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"Pflege-Triage": Wenn Patienten keinen Heimplatz finden




Pflegebedürftige, die viel Betreuung und Unterstützung brauchen, müssen oft lange nach einem Heim suchen, das sie aufnimmt.
epd-bild/Tim Wegner
Nicht alle Fachleute halten den drastischen Begriff für klug gewählt: "Pflege-Triage". Denn es geht, anders als die Assoziation nahelegt, nicht unmittelbar um Leben und Tod. Und doch steht das Synonym für ein eklatantes Versagen der professionellen Pflegeversorgung.

Frankfurt a.M. (epd). Es ist ein wahrer Teufelskreis, und der dreht sich zunehmend schneller: Heimen und Pflegediensten fehlt qualifiziertes Personal. In der Folge müssen sie oft die Betreuung Pflegebedürftiger ablehnen, obwohl die händeringend einen Betreuungsplatz suchen - etwa nach einem Klinikaufenthalt. Die Anschlussversorgung scheitert. Zynisch ist schon die Rede von „stiller Rationierung“ durch Fach- und Arbeitskräftemangel.

Der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege, Wilfried Wesemann, ist alarmiert. Er fordert, das professionelle Pflegesystem müsse „das Recht auf würdevolle Pflege endlich wieder erfüllen“.

Beim Verein „wir pflegen“ erklärt das Geschäftsführende Vorstandsmitglied Edeltraut Hütte-Schmitz die Ursachen der Probleme: „Leistungsanbieter entscheiden nach wirtschaftlichen Kriterien, wen sie versorgen können und wen nicht.“ Schwerstpflegebedürftige mit hohem Pflegeaufwand fänden keinen Heimplatz, weil sie zu sehr pflegebedürftig seien. Sie müssten notgedrungen daheim versorgt werden. „Aber auch hier finden sie viel zu oft keine professionelle Unterstützung, weder durch einen ambulanten Pflegedienst noch durch einen Tagespflegeplatz, denn auch hier findet die Pflege-Triage statt.“ Den pflegenden Angehörigen bleibe so oft nicht anderes übrig, als Arbeitszeit zu reduzieren oder den Beruf ganz aufzugeben.

„Diskriminierung der Schwächsten der Gesellschaft“

Professorin Notburga Ott, Mitglied des Vorstands des Landesvereins „wir pflegen NRW“, stellt fest: „Unser derzeitiges Pflegesystem kann schon seit Jahren den demografischen Herausforderungen nicht mehr gerecht werden. Es diskriminiert die Schwächsten unserer Gesellschaft.“

Fachleute beklagen, dass vermehrt Menschen mit den Pflegegraden 4 oder 5, die sehr zeitintensiv betreut werden müssen, keinen Platz im Heim oder bei einem ambulanten Pflegedienst finden, was nicht selten private Tragödien nach sich zieht. Aber auch für die Träger ist das eine heikle Situation, denn ihnen brechen dringend benötigte Einnahmen weg, wenn ihre Kapazitäten nicht voll ausgelastet sind. Das wiederum kann zu Insolvenzen führen - wodurch die Zahl der wenigen Heim- und Pflegeplätze womöglich noch weiter sinkt.

Der BIVA-Pflegeschutzbund bezeichnet den Begriff Pflege-Triage als „unglücklich“. Gemeint sei das Phänomen der ungewissen Vermittlung von Patienten aus dem Krankenhaus in eine Pflegeeinrichtung. „Uns ist jedoch kein Fall bekannt, in dem es keine Weiterversorgung gegeben hätte, geschweige denn in der Folge sterben gelassen wurde, was Triage ja eigentlich meint“, sagte Sprecher David Kröll auf Nachfrage. Aber: Die massiven Probleme deckten sich mit den Erfahrungen Pflegeschutzbundes aus der eigenen Beratungsarbeit.

Krankenhäuser seit Gesetzesreform 2021 unter Druck

Das Problem ist keineswegs neu, zieht aber als Folge einer Gesetzesreform 2021 offenbar weite Kreise. Der Pflegeschutzbund sieht die Schwierigkeiten mit dem Entlassmanagement zumindest in Teilen als selbstgemacht an: „Durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung wurde diese Problematik ein Stück weit auf die Krankenhäuser verlagert. Diese müssen für höchstens zehn Tage die sogenannte Übergangspflege leisten, müssen sich um Anträge oder Pflegegradeinstufungen kümmern sowie Heimplätze zur Weiterversorgung anfragen.“ (§ 39e SGB V)

Doch die Kliniken stoßen dabei vermehrt auf Ablehnung der Heime und ambulanten Dienste. Der zeitliche Druck in den Krankenhäusern sei enorm. Eine individuelle Weiterversorgung des einzelnen Patienten könne unter diesen Umständen kaum organisiert werden - zumal auch in den Kliniken ebenfalls Fachkräftemangel herrsche. Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) warnt mit Blick auf die knappen Ressourcen davor, „dass die Langzeitpflege zur Sozial- und Demokratiefrage werden könnte“.

Verband: Versorgung längst nicht mehr gesichert

Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes der Anbieter privater sozialer Dienste (bpa), sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Die Versorgung mit pflegerischen Angeboten ist längst nicht mehr gesichert. Vor allem der Personalmangel hat dazu geführt, dass Heime nicht mehr voll belegt werden können und ambulante Dienste ihre Touren zusammenstreichen.“ Denjenigen, die Pflege am dringensten bräuchten, falle es besonders schwer einen Heimplatz zu finden. „Dass pflegende Angehörige und karitative Netzwerken inzwischen von einer Pflege-Triage sprechen, zeigt die Dringlichkeit“, sagte Meurer. Die Politik ignoriere diese gefährliche Entwicklung, weil sich das Drama kaum sichtbar in den Familien abspiele.

Welche Ausmaße die Folgen des Personalmangels auf Trägerseite bereits angenommen haben, zeigen aktuelle Daten. In einer Umfrage des DEVAP vom Januar mussten 71 Prozent der befragten 578 Träger Leistungen aus personellen Gründen in den zurückliegenden sechs Monaten einschränken. „65 Prozent der Pflegeheime können Leistungen nicht erbringen, und sogar 84 Prozent der ambulanten Dienste können die Nachfrage von Neu- und Bestandskunden nicht erfüllen“, sagte Vorsitzender Wesemann. Die Versorgungssituation in der ambulanten Pflege sei noch prekärer: „80 Prozent mussten in den letzten sechs Monaten Neukunden ablehnen.“

Zahl der Insolvenzen steigt

Und die Zahl der Insolvenzen von Pflegeanbietern steigt, auch wenn das nicht zwingend dazu führt, dass Pflegeplätze verloren gehen. Laut Angaben des Arbeitgeberverbandes Pflege (AGVP) haben 2023 bundesweit 780 Pflegeeinrichtungen Insolvenz angemeldet oder wurden bereits geschlossen. In NRW hat sich die Zahl der Pleiten binnen Jahresfrist verfünffacht - auf 26 im Vorjahr. In Bayern waren es elf, 26 weitere Träger lösten ihre Versorgungsverträge mit den Pflegekassen auf.

Die Ruhrgebietskonferenz-Pflege verweist darauf, dass in einigen Kommunen in NRW Altenheimträger bis zu zehn Prozent der Pflegebetten „freiwillig“ leer stehen lassen, weil sie nicht genug Fachkräfte bereitstellen können, um die vereinbarte Pflegequalität zu gewährleisten. Die unsichtbaren Warteschlangen für Plätze in Heimen und Diensten würden immer länger, hieß es.

„Das Entlassmanagement der Krankenhäuser funktioniert oft nicht. Dabei sind die gesetzlichen Vorgaben eindeutig“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Aber die zehntägige Übergangspflege während eines Klinikaufenthalts sei bei Betroffenen und ihren Angehörigen kaum bekannt. „Die für das Entlassmanagement verantwortlichen Hospitäler sind gefordert, auf den gesetzlichen Zeitgewinn hinzuweisen und diesen umzusetzen“, sagte Brysch dem epd.

Brysch: Rosinenpickerei einen Riegel vorschieben

Doch gerade für schwerstpflegebedürftige Menschen findet sich laut Brysch meistens keine bedarfsgerechte Lösung: „Die Pflegeversorger scheuen den hohen Versorgungsaufwand der Hilfsbedürftigen. Dieser Rosinenpickerei gehört ein Riegel vorgeschoben.“ Hier müsse grundsätzlich eine feste Quote für die Aufnahme von Menschen mit Pflegegrad 4 und 5 mit Pflegeanbietern vereinbart werden. „Zudem ist ein Rechtsanspruch auf Kurzzeit- und Verhinderungspflege überfällig. Der Bundesgesundheitsminister hat endlich für ein optimales Entlassmanagement zu sorgen.“

Für Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK), zeigen sich heute „die fatalen Lücken eines jahrzehntelang vernachlässigten Pflegewesens“. Und sie merkt an: „Auch wenn der Begriff Triage im Falle der Pflege unklar ist und eher Rationierung von Leistungen gemeint ist, sind wir uns einig, dass der Mangel an Pflegefachpersonen Einbußen in der pflegerischen Versorgung und der Pflegequalität zur Folge hat.“ Das Problem werde sich voraussichtlich noch spürbar verschärfen. Klapper wirbt für Reformen, vor allem, um die Prävention in der Pflege zu stärken und Angehörige besser zu begleiten, damit die Pflegequalität gesichert ist und sie daheim nicht überfordert werden.

Und: „Pflegefachpersonen müssen in die Lage zu versetzt werden, ihre umfangreichen Kompetenzen vollständig einsetzen zu können und deutlich mehr präventiv wirken zu können als bisher“, so die Expertin: Aber: „Von einem solchen Ansatz hat Deutschland jedoch noch keine Vorstellung.“

Dirk Baas