

Berlin (epd). Heimweh, schlechte Hygienebedingungen und oft ein strenges Regiment. In Schlaf- und Ruhezeiten war mitunter sogar der Gang zur Toilette verboten. So schildert es Alexander Nützenadel. Der Historiker der Berliner Humboldt-Universität hat ein Forschungsprojekt zu Kinderkurheimen in der alten Bundesrepublik geleitet, in dem Verschickungskinder manchmal ihr Erbrochenes essen mussten und andere schlimme Dinge erlebten.
Die Untersuchung „Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik 1945-1989“ fokussiert sich auf Heime ab der Nachkriegszeit. Ehemalige Heimträger wie der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland, Deutsches Rotes Kreuz (DRK) und die Deutsche Rentenversicherung hatten die Studie beauftragt. „Es ging in den Heimen darum, Kinder, die schlecht ernährt waren oder Mangelkrankheiten hatten, wieder aufzubauen“, erklärt Nützenadel. Zudem sollten Eltern oder Mütter entlastet werden.
Dem Forschungsbericht zufolge waren Missstände in diesen Heimen weit verbreitet. Zwangsmaßnahmen waren oft hart und überschritten die Grenze zur Gewalt. Nicht nur Personal wurde gewalttätig, sondern manchmal auch andere Kinder. Auch sexualisierte Gewalt kam vor. Für diese Missstände benennt Nützenadel mehrere Ursachen.
Besonders hebt er die Unterfinanzierung der Heime hervor. Die Pflegesätze seien gering gewesen, sagt der Historiker. Der häufig geäußerte Vorwurf, Heimträger hätten sich bereichert, treffe eher nicht zu. Zudem sei die Aufsicht über die Heime oft unzulänglich gewesen, Fehlverhalten habe oft keine Konsequenzen gehabt, erklärt er: „Es wurde kein Heim geschlossen aufgrund von Beschwerden.“ Personal sei knapp gewesen, und Teile des vorhandenen Personals sei von Ideen der Pädagogik unter den Nazis infiziert gewesen. Das aber, schränkt der Forscher ein, sei eher nicht die Hauptursache gewesen, denn autoritäre Erziehungspraktiken gab es ja schon vor 1933.
Nützenadel weist auch darauf hin, dass die Spannbreite zwischen den Heimen sehr groß gewesen sei: „Es waren nicht alle Heime von Missständen geprägt.“ Kinder hätten von positiven Erinnerungen an ihre Kuraufenthalte berichtet. Wie groß das Problem gewesen sei, könne die Studie nicht aufklären, schränkt er ein: „Rückwirkend ist keine repräsentative Quantifizierung der Missstände möglich.“ Die Untersuchung mache aber deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle gehandelt habe, sondern dass Vorfälle strukturell bedingt gewesen seien.
Der Bericht basiert auf umfangreicher Archivarbeit. Die Berliner Forschenden sichteten Unterlagen aus staatlichen Archiven auf Landes- und Kommunalebene aus allen alten Bundesländern außer dem Saarland. Der regionale Schwerpunkt lag dabei auf Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. In diesen Ländern habe es auch die meisten der mehr als 2.000 Kinderkureinrichtungen gegeben, hieß es.
Offizielle Statistiken seien allerdings lückenhaft, stellt der Bericht fest. Es sei zu vermuten, dass hier lediglich die Heime einflossen, die unter Aufsicht der Jugendämter standen, während solche, für die Gesundheitsämter zuständig waren, außen vor blieben. Daher bezogen die Forschenden Archive von Wohlfahrtsverbänden wie DRK, Caritas und Diakonie sowie Dokumente aus privaten Beständen ein. Darüber hinaus führten sie leitfadengestützte Interviews mit Betroffenen und ließen online Fragebögen ausfüllen.
Im Fokus des Berichts stehen Heime von Caritas, Diakonie und DRK, die zu den größten Heimträgern zählten, hieß es. Die Deutsche Rentenversicherung und ihre Vorgängerorganisationen hätten ebenfalls Heime unterhalten und jahrzehntelang Kinderkuren finanziert.
Christiane Dienel von der Initiative Verschickungskinder saß im Beirat des Forschungsprojekts. Bezüglich der Quantifizierbarkeit von Missständen weist sie darauf hin, dass es zwar Dankesbriefe an viele Einrichtungen für die schöne Zeit dort gibt, aber dass diese Briefe weit überwiegend aus der Feder von Eltern stammten, nicht von Kindern. Zudem gebe es als Reaktion auf das Forschungsprojekt zwar viele Rückmeldungen von Menschen, die von negativen Erlebnissen berichten, aber kaum solche, die schöne Kindheitserinnerungen verteidigten. „Das ist ein gewisses Indiz“, sagt Dienel.
Der Forschungsbericht ist Dienels Worten zufolge als historische Einordnung für viele Betroffene schwierig. Er könne von ihnen als „Angriff auf die Authentizität ihrer Schilderungen“ aufgefasst werden. Das Ziel des Berichts sei aber nicht, etwas zu verschleiern, sondern eben einzuordnen. Er komme auch genau im richtigen Moment. Dienel weist darauf hin, dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart habe, die Aufarbeitung der Kinderkuren zu unterstützen.
Kinderkuren gibt es heute zwar so gut wie nicht mehr, aber auch heute noch gibt es stationäre Einrichtungen für Kinder, etwa für Reha-Maßnahmen. Die Träger dieser Einrichtungen verweisen auf Verbesserungen, die eine Wiederholung solcher Zustände wie in den Kinderkurheimen erschwerten. Anna Steinfort vom Deutschen Caritasverband nennt das Konzept der geteilten Verantwortung, wenn beispielsweise der Medizinische Dienst Heime kontrolliere. Andreas Denk vom DRK verweist auf Gewaltschutzkonzepte und darauf, dass Kinder sich heute beteiligen können und sich beschweren können.
Nützenadel weist darauf hin, dass mit dem Fokus auf die alte Bundesrepublik „nicht gesagt sein soll, dass es in der DDR keine Kinderkuren und keine Missstände gab“. Das sei nämlich sehr wohl der Fall gewesen. Strukturen in der DDR hätten sich aber von denen in der BRD so deutlich unterschieden, dass ein Vergleich in diesem Forschungsprojekt nicht sinnvoll gewesen sei. Zu Verschickungskindern in der DDR müsse es eine eigene Forschung geben.