sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Initiative Kindwärts unterstützt Trennungsfamilien mit einem Besuchsprogramm: Sie vermittelt bundesweit kostenlose Übernachtungsplätze bei privaten Gastgebern am Wohnort des Kindes. Damit sind trotz der oft weiten Entfernung zwischen den Elternhäusern verlässliche Mama- oder Papa-Tage möglich, erklärt Kindwärts-Gründerin Annette Habert die Idee. Der Nürnberger Gerald Hupfer ist seit 17 Jahren bei Kindwärts engagiert. „Für mich war es nach der Trennung sehr schwierig, Kontakt zu meinem Sohn zu halten“, sagt er. Heute bietet er selbst Trennungsvätern in seiner Wohnung einen Übernachtungsplatz.

Seyhan Cakar ist von der Pflege und Betreuung ihres 19-jährigen schwerstbehinderten Sohnes Eren erschöpft. Seit der Trennung von ihrem Mann hängt die Pflege allein an ihr. Über Jahre hinweg konnte sie kaum eine Auszeit nehmen. Schließlich stellten sich Panikattacken und Depressionen bei der überforderten Stuttgarterin ein. Sie gab ihren Beruf als Arzthelferin auf. Hilfe erhofft sich Cakar von einem dreiwöchigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Ihr Sohn geht so lange in ein Kinder- und Jugendhospiz. „Er versteht, dass ich mich ausruhen muss“, sagt Seyhan Cakar.

Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) rügt die Bundesregierung, in dieser Legislatur keine Pflegereform mehr anzugehen. „Das ist skandalös“, sagt Vorsitzender Wilfried Wesemann im Interview mit epd sozial. Man dürfe keine Zeit mehr verlieren: „Wir müssen beginnen, das Thema jetzt anzupacken.“ Auch, weil die Lage in vielen Heimen dramatisch sei.

Eine Mitarbeitervertretung kann die Ausgründung von Betrieben eines kirchlichen Krankenhauses nicht im Rahmen ihrer Mitbestimmung stoppen. Dies gilt auch dann, wenn bei den outgesourcten Betrieben das kirchliche Arbeitsrecht nicht mehr gilt. Das entschied der katholische Kirchliche Arbeitsgerichtshof (KAGH) in Bonn in einem Leitsatzurteil.

Liebe Leserinnen und Leser, ich verabschiede mich heute von Ihnen. Nach fast 23 Jahren, die ich beim Evangelischen Pressedienst und für epd sozial gearbeitet habe, gehe ich zum 1. Juli in Rente. Ich danke Ihnen für Ihre Treue - manche von Ihnen sind ja seit der ersten Ausgabe, die am 12. Oktober 2001 erschienen ist, ununterbrochen dabei. Ich wünsche Ihnen für Ihre weitere berufliche Arbeit alles Gute.

Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Familie

Wie eine Initiative Trennungsfamilien unterstützt




Gerald Hupfer in dem Zimmer, das er für die Initiative Kindwärts zur Verfügung stellt.
epd-bild/Stefanie Unbehauen
Jedes Jahr erleben in Deutschland über 130.000 Kinder die Trennung ihrer Eltern. Viele Kinder leben danach Hunderte Kilometer weit entfernt von einem Elternteil. Die Initiative Kindwärts hilft bei der Vermittlung von Gästezimmern für Besuche.

Nürnberg, München (epd). Als Gerald Hupfer und seine Lebensgefährtin sich vor 18 Jahren trennten, zog diese mit dem gemeinsamen, damals dreijährigen Sohn rund 360 Kilometer weit weg nach Nordhessen. Hupfer selbst blieb im Landkreis Nürnberg wohnen. Um seinen Sohn sehen zu können, nahm der Mittelfranke alle zwei Wochen eine vierstündige Autofahrt auf sich. „Wenn ich im Stau stand oder es viele Baustellen gab, war ich manchmal hin und zurück auch bis zu zwölf Stunden unterwegs“, erinnert sich der selbstständige Gärtner.

„Es ging ins Geld und war kräftezehrend“

Als sein Sohn im Kindergarten war, fuhr er alle zwei Wochen zu ihm, von Donnerstag früh bis Sonntag am späten Abend. „Ich habe das zwei, drei Jahre lang gemacht, aber es ging ins Geld und war kräftezehrend“, sagt der heute 52-Jährige. Als sein Sohn in die Schule kam, fuhr er nur noch einmal im Monat zu ihm. „Da er natürlich auch freitags Unterricht hatte, hatten wir noch weniger Zeit. Ich verbrachte mehr Zeit auf der Autobahn als mit meinem Sohn.“

Aus dieser Erfahrung heraus beschloss er, sich bei der Initiative Kindwärts zu engagieren, die damals noch unter dem Namen „Die Familienhandwerker“ bekannt war. Kindwärts, das sein Büro in München hat, vermittelt kostenfreie Übernachtungen bei ehrenamtlichen Gastgebern am Wohnort der Trennungskinder. Die Initiative wird vom Bundesfamilienministerium und der Landeshauptstadt München gefördert.

Gastgeber kann jeder werden, der ein freies Zimmer zur Verfügung hat und bereit ist, dieses einer Mutter oder einem Vater für das Besuchswochenende zur Verfügung zu stellen. „Wir laden auch Kindergärten und Familienzentren ein, ihre Räume für den Tag zu öffnen“, sagt Annette Habert, Gründerin von Kindwärts. „Denn stundenlang mit dem Kind draußen unterwegs zu sein, ist für einen qualitätsvollen Umgang nur bedingt geeignet.“

Offen und großzügig

Bisher kamen bundesweit 1.901 Vermittlungen an ehrenamtliche Gastgeberinnen und Gastgeber zustande. „Uns begegnet eine erstaunliche Offenheit und Großzügigkeit durch alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen“, betont Habert. Die Vermittlung sei unkompliziert. Nach der unverbindlichen Anmeldung werden die potenziellen Gastgeber kontaktiert und im Falle einer passenden Anfrage ein Kennenlerntermin vereinbart.

Zusätzlich zur Vermittlung unterstützt die Initiative getrennt erziehende Eltern mit einem Beratungsangebot. Das Ziel: Elternschaft soll auch über weite Entfernungen hinweg gelebt werden können. „Wir unterstützen Eltern mit monatlichen Elternbriefen, digitalen Elternabenden und einem Podcast. Wir haben zudem ein professionelles dreimonatiges Coaching zur Stärkung der Selbstfürsorge von Eltern eingeführt“, sagt Habert.

Bereits seit 17 Jahren ist Hupfer nun schon bei Kindwärts engagiert. „Für mich war es nach der Trennung sehr schwierig, Kontakt zu meinem Sohn zu halten“, gibt er zu. Seit drei Jahren ist er selbst Gastgeber bei Kindwärts. Über ein Jahr lang hat er regelmäßig einen Gastvater beherbergt, der aus der Nähe von Stuttgart kam. Dieser hatte einen dreijährigen Sohn, dessen Mutter bei Nürnberg wohnte. „Er war sehr höflich, hat sich ständig bedankt“, erinnert sich Hupfer.

Derzeit beherbergt Hupfer einen Vater aus Berlin. „Er ist etwa einmal im Monat hier“, sagt er, während er sich in dem rund 11 Quadratmeter großen Gästezimmer umblickt, das er regelmäßig zur Verfügung stellt.

„Es ist eine gute Freundschaft entstanden“

Kupfers Gastvater, der seinen Namen zum Schutz seines Kindes nicht in der Zeitung lesen möchte, ist seit eineinhalb Jahren bei Kindwärts gemeldet. Seit Mai vergangenen Jahres kommt er regelmäßig bei Hupfer in Altdorf bei Nürnberg unter. „Es ist eine gute Freundschaft entstanden“, sagt der 40-Jährige.

Einmal im Monat kommt er aus Berlin, um ein Wochenende mit seinem dreijährigen Sohn zu verbringen. Früher ist er die Strecke mit dem Auto gefahren. „Seit die Benzinpreise in die Höhe geschossen sind, fahre ich mit dem Zug.“ Ein Wochenende koste ihn um die 300 Euro. „Ich benötige neben dem Zugticket auch noch Geld, um etwas mit meinem Kind unternehmen zu können, und brauche außerdem einen Mietwagen, da die Mutter meines Sohnes auf dem Land wohnt“, erklärt er.

Bevor er bei Kindwärts war, buchte er Airbnb-Unterkünfte, um Zeit mit seinem Kind verbringen zu können. Diese waren teuer und sonntags musste er bis spätestens mittags auschecken. „Bei Gerald kann ich auch länger bleiben und habe somit mehr Zeit mit meinem Sohn.“

Auch Hupfer habe ein gutes Verhältnis zu seinem mittlerweile 21-jährigen Sohn, der gerade ein Bundesfreiwilligenjahr in der Nähe von Hamburg absolviert. „Letztens kam er zu Besuch und wir fuhren mit meiner Lebensgefährtin und unseren anderen beiden Söhnen gemeinsam als Familie nach Berchtesgaden.“

Stefanie Unbehauen


Familie

Die Initiative Kindwärts



München (epd). Bei Kindwärts handelt es sich um eine bundesweite Initiative, die sich an Trennungseltern richtet, die weit weg von ihrem Kind leben. Dabei vermittelt sie deutschlandweit kostenfreie Übernachtungen bei ehrenamtlichen Gastgeberinnen und Gastgebern am Wohnort des Kindes. Zudem unterstützt die Organisation die Trennungseltern mit einem pädagogischen Beratungsangebot. Kindwärts wird vom Bundesfamilienministerium und der Landeshauptstadt München gefördert. Zuvor war Kindwärts viele Jahre unter dem Namen „Die Familienhandwerker“ bekannt.

Interessierte Gastgeber können sich unverbindlich online registrieren. Nach der Anmeldung nimmt Kindwärts telefonisch Kontakt mit ihnen auf. Sobald es eine passende Anfrage eines Vaters oder einer Mutter gibt, werden Gastgeber, die in der Nähe wohnen, telefonisch kontaktiert und können entscheiden, ob sie den Gast aufnehmen.



Familie

Interview

Kindwärts-Gründerin: Elternliebe kennt keine Entfernungen




Annette Habert
epd-bild/Iveta Rysava
Die Initiative Kindwärts unterstützt Trennungsfamilien, indem sie bundesweit Übernachtungsplätze bei ehrenamtlichen Gastgebern am Wohnort des Kindes vermittelt. Die Organisation unterstützt auch mit Beratungsangeboten. Ein Gespräch mit Annette Habert, der Gründerin der Initiative.

München (epd). Jedes Jahr erleben in Deutschland über 130.000 Kinder die Trennung ihrer Eltern. Viele Kinder leben danach hunderte Kilometer weit entfernt von einem Elternteil. Die Initiative kindwärts vermittelt Gastgeber am Wohnort des Kindes, damit Besuche einfacher gestaltet werden können. Stefanie Unbehauen sprach mit Annette Habert, der Gründerin von Kindwärts.

epd sozial: Warum wurde die Initiative Kindwärts ins Leben gerufen?

Annette Habert: Die Zahl Alleinerziehender mit minderjährigen Kindern liegt bei knapp 1,5 Millionen. Von den rund 13 Millionen Kindern unter 18 Jahren lebten 2021 bereits 18 Prozent aller Kinder nur mit einem Elternteil im Haushalt. Viele Kinder leben nach der Trennung ihrer Eltern dann hunderte Kilometer weit entfernt von ihrem Papa oder ihrer Mama. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Trotz weiter Entfernung wollen beide Eltern für ihr Kind da sein. Denn Elternliebe kennt keine Entfernungen. Ein Elternteil macht sich dann monatlich auf die weite Reise zu seinem Kind, um die Bindung zu halten. Kinder brauchen ja beide Eltern. Damit das gelingt, benötigen wir ehrenamtlich engagierte Gastgeberinnen und Gastgeber am Wohnort der Kinder.

epd: Kann jeder Gastgeber werden? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?

Habert: Jeder, der ab und zu Platz in den eigenen vier Wänden hat und einem anreisenden Papa oder einer anreisenden Mama eine Übernachtung anbieten möchte, kann Gastgeber werden. Wir laden auch Kindergärten und Familienzentren ein, einem Kind und dem Elternteil am Wochenende einen Raum für den Tag zu öffnen. Denn stundenlang mit dem Kind draußen unterwegs zu sein, ist für einen qualitätsvollen Umgang nur bedingt geeignet. Uns begegnen eine erstaunliche Offenheit und Großzügigkeit durch alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen. Die Sehnsucht von Kindern, mit Mutter und Vater gut verbunden zu sein, kennt jeder. Und viele Menschen schätzen es, wenn sie quasi ganz nebenbei über Nacht die Welt von Kindern zu einem besseren Ort machen können.

epd: Wie läuft eine Vermittlung konkret ab?

Habert: Zunächst registrieren sich interessierte Gastgeber unverbindlich online. Wir nehmen persönlichen Kontakt auf und besprechen den Rahmen der Gastfreundschaft. Sobald wir die Anfrage eines anreisenden Vaters oder einer anreisenden Mutter erhalten, stimmen wir uns mit dem Gastgeber ab, ob er aktuell unterstützen kann. Dann erhält er von uns die Kontaktdaten des Gastes. Es gibt ein erstes unverbindliches Kennenlernen vor Ort, telefonisch oder per Zoom. Danach entscheidet der Gastgeber, ob er dem Vater oder der Mutter seine Türe öffnen möchte. Wir geben erst danach die Adresse des Gastgebers an den Vater bzw. die Mutter weiter. Besuchstermine werden individuell abgestimmt. In der Regel geht es um zwei Übernachtungen. Wenn sich alle gut verstehen, wird der Gastgeber für den anreisenden Elternteil exklusiv reserviert. Unsere Gastgeberinnen und Gastgeber werden von uns vor und nach der Vermittlung eines Gastes telefonisch betreut.

epd: Wie kam die Initiative zustande?

Habert: Im Jahr 2008, an einem ganz normalen Freitagmittag, vertraute sich mir der kleine Sven aus München nach der Schule mit seiner Bedürftigkeit und seinem Trennungsschmerz an. Sein Vater kam nur im Sommer und schlief dann im Auto, weil er am Umgangswochenende von weit anreiste. Die Kosten für die Übernachtung konnte er sich nicht leisten. Die Vorstellung, dass ein Kind nach dem Papa-Tag mit dem Wissen einschläft, dass sein Vater draußen auf dem Parkplatz übernachtet, hatte mich tief betroffen gemacht. Sven hatte einfach damit gerechnet, dass es für seine Sehnsucht nach Verbundensein doch irgendwen in der Welt geben würde, der ein Hoffnungsträger für neue Lösungen in seiner Familie sein könnte. Ich vermittelte den Vater an einen ehrenamtlichen Gastgeber. Bald merkte ich, dass die familiäre Situation des Jungen kein Einzelfall war und vermittelte weitere Väter. Zunächst organisierte ich die bundesweiten Vermittlungen in meiner Freizeit vom Küchentisch aus. Doch bald wurde klar, dass das Projekt einen größeren Umfang annehmen würde.

epd: Welche Konsequenz wurde daraus gezogen?

Habert: Unser bundesweit einmaliges Besuchsprogramm Kindwärts ist ein Teil der wellcome gGmbH. Das gemeinnützige Hamburger Unternehmen entwickelt seit mehr als 20 Jahren innovative Angebote für Familien und möchte Eltern damit ermutigen, sich auf das Abenteuer Familie einzulassen. Erst recht, wenn die monatliche Anreise zum Lego-Spiel oder zum Spaziergang mit dem Neugeborenen für die Eltern eine ganze Tagesreise dauert. Bisher haben wir bundesweit 1.901 Vermittlungen an ehrenamtliche Gastgeberinnen und Gastgeber durchgeführt und 26.832 Eltern-Kind-Kontakte ermöglicht, damit trotz der weiten Entfernung zwischen den Elternhäusern verlässliche Mama-Tage oder Papa-Tage möglich wurden. Seit über 13 Jahren sorgen wir dafür, dass Kinder nach einer Trennung sicher sein können: Mein Papa kommt! Meine Mama kommt! Wenn Eltern und Kinder eine Solidargemeinschaft ehrenamtlicher Gastgeber erleben, werden sie sich mit ihrer besonderen Familiengeschichte in unserer Welt willkommen fühlen können.

epd: Sie bieten neben der Vermittlung für die Trennungseltern auch Beratungsangebote an. Wie kann man sich diese vorstellen?

Habert: Fernbeziehungen sind kein Kinderspiel. Schon gar nicht für Kinder. Umgangsberechtigten fehlt der Erfahrungsaustausch mit anderen Eltern, die Tür- und Angelgespräche mit Fachkräften und in vielen Orten der Zugang zu Beratungsstellen, die am Wohnort des Kindes am Wochenende geschlossen haben. Anreisende Eltern brauchen also mehr als einen verlässlichen Übernachtungsplatz, damit Kinder auch unter multilokalen Bedingungen eine vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung erleben. Wir bieten unseren anreisenden Elternteilen einen persönlichen pädagogischen Ansprechpartner, monatliche Elternbriefe, Audiodateien und digitale Elternabende. Wir haben zudem ein professionelles dreimonatiges Coaching zur Stärkung der Selbstfürsorge von Eltern eingeführt.



Familie

Anerkennung von Vaterschaften soll stärker kontrolliert werden



Die Anerkennung einer Vaterschaft führt bei einem ausländischen Elternteil in der Regel zu einem Aufenthaltsrecht in Deutschland. Die Bundesregierung befürchtet, dass das oft missbraucht wird - und will das mit einem neuen Verfahren verhindern.

Berlin (epd). Die Anerkennung von Vaterschaften mit ausländischen Beteiligten soll künftig strenger kontrolliert werden. Das Bundeskabinett brachte am 12. Juni in Berlin ein Gesetz auf den Weg, das sogenannte missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen besser verhindern soll. Diese haben allein zum Ziel, Mutter oder Vater sowie dem Kind ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu verschaffen. Die geltenden Regeln zur Verhinderung dieses Missbrauchs seien nicht effektiv genug, hieß es zur Begründung.

Zustimmung der Ausländerbehörde

Täuschungen und Rechtsmissbrauch, um an ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu kommen, werde ein deutlicher Riegel vorgeschoben, erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Auch der damit verbundene missbräuchliche Bezug von Sozialleistungen solle damit gestoppt werden. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte, die geplante Gesetzesänderung stehe beispielhaft für eine „neue Realpolitik in der Migration“. Innen- und Justizministerium haben den Entwurf gemeinsam erarbeitet.

Demzufolge soll künftig gelten, dass für die Anerkennung der Vaterschaft die Zustimmung der Ausländerbehörde erforderlich ist, wenn Vater oder Mutter die deutsche Staatsbürgerschaft oder ein sicheres Aufenthaltsrecht haben, der Partner oder die Partnerin aber nur ein befristetes Bleiberecht oder eine Duldung. Die Zustimmung soll versagt werden, wenn Missbrauch vermutet wird, etwa weil sich die vermeintlichen Eltern erst kürzlich kennengelernt haben oder der vermeintliche Vater schon mehrfach Vaterschaften von Kindern ohne deutsche Staatsbürgerschaft anerkannt hat.

Falsche Tatsachenangaben

Umgekehrt soll die Zustimmung erteilt werden, unter anderem wenn ein Vaterschaftstest vorliegt, die Eltern seit mindestens einem halben Jahr zusammenwohnen oder nach der Geburt des Kindes geheiratet haben. Stellt sich nach einer Zustimmung heraus, dass sie auf falschen Tatsachenangaben beruhte oder Mitarbeitende der Ausländerbehörden bedroht oder bestochen wurden, kann die Zustimmung auch nachträglich innerhalb einer fünfjährigen Frist zurückgenommen werden. Die Vaterschaft würde dann rückwirkend entfallen.

Die bisherige Regelung sieht vor, dass die Stellen, die die Vaterschaft beurkunden, etwa ein Notar oder das Jugendamt, die Anerkennung bei Missbrauchsverdacht aussetzen. Diese Stellen könnten die relevanten Informationen aber schwer ermitteln, deshalb sei das Verfahren nicht effektiv, hieß es aus dem Bundesinnenministerium.

Nach Angaben des Ministeriums wurden in den Jahren 2018 bis 2021 insgesamt 1.769 Fälle bearbeitet, in denen ein Missbrauch vermutet wurde. Bei nur rund 290 Fällen davon wurde aber tatsächlich Missbrauch festgestellt. Weitere rund 1.800 Fälle seien in Auslandsvertretungen geprüft worden, mit sehr geringer Quote an festgestellten Missbräuchen. Es werde aber davon ausgegangen, dass die tatsächliche Zahl von Missbräuchen höher ist, da durch das jetzige Verfahren vermutlich nicht jeder Missbrauch erkannt würde, hieß es.

Corinna Buschow


Jugend

Verbände wollen Rechtsanspruch auf Freiwilligendienst-Platz




Bundesfreiwilligendienst bei den Johannitern
epd-bild/Jörn Neumann
Sozialverbände fordern, die Jugendfreiwilligendienste kräftig aufzuwerten und reagieren damit auf die Pläne von Verteidigungsminister Pistorius zu Änderungen beim Wehrdienst. Mit ihrem Modell kontern sie auch die Rufe nach einem sozialen Pflichtdienst.

Berlin (epd). Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) will mehr Freiwillige für die Bundeswehr begeistern, die Sozialverbände wollen einen Schub für die Freiwilligendienste. Mit ihrem Drei-Punkte-Plan könne die Zahl der Freiwilligen in drei bis vier Jahren von 100.000 auf 200.000 pro Jahr verdoppelt werden, sagte der Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und AWO-Chef Michael Groß, am 13. Juni in Berlin.

Drei Veränderungen sind aus Sicht der 25 Verbände notwendig, die dafür ein gemeinsames Konzept erarbeitet haben: ein Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienst-Platz für alle jungen Menschen, die sich dafür entscheiden, eine deutliche Erhöhung des Freiwilligengeldes und eine Einladung an alle Schulabgängerinnen und -abgänger, sich für ein Jahr zu engagieren. Ebenso wie Pistorius denken die Verbände an ein Anschreiben und, bei Interesse, eine Beratung der jungen Menschen, die sich einen Dienst vorstellen können.

Vorschlag: Freiwilligengeld auf BaföG-Niveau

Mit einem Freiwilligengeld auf Bafög-Niveau wollen die Initiatoren die Freiwilligendienste stärker für junge Menschen öffnen, die sich ein Freiwilliges Soziales Jahr im In- oder Ausland heute aus finanziellen Gründen nicht leisten können. Das Freiwilligengeld wäre den Plänen zufolge deutlich höher als die Höchstgrenze für das Taschengeld, die demnächst auf 604 Euro im Monat steigt. Der gerade erhöhte Bafög-Höchstsatz beträgt 992 Euro im Monat. Die Zusatzkosten pro Jahr beziffern die Verbände mit 2,7 Milliarden Euro. Es sei „eine Frage des politischen Willens“, das Geld aufzubringen, sagte der Vertreter für die Freiwilligendienste im Ausland, Claudio Jax.

Ein Pflichtdienst würde den Staat viel mehr kosten, rechnen die Verbände vor, jährlich rund 13 Milliarden Euro. Ein Pflichtdienst wird etwa von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gefordert.

AWO-Chef Groß betonte, es sei „jetzt an der Zeit zu investieren“, statt bei den Freiwilligendiensten zu kürzen. Wie schon im vergangenen Jahr drohen auch für den Bundeshaushalt 2025, der derzeit innerhalb der Regierung ausgehandelt wird, Einschnitte bei der Finanzierung der Freiwilligendienste, die beim Bundesfamilienministerium angesiedelt sind. Groß sagte, gerade eine Demokratie unter Druck profitiere vom ehrenamtlichen Einsatz für die Allgemeinheit. Man werde sich dafür einsetzen, parallel zu den Plänen von Pistorius auch die Attraktivität der Freiwilligendienste zu erhöhen.

Gemeinsames Anschreiben für alle 18-Jährigen denkbar

Die Verbände, zu denen unter anderem der BUND, das Rote Kreuz, die Malteser, die Deutsche Sportjugend und Umweltschutz-Organisationen gehören, können sich Groß zufolge sogar vorstellen, „unsere gute Idee möglichst innerhalb des Pistorius-Vorschlags“ umzusetzen - und in einem einzigen Anschreiben alle jungen Menschen nach ihrem Interesse für einen Freiwilligendienst oder einen freiwilligen Wehrdienst zu befragen. Bisher machen etwa zehn Prozent der Schulabgänger anschließend ein Freiwilliges Soziales oder Ökologisches Jahr. Studien zufolge ist das Potenzial damit aber nicht ausgeschöpft.

Zu den Plänen von Pistorius für einen neuen Wehrdienst sagte der Paritätische Gesamtverband, der Wehrdienst müsse freiwillig bleiben und zugleich müssten die Freiwilligendienste gestärkt werden. „Das freiwillige soziale Engagement junger Menschen in gemeinnützigen Arbeitsfeldern ist von Haushaltskürzungen bedroht. Dazu darf es nicht kommen“, sagte Joachim Rock, Abteilungsleiter und designierter Hauptgeschäftsführer. „Bevor über neue Pflichtdienste verhandelt wird, ist die Bundesregierung gefordert, ihrer Verantwortung für attraktive Rahmenbedingungen in den bestehenden Diensten gerecht zu werden.“

Caritas: Recht auf freiwilligen Gesellschaftsdienst schaffen

Das sieht auch der Deutsche Caritasverband so. Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa sagte in Berlin, Überlegungen zur Wiedereinführung von verpflichtenden Elementen bei der Rekrutierung von Wehrdienstleistenden dürften nicht alleinstehen. „Wir brauchen ein integriertes Konzept von Gesellschaftsdiensten in einer Kultur selbstverständlicher Freiwilligkeit.“ Dazu müssten die nötigen Finanzmittel im Bundeshaushalt gesichert werden: „Alle jungen Menschen in Deutschland müssen verlässlich die Chance erhalten, einen freiwilligen Gesellschaftsdienst im Rahmen eines Engagementjahres zu leisten. Wir fordern einen Rechtsanspruch auf einen freiwilligen Gesellschaftsdienst als Beitrag für eine resiliente demokratische Gesellschaft.“

Der Freiwilligendienst könne als sozialer oder ökologischer Freiwilligendienst, als Dienst im Inland oder Ausland, in der Katastrophenhilfe oder bei der Feuerwehr geleistet werden. „Ein Rechtsanspruch schafft - verknüpft mit Pistorius‘ Vorschlägen zum Wehrdienst - die Möglichkeit, jungen Menschen einen freiwilligen Dienst als Orientierungszeit verlässlich anzubieten“, so die Präsidentin. Und er schaffe für die Träger der Freiwilligendienste endlich wieder eine finanzielle und strukturelle Planungssicherheit.

Verteidigungsminister Pistorius will für mehr Freiwillige in der Bundeswehr künftig alle 18-Jährigen mit einem Online-Fragebogen erreichen, auf dem sie angeben, ob sie Interesse an einem freiwilligen Grundwehrdienst haben, der mindestens sechs Monate dauert. Damit will er zunächst 5.000 Männer und Frauen pro Jahr gewinnen und ausbilden lassen, später mehr. Für Männer ist die Beantwortung des Schreibens verpflichtend, für Frauen freiwillig.

Bettina Markmeyer, Dirk Baas


Flüchtlinge

EU-Kommission legt Umsetzungsplan für EU-Asylreform vor




Vom Schiff "Open Arms" gererette Flüchtlinge (Archivbild)
epd-bild/Thomas Lohnes
Die EU-Asylreform ist verabschiedet. Aber noch stehen die neuen Regeln nur auf Tausenden Seiten von Papier, die Umsetzung werde eine Herkulesaufgabe, erklärte die EU-Kommission. Sie will den Mitgliedsstaaten unter die Arme greifen. Die Kritik an den Plänen reißt nicht ab.

Brüssel (epd). Nach der Einigung auf eine Verschärfung des EU-Asylrechts hat die EU-Kommission einen umfassenden Plan für die Umsetzung des Gesetzespaketes für die kommenden zwei Jahre vorgelegt. Die Reform umfasse Tausende von Seiten, sie zum Leben zu erwecken, sei eine „Herkulesaufgabe“, sagte EU-Kommissar Margaritis Schinas am 12. Juni in Brüssel. Als Hilfestellung lege die Kommission einen Arbeitsplan für die Umsetzung vor und unterstütze die Staaten mit zusätzlichen 3,6 Milliarden Euro allein aus dem Haushalt der EU-Generaldirektion für Migration und Inneres.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begrüßte den Plan der EU-Kommission für die Umsetzung der EU-Asylreform. „Deutschland wird sehr, sehr schnell mit umsetzen“, betonte Faeser am 13. Juni am Rande eines Treffens der EU-Innenministerinnen und -minister in Luxemburg. Sie sei fest überzeugt, dass die Umsetzung der Reform in zwei Jahren abgeschlossen werden könne. „Ich sehe den Willen aller Mitgliedsstaaten, dort schnell voranzukommen.“

Umsetzung soll in den beiden kommenden Jahren erfolgen

Nach der Einigung auf eine Verschärfung des EU-Asylrechts hatte die EU-Kommission am 12. Juni einen umfassenden Plan für die Umsetzung des Gesetzespaketes für die kommenden zwei Jahre vorgelegt. Am Donnerstag legte sie diesen den EU-Staaten vor. Auf dieser Grundlage sollen diese dann bis Dezember nationale Umsetzungspläne vorlegen.

Deutsche Regierungsberater haben ihre Bedenken gegen die geplante Auslagerung von Asylverfahren an die Außengrenzen der Europäischen Union öffentlich gemacht. Der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Hans Vorländer, erklärte am 13. Juni in Berlin, die bisherigen Vorschläge würfen „erhebliche politische, juristische und operative Fragen“ auf. Offen sei vor allem, wie sichergestellt werde, dass Asylbegehrende an der Grenze nicht zurückgewiesen werden dürfen. Das Prinzip der Nichtzurückweisung ist Bestandteil der Genfer Flüchtlingskonvention.

Menschenrechtsstandards müssen gewahrt werden

Maßgeblich für die Auslagerung von Asylverfahren ist Vorländer zufolge, dass die menschen- und asylrechtlichen Standards gewahrt werden. Die Suche nach Partnerstaaten gestalte sich deshalb außerordentlich schwierig, erklärte er. Asylverfahren könnten nur dann in einen Drittstaat verlagert werden, wenn dort politische Stabilität herrsche und es sich um einen Verfassungs- und Rechtsstaat handele, der über eine funktionierende Versorgungs- und Bildungsinfrastruktur verfügt. Zudem warnte er vor einer „allzu großen politischen Abhängigkeit von Drittstaaten“.

Vorländer und der stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats, Winfried Kluth, nahmen nach eigenen Angaben im Rahmen eines Sachverständigenaustauschs im Bundesinnenministerium Stellung zu Überlegungen, Asylverfahren in sichere Drittstaaten auszulagern. Die Bundesregierung hatte den Bundesländern im vergangenen November bei der Ministerpräsidentenkonferenz zugesagt, zu prüfen, ob angesichts der hohen Zahl Asylsuchender der Schutzstatus von Flüchtlingen auch in Ländern außerhalb der EU geprüft werden könnte.

Schnellere Abschiebungen

Nach jahrelangen Verhandlungen hatte die EU die umstrittene Reform des EU-Asylsystems im Mai final beschlossen. Das Gesetzespaket enthält zehn Bausteine und sieht unter anderem vor, dass Asylsuchende mit geringer Bleibechance schneller und direkt von den EU-Außengrenzen abgeschoben werden. Dahinter stehen die sogenannten Grenzverfahren. Geplant ist außerdem ein Solidaritätsmechanismus zur Verteilung von Schutzsuchenden. Wollen Staaten keine Flüchtlinge aufnehmen, können sie auch finanzielle Hilfe leisten.

Die EU-Asylreform ist am 10. Juni in Kraft getreten. Die EU-Staaten müssen sie bis zum 11. Juni 2026 umsetzen. Die Kommission will die Fortschritte bei der Umsetzung der Reform genau überwachen und dem Europäischen Parlament und dem Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, regelmäßig Bericht erstatten.

Formal enthalte die Reform keine Vorgaben zur Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb der EU. Die Kommission halte diese „externe Dimension“ der Migrationspolitik aber für einen fundamentalen Bestandteil des europäischen Migrationssystems, sagte Schinas. Die aktuelle Kommission habe in dieser Hinsicht einen Paradigmenwechsel angestoßen.

„Wir sind eine EU der Werte“

Dem sogenannte „Ruanda-Modell“ der britischen Regierung zur Auslagerung von Asylverfahren erteilte er dagegen eine Absage. Das Modell sei nicht vereinbar mit europäischem Recht. „Das ist eine Linie, von der ich mir wünsche, dass die EU sie nicht übertritt. Wir sind eine EU der Werte und das definiert uns“, sagte Schinas.

Einige EU-Staaten haben bereits angedroht, die neuen Regeln der EU-Asylreform nicht umsetzen zu wollen, etwa die neue rechte Regierung um Geert Wilders in den Niederlanden. Die Verhandlungen seien beendet und die Reform gültiges EU-Recht, betonte Schinas. „Wir sind zuversichtlich, dass die Umsetzung funktioniert.“

Marlene Brey


Kriminalität

Anstieg häuslicher Gewalt: Faeser und Paus wollen besseren Schutz




Gewalt gegen Frauen (Themenfoto)
epd-bild/Detlef Heese
Mehr als eine Viertelmillion Menschen wurden im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt. In der überwiegenden Mehrzahl sind es Frauen. Innenministerin Faeser und Familienministerin Paus wollen mehr gesetzlichen Schutz für Betroffene.

Berlin (epd). Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt ist im vergangenen Jahr erneut deutlich gestiegen. Wie aus dem am 7. Juni in Berlin vorgestellten Lagebild des Bundeskriminalamts (BKA) zur häuslichen Gewalt hervorgeht, gab es 2023 mehr als 256.000 Opfer. Das waren 6,4 Prozent mehr als im Vorjahr. Opfer von Gewaltdelikten sind vor allem Frauen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) kündigten Gesetze für einen besseren Schutz an. Wann es aber einen Rechtsanspruch auf Hilfen und damit verbunden mehr der aktuell knappen Frauenhausplätze geben wird, blieb aber offen.

1,05 Millionen Opfer

Das Lagebild zur häuslichen Gewalt analysiert, wie oft ausgewählte Straftaten wie Tötungsdelikte, Körperverletzung, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, Zuhälterei und Stalking in der Partnerschaft oder Familie begangen werden. Insgesamt gab es in diesen Bereichen im vergangenen Jahr 1,05 Millionen Opfer. Damit ist jedes vierte dieser Opfer in der Partnerschaft oder Familie angegangen, verletzt, bedroht oder drangsaliert worden. 155 Frauen sind 2023 durch den Partner oder Ex-Partner getötet worden, 24 Männer durch die aktuelle oder ehemalige Partnerin.

Überwiegend sind Frauen Opfer häuslicher Gewalt, nämlich 70,5 Prozent. Bei Gewalt in der Partnerschaft sind sogar vier von fünf Opfern Frauen. Die Vize-Präsidentin des Bundeskriminalamts, Martina Link, macht zwei Gründe für den Anstieg der Zahlen aus. Die gesellschaftliche Entwicklung habe insgesamt zu einem Anstieg der Gewaltkriminalität geführt, was sich auch in dieser Statistik niederschlage. Zudem geht sie davon aus, dass die bessere gesellschaftliche Wahrnehmung des Themas die Anzeigebereitschaft hat steigen lassen.

Link geht dennoch von einem weiter großen Dunkelfeld häuslicher Gewalt aus. Das BKA erarbeitet ihren Angaben zufolge deswegen ein Lagebild zu speziell gegen Frauen gerichtete Gewalt. Ergebnisse soll es im nächsten Jahr geben. Auch das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ meldete am Freitag einen Anstieg der Anrufe. Rund 59.000 Beratungsanfragen habe es 2023 gegeben, zwölf Prozent mehr als im Jahr davor, sagte Leiterin Petra Söchting. In 60 Prozent der Fälle gehe es um Partnerschaftsgewalt.

Verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings

Um Frauen besser zu schützen, plädierte Innenministerin Faeser für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für mutmaßliche Täter. In Österreich gelte, dass, wer das Verbot bekommt, sich einer bestimmten Frau zu nähern oder die Wohnung zu betreten, solch ein Training absolvieren müsse, sagte sie. Sie plädierte dafür, die Kontaktverbote auch in den deutschen Regelungen entsprechend zu ergänzen und äußerte sich zuversichtlich, dass eine Änderung des Gewaltschutzgesetzes noch in dieser Wahlperiode gelingen könne. Sie sei dazu bereits mit Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im Gespräch.

Paus arbeitet derweil nach eigenen Worten an einem Gewalthilfegesetz, das Frauen verlässlich Zugang zu Beratung und Hilfen verschaffen soll. Sie sprach sich für einen Rechtsanspruch darauf aus. Zudem soll der Bund sich dauerhaft an den Kosten etwa für Frauenhäuser beteiligen. Über ein entsprechendes Gesetz gibt es Gespräche mit den Ländern, die die Einrichtungen betreiben.

Kritik an „Untätigkeit“

Bundesweit gibt es Paus zufolge rund 350 Frauenhäuser, 100 Schutzwohnungen und mehr als 600 Beratungsstellen. Das Angebot reiche aber nicht aus. Die Einrichtungen selbst schätzen demnach, dass 10.000 zusätzliche Plätze benötigt werden. Zu einem konkreten Zeitplan des Ausbaus und der konkreten finanziellen Unterstützung des Bundes nannte Paus mit Verweis auf die laufenden Gespräche mit den Ländern und die Haushaltsverhandlungen auf Bundesebene keine Details.

Verbände dringen auf schnelles Handeln. „Die jüngsten Zahlen zeigen eindringlich, dass Bund, Länder und Kommunen es sich schlicht nicht erlauben können, weiter untätig zu bleiben“, erklärte die Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt (AWO), Kathrin Sonnenholzner.

„Schon seit Jahren steht der beständig wachsenden Zahl an Fällen von Partnerschaftsgewalt ein lückenhaftes und stark unterfinanziertes Hilfesystem gegenüber“, sagte Christiane Völz, Vorstandsvorsitzende des Vereins Frauenhauskoordinierung. Notwendig sei ein Gewalthilfegesetz mit einem Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung. Bund, Länder und Kommunen müssten endlich eine kostendeckende Finanzierung und den Ausbau des Hilfesystems sicherstellen, appellierte Völz.

Corinna Buschow, Markus Jantzer


Senioren

Mehr Digitalisierung für Oma und Opa




Seniorin mit einem Handy
epd-bild/Nancy Heusel
Ältere Menschen haben keine Lust auf neue Technik? Mit diesem Klischee räumt eine Studie der Körber-Stiftung auf. Mehr noch: Um den demografischen Wandel zu stemmen, braucht es dringend mehr Digitalisierung für Seniorinnen und Senioren.

Hamburg (epd). Neue Technologien müssen altersfreundlicher werden. „Digitale Entwicklungen und besonders KI können viele positive Effekte auf die alternde Gesellschaft haben“, sagt Jonathan Petzold, Programmleiter Alter und Digitalisierung der Körber-Stiftung. Der 35-Jährige fordert, den digitalen Wandel mit dem demografischen Wandel zu denken. Aktuell hätten die IT-Unternehmen vor allem Jüngere im Blick, das Bild von älteren Menschen müssten viele erstmal überdenken.

Für Petzold ist die Richtung klar: „Wir müssen weg von Seniorenhandy und Sturzmatte hin zu Lifestyle-Produkten für eine anspruchsvolle Zielgruppe.“ Er stellte jüngst beim „Ageing with Tech Festival“ die Ergebnisse der Körber-Studie „Smart Ageing - Gut alt werden im digitalen Wandel“ vor. Demnach sei die ältere Generation insgesamt technikaffiner als häufig angenommen. Für die Körber-Studie befragte das Institut für Demoskopie Allensbach im Dezember 2023 und Januar 2024 mehr als 1.000 Menschen ab 50 Jahren.

Eine extrem heterogene Altersgruppe

Ältere Menschen seien eine extrem heterogene Gruppe: So spielen für 61 Prozent der 50- bis 59-Jährigen digitale Technologien heute eine große Rolle in ihrem Alltag, aber nur für 13 Prozent der über 80-Jährigen. Auch sozial Schwächere haben laut Studie eher Vorbehalte, weil sie wahrscheinlich weniger Erfahrungen mit digitalen Anwendungen haben, hieß es. Zudem dürften auch die Offliner nicht vergessen werden, die noch keinen Zugang zum Internet hätten.

Hier sieht Petzold das Potenzial der Künstlichen Intelligenz (KI), die den Zugang zu Technik vereinfacht. „Dies sind gute Aussichten für eine alternde Gesellschaft. Schon jetzt sind 17 Prozent der über 50-Jährigen, fast 6,3 Millionen Menschen, äußerst technikaffin - und diese Zahl wächst“, sagte Petzold.

59 Prozent sehen Belange der Alten nicht berücksichtigt

Die über 50-Jährigen nutzen bereits diverse digitale Möglichkeiten im Alltag, etwa im Austausch mit Familie und Freunden (79 Prozent) oder bei Bankangelegenheiten (56 Prozent). Gleichzeitig fühlen sich 41 Prozent mit der Bedienung von technischen Geräten überfordert. Fast zwei Drittel (63 Prozent) meinen, dass viele Geräte zu viele unnötige technische Funktionen hätten. Entsprechend äußern 59 Prozent Zweifel, dass die Bedürfnisse älterer Menschen bei der Entwicklung neuer Technologien ausreichend berücksichtigt werden.

Petzold: „Die Teams in IT-Unternehmen müssen altersdiverser werden, damit bei der Entwicklung neuer Produkte die Perspektive von Älteren berücksichtigt wird.“ Diese Ausrichtung auf die Altersfreundlichkeit habe klare Vorteile: „Was gut nutzbar für Ältere ist, ist gut nutzbar für alle“, betonte Petzold.

Viele sehen digitale Angebote als große Hilfe im Alltag

Der Körber-Studie zufolge wird der mögliche Beitrag von Technik für ein leichteres Leben im Alter von der Hälfte der Befragten (49 Prozent) als hoch eingestuft. Vor allem beim Austausch mit Familie und Freunden (70 Prozent), beim Informieren über das aktuelle Geschehen (65 Prozent) und in medizinischen Notfällen (57 Prozent) halten demnach Menschen ab 50 Jahren digitale Angebote für eine große Hilfe im Alter. Petzold: „Technologie kann dafür sorgen, dass Menschen länger und selbstständiger leben und dabei stärker familiär und sozial eingebunden bleiben.“ Dies könne sich wiederum positiv auf die Gesundheit auswirken. Und wenn ältere Menschen länger fit bleiben, könne die Digitalisierung zu einer Entlastung der Gesundheits- und Pflegesysteme beitragen.

Evelyn Sander



sozial-Branche

Behinderung

Pflegende Mutter ist am Ende ihrer Kräfte




Seyhan Cakar mit ihrem Sohn Eren
epd-bild/Seyhan Cakar
Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen sind Tag und Nacht im Einsatz. Trotz Unterstützungsangeboten bleibt kaum noch Zeit für ein eigenes Leben.

Stuttgart, Ludwigsburg (epd). Eren ist schwerstbehindert. Gehen kann der 19-Jährige aus Stuttgart nur mit Hilfe von Orthesen und einem Laufrad. Obwohl er Rechtshänder ist, muss er alles mit der linken Hand greifen.

Denn seine gesamte rechte Körperseite ist seit einem Schlaganfall 2017 gelähmt, erzählt seine Mutter, Seyhan Cakar, dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Seither benötigt er eine noch intensivere Pflege.“

Zehn Minuten Auszeit

Schon vor dem Schlaganfall war Eren pflegebedürftig. Als er fünf Jahre alt war, wurde ein Gehirntumor festgestellt, ein Astrozytom zweiten Grades - nicht unbedingt bösartig, durch die Raumforderung im Schädel aber doch gefährlich.

Die Sorge um den Sohn und die Pflege zehren an der 48-Jährigen. Nach der Trennung von ihrem Mann hängt die Pflege des Sohnes allein an ihr. Über Jahre hinweg habe es ihr an Ruhe und Zeit für sich gefehlt, berichtet sie.

Wie hätte sie eine Auszeit nehmen können, die mehr war, als zehn Minuten spazieren zu gehen? Aus Überforderung stellten sich Panikattacken und Depressionen ein. Vergangenen Oktober musste Seyhan Cakar ihre Arbeit als Arzthelferin aufgeben und lebt jetzt von Bürgergeld.

Der Alltag ist durchgetaktet: Morgens besucht Eren die Margarete-Steiff-Schule in Stuttgart, eine Schule für Körperbehinderte. Von Montag bis Donnerstag stehen Termine bei Ärzten und Therapeuten an. Daneben ermöglicht die Mutter ihrem Sohn Para-Leichtathletik-Training in einem Stuttgarter Sportverein.

Die zahllosen Anträge zermürben

„Wir brauchten ein größeres Auto“, nennt Seyhan Cakar nur eine der zahlreichen zusätzlichen Anschaffungen, die nötig waren. Die Rampe, die für den Rollator gebraucht wird, kostet rund 8.000 Euro. Die Krankenkasse übernimmt nur die Hälfte der Kosten.

Spenden wären willkommen. Die Unterstützung, die es gibt, reicht nicht aus und muss zudem mühsam erkämpft werden. So bringt der Fahrdienst Eren nach der Schule lediglich bis zum Bordstein. Die gewendelte Treppe in den zweiten Stock muss der auf einen Rollator angewiesene junge Mann mit Hilfe seiner Mutter bewältigen.

Die Bürokratie, die zahllosen Anträge für die Hilfsmittel zermürben. Manchmal sind mehrere Anläufe nötig. Für das Liegefahrrad, das ihrem Sohn zusteht, zog die Mutter bis vors Sozialgericht.

Unterstützung gefunden

Hilfe für sich erhofft sich die Erschöpfte von einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. „Ich erwarte mir, dass ich wieder wacher werde und verarbeiten kann“, sagte die zweifache Mutter und ergänzt: „Richtig loslassen, wenn man ein schwer krankes Kind hat, geht nicht. Man kann nicht abschalten.“

Während ihrer Auszeit wird Eren für drei Wochen in ein Kinder- und Jugendhospiz gehen. Der 19-Jährige, der - entwicklungsverzögert - in der Pubertät ist, freut sich auf die Zeit „ohne Mama“. „Er versteht, dass ich mich ausruhen muss“, sagt Seyhan Cakar. Beim Probebesuch habe ihm die Zuwendung durch die dortigen Pflegekräfte gut gefallen, berichtet sie.

Anders als bei Erwachsenen sind stationäre Kinder- und Jugendhospize nicht ausschließlich Anlaufstellen in der letzten Lebensphase palliativ Erkrankter. Nach einer lebensverkürzenden Diagnose könnten Familien bis zu 28 Tage im Jahr einen Entlastungsaufenthalt in einem Kinder- und Jugendhospiz in Anspruch nehmen, erläutert Kirsten Allgayer, Vorstandsmitglied beim Hospiz- und Palliativ-Verband Baden-Württemberg (Ludwigsburg).

„Eltern können hier so viel Pflege abgeben, wie sie wollen“, sagt Allgayer, die den Kinder- und Jugendhospizdienst „Sternentraum“ in Weissach im Tal (Rems-Murr-Kreis) leitet. Zusätzlich hätten Familien mit einem unheilbar kranken Kind Anspruch auf Hospizbegleitung durch einen ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst.

Seyhan Cakar freut sich darüber sehr: „Gott sei Dank, dass es so etwas gibt.“ Die pflegende Mutter hat beim Jugendhospizdienst die Unterstützung gefunden, die sie so dringend braucht.

Susanne Lohse


Pflege

Interview

Fachverband: Wir müssen das System Pflege völlig umkrempeln




Wilfried Wesemann
epd-bild/Christian Weische/Bethel
Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege rügt die Bundesregierung, in dieser Legislatur keine Pflegereform mehr anzugehen. "Das ist skandalös. Wir müssen beginnen, das Thema anzupacken, wohl wissend, dass damit nicht sofort alle Probleme vom Tisch sind", sagt Vorsitzender Wilfried Wesemann. Er fordert Sofortmaßnahmen, denn die Lage in vielen Heimen sei dramatisch.

Berlin (epd). Der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP), Wilfried Wesemann, fordert einen Pflegegipfel. „Dort muss man die Reformen planen.“ In einem ersten Schritt müsse die Pflegeversicherung finanziell stabilisiert werden, sagte Wesemann im Interview. Mit ihm sprach Dirk Baas.

epd sozial: Herr Wesemann, als jüngst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bekanntgab, dass es in dieser Legislatur keine Pflegereform mehr geben wird, schlugen die Wellen hoch. Von Bankrotterklärung der Politik war die Rede, Rücktrittsforderungen wurden laut. So weit geht Ihr Verband sicher nicht?

Wilfried Wesemann: Nein. Das tun wir nicht. Auch deswegen, weil wir leider schon lange wissen, dass das Thema Pflege beim Gesundheitsminister nicht die Rolle spielt, die wir uns als Fachverbände wünschen. Ob es wirklich den Kern trifft, von einer Bankrotterklärung der Politik zu sprechen, wenn der Minister mit falschen Zahlen zum jährlichen Zuwachs der Pflegebedürftigen operiert, möchte ich mal dahingestellt sein lassen.

epd: Warum so zurückhaltend?

Wesemann: Dass es die Koalition in der Restzeit der Legislatur nicht mehr hinbekommt, die Pflege zumindest in ersten Ansätzen zu reformieren, ist natürlich mehr als eine Enttäuschung. Dass die Vielzahl von Problemen in der Branche, über die Tag für Tag in den Medien berichtet wird, nicht so schnell wie möglich angepackt werden, ist alarmierend. Aber ich sage auch: Keiner erwartet vom Minister, dass er in den verbleibenden 16 Monaten eine grundlegende Reform hinbekommt. So was dauert Jahre. Aber dass nicht begonnen wird, erste vorbereitende Schritte zu unternehmen, ist skandalös. Wir müssen beginnen, das Thema anzupacken, wohl wissend, dass damit nicht sofort alle Probleme vom Tisch sind.

epd: Es fehlt Personal, die Träger beklagen eine unzureichende Finanzierung durch die Pflegekassen, die Beiträge werden wohl deutlich steigen, die Eigenanteile von Heimbewohnern klettern ins Unbezahlbare und die daheim pflegenden Angehörigen bräuchten deutlich mehr Unterstützung. All das lässt sich doch sicher nicht in einer umfassenden Reform verbessern?

Wesemann: Stimmt. Zunächst braucht man aber das, was ich einen Masterplan nenne. Politik muss eine Vision, ein Konzept haben, wohin es mit der Pflegeversicherung künftig gehen soll. Daran sollten alle Akteure, auch die Fachverbände, die Länder und die Kommunen mitwirken. Wir brauchen einen Pflegegipfel. Dort muss man die Reformen planen. Das wird nicht in einer Legislatur zu realisieren sein, das braucht Zeit und vor allem Weitsicht. In einem ersten Schritt muss die Pflegeversicherung finanziell stabilisiert werden, das geht in dieser Lage nur über mehr Steuergelder. Die einzige Alternative wäre sonst, die Beiträge zur Pflegeversicherung weiter zu erhöhen. Wegen Corona gab es in der Pflegeversicherung einen massiven Abfluss der Geldmittel, die nicht vom Staat ersetzt wurden. Das macht sich jetzt dramatisch bemerkbar. Ihr droht eine Schieflage mit vielen negativen Folgen für Pflegebedürftige, aber auch für die Träger in der Pflege. Auch deshalb braucht es unbedingt Sofortmaßnahmen.

epd: Was schwebt Ihnen da vor?

Wesemann: Wir haben vorgeschlagen, die sogenannte Behandlungspflege, die in der stationären Pflege immer noch zulasten der Pflegeversicherung geht, von den gesetzlichen Krankenkassen übernehmen zu lassen - wie auch im ambulanten Bereich. Da käme man zu einer Entlastung von zwei bis drei Milliarden Euro. Auch die Zahlung von Rentenbeiträgen für Pflegepersonen im heimischen Umfeld muss anders geregelt werden, um die Pflegekasse zu entlasten. Da geht es um den gleichen Betrag. Zudem sind die Ausbildungskosten aus Steuermitteln zu finanzieren. Das wären erste Schritte auf dem Weg zu mehr finanzieller Stabilität. Dann muss man in einem nächsten Schritt klären, wie man die Einnahmen der Pflegeversicherung auf eine breitere Basis stellen kann, Stichwort Bürgerversicherung. Das ist aber eine politische Entscheidung, die nur fallen kann, wenn klar ist, wie die Pflege- und Versorgungsangebote künftig aussehen sollen.

epd: Im Moment ist das Gegenteil von finanzieller Stabilisierung der Fall. Der Zuschuss zur Pflegeversicherung von einer Milliarde Euro wurde gerade gekappt.

Wesemann: Leider ist das so. Es ist ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Ziel sollte ja sein, mit dem Steuergeld die Pflegeversicherung langfristig finanziell auszutarieren. Daraus wird nun nichts. Die Lage für die Betroffenen wird sich verschärfen. Der Pflegeversicherung wird schlicht das Geld fehlen, was dazu führen wird, dass der Leistungskatalog womöglich ausgedünnt wird. Will man das nicht, muss man die Beiträge erhöhen. Das wird, so viel kann man voraussagen, eine heftige politische Diskussion nach sich ziehen. Weil die Regierung in dieser Legislatur nichts mehr unternehmen wird, verlieren wir zwei bis drei Jahre. Das hält das System aber nicht mehr aus.

epd: Sie sagen seit Jahren, dass umsetzbare Konzepte auf dem Tisch liegen. Doch es passiert kaum etwas. Was für Gründe hat das, außer der Angst vor deutlich steigenden Ausgaben als Folge von Reformen?

Wesemann: Die Scheu vor womöglich höheren Kosten ist sicher ein Grund. Der Finanzminister ist ja bei allen Ausgaben das Nadelöhr. Das ist erstmal ganz normal. Es ist seine Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren, das Geld zusammenzuhalten und die Verschuldung im Blick zu haben. Auch die Weltlage hat sich verändert, Klimafolgen, die Kriege in der Ukraine und im nahen Osten erfordern vielfältige Entscheidungen. Ich erwarte aber von einer Bundesregierung, dass sie Prioritäten setzt. Das Thema Pflege rangiert eben nicht ganz oben, der gesellschaftliche Druck ist wohl noch nicht hoch genug. Uns gelingt es nicht zu kommunizieren, beziehungsweise die Politik realisiert nicht, wie dramatisch die Lage schon jetzt ist, wo die Baby-Boomer noch gar nicht in Rente sind. Die Ergebnisse unserer eigenen Umfrage bestätigen die akute Gefährdung der Versorgungssicherheit in der Langzeitpflege: Vier von fünf Trägern der Langzeitpflege müssen ihre Angebote einschränken. Die aktuellen Reformen auf Bundesebene sind nicht ausreichend, um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, Personal zu sichern und die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung zu halten. Wir müssen das System umkrempeln, das wird die Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein, ganz gleich, welche Parteien sie bilden.

epd: Sie vertreten die diakonischen Heime. Wo ist hier der Reformstau am größten?

Wesemann: Mit Blick auf die Heimbewohnerinnen und -bewohner muss dringend etwas geschehen. Deren Eigenanteile sind sprunghaft gestiegen. Immer mehr Betroffene können einen Heimaufenthalt nicht mehr aus eigener Kraft finanzieren. Und damit versagt ein wichtiger Teil der professionellen Pflegeversorgung. Zugleich müssen wir schleunigst mehr Personal finden, mehr Nachwuchs ausbilden. Fachleute wie der Bremer Forscher Heinz Rothgang gehen davon aus, dass schon allein wegen des demografischen Wandels in den nächsten Jahrzehnten in den stationären Einrichtungen bis zu 35 Prozent mehr Personal gebraucht wird. Das bezieht sich insbesondere auf den Assistenzbereich, es geht also nicht nur um fehlende Pflegefachkräfte. Aber klar ist auch: Mehr Personal führt auch zu höheren Eigenanteilen, das heißt, wenn es keine Reformen gibt, wird das Heim für die Bewohner immer teurer und immer mehr Menschen werden in die Sozialhilfe abrutschen. Auch deshalb muss über eine grundlegend andere Finanzierung der Pflegeversicherung entschieden werden.

epd: Stichwort Bürgerversicherung, samt, wie die Grünen fordern, Abschaffung der privaten Pflegeversicherung: Wie realistisch ist ein solcher Reformansatz, die Idee einer Teilkaskoversicherung?

Wesemann: Man muss den Mut haben, Entscheidungen zu treffen. Wenn sich die Parteien in der Regierung einig wären, könnte das eine Lösung sein. Man braucht künftig deutlich mehr finanziellen Spielraum, und den erreicht man nicht durch Beitragserhöhungen. Das bisherige System kann nichts zur Lösung des Problems beitragen. Also brauchen wir einen politischen Konsens, die Einnahmen auszuweiten, Vermögen zu besteuern oder Pflegebedürftige, die über ein hohes Vermögen verfügen, angemessen an der Finanzierung der Pflege angemessen zu beteiligen. Ob es rechtlich möglich ist, die private Pflegeversicherung zugunsten von mehr Finanzmitteln in der gesetzlichen Pflegekasse aufzulösen, kann ich ad hoc schwer sagen. Ich meine aber, es muss erlaubt sein, auch darüber nachzudenken, wenn ein solcher Schritt zur langfristigen Absicherung der Pflege dient.

epd: Jede Lohnerhöhung in der Pflege, die ja eigentlich überall begrüßt wird, um die Jobs attraktiver zu machen, lässt die Eigenanteile der Pflegebedürftigen steigen. Das gleicht der Quadratur des Kreises. Was wäre hier eine Lösung?

Wesemann: Auch hier haben wir Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, bislang ohne Resonanz. Ein erster Ansatz wäre die Herausnahme der Ausbildungskosten aus den Eigenanteilen. Die Kosten der medizinischen Behandlungspflege müsste statt der Pflege- die Krankenkasse tragen. Damit würde man sehr schnell eine Entlastung schaffen. Mittelfristig muss man aber über ein völlig anderes Finanzierungskonzept beraten, um mehr Einnahmen in der Pflegeversicherung zu haben. Und dann ist man wieder bei der Frage einer Bürgerversicherung oder so gearteter Modelle, bei denen alle Beschäftigten in eine Kasse einbezahlen.

epd: Letzte Frage: Ihr Verband will im Oktober ein Strategiepapier „Trotzdem Pflege: für Jeden, zu jeder Zeit“ vorstellen. Kann man schon erfahren, was die zentralen Forderungen sein werden?

Wesemann: Im Wesentlichen geht es da um all die Dinge, die wir hier besprochen haben. Es ist eine Weiterentwicklung unserer Positionen, die wir für Reformen vor vier Jahren vorgelegt haben. Wir sind in der Überarbeitung des Papiers. Dabei bleiben die großen Säulen des erwünschten Umbaus der Pflegeversicherung und der gesamten Pflegeinfrastruktur erhalten. Es geht um die grundständige und legislaturübergreifende Finanz- und Strukturreform. Aber auch darum, wie und wo wir Leistungen erbringen, also die Frage der sektorenübergreifenden Versorgung samt der Förderung neuer Wohnformen. Auch fordern wir eine verpflichtende Beteiligung der Kommunen an der Pflegeplanung. Sie wissen am besten, welche pflegerischen Ressourcen es vor Ort gibt und wo Lücken geschlossen werden müssen. Sie müssen das Hilfesystem managen. Und wir brauchen auch künftig die Unterstützung der pflegenden Angehörigen, der Freunde und Nachbarn. Sie tragen die Hauptlast der Pflege und müssen massiv entlastet werden, durch professionelle ambulante Unterstützung, aber auch finanziell.



Pflege

Gastbeitrag

"Schwesternwohnheim 2.0" als internationale Pflege-Azubi-WG




Stefanie Krones
epd-bild/Jennifer Köhler
Mit dem Konzept "Schwesternwohnheim 2.0" hat das Caritas-Altenzentrum Sankt Josef in Arzbach 2023 den Innovationspreis des Verbandes katholische Altenhilfe gewonnen. Was dahinter steckt und wie die außergewöhnliche Idee als Reaktion auf den Fachkräftemangel in der Pflege umgesetzt wird, erläutert Caritasdirektorin Stefanie Krones im Gastbeitrag für epd sozial.

Aus einem seit etwa 15 Jahren leerstehenden Pfarrhaus wird ein „Schwesternwohnheim“ wird ein Mehrgenerationen-Kampus - das „Schwesternwohnheim 2.0“. Es dient im Schwerpunkt der Ausbildung internationaler Pflege-Azubis.

Das neue Konzept ist eine Weiterentwicklung der Idee des Zusammenwohnens, -lernens und -lebens während der Pflege-Ausbildung. Das einstige Pfarrhaus bietet neben den WG-Plätzen für bis zu zehn Azubis einen Schulungs- und Freizeitraum und eine Gemeinschaftsküche mit Essplatz. Wir setzen auf ein geschütztes Wohn-, Arbeits-, Lern- und Lebensumfeld für internationale Pflege-Auszubildende als Grundlage für ein gelingendes Ankommen und den Integrationserfolg in unserer Region.

Die Herausforderung: Dem Caritas-Altenzentrum Sankt Josef am Standort Arzbach stand ein Generationenwechsel bevor. Die meisten Pflegekräfte haben bereits ein rentennahes Alter erreicht. Der Fachkräftebedarf in der Pflege kann nicht mehr vom regionalen Arbeitsmarkt gedeckt werden. Es gibt nahezu keine Bewerbungen. Der künftige Bedarf kann nur durch Ausbildung im eigenen Betrieb gedeckt werden. Allerdings: Auch auf dem Ausbildungsmarkt bestehen Nachwuchsprobleme. Diese verstärken sich im ländlich-peripheren Gebiet. Der Standort Arzbach ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum erreichbar. Trotz groß angelegter Personalmarketing-Kampagne für die Pflegeausbildung konnten für den Standort kaum Auszubildenden aus der Region gefunden werden.

Die Chance: Mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Auszubildende aus Drittstaaten (Fachkräfteeinwanderungsgesetz, siehe auch „makeitingermany.de“) besteht die Möglichkeit, jungen Menschen, die keine EU-Staatsangehörigkeit haben, die Chance auf eine Ausbildung im Pflegeberuf und auf eine sichere Zukunft als Pflegefachkraft in Deutschland zu geben.

Wir haben junge, gebildete und motivierte Menschen gefunden, die ihre Ausbildung in der Pflege gerne am Standort Arzbach machen möchten. Die jungen Menschen kommen aus Marokko. Marokko hat einen Jugendquotienten von fast 50 Prozent und eine Jugendarbeitslosigkeitsquote von 30 Prozent. Die jungen Menschen haben trotz hoher Schulbildung und zum Teil bereits absolvierter Bachelor-Abschlüsse nur wenig Chancen auf dem heimischen Arbeitsmarkt. Mit Abschluss des B1- beziehungsweise B2-Sprachniveaus dürfen sie sich in Deutschland um einen Ausbildungsplatz bewerben. Und Marokko ist gar nicht so weit weg: Nur drei bis vier Flugstunden entfernt und zu einem meist sehr günstigen Tarif erreichbar, können sich die jungen Menschen auch vom Ausbildungsgehalt den Urlaub zu Hause bei der Familie leisten und Kontakt zu ihren Familien halten.

Das Problem: Es gibt keine nutzbaren Wohnungen in und um Arzbach. Die Struktur besteht aus selbstbewohnten Ein- und Zweifamilienhäusern. Einen Markt für Fremdvermietung gibt es nicht. Insbesondere kostengünstige Mietwohnungen, die vom Ausbildungsgehalt finanziert werden können, sind so gut wie nicht existent.

Das Konzept: Für die Unterbringung während der Ausbildung entstand 2021 auf dem Nachbargrundstück im ehemaligen Pfarrhaus mit der Pflege-Azubi-WG Wohnraum, der bezahlbar, integrierend, gemeinschaftsfördernd und ortsbelebend ist. Die Wohngemeinschaft liegt nahe am Einsatzort und bildet eine ideale Basis, um einen Bezug zur ausbildenden Einrichtung zu entwickeln, gut mit Menschen, auch Kolleginnen und Kollegen in Kontakt zu kommen und sich aufgrund der kurzen Wege von Anfang an gut in der neuen Umgebenung zurechtzufinden. Ergänzend wurde ein Mobilitätskonzept erarbeitet zur Anbindung an Schule und Freizeitaktivitäten.

Die Vorteile der Ausbildung von künftigen Pflegefachkräften aus dem Ausland in der ländlichen Region liegen auf der Hand: Die Ausbildungszeit ist gleichzeitig Integrationszeit. Die Azubis (viele, nicht alle) finden Heimat in der Region und sind motiviert, auch nach ihrem Pflegeexamen in der Region und hoffentlich auch beim Ausbildungsträger zu bleiben.

Die Stärken des Konzeptes:

  • Der Standort Arzbach bietet mit seiner dörflichen, überschaubaren Struktur und dem gut vernetzten „noch intakten“ Sozialraum die ideale Basis für einen guten Start in Deutschland.
  • Innerhalb der Mitarbeiterschaft und der örtlichen Vereine bilden sich schnell erste Kontakte und Freundschaften. Insbesondere der Fußballverein freut sich über Zuwachs.
  • Der Caritasverband wird als guter Arbeitgeber im deutschen Gesundheits- und Pflegesystem erlebt.
  • Das Einleben und die Selbstbefähigung kann von Seiten der Einrichtung in engmaschiger Begleitung unterstützt werden.
  • Mit der begleiteten Führung des eigenen Haushaltes wird die schrittweise die eigene Verantwortungsübernahme und Verselbstständigung gefördert.

Wir begrüßen unsere Azubis wie willkommene Gäste und helfen Ihnen, dauerhaft Bleibende zu werden. Das gut begleitete Ankommen ist die beste Voraussetzung, langfristig eine Heimat in der Region zu finden. Unterstützt wurde die Umsetzung durch das Zusammenwirken mit der Kirchengemeinde und dem Bistum Limburg als Eigentümer der seit 15 Jahren unbewohnten Immobilie. Das Gebäude wurde im Rahmen eines Erbpachtvertrages mit kurzer Laufzeit (zwölf Jahre) an den Caritasverband verpachtet, der die Renovierung übernommen hat.

Die Azubis erhalten einen „Werksmietvertrag“, der an den Ausbildungsvertrag gekoppelt ist, und zahlen Untermiete von ihrer Azubi-Vergütung. Nach konservativen Berechnungen ist die Renovierung, auch unter Berücksichtigung von möglichen Auszügen und auch Ausbildungsabbrüchen, nach einem überschaubaren Zeitraum refinanziert.

Wir meinen, dass ein solches Konzept an vielen Standorten möglich ist und unser Ansatz ein gutes Beispiel geben könnte. Klar ist, dass die Integration kein leichter Weg ist. Das wissen wir auch. Die Herausforderungen liegen im koordinierten Zusammenwirken der Ausbildungspartner und Pflegeschulen. Kennzahlen für unseren Ausbildungserfolg werden die Examens- und die Übernahmequote sein, die wir in diesem Jahr zum ersten Mal ablesen können. Wir sind guter Dinge und freuen uns darauf, noch vielen weiteren jungen Menschen aus aller Welt die Chance geben zu können, bei uns eine qualifizierte Pflege-Ausbildung als Grundlage für ihr Leben zu bekommen - und viele von Ihnen bei uns dann als Fachkräfte zu beschäftigen.

Stefanie Krones ist Direktorin des Caritasverbandes Westerwald-Rhein-Lahn und Vorstand im Verband katholische Altenhilfe VKAD.


Armut

Recht auf Schuldnerberatung gefordert




Schuldnerberatung in Osnabrück
epd-bild/Detlef Heese
Unübersichtliche und intransparente Ratenkäufe im Internet werden zunehmend zum Problem in der Schuldnerberatung. Fachleute fordern rechtliche Regelungen für mehr Transparenz und besseren Verbraucherschutz. Neue Daten geben ihnen recht.

Berlin (epd). Marco Rauter fasst das Problem bündig zusammen: „In unseren Berliner Schuldnerberatungsstellen gibt es keine Gläubigerliste bei Klienten, die keine Forderungen von Bezahlsystemen enthält.“ Er ist Vorstandsvorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin. Nach einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungsstellen bei rund 1.400 gemeinnützigen Schuldnerberatungsstellen gibt es nicht nur deutlich mehr Ratsuchende, sondern auch die Überschuldung wegen Ratenkäufen und Kleinkrediten nimmt zu.

Besonders in der Kritik stehen die sogenannten „Buy now, pay later“-Angebote beim Online-Shopping. Sie spielten eine immer größere Rolle bei Verschuldungen, berichtete Roman Schlag, Referent für Schuldnerberatung beim Caritasverband im Bistum Aachen und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungsstellen der Verbände am 12. Juni in Berlin. In der Arbeitsgemeinschaft haben sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, der Verbraucherzentrale Bundesverband und die Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung zusammengeschlossen.

„Einstieg in die Schuldenfalle“

Schlag forderte striktere Transparenzregeln. „Es gibt deutlich mehr undurchsichtige Kauf- und Finanzierungsangebote, bei denen die Kunden gar nicht merken, dass sie einen Kreditvertrag abschließen“, kritisierte er. Bei einer großen Zahl solcher Klein- und Ratenzahlungen verlören die Käuferinnen und Käufer schnell den Überblick. Wenn dann im Haushalt wenig Geld vorhanden ist, sei das oft der Einstieg in die Schuldenfalle.

Das bestätigt auch Rauter, der die AWO Schuldner u. Insolvenzberatung Berlin-Neukölln leitet. Viele Ratsuchende seien überfordert, mit den verspäteten und dann auch oft aus dem Blick geratenen Forderungen umzugehen: „Sie haben oft völlig den Überblick verloren.“ Und sie seien meist hilflos, wenn Profis, also auch die Inkassodienste, professionell mit dem Eintreiben der Schulden begännen.

Lägen die ersten Mahnverfahren auf dem Tisch, sei die Panik groß, denn „dann sind die Betroffenen kaum mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu sichern“. Dann könnten Miete, Strom oder Lebensmittel nicht mehr bezahlt werden. Selbst für Kleinstraten, um die Schulden abzustottern, fehle dann das Geld und der Gang ins Insolvenzverfahren sei unvermeidlich.

Folgen von mehr Ratenkäufen deutlich spürbar

Die im April 2024 abgeschlossene Umfrage belege diesen Trend, sagte Schlag. 65 Prozent der teilnehmenden Beratungsstellen gaben an, dass Probleme im Zusammenhang mit „Buy now, pay later“-Angeboten im Vergleich zum Frühsommer 2023 zugenommen hätten.

Beinahe die Hälfte der Beratungsstellen (48 Prozent) berichten von einem höheren Aufkommen an Ratsuchenden mit Energieschulden, in 28 Prozent kommen mehr Klientinnen und Klienten, die Mietschulden haben, als noch im Herbst 2023. In 44 Prozent der Beratungsstellen nehmen mehr Erwerbstätige das Angebot der Schuldnerberatung in Anspruch als vor sechs Monaten, in 30 Prozent mehr Selbständige und Solo-Selbständige und in 27 Prozent mehr Rentnerinnen und Rentner.

Verschuldung erreicht auch Hausbesitzer

Die Umfrageergebnisse bestätigen einen Trend, der mit der Corona-Pandemie gestartet ist und sich vor dem Hintergrund einer hohen Inflation verstärkt hat: „Von Verschuldung sind immer mehr Menschen betroffen, die früher nicht oder selten zum Klientel der Beratungsstellen gehörten, also Leute mit einem sicheren Job, Selbstständige oder auch Menschen mit Wohneigentum“, erläuterte Schlag. Insgesamt habe die Nachfrage nach Schuldnerberatung zugenommen, was zu Engpässen und langen Wartezeiten bei der Terminvergabe führe. Das sei oft dramatisch, „denn bei Geldsorgen ist der Faktor Zeit sehr wichtig“.

Wiebke Rockhoff, Referentin für Armutsbekämpfung, Allgemeine Sozialarbeit und Schuldnerberatung bei der Diakonie Deutschland, sagte, bei der Umsetzung der EU-Verbraucherkreditrichtlinie müsse für mehr Transparenz bei den Onlinekäufen gesorgt werden. Informationen der Händler zu Zinsen und Gebühren müssten verbindlich vorgeschrieben werden. „Die Grenzen zwischen Kauf und Ratenfinanzierung verschwimmen“, warnte sie.

Wie Forsa-Umfragen belegten, wünschen sich junge Menschen in der digitalen Konsumwelt selbst mehr Wissen zu finanziellen Themen. „Wir alle haben die Verantwortung, ihnen diese Orientierung zu bieten und sie nicht dem Markt zu überlassen“, sagte Rockhoff. Erforderlich seien mehr Präventionsarbeit und Finanzbildung. „Dafür müssen wir auch verlässlich die Mittel erhalten.“

Dirk Baas


Hilfsorganisationen

Im Ehrenamt bei der EM dabei




Menschenmenge im Fußballstadion in Hannover
epd-bild/Harald Koch
Mehr als 800 ehrenamtliche Rot-Kreuz-Helfer leisten während der Fußball-Europameisterschaft in den zehn deutschen Stadien Sanitätsdienste. Ihre Motivation: dabei sein.

Berlin, Dortmund (epd). 51 Spiele, 24 Mannschaften, 10 Austragungsorte: Bei der Europameisterschaft sind auch sie mit am Start: Rund 800 überwiegend Ehrenamtliche des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) sorgen für medizinische Hilfe neben dem Platz.

„Für die Europameisterschaft setzen wir Einsatzkräfte ein, die eine breite Erfahrung aus vergleichbaren Großevents wie beispielsweise Bundesliga- und Länderspielen mitbringen“, sagt Rebecca Winkels, Pressesprecherin des Generalsekretariats des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin. Wichtig sei die Erfahrung der Führungskräfte, der Notärzte und des rettungsdienstlichen Fachpersonals. Alle Einsatzkräfte würden „intensiv auf den Einsatz im Stadion vorbereitet“.

Vertrag zwischen UEFA EURO und dem DRK

Einer von ihnen ist Thorsten Junker aus Bochum. Er ist Landesrotkreuzleiter im DRK Landesverband Westfalen-Lippe und seit über acht Monaten damit beschäftigt, mit seinem Team den Einsatz Ehrenamtlicher in den beiden Stadien in Dortmund und Gelsenkirchen vorzubereiten, wo insgesamt zehn EM-Spiele stattfinden werden.

„Für Dortmund brauchen wir 140 Einsatzkräfte, für Gelsenkirchen 100 - das sind die Vorgaben der Veranstalter.“ Die UEFA EURO hat dafür einen Vertrag mit dem DRK-Bundesverband in Berlin geschlossen, dieser dann mit den Landesverbänden, auf deren Gebieten Stadien liegen, die bespielt werden. Einzige Ausnahme ist Hamburg, dort sichert der Arbeiter-Samariter-Bund die medizinische Versorgung ab.

„Wir sind nicht die, die aufs Spielfeld laufen, wenn einem Fußballer etwas passiert. Da haben die ihre eigenen Leute“, erklärt Junker, der sich bereits seit 35 Jahren beim DRK engagiert. „Wir kümmern uns im Bedarfsfall um die Zuschauer.“ Dazu gehöre zum Beispiel, die Sanitätsräume für eine mögliche Erstversorgung zu besetzen, oder im Rettungswagen vor dem Stadion zu stehen. Nicht jeder DRKler könne das Spiel verfolgen.

„Dabei sein ist alles“

Doch das sei für die meisten seiner Ehrenamtlichen zweitrangig. „Wir sichern ja im Laufe des Jahres viele Großveranstaltungen ab, auch Kaninchenzucht-Ausstellungen.“ Wenn dann mal eine Europameisterschaft auf dem Plan stehe, ziehe der „Action-Faktor“. „Da kommen ja auch extra Leute aus dem Rheinland angereist, um uns zu unterstützen.“ Man lerne neue Leute kennen, knüpfe Kontakte. Junker: „Die Devise ist: Dabei sein ist alles.“ Dafür werde auch er fünf Tage seines Jahresurlaubs nehmen.

Der 55-Jährige verweist darauf, dass der Einsatz des DRK sich nicht nur auf die Spiele im Stadion beschränkt. „Unsere Ehrenamtlichen sind ebenso in den Teamunterkünften, bei den Vorbereitungstagen vor den Spielen, öffentlichen Trainingseinheiten und Public Viewings im Einsatz.“ Wenn beispielsweise am Tag vor einem Spiel Trainingseinheiten der teilnehmenden Mannschaften angesetzt sind, sorge ein DRK-Team aus fünf Spezialisten - darunter ein Notarzt, ein Sanitätshelfer, ein Notfallsanitäter, ein Rettungssanitäter und ein Rettungswagenfahrer - auch für die medizinische Absicherung.

Nicole Kiesewetter


Baden-Württemberg

Gescheiterte Pflegeberufekammer: Verbände beklagen Rückschlag



Berlin (epd). Das am 10. Juni bekanntgewordene Scheitern einer Pflegeberufekammer in Baden-Würrtemberg wird von Fachverbänden als „herber Rückschlag für die Selbstbestimmung der Pflege“ betrachtet. „Das wirft uns als Profession nicht nur in Baden-Württemberg zurück, sondern ist bundesweit ein schlechtes Signal für den Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen“, beklagte die neu gewählte Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK), Vera Lux, am 12. Juni in Berlin. Auch die Schwesternschaften vom DRK zeigten sich enttäuscht.

Quorum von 60 Prozent nicht erreicht

Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) hatte beteuert, dass das Scheitern der Kammer wegen des nicht erreichten Quorums von 60 Prozent Zustimmung kein Grund sei, in dem Bemühen nachzulassen, die Pflege zu stärken. Der DBfK plädierte für zeitnahe offene Gespräche über Alternativen zur Pflegeberufekammer, um einer Fremdbestimmung der professionell Pflegenden entgegenzuwirken und die Versorgungsqualität für die Bevölkerung zu sichern.

„Der Organisationsgrad und die Form der Organisation einer Berufsgruppe ist extrem wichtig. Pflege ist die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen“, sagte Lux. „Würden wir uns alle zusammenschließen, hätten wir deutlich mehr politischen Einfluss auf die Gestaltung der Pflege in Deutschland.“

DRK-Schwesternschaften enttäuscht

Sie appellierte an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), die Selbstverwaltung der Pflegekräfte auf Bundesebene aufzubauen und zu stärken. Die ersten Schritte dazu sollen mit dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz auf den Weg gebracht werden, aber ohne eine ausreichende und langfristige Finanzierung bleibe die pflegerische Selbstverwaltung ein zahnloser Tiger. „Genau deshalb treten wir weiterhin für Pflegeberufekammern ein“, sagte Lux.

Der Verband der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz (VdS) erklärte, das Scheitern sei ein Schlag ins Kontor für die bundesweiten Bestrebungen der Pflege nach unabhängigen Selbstverwaltungsorganen, nicht nur in Baden-Württemberg. Offensichtlich fehle der politische Wille, eine Verkammerung der Profession Pflege umzusetzen, heißt es in einer Mitteilung vom 13. Juni.

„Quorum willkürlich festgelegt“

Dass eine Abstimmung der Pflegefachkräfte über die Einführung einer Landespflegekammer durch ein von der Landesregierung willkürlich festgelegtes Quorum erfolgt, ist aus der Sicht der Schwesternschaften sehr fragwürdig. Die Oberinnenkonferenz des VdS fasste auf ihrer Sitzung am 12. Juni folgenden Beschluss: „Wir bewerten das von der Landesregierung erklärte Scheitern der Landespflegekammer daher in erster Linie als Ausdruck mangelnden politischen Willens, der Gesamtheit der Pflegefachpersonen zur Ausübung ihres heilberuflichen Mandats eine faktische Anerkennung mittels Selbstverwaltungsstruktur zuzugestehen.“

Kritik am Verfahren in Baden-Württemberg kam auch aus Nordrhein-Westfalen, wo bereits eine Pflegekammer existiert. „Wir sehen schon jetzt, nach kurzer Zeit, echte Erfolge für die Pflege in NRW durch die Arbeit unserer Pflegekammer. Wir sehen aber auch die bundesweit notwendige Entwicklung und haben mit Hoffnung und Sorge die Entwicklung in Ihrem Bundesland beobachtet“, heißt es in einem offenen Brief an Minister Lucha, der am 12. Juni veröffentlicht wurde. „Einiges verstehen wir nicht, denn trotz des Willens von deutlich über 50 Prozent der potenziellen Mitglieder wird es nun vorerst keine Pflegekammer in Baden-Württemberg geben.“ Man freue sich auf Antworten, „um zumindest den Weg der Entscheidung zu verstehen“.



Verbände

Wohlfahrtspflege: Träger brauchen Förderprogramm für Klimaschutz



Berlin (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) hat in Berlin ein Forderungspapier mit dem Ziel veröffentlicht, auch in den Einrichtungen und Diensten der Freien Wohlfahrtspflege schnellstmöglich Klimaneutralität zu erreichen. Das betreffe auch die über 100.000 Gebäude im Bestand sozialer Träger, für die ein staatliches Förderprogramm zur energetischen Sanierung nötig sei. Aufgrund ihrer steuerrechtlichen Rahmenbedingungen verfügten die gemeinnützigen Akteure nur über eng begrenzte Rücklagen. „Diese reichen nicht aus, um die erforderlichen Sanierungsarbeiten zu finanzieren“, erklärte die BAGFW am 10. Juni.

Klimaneutrale Instandhaltung der Einrichtungen

Die Sozialunternehmen seien für weitgehende Umbaumaßnahmen deshalb auf zusätzliche öffentliche Förderung angewiesen, hieß es. In dem Papier wird gefordert, den Klimaschutz und die Nachhaltigkeit in den Sozialgesetzbüchern zu verankern. Anfallende Ausgaben, etwa für nachhaltige Berufskleidung, Verpflegung in Bio-Qualität oder die klimaneutrale Instandhaltung der Einrichtungen, würden bisher nicht in den Kostensatzverhandlungen anerkannt.

Das Sozialrecht müsse deshalb umweltbezogen und an den gesellschaftlichen Belangen ausgerichtet werden. Insbesondere müssten die Verträge zwischen den Anbietern und den Leistungsträgern die nachhaltige Gestaltung der Dienstleistungen gewährleisten.

BAGFW-Präsident Michael Groß erklärte: „Um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 in Deutschland erreichen zu können, müssen die Voraussetzungen in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge geschaffen werden. Wir sind bereit und willens, unseren Beitrag zur Erreichung der Klimaziele zu leisten. Nun ist die Politik gefordert, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.“ Er warb für ein kurzfristig aufgelegtes, passgenaues Förderprogramm „Klimaschutz in der Freien Wohlfahrtspflege“, um beispielsweise notwendige Sanierungen im Gebäudebestand zeitnah angehen zu können.



Kirchen

Katholische Organisationen fordern Gesetz für Suizidassistenz



Berlin, Köln (epd). Katholische Organisationen fordern die Bundesregierung auf, deutlich mehr Tempo im Kampf gegen die hohe Zahl der Suizide und Suizidversuche vorzulegen. Außerdem müsse der assistierte Suizid gesetzlich geregelt werden, erklärten die Malteser und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) am 10. Juni als Veranstalter einer Fachtagung in Berlin. „Der Bundestag hat im vergangenen Jahr eine Gesetzesinitiative zur Suizidprävention bis Ende Juni 2024 verlangt, aber einen Entwurf gibt es bis drei Wochen vor Ablauf der Frist nicht“, kritisierte Georg Khevenhüller, Präsident des Malteser Hilfsdienstes.

Das sei völlig unverständlich, so Khevenhüller. Es sei längst Konsens, dass eine mit Profis besetzte zentrale Informations- und Koordinierungsstelle mit einer einheitlichen Rufnummer für ganz Deutschland benötigt werde, an die sich Menschen mit Suizidgedanken sowie deren Angehörige oder auch Pflegende wenden können.

Ethische Grenzen überschritten

Fachleute aus Medizin, Seelsorge, Hospizarbeit und Ethik wiesen den Angaben zufolge auch auf die unklare Rechtslage beim assistierten Suizid hin. Die Präsidentin des ZdK, Irme Stetter-Karp, sagte: „Die jetzige Rechtslage sorgt dafür, dass ethische Grenzen überschritten werden. Mit Präzedenzfällen wird versucht, Recht zu schaffen.“ Der Bundestag sei gefordert, ein Gesetz zu verabschieden. Dieser Verantwortung dürften sich die Abgeordnete nicht entziehen."

Konkret forderten die katholischen Laien, dass es etwa kirchlichen Senioren- und Pflegeeinrichtungen erlaubt sein müsse, kein Angebot für assistierten Suizid zu machen. Stetter-Karp: „Es muss auch Orte und Räume geben, wo sie geschützt werden vor einem möglicherweise empfundenen Druck, der Gesellschaft nicht mehr zur Last zu fallen.“

Auch die Bedeutung von „Gatekeepern“ für Menschen in lebensbedrohlichen Krisen beleuchtete die Tagung. Pflegekräfte, aber auch Lehrerinnen und Lehrer, die viel in Kontakt mit jungen Menschen sind, sollten sensibilisiert werden, mit suizidalen Absichten umzugehen. Der Geschäftsführer der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen, Georg Hofmeister, betonte die Bedeutung solcher Personen für die Suizidprävention: „Menschen, die in schweren Lebenskrisen suizidale Gedanken entwickeln, brauchen Personen, die hinschauen, zuhören und weiterführende Hilfe anbieten.“ Oft seien Suizidwünsche ein Schrei nach Hilfe in gefühlter Ausweglosigkeit.




sozial-Recht

Kirchlicher Arbeitsgerichtshof

Mitbestimmung findet beim Verlassen des Dritten Wegs ihre Schranken




Kirchenkreuz
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Eine Mitarbeitervertretung kann die Ausgründung von Betrieben eines kirchlichen Krankenhauses nicht im Rahmen ihrer Mitbestimmung stoppen. Dies gilt auch dann, wenn bei den outgesourcten Betrieben das kirchliche Arbeitsrecht nicht mehr gilt, urteilte der Arbeitsgerichtshof der katholischen Kirche.

Bonn, Hannover (epd). Die Mitbestimmung von Mitarbeitervertretungen (MAV) findet beim Outsourcing von Betrieben einer kirchlichen Einrichtung ihre Grenzen. Führt eine Ausgründung zur Nichtgeltung des kirchlichen Arbeitsrechts, ist dies über das Mitbestimmungsrecht nicht zu verhindern, entschied der katholische Kirchliche Arbeitsgerichtshof (KAGH) in Bonn in einem aktuell veröffentlichten Leitsatzurteil.

Grundordnung des Kirchlichen Dienstes

Konkret ging es um das Outsourcing von Betrieben eines katholischen Krankenhausträgers. Die im zuständigen Erzbistum tätige Diözesane Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeitervertretungen (DiAG) warf der Krankenhaus gGmbH vor, dass deren neu gegründete Tochtergesellschaften, anders als die Muttergesellschaft, nicht mehr auf der Grundordnung des Kirchlichen Dienstes basieren. In ihrem Leitbild komme der Begriff „christlich“ nicht mehr vor.

Seit acht Jahren würden mit den Ausgründungen Beschäftigte aus dem Bereich der Grundordnung in Einrichtungen überführt, für die die kirchlichen Regelungen nicht mehr gelten. Das Erzbistum müsse aber nach einem Apostolischen Schreiben des Papstes vom 11. November 2012 sicherstellen, dass kirchliche Einrichtungen die kirchliche Grundordnung einhalten. Bei Verstößen müsse das Erzbistum rechtliche Maßnahmen gegen die Einrichtungsträger erlassen und verhindern, dass diese den Dritten Weg und damit das kirchliche Arbeitsrecht verlassen.

Den nicht mehr auf der kirchlichen Grundordnung stehenden Betrieben müsse die kirchliche Anerkennung entzogen werden. Das Bistum müsse „geeignete Maßnahmen“ einleiten, dass die Mitarbeitenden, die „den Charakter der Einrichtung prägen“, in einem Dienstverhältnis mit dem kirchlichen Krankenhaus stehen.

Geschützter Bereich der kirchlichen Selbstbestimmung

Doch der KAGH wies die Klage am 22. Dezember 2023 ab. Allerdings seien kirchliche Dienstgeber „binnenkirchenrechtlich zu einer umfassenden Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts und seiner kollektiven Regelungen verpflichtet“. „Tun sie das nicht, so verlassen sie den geschützten Bereich der kirchlichen Selbstbestimmung.“

Jedoch könne die DiAG nach der Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO) vom Bistum nicht verbindlich verlangen, dass dieses gegen Ausgründungen vorgeht, für die das kirchliche Arbeitsrecht dann nicht mehr gilt. Mitbestimmungsrechtlich sei dies nicht zu verhindern. Hier sei die Klageschrift auch unzureichend begründet worden. So sei darin nicht ausgeführt, wie die „umfassende“ Überwachungspflicht des Erzbistums aussehen solle. Die Forderung nach „geeigneten Maßnahmen“ sei zu unbestimmt.

Freistellung von der Arbeit

Der Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche Deutschland (KGH) in Hannover entschied mit Beschluss vom 5. Februar 2024, dass die gewählte Vertrauensperson einer Schwerbehindertenvertretung ihren gegenüber der Arbeitgeberin geäußerten Wunsch auf Freistellung von der Arbeit vor einem staatlichen Arbeitsgericht und nicht vor einem Kirchengericht geltend machen muss.

Im konkreten Fall stritt die Schwerbehindertenvertretung einer diakonischen Einrichtung in der Evangelischen Kirche Westfalen mit der Dienststellenleitung über den Umfang der Freistellung ihrer gewählten Vertrauensperson. Während die Schwerbehindertenvertretung eine volle Freistellung verlangte und dabei auf eine mittlerweile weggefallene Bestimmung des Sozialgesetzbuchs IX verwies, bot die Dienstelle eine Freistellung von nur 50 Prozent sowie von 25 Prozent für die Stellvertretung an.

Der angerufene KGH wies die Schwerbehindertenvertretung ab. Denn über das Bestehen eines solchen Freistellungsanspruchs könnten nicht die Kirchengerichte, sondern nur die Arbeitsgerichte entscheiden. Es handele sich nicht um einen Anspruch der Schwerbehindertenvertretung, sondern um einen individualrechtlichen Anspruch der Vertrauensperson, die den Freistellungswunsch gegenüber der Arbeitgeberin geltend macht.

Pauschale Freistellungskontingente

Dagegen sind Streitigkeiten um die pauschalen Freistellungskontingente für MAV-Mitglieder in katholischen Einrichtungen Sache der Kirchengerichte. Wie der KAGH nach mündlicher Verhandlung vom 22. Dezember 2023 urteilte, dürfen die in der MAVO festgelegten pauschalen Kontingente nur im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber anders verteilt werden.

Im konkreten Fall wollte eine MAV bei drei der acht gewählten Mitglieder die festgelegte pauschale Freistellung von 50 Prozent verändern. Statt dreimal 50 Prozent sollte der Vorsitzende zu 80, dessen Stellvertreterin zu 60 und ein weiteres Mitglied zu zehn Prozent von der Arbeit freigestellt werden. Die Arbeitgeberin lehnte ab.

Der KAGH betonte: Der kirchliche Gesetzgeber habe die pauschalen Freistellungskontingente so festgelegt, dass jedes MAV-Mitglied noch seiner Arbeit nachgehen kann. Aus dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit ergebe sich kein Anspruch der MAV, die Kontingente ohne Zustimmung des Arbeitgebers zu verändern.

Az.: M 01/2023 (KAGH, Ausgründung)

Az.: KGH.EKD I-0124/19-2023 (KGH, Schwerbehindertenvertretung)

Az.: M 04/2023 (KAGH, Pauschale Freistellung)

Frank Leth


Europäischer Gerichtshof

Zugang zu Flüchtlingsstatus für Frauen gestärkt



Luxemburg (epd). Frauen und Mädchen, die sich mit dem Grundwert der Gleichheit der Geschlechter identifizieren, können laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) den Flüchtlingsstatus erhalten. Das entschieden die Richter am 11. Juni in Luxemburg.

Zwei irakische Mädchen, die seit 2015 in den Niederlanden leben, hatten nach abgelehnten Asylanträgen erneut um internationalen Schutz gebeten. Sie fürchteten, wegen ihrer Identität, die sich in den Niederlanden geformt habe, bei einer Rückkehr in den Irak verfolgt zu werden. Das niederländische Gericht legte den Fall dem EuGH vor.

Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

Drittstaatsangehörige können internationalen Schutz erhalten, wenn ihnen droht, dass sie wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Die Richter des EuGH entschieden, dass Frauen, die sich mit der Gleichheit der Geschlechter identifizieren, eine „bestimmte soziale Gruppe“ im Sinne eines Verfolgungsgrundes darstellen können, was zur Anerkennung als Flüchtling führen kann.

Dies gelte insbesondere, wenn sich die Identifikation während eines längeren Aufenthalts in einem Mitgliedstaat entwickelt habe und das Herkunftsland diese Werte nicht anerkenne, erklärten die Richter.




sozial-Köpfe

Kirchen

Alexandra Stork wird Caritasdirektorin in Stuttgart




Alexandra Stork
epd-bild/Caritas Stuttgart
Die bisherige Leiterin der Ulmer Caritas, Alexandra Stork (47), wird ab 1. November gemeinsam mit Raphael Graf von Deym den Caritasverband für Stuttgart leiten.

Stuttgart (epd). Alexandra Stork wird Caritasdirektorin in Stuttgart. Sie folgt ab November im zweiköpfigen Vorstand auf Uwe Hardt, der Ende April Stuttgart verlassen hat, um eine Vorstandsposition bei einem Sozialunternehmen in Bayern zu übernehmen.

Seit 2013 hat Stork die Caritas Ulm-Alb-Donau innerhalb des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart geleitet. Für die neue Aufgabe bringt sie ein Diplom in Psychologie, einen Master in Public Management, langjährige Führungserfahrung in kirchlichen Organisationen sowie umfassende Kenntnisse der Sozialwirtschaft mit.

Stork war von 2005 bis 2013 Leiterin des Bischöflichen Jugendamtes und Diözesanleiterin des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. 2015 schloss sie ihr Studium in Public Management an der Hochschule für Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg mit dem Master of Arts ab.

Christian Hermes, Stadtdekan und Vorsitzender des Aufsichtsrats der Stuttgarter Caritas, sagte: „Ich freue mich sehr, dass wir mit Alexandra Stork eine erfahrene Führungskraft mit einem starken sozialpolitischen Profil gewinnen konnten. Sie wird im Zusammenspiel mit dem Vorstandskollegen Raphael von Deym den Caritasverband für Stuttgart gut leiten und entwickeln.“

Der Caritasverband für Stuttgart ist mit rund 2.200 hauptamtlichen und etwa 740 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer der größten Träger der freien Wohlfahrtspflege in der Region.



Weitere Personalien



Vera Lux ist zur neuen Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) gewählt worden. Sie folgt auf Christel Bienstein, die bereits im vergangenen Jahr ihren Rücktritt nach 12 Jahren als DBfK-Präsidentin angekündigt hatte. Vera Lux war bis Ende 2023 Pflegedirektorin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Die Kinderkrankenschwester und Betriebswirtin bringt in ihr neues Amt pflegepolitische Erfahrung als Vorsitzende des Pflegerats Niedersachsen mit.

Jeannette Pella ist seit 1. Juni die Geschäftsführerin der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal und hat damit die Nachfolge von Martin Wulff angetreten, der in den Ruhestand gegangen ist. Pella wurde bereits im vergangenen Jahr in die Geschäftsführung berufen. Sie gehörte seit 2018 dem Leitungsduo des Lobetaler Bereichs Teilhabe an. Zuvor war sie zehn Jahre lang Geschäftsführerin der „leben lernen gGmbH“, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung des Evangelischen Diakoniewerks Königin Elisabeth in Berlin. In den sozialen Bereich wechselte Jeannette Pella nach den beruflichen Stationen als Finanzkauffrau sowie als Kundenberaterin in einer Privatkundenbank. Danach studierte sie Rehabilitationswissenschaften und erlangte 1997 den Abschluss als Diplom-Rehabilitationspädagogin an der Humboldt-Universität.

Sabine Weingärtner, Präsidentin und Vorsitzende des Vorstands des Diakonischen Werkes Bayern, gehört nun dem Aufsichtsrat der Evangelischen Bank an. Neu in den Aufsichtsrat gewählt wurden außerdem Rainer Freyer, Geschäftsführer des diakonischen Altenhilfeträgers Dienste für Menschen gGmbH, Thorsten Hinte, Oberkirchenrat und Dezernent für die Bereiche Finanzen, Bau und Liegenschaften in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, sowie Fabian Spier, Oberlandeskirchenrat und Leiter der Abteilung Finanzwirtschaft und Informationstechnologie der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Notwendig wurde die Wahl neuer Aufsichtsräte aufgrund des turnusmäßigen Ablaufs der Mandate von Stephanie Springer, Peter Stoll und Heinz Thomas Striegler, die für eine Wiederwahl nicht zur Verfügung standen. Bereits mit Wirkung zum Jahreswechsel hatte Maria Katharina Moser ihr Aufsichtsratsmandat auf eigenen Wunsch niedergelegt.

Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Bundesministerin a.D., ist am 13. Juni 75 Jahre alt geworden. Die SPD-Politikerin stammt aus Aachen. Vor ihrer politischen Karriere war sie Lehrerin für Sonderpädagogik, Rehabilitation lernbehinderter und erziehungsschwieriger Kinder. Schmidt gehörte seit 1990 dem Bundestag an. Vom November 1998 bis zum Januar 2001 war sie stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion für die Bereiche Arbeit und Soziales, Frauen, Familie und Senioren. 2001 bis 2009 hatte Schmidt das Amt der Bundesministerin für Gesundheit inne. Seit September 2012 steht sie an der Spitze der Lebenshilfe mit bundesweit 474 örtlichen Vereinigungen und rund 116.000 Mitgliedern.

Bernd Werse ist neuer Direktor des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS). Der Soziologe wechselt von der Goethe-Universität an die UAS und löst Heino Stöver als Direktor ab. Er übernimmt zudem die Professur für sozialwissenschaftliche Suchtforschung im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Werse promovierte an der Goethe-Universität über Cannabis in Jugendkulturen. Ab 2002 arbeitete er am Frankfurter Centre for Drug Research in der Drogentrendforschung. Als Sachverständiger nahm er bei Anhörungsverfahren im Deutschen Bundestag zu Drogen und Sucht Stellung. Mit seinem Wechsel nimmt Werse die regelmäßig erstellte Studie „Monitoring-System Drogentrends“ mit an die UAS.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juli



Juni

19.-20.6. Essen:

Seminar Seminar „‘So kann man doch nicht leben!?‘ Vermüllt und verwahrlost - Was tun?“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

20.6.:

Online-Fortbildung „Trennung und Scheidung - Ein systemischer Blick auf die Kinder“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-16

21.6. Hamburg:

Seminar „Rote Zahlen in der stationären Altenhilfe“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-519

26.6. Gelsenkirchen:

Fachtagung „Unternehmerische Friktionen durch den Pflegenotstand“

der Ruhrgebietskonferenz Pflege

Tel.: 0172/2844861

27.6. Berlin:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 030/28486-0

Juli

4.-11.7.:

Online-Seminar „Digitale Öffentlichkeitsarbeit und Social-Media für soziale Einrichtungen - Grundkurs“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

8.-11.7. Freiburg:

Seminar „Klar kommunizieren, auch wenn's eng wird“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

15.7. Würzburg:

Seminar „ABC des Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrechts“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-375