das Geschirr oder werfen einen Blick auf die Bekleidung. Der großflächige Laden hat sich der Wiederverwertung und dem Verkauf von gut erhaltenen Gebrauchtwaren verschrieben.

Für den Chef Michael Thiem geht es darum, auf diese Weise Ressourcen zu schonen und die Umwelt zu schützen. Doch noch wichtiger ist für ihn: Das Geld kommt seinem Sozialunternehmen „Soziale Betriebe der Laufer Mühle“, einer gemeinnützigen GmbH, zugute. Dort finden suchtkranke Menschen nach erfolgreicher Therapie eine Arbeit „und schaffen so die Voraussetzungen für ihr weiteres suchtfreies Leben“, sagt Thiem. Langzeitarbeitslose, Suchtkranke und psychisch beeinträchtigte Menschen können so ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten und sind nicht auf die Hilfe des Sozialstaats angewiesen.

Gründer war einst selbst alkoholkrank

Den Betrieb hob Sozialpädagoge Thiem vor 25 Jahren aus der Taufe. Heute gibt es von Neustadt bis Bamberg sechs KreisLauf-Kaufhäuser, einen Gartenbetrieb, ein Café oder auch Fertigungsstätten für die Industrie. Die Laufer Mühle beschäftigt mittlerweile an insgesamt zehn Standorten gut 300 betreute Männer und Frauen. Aus zunächst vier Mitarbeitenden sind zuletzt 110 und ein Jahresumsatz von elf bis zwölf Millionen Euro geworden.

Die Keimzelle findet sich Anfang der 1990er Jahre. Thiem, Jahrgang 1959 und als Jugendlicher selbst schwer alkoholkrank, wollte in einer alten Mühle in Lauf bei der Gemeinde Adelsdorf mit einer „therapeutischen Gemeinschaft bundesweites Neuland betreten“. Mit der Arbeit auf dem Hof wollte er Menschen mit schwersten Abhängigkeitsverläufen helfen, „die von anderen psychiatrischen und therapeutischen Krankenhäusern abgeschrieben wurden und als 'hoffnungslos' beziehungsweise 'unheilbar' galten“, erzählt der Gründer.

Die frühere SPD-Bundesfamilienministerin Renate Schmidt erinnert sich anlässlich des Jubiläums an die Laufer Mühle: „vor dem Gebäude ein Gatter mit Gänsen, innen alles leicht vergammelt“. Sie würde zwar gern eine Weihnachtsgans bei ihm kaufen, alles andere halte sie für „Spinnerei“. Heute bescheinigt sie dem Sozialunternehmer, dass das Konzept aufgegangen ist: „Aus der vergammelten Laufer Mühle ist ein blitzsauberer Sozialbetrieb mit zahlreichen Dependancen geworden, wie es ihn meines Wissens in Deutschland kein zweites Mal gibt.“

Einrichtung mit klaren Regeln

Thiem wollte einen „Ort der Hoffnung“ schaffen. Wer als Betroffener den Weg zu seiner Einrichtung finde, „ist im Teufelskreis ganz unten angekommen“, weiß er. Er selbst kennt den Weg vom Alkoholkonsum über -missbrauch bis zur Abhängigkeit. Er spricht offen über die Tricks, die Fassade möglichst lang aufrechtzuerhalten, und die Co-Abhängigkeit von Partnern, Familie und Arbeitskollegen.

„Wir sind eine strenge Einrichtung mit klarem Regelwerk und Suchtfreiheit als Ziel“, sagt er. Bier oder gar härterer Alkohol sind verboten, auch wenn Thiem aus eigener Erfahrung weiß, wie gut sich Schmerz und Trauer so betäuben lassen. Seit über 40 Jahren suchtmittelfrei, will er diese Perspektive auch anderen Menschen eröffnen. Unter den Bewohnern der Laufer Mühle finden sich Ungelernte genauso wie Ingenieure, die mithilfe der Jobcenter einen Weg zurück in die geregelte Arbeitswelt gehen können.

Der 66-Jährige, der selbst noch Möbel schleppt oder mit dem Lkw Waren transportiert, geht Ende Mai in den Ruhestand. Die Nachfolge seines Lebenswerks hat er geregelt. Aber der zweifache Vater kann sich nicht vorstellen, daheim auf dem Sofa die Hände in den Schoß zu legen. „Auch mehrfach in den Urlaub zu fahren gibt mir nicht so viel, wie etwas Sinnvolles zu tun“, sagt er.

Grünes Licht für ganzheitliches Konzept

Noch in diesem Jahr plant Thiem, einen neuen Sozialbetrieb zu gründen, um im Landkreis Erlangen-Höchstadt Obdachlose zu versorgen. Entsprechend seinen Erfahrungen wolle er ihnen nicht nur eine angemessene Unterbringung bieten, sondern ebenso Hilfe zur Selbsthilfe. Statt der vorhandenen „hochschwelligen und schwer erreichbaren Angebote des Sozialstaates“ wolle er Wohnplätze schaffen und mit sozialtherapeutischen Hilfen kombinieren.

Zwar sind Kommunen und Gemeinden gesetzlich verpflichtet, Obdachlose - in Thiems Worten - „irgendwie“ unterzubringen. Die Summe an Problemen und Krankheiten, die letztendlich zur Obdachlosigkeit geführt haben, würden aber nicht angegangen. In seiner mehrjährigen Vorbereitung musste insbesondere die juristische Frage im Paragrafendschungel geklärt werden: ob Gemeinden überhaupt ihre Pflichtaufgabe, ein Obdach zur Verfügung zu stellen, an einen Dritten übertragen dürfen.

Nachdem der Landkreis Erlangen-Höchstadt grünes Licht gegeben hat, ist für Thiem der Weg frei, für sein ganzheitliches Konzept zu werben. Und wieder betritt er Neuland: „Ein solches Konzept gibt es deutschlandweit noch nicht und wäre somit ein Modellprojekt.“

Thomas Tjiang


Kinder

Resolution: Gutes Aufwachsen nicht dem Zufall überlassen



Saarbrücken (epd). Der Kinderschutzbund hat auf seiner Mitgliederversammlung in Saarbrücken eine Resolution verabschiedet, die die neue Bundesregierung auffordert, eine „kinderrechtebasierte Politik“ umzusetzen. Sie müsse Kindern und Jugendlichen „endlich den politischen Stellenwert einräumen, den sie verdienen“. Der Appell trägt den Titel „Gutes Aufwachsen nicht dem Zufall überlassen!“

„Kinder und Jugendliche brauchen in einer Zeit wachsender Unsicherheit Verlässlichkeit, Schutz und echte Teilhabe“, erklärte Präsidentin Sabine Andresen. Doch der Koalitionsvertrag bleibe vage, wichtige Vorhaben würden auf Prüfaufträge vertagt oder gar nicht erst erwähnt - wie etwa die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz.

Hoffnung auf ausreichende Finanzierung

Weiter sagte sie: „Wer Politik für Kinder und Jugendliche machen will, muss nicht nur ankündigen, sondern auch handeln - verbindlich, ausreichend finanziert und mit dem Ziel, jedem Kind und jedem Jugendlichen ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen.“

Die Resolution hebt hervor, dass es im Koalitionsvertrag zwar einzelne positive Vorhaben gibt - etwa im Bereich der Frühen Hilfen, des digitalen Kinderschutzes oder beim Umgangsrecht bei häuslicher Gewalt. Doch insgesamt fehle eine konsistente Gesamtstrategie für die großen Herausforderungen: Kinderarmut, mentale Gesundheit, Bildungsgerechtigkeit, Schutz vor Gewalt und die Beteiligung junger Menschen an politischen Entscheidungen.

Ressortübergreifende Strategie angemahnt

Der Kinderschutzbund pocht deshalb auf ein politisches Umdenken. Gebraucht werde eine ressortübergreifende Strategie, die die Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen ernst nimmt, gezielt in Infrastruktur und Qualität investiert und insbesondere benachteiligte Kinder stärker in den Fokus rückt. Im neuen Ressortzuschnitt sieht der Verband eine Chance - sofern Bildung künftig nicht als Selbstzweck verstanden werde, sondern als Teil einer umfassenden Kindheitspolitik.

„Wir brauchen eine Regierung, die Kinder und Jugendliche nicht nur mitdenkt, sondern in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Das ist Voraussetzung für echte Generationengerechtigkeit“, betonte Andresen.



Pflege

Caritasverband baut Kompetenzzentrum für Zuwanderer auf



Trier (epd). Der Caritasverband für die Diözese Trier ist überzeugt: Zuzug und Integration internationaler Pflege- und Nachwuchskräfte kann ein Schlüssel sein, um Personalengpässe in den eigenen Einrichtungen zu vermeiden. Ein trägerübergreifendes Kompetenzzentrum soll deshalb helfen, die nötigen Prozess zu erleichtern, heißt es in einer Mitteilung. „Das Zentrum soll eng an den Bedürfnissen der Pflegeeinrichtungen, Kliniken und Sozialstationen aufgebaut werden.“

Diese Idee fände großen Anklang. Besonders wünschten sich die Sozialstationen eine zentrale Anlauf- und Koordinationsstelle, wo Hilfs- und Informationsangebote gebündelt werden können. Zentral angelegte Vermittlungshilfen für internationale Auszubildende, ein gezieltes Beratungsangebot im Bereich Recruiting und die Entwicklung personalisierter Integrationskonzepte würden gewünscht, hieß es.

Umfrage klärt Anforderungen

Um zu klären, worauf es den Partnern im Detail ankommt, wurden Interviews geführt und eine Bestandsaufnahme per Onlineumfrage bei den 175 Einrichtungen im Bistum Trier gemacht. Zentrale Erkenntnis: insbesondere kleinere Träger halten sich bei der Rekrutierung von Fachkräften und Auszubildenden aus dem Ausland zurück. Sozialstationen sind, aufgrund von personellen, wirtschaftlichen und strukturellen Faktoren, im Vergleich zu Krankenhäusern und stationären Altenhilfeeinrichtungen deutlich unterrepräsentiert.

Zu den größten Problemen bei der Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland gehört der Erhebung zufolge ein Mangel an Unterkünften und der damit verbundene finanzielle und soziale Aufwand für die Sozialstationen, der oft nicht entschädigt werde Auch Krankenhäuser und Altenhilfeeinrichtungen stünden hier vor großen Problemen.

Lange Liste von akuten Problemen bei der Integration

Außerdem fehlen Hilfsnetzwerke und übergreifende Koordinationsstellen, die Unterstützung und Hilfe für die Sozialstationen zur Verfügung stellen. Fehlende Mobilität, oft aufgrund von fehlendem ÖPNV, erschwert die Lage der ambulanten Pflege zusätzlich. Die Zusammenarbeit mit Behörden und die damit zusammenhängende Bürokratie verursachten weiteren Aufwand für die betroffenen Einrichtungen.

Die Erfahrung zeige, dass ausländisches Personal häufig mit sehr unterschiedlichen Erwartungen die Pflegeausbildung in Deutschland starte. Grund dafür sei vor allem die fehlende Vorbereitung auf die spezifischen Anforderungen und Rahmenbedingungen des Pflegeberufs hierzulande. Diese Diskrepanz erschwere nicht nur den Ausbildungsprozess, sondern führe in der Praxis oft zu einem sogenannten Kulturschock, wenn die internationalen Fachkräfte erstmals mit den Arbeitsrealitäten konfrontiert werden.

„Mit unserem Kompetenzzentrum möchten wir passgenaue Lösungen für unsere Träger und Pflegeeinrichtungen entwickeln. Unser Ziel ist es, sie auf dem Weg zur Gewinnung und nachhaltigen Integration von Pflegekräften umfassend zu begleiten und zu unterstützen“, erklärte Anett Schmitz, Referentin im Projekt „Recruiting internationale Arbeitskräfte und Auszubildende“ in der Abteilung Gesundheit und Pflege im Diözesan-Caritasverband Trier: „Dabei setzen wir nicht auf 'One Size Fits All', sondern auf individuelle Beratung und maßgeschneiderte Hilfestellungen, die den jeweiligen Bedürfnissen jeder einzelnen Einrichtung gerecht werden.“




sozial-Recht

Bundessozialgericht

Krankenkasse darf nicht nach Preis für Menschenleben fragen




Bundessozialgericht in Kassel
epd-bild/Heike Lyding
Bei regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten können Krankenkassen auch zur Kostenübernahme alternativer und erfolgversprechender Behandlungsmethoden verpflichtet sein. Eine festgelegte Begrenzung für die Übernahme der Kosten gibt es nicht, urteilte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). Eine Krankenkasse darf einem Patienten mit einer tödlichen Erkrankung nicht die Finanzierung der einzigen zur Verfügung stehenden Behandlungsmethode in den USA verweigern. Auch wenn die Krankenkasse auf die hohen Kosten der Behandlung verweist und letztlich nach dem Preis eines Menschenlebens fragt, gibt es keine Regelung, „aus der eine solche Begrenzung abgeleitet werden könnte“, entschied das Bundessozialgericht (BSG) in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss vom 3. März 2025. Die Kasseler Richter verwarfen damit die Beschwerde einer Krankenkasse gegen die Nichtzulassung der Revision als unzulässig.

Der im Jahr 2000 geborene Kläger ist an einem schweren angeborenen und bereits operierten Herzfehler und einer vermutlich daraus entstandenen seltenen Bronchitis fibroplastica erkrankt. Bei der Lungenerkrankung gelangen Eiweißfäden in die Bronchien, die zu lebensbedrohlichen Erstickungsanfällen führen können. Etwa die Hälfte der betroffenen Patienten sterben innerhalb von fünf Jahren oder benötigen eine Herztransplantation.

Andere Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft

Am US-amerikanischen Children's Hospital of Philadelphia wurde eine neue Behandlungsmethode entwickelt, bei der die Lymphgänge, über die die Eiweißfäden in die Lunge gelangen, operativ verschlossen werden. Auch der Kläger hoffte auf die rund 300.000 Euro teure und für ihn einzige mögliche Behandlungsmethode. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MD) befürwortete in einem Gutachten die Behandlung, da sämtliche andere Therapien ausgeschöpft worden seien.

Die Krankenkasse lehnte die Kostenübernahme dennoch ab. Sie schlug dem Patienten eine Herz-Lungen-Transplantation als Behandlungsalternative vor. Sowohl das Sozialgericht Bremen als auch das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle verpflichteten die Krankenkasse zur Kostenübernahme der Behandlung. Eine gleichwertige, allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung gebe es weder in Deutschland noch in der EU. Die vorgeschlagene Organtransplantation sei keine gleichwertige Behandlungsmethode. Auch eine von der Krankenkasse vorgeschlagene begrenzte Kostenzusage auf 25.000 Euro komme nicht in Betracht.

Verklausulierte Frage nach Preis eines Lebens

Die von der Krankenkasse eingelegte Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision verwarf das BSG als unzulässig. Die Krankenkasse habe nicht aufgezeigt, warum das BSG den Streit klären müsse. Die Kasseler Richter verwiesen dabei auf den sogenannten Nikolausbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005. Demnach könnten Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, für die es keine schulmedizinischen Behandlungsmethoden gibt, die Finanzierung anderer, nicht vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen umfassten ärztlichen Therapien verlangen. Voraussetzung für eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse sei, dass die Therapie eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung“ oder zumindest einen spürbar positiven Krankheitsverlauf verspreche.

Im aktuellen Fall habe das LSG festgestellt, dass die neue Behandlungsmethode in den USA die einzige verbliebene Behandlungsmethode für die oft tödlich verlaufende Erkrankung sei, so das BSG. Die Krankenkasse habe in ihrer Beschwerde „verklausuliert“ gefragt, „ob ein Menschenleben gleichwohl einen Preis haben kann, bei dessen Überschreitung infolge der zu erwartenden Behandlungskosten die gesetzliche Krankenversicherung nicht mehr leistungsfähig ist“. Für solch eine Kostenbegrenzung gebe es aber keine rechtliche Grundlage.

Der Einwand der Krankenkasse, dass mit der unbegrenzten Leistungspflicht eine Kostenlast bis ins Unendliche ermöglicht werde, werde nicht genauer belegt. Zwar müsse sich die Krankenkasse an das Wirtschaftlichkeitsgebot halten. Dieses greife wie im vorliegenden Fall nicht mehr, „wenn weitere zumutbare Behandlungsalternativen nicht zur Verfügung stehen.“

Begrenzungen des Leistungsanspruchs

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass bei regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen alternative, nicht anerkannte Behandlungsmethoden bezahlt werden können, ist jedoch kein Freibrief für eine Erweiterung der Leistungspflicht der Krankenkassen. So reicht es nach einer weiteren Entscheidung der Verfassungsrichter vom 25. März 2023 nicht aus, dass ein behandelnder Arzt die Therapie mit Medikamenten außerhalb ihrer Zulassung empfiehlt. Gerichte könnten schon ein Mindestmaß an wissenschaftlichen Indizien verlangen, dass die Arzneimittel erfolgversprechend sind.

Das BSG hat mit Urteil vom 8. Oktober 2019 die Leistungspflicht der Krankenkassen bei tödlich verlaufenden Erkrankungen ebenfalls begrenzt. So könne bei hohen Risiken einer Alternativmethode eine palliative, auf Schmerzlinderung abzielende Behandlung Vorrang haben.

Az.: B 1 KR 67/23 B (Bundessozialgericht zum aktuellen Fall)

Az.: 1 BvR 347/98 (sogenannter Nikolausbeschluss des Bundesverfassungsgerichts)

Az.: 1 BvR 1790/23 (Bundesverfassungsgericht zu Medikamententherapien)

Az.: B 1 KR 3/19 R (Bundessozialgericht zu Palliativbehandlungen)

Frank Leth


Landessozialgericht

Krankenkasse muss Neurostimulationsanzug nicht bezahlen



Celle (epd). Ein Ganzkörper-Neurostimulationsanzug für Patienten mit Multipler Sklerose (MS) muss nach einer Entscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Geklagt hatte eine 44-jährige Frau, die seit mehr als 20 Jahren an MS erkrankt ist, wie das Gericht am 19. Mai mitteilte. Im Jahr 2023 habe sie bei ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für einen Exopulse-Neurostimulationsanzug zur Aktivierung der geschwächten Muskulatur beantragt, was die Kasse ablehnte. Die Klägerin habe sich daraufhin den Anzug aus eigenen Mitteln beschafft und die Erstattung der Kosten in Höhe von 8.700 Euro verlangt.

Zur Begründung verwies die Frau auf positive persönliche Erfahrungen mit dem Produkt. Es handele sich um den ersten elektronisch betriebenen Neuromodulationsanzug zur Verbesserung von Mobilität und Gleichgewicht sowie zur Reduzierung von Spastiken. Studien hätten zudem als sekundäre Effekte ein gesteigertes allgemeines Wohlbefinden sowie eine Verbesserung der Schlafqualität belegt. Auch ihr Fatigue-Syndrom habe sich durch die Anwendung des Anzugs deutlich gebessert.

Bewertungsverfahren steht noch aus

Das Landessozialgericht schloss sich der Auffassung der Krankenkasse an, dass das Produkt noch nicht das vorgesehene Bewertungsverfahren durchlaufen habe. Der Anzug sei daher als Hilfsmittel zur Krankenbehandlung einzustufen, das einen kurativen Zweck verfolge. Solche Produkte dürften nur dann zu Lasten der Krankenkasse abgegeben werden, wenn sie als neue Behandlungsmethode anerkannt seien.

Voraussetzung dafür sei allerdings eine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen, die medizinische Notwendigkeit sowie die Wirtschaftlichkeit der Methode - auch im Vergleich zu bereits übernommenen Verfahren. Eine solche positive Empfehlung liege bislang nicht vor. Das Gericht dürfe daher eine entsprechende Bewertung nicht vorwegnehmen.

Az.: L 16 KR 315/24




sozial-Köpfe

Betreuung

Hülya Özkan ist Vorsitzende des Bundesverbands BdB




Hülya Özkan
epd-bild/BdB/Charles Yunck
Der Bundesverband der BerufsbetreuerInnen (BdB) hat eine neue Vorsitzende: Hülya Özkan tritt die Nachfolge von Thorsten Becker an, der nach vielen Jahren an der Spitze aus dem Amt scheidet.

Potsdam (epd). Der Bundesverband der BerufsbetreuerInnen (BdB) hat auf seiner Jahrestagung in Potsdam einen neuen Vorstand gewählt: Vorsitzende ist nun Hülya Özkan (46) aus Bielefeld, die zuletzt Sprecherin der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen war. Sie hat türkische Wurzeln und studierte Politik und Sozialwissenschaften. Als Betreuerin arbeitet sie seit 2013.

Zu ihren Stellvertretern wählten die Delegierten Christian Morgner, bisher Landessprecher in Bremen, und Fred Rehberg, der dem bisherigen Vorstand bereits als Beisitzer angehörte. Die Verantwortung für die Finanzen bleibt in den Händen von Anja Pfeifer. Als neue Beisitzer wurden Jana Haupt (Schleswig-Holstein), Dominic Bauer (Nordrhein-Westfalen) und Kai Baldringer-Avagliano (Berlin) in den Bundesvorstand gewählt.

Rückblick auf Amtszeit

„Wir stehen vor großen Herausforderungen, von der geplanten Evaluierung des Vergütungsgesetzes bis zur strukturellen Weiterentwicklung des Verbands. Ich freue mich darauf, diesen Prozess gemeinsam mit einem engagierten Team weiterzuführen“, erklärte Özkan nach ihrer Wahl. In seiner Abschiedsrede blickte Thorsten Becker auf zentrale Themen seiner Amtszeit zurück. „Gemeinsam haben wir viel erreicht, politisch wie strukturell“, erklärte Becker.

Nach mehr als 24 Jahren Vorstandsarbeit ist Hennes Göers aus dem Vorstand ausgeschieden. Andrea Schwin-Haumesser und Peter Berger verzichteten ebenfalls auf eine Kandidatur für eine der Stellvertreterpositionen.

Der BdB ist mit nach eigenen Angaben rund 8.000 Mitgliedern die größte Interessenvertretung des Berufsstands. Er wurde 1994 gegründet. Mit seiner fachlichen Expertise setzt sich der Verband für mehr gesellschaftliche Teilhabe betreuter Personen ein.



Weitere Personalien



Vera Lux bleibt Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK). Sie wurde am 17. Mai von der Delegiertenversammlung im Amt bestätigt und wird den Verband in den kommenden vier Jahre führen. Lux war bis Ende 2023 Pflegedirektorin an der Medizinischen Hochschule Hannover und kann auf eine lange Karriere im Pflegemanagement zurückblicken. Die Kinderkrankenschwester und Betriebswirtin war Vorsitzende des Pflegerats Niedersachsen. Neben der Präsidentin wurden vier weitere Mitglieder in den Vorstand gewählt: Elizabeth Tollenaere und Stefan Werner wurden wiedergewählt, Andrea Uhlmann und Lina Gürtler wurden neu in den Vorstand gewählt. Sie ergänzen das ehrenamtliche Gremium, in dem mit Andrea Kiefer (DBfK Südwest), Sabine Berninger (DBfK Südost), Martin Dichter (DBfK Nordwest) und Johannes Wünscher (DBfK Nordost) auch die Vorsitzenden der vier Regionalverbände des DBfK vertreten sind. Mit dem Wechsel im Vorstand endet die Amtszeit von Katrin Havers und Thomas Nogueira.

Tanja Machalet (51) ist neue Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag. Die SPD-Abgeordnete und Volkswirtin wurde am 21. Mai in der konstituierenden Sitzung des Ausschusses für das Amt bestimmt. Machalet ist seit 2021 Mitglied im Bundestag und vertritt den Wahlkreis Montabaur in Rheinland-Pfalz. Zuvor war sie Abgeordnete im Landtag von Rheinland-Pfalz und dort nach eigenen Angaben mit den Themen Gesundheit, Pflege sowie Arbeit und Soziales befasst.

Gernot Lustig (50) ist zum Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ernannt worden. Er wird dem Vorsitz des 3. Senats übernehmen, der unter anderem zuständig ist für Angelegenheiten des Vertragsarztrechts sowie für Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung. Lustig folgt auf Wolfgang Pilz, der Ende April in den Ruhestand getreten ist. Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) begrüßte den Juristen: „Nach über sieben Jahren im Niedersächsischen Justizministerium kehrt Gernot Lustig nun zum Landessozialgericht zurück.“ Er sei „ein herausragender Kenner der Justiz, fachlich versiert und mit einer immensen Erfahrung ausgestattet“. Lustig war im Ministerium zuletzt stellvertretender Leiter der Abteilung I für Personal, Organisation, IT und Haushalt.

Andreas Stenzel hat die Leitung des Stephanushauses in Rummelsberg übernommen. Der langjährige Leiter des Altenhilfeverbundes in Rummelsberg, Diakon Werner Schmidt, war nach nahezu fünf Jahrzehnten in der Pflege in den Ruhestand gegangen. Stenzel verfügt über 25 Jahre Erfahrung in verschiedenen Leitungspositionen bei kirchlichen Trägern. Stenzel, der ursprünglich eine Krankenpflegeausbildung absolviert hat, leitete er das Caritas Alten- und Pflegeheim St. Ludwig in Ansbach. Das Stephanushaus ist Teil der Rummelsberger Dienste für Menschen im Alter (RDA). Die RDA betreut mehr als 3.000 Seniorinnen und Senioren in Bayern.

Hansjörg Bräumer ist verstorben. Der langjährige Leiter der diakonischen Lobetalarbeit in Celle starb am 16. Mai im Alter von 84 Jahren. Bräumer war von 1977 bis 2004 Vorsteher der Einrichtung. In seiner Zeit als Leiter habe Bräumer unter anderem die Raumsituation für viele Bewohner verbessert, teilte die Lobetalarbeit mit. Einzel- oder Doppelzimmer seien in dieser Zeit zur Regel geworden. Bräumer habe Lobetal zudem auf ein solides finanzielles Fundament gestellt. In der Lobetalarbeit mit Sitz in Celle gibt es für Menschen mit Beeinträchtigung Angebote im Wohnen, in der Tagesbildungsstätte, den Werk- und Tagesförderstätten und im ambulant begleiteten Wohnen. Außerdem bietet die Einrichtung Jugendhilfe, Seniorenzentren und Kindertagesstätten sowie Ausbildungsstätten für soziale Berufe an. Insgesamt nutzen etwa 1.800 Menschen die Angebote und werden von rund 1.300 Voll- und Teilzeitkräften unterstützt.

Maike Finnern (56) bleibt Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Lehrerin für Deutsch und Mathematik der Realschule Enger im Kreis Herford wurde mit 93,8 Prozent der Delegiertenstimmen auf dem 30. Gewerkschaftstag der GEW wiedergewählt. Finnern ist seit 2021 GEW-Vorsitzende der GEW. Von 2011 bis 2019 war sie stellvertretende GEW-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen, ab 2019 Landesvorsitzende. Sie ist seit 2013 Mitglied im Hauptvorstand der Gewerkschaft. Zwischen 2014 und 2018 war sie zugleich Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Bezirksfrauenausschusses beim Deutschen Gewerkschaftsbund.

Hartmut Fehler hat sich in den Ruhestand verabschiedet. Der ehemalige Geschäftsführer für Pflege und Wohnen der Diakonie Bethanien in Solingen begann als examinierter Altenpfleger bei der Diakonie. Seit 2011 war er im Vorstand, ab 2021 Mitglied der Geschäftsführung und für den Bereich Pflege und Wohnen verantwortlich. Der Vorsitzende der Geschäftsführung der Diakonie Bethanien, Matthias Ruf, würdigte Fehlers Talente, neue Wege früh zu erkennen, Menschen für neue Projekte zu begeistern und Menschen untereinander zu vernetzen. Fehlers Nachfolgerinnen sind Natalie Schaffert (Region Ruhrgebiet/Bergisches Land), Daniela Lenz (Region Märkischer Kreis Nord/Lahn-Dill) und Carmen Reichmann (Märkischer Kreis Süd/Siegerland).




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juli



Juni

3.-5.6.:

Online-Seminar „Fehlzeiten - Urlaub, Krankheit und Abwesenheitszeiten im Arbeitsrecht“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

4.-5.6.:

Online-Seminar „Aktuelle Entwicklungen in der europäischen Sozialpolitik“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-424

5.6.:

Online-Seminar „Psychische Erkrankungen: Vom Umgang mit Suizidalität“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

13.6. Berlin:

Seminar „Der öffentlich-rechtliche Rahmenvertrag für die Eingliederungshilfe gemäß SGB IX“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/27582-8224

18.6. Berlin:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe - Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 030/264830

19.6. Berlin:'

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Kinder- und Jugendhilfe - Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 030/264830

24.6. Essen:

Fortbildung „Grundlagen der Schuldnerberatung für Verwaltungskräfte - Handlungsfähig im Erstkontakt werden“

der Paritätischen Akademie NRW

Tel: 0202/2822-229

25.6.-26.6.:

Online-Fachveranstaltung „Fachkräfteeinwanderung in sozialen Berufen“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-606

Juli

7.7.-8.7. Berlin:

Seminar „Polizeieinsätze in der Jugendhilfe - wie verhalte ich mich korrekt?“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/27582-8212

7.7.-11.7. Freiburg:

Seminar „Projektmanagement - Effektiv planen und erfolgreich zusammenarbeiten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

10.7.:

Online-Veranstaltung „Personalentwicklung im Plural - PE-Kongress kompakt“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 03361/710-943