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Sozialgeschichte

Verschickungskinder: "Angst gehörte zum Alltag"



Statt Therapie gab es häufig Schläge und Demütigungen. Ehemalige "Verschickungskinder" kehren an den Ort der früheren Klinik Aprath bei Wülfrath in NRW zurück. Der Besuch ist Teil eines Programms, Unrecht aufzuarbeiten und öffentlich zu machen.

Wülfrath (epd). Es ist ein Ort zum Gruseln: Eingeschlagene Fenster, rostige Balkone, an den verdreckten Fassaden fällt der Putz ab. Mitten in einem Waldgebiet bei Wülfrath steht das Gebäude der seit Jahren verfallenden ehemaligen Klinik Aprath, in dessen Gemäuern auch schon Szenen für einen Horrorfilm gedreht wurden. Doch auch in der Wirklichkeit hat sich in den Räumen des Gebäudes vor vielen Jahren Schreckliches ereignet.

„Angst gehörte zum Alltag“, berichtet Joachim. Er ist eines der sogenannten Verschickungskinder und - jugendlichen, die in den 1950er bis 1980er Jahren überwiegend zur Behandlung von Tuberkulose-Erkrankungen in die Klinik Aprath kamen. Die einstige Lungenheilstätte galt als eine Vorzeigeanstalt bei der Behandlung der Krankheit, die damals in Deutschland noch allgegenwärtig war. Auch viele Kinder waren infiziert.

Drei Monate Mindestaufenthalt

Der Mindestaufenthalt lag bei drei Monaten, manche blieben aber auch weit über ein Jahr. Aber statt Therapie gab es häufig Schläge, Demütigungen und Drohungen. Meistens habe man aber gar nicht verstanden, was man überhaupt falsch gemacht habe, so Joachim.

Am 26. Februar ist er mit einigen seiner früheren Leidensgenossen an den Ort zurück zurückgekehrt, der nur eines von vielen ehemaligen sogenannten Kindererholungsheimen in Deutschland war. Organisiert hat die Aktion der Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen (AKV), der die Ereignisse in diesen Stätten an die Öffentlichkeit bringen will. Zwischen 1950 und 1990 wurden demnach bundesweit bis zu acht Millionen Kinder dorthin geschickt. Doch statt gesund kamen viele von ihnen traumatisiert zurück - und leiden noch heute unter den Erlebnissen.

„Das ist ein besonderer Tag für die Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen“, sagt der Vorsitzende des AKV NRW, Detlef Lichtrauter. „Die Zeit für eine umfassende Aufarbeitung ist jetzt.“ Der AKV hat dabei schon viel Vorarbeit geleistet. So hat die Historikerin Carmen Behrendt in seinem Auftrag Erfahrungsberichte ausgewertet, Interviews mit Betroffenen geführt und in Archiven recherchiert.

Körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt an der Tagesordnung

„Die Betroffenen aus Aprath berichten über körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt, die vor allem von den Schwestern und Betreuerinnen ausgegangen sei“, erläutert Behrendt. Es habe eine Atmosphäre der Angst geherrscht. Die Kinder hätten Demütigungen, Schläge und Missbrauch durch diejenigen erleiden müssen, die für ihre Pflege und Betreuung zuständig gewesen seien.

Bei den Kindern berüchtigt waren sogenannte Liegekuren. Schon nach dem Frühstück mussten sie bis mittags in Schlafsäcken auf Liegestühlen verharren. Nach dem Mittagessen und Mittagsschlaf folgten weitere drei Stunden Ruhezwang. Auch der sogenannte Essenszwang gehörte zur Tagesordnung. Betroffene berichten, dass sogar Erbrochenes aufgegessen werden musste. Hinzu kam psychische Gewalt. Den Kindern wurde den Recherchen der Historikerin zufolge eingetrichtert, dass sie nie mehr nach Hause kämen, wenn sie nicht gehorchten.

Unterlagen geben Hinweise auf Medikamententests

Inzwischen gibt es auch Hinweise, dass an den Kindern Medikamente getestet wurden. Nach Erkenntnissen der Medizinhistorikerin Sylvia Wagner wurde bereits im Jahr 1956, ein Jahr vor der Markteinführung, in Aprath das Schlafmittel Contergan an keuchhustenkranke Kinder ausgegeben. Erste vorläufige Befunde deuteten zudem darauf hin, dass es im Rahmen der Tuberkuloseforschung zu einer Zusammenarbeit zwischen der medizinischen Leitung in Aprath und dem Pharmaunternehmen Bayer gekommen sei.

„Heimkinder waren damals so was wie Versuchsobjekte. Sie waren Menschen zweiter Klasse und hatten keine Lobby, niemand hat sich für sie eingesetzt“, macht Wagner deutlich. Die Ärzte hätten mit den Kindern alles machen können. Auch Psychopharmaka, Antidepressiva und Beruhigungsmittel seien ausgegeben worden. Folge für die Betroffenen seien in späteren Jahren höhere Risiken für Diabetes oder Herzerkrankungen.

Für das ehemalige Verschickungskind Joachim ist der Besuch auf dem Klinikgelände nach über 50 Jahren auch ein Versuch, das Geschehene von damals weiter zu verarbeiten: „Es ist für mich ein positives Gefühl.“

Frank Bretschneider