sozial-Branche

Pflege

Interview

Fachverband: Wir müssen das System Pflege völlig umkrempeln




Wilfried Wesemann
epd-bild/Christian Weische/Bethel
Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege rügt die Bundesregierung, in dieser Legislatur keine Pflegereform mehr anzugehen. "Das ist skandalös. Wir müssen beginnen, das Thema anzupacken, wohl wissend, dass damit nicht sofort alle Probleme vom Tisch sind", sagt Vorsitzender Wilfried Wesemann. Er fordert Sofortmaßnahmen, denn die Lage in vielen Heimen sei dramatisch.

Berlin (epd). Der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP), Wilfried Wesemann, fordert einen Pflegegipfel. „Dort muss man die Reformen planen.“ In einem ersten Schritt müsse die Pflegeversicherung finanziell stabilisiert werden, sagte Wesemann im Interview. Mit ihm sprach Dirk Baas.

epd sozial: Herr Wesemann, als jüngst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bekanntgab, dass es in dieser Legislatur keine Pflegereform mehr geben wird, schlugen die Wellen hoch. Von Bankrotterklärung der Politik war die Rede, Rücktrittsforderungen wurden laut. So weit geht Ihr Verband sicher nicht?

Wilfried Wesemann: Nein. Das tun wir nicht. Auch deswegen, weil wir leider schon lange wissen, dass das Thema Pflege beim Gesundheitsminister nicht die Rolle spielt, die wir uns als Fachverbände wünschen. Ob es wirklich den Kern trifft, von einer Bankrotterklärung der Politik zu sprechen, wenn der Minister mit falschen Zahlen zum jährlichen Zuwachs der Pflegebedürftigen operiert, möchte ich mal dahingestellt sein lassen.

epd: Warum so zurückhaltend?

Wesemann: Dass es die Koalition in der Restzeit der Legislatur nicht mehr hinbekommt, die Pflege zumindest in ersten Ansätzen zu reformieren, ist natürlich mehr als eine Enttäuschung. Dass die Vielzahl von Problemen in der Branche, über die Tag für Tag in den Medien berichtet wird, nicht so schnell wie möglich angepackt werden, ist alarmierend. Aber ich sage auch: Keiner erwartet vom Minister, dass er in den verbleibenden 16 Monaten eine grundlegende Reform hinbekommt. So was dauert Jahre. Aber dass nicht begonnen wird, erste vorbereitende Schritte zu unternehmen, ist skandalös. Wir müssen beginnen, das Thema anzupacken, wohl wissend, dass damit nicht sofort alle Probleme vom Tisch sind.

epd: Es fehlt Personal, die Träger beklagen eine unzureichende Finanzierung durch die Pflegekassen, die Beiträge werden wohl deutlich steigen, die Eigenanteile von Heimbewohnern klettern ins Unbezahlbare und die daheim pflegenden Angehörigen bräuchten deutlich mehr Unterstützung. All das lässt sich doch sicher nicht in einer umfassenden Reform verbessern?

Wesemann: Stimmt. Zunächst braucht man aber das, was ich einen Masterplan nenne. Politik muss eine Vision, ein Konzept haben, wohin es mit der Pflegeversicherung künftig gehen soll. Daran sollten alle Akteure, auch die Fachverbände, die Länder und die Kommunen mitwirken. Wir brauchen einen Pflegegipfel. Dort muss man die Reformen planen. Das wird nicht in einer Legislatur zu realisieren sein, das braucht Zeit und vor allem Weitsicht. In einem ersten Schritt muss die Pflegeversicherung finanziell stabilisiert werden, das geht in dieser Lage nur über mehr Steuergelder. Die einzige Alternative wäre sonst, die Beiträge zur Pflegeversicherung weiter zu erhöhen. Wegen Corona gab es in der Pflegeversicherung einen massiven Abfluss der Geldmittel, die nicht vom Staat ersetzt wurden. Das macht sich jetzt dramatisch bemerkbar. Ihr droht eine Schieflage mit vielen negativen Folgen für Pflegebedürftige, aber auch für die Träger in der Pflege. Auch deshalb braucht es unbedingt Sofortmaßnahmen.

epd: Was schwebt Ihnen da vor?

Wesemann: Wir haben vorgeschlagen, die sogenannte Behandlungspflege, die in der stationären Pflege immer noch zulasten der Pflegeversicherung geht, von den gesetzlichen Krankenkassen übernehmen zu lassen - wie auch im ambulanten Bereich. Da käme man zu einer Entlastung von zwei bis drei Milliarden Euro. Auch die Zahlung von Rentenbeiträgen für Pflegepersonen im heimischen Umfeld muss anders geregelt werden, um die Pflegekasse zu entlasten. Da geht es um den gleichen Betrag. Zudem sind die Ausbildungskosten aus Steuermitteln zu finanzieren. Das wären erste Schritte auf dem Weg zu mehr finanzieller Stabilität. Dann muss man in einem nächsten Schritt klären, wie man die Einnahmen der Pflegeversicherung auf eine breitere Basis stellen kann, Stichwort Bürgerversicherung. Das ist aber eine politische Entscheidung, die nur fallen kann, wenn klar ist, wie die Pflege- und Versorgungsangebote künftig aussehen sollen.

epd: Im Moment ist das Gegenteil von finanzieller Stabilisierung der Fall. Der Zuschuss zur Pflegeversicherung von einer Milliarde Euro wurde gerade gekappt.

Wesemann: Leider ist das so. Es ist ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Ziel sollte ja sein, mit dem Steuergeld die Pflegeversicherung langfristig finanziell auszutarieren. Daraus wird nun nichts. Die Lage für die Betroffenen wird sich verschärfen. Der Pflegeversicherung wird schlicht das Geld fehlen, was dazu führen wird, dass der Leistungskatalog womöglich ausgedünnt wird. Will man das nicht, muss man die Beiträge erhöhen. Das wird, so viel kann man voraussagen, eine heftige politische Diskussion nach sich ziehen. Weil die Regierung in dieser Legislatur nichts mehr unternehmen wird, verlieren wir zwei bis drei Jahre. Das hält das System aber nicht mehr aus.

epd: Sie sagen seit Jahren, dass umsetzbare Konzepte auf dem Tisch liegen. Doch es passiert kaum etwas. Was für Gründe hat das, außer der Angst vor deutlich steigenden Ausgaben als Folge von Reformen?

Wesemann: Die Scheu vor womöglich höheren Kosten ist sicher ein Grund. Der Finanzminister ist ja bei allen Ausgaben das Nadelöhr. Das ist erstmal ganz normal. Es ist seine Aufgabe, den Haushalt zu konsolidieren, das Geld zusammenzuhalten und die Verschuldung im Blick zu haben. Auch die Weltlage hat sich verändert, Klimafolgen, die Kriege in der Ukraine und im nahen Osten erfordern vielfältige Entscheidungen. Ich erwarte aber von einer Bundesregierung, dass sie Prioritäten setzt. Das Thema Pflege rangiert eben nicht ganz oben, der gesellschaftliche Druck ist wohl noch nicht hoch genug. Uns gelingt es nicht zu kommunizieren, beziehungsweise die Politik realisiert nicht, wie dramatisch die Lage schon jetzt ist, wo die Baby-Boomer noch gar nicht in Rente sind. Die Ergebnisse unserer eigenen Umfrage bestätigen die akute Gefährdung der Versorgungssicherheit in der Langzeitpflege: Vier von fünf Trägern der Langzeitpflege müssen ihre Angebote einschränken. Die aktuellen Reformen auf Bundesebene sind nicht ausreichend, um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, Personal zu sichern und die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung zu halten. Wir müssen das System umkrempeln, das wird die Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein, ganz gleich, welche Parteien sie bilden.

epd: Sie vertreten die diakonischen Heime. Wo ist hier der Reformstau am größten?

Wesemann: Mit Blick auf die Heimbewohnerinnen und -bewohner muss dringend etwas geschehen. Deren Eigenanteile sind sprunghaft gestiegen. Immer mehr Betroffene können einen Heimaufenthalt nicht mehr aus eigener Kraft finanzieren. Und damit versagt ein wichtiger Teil der professionellen Pflegeversorgung. Zugleich müssen wir schleunigst mehr Personal finden, mehr Nachwuchs ausbilden. Fachleute wie der Bremer Forscher Heinz Rothgang gehen davon aus, dass schon allein wegen des demografischen Wandels in den nächsten Jahrzehnten in den stationären Einrichtungen bis zu 35 Prozent mehr Personal gebraucht wird. Das bezieht sich insbesondere auf den Assistenzbereich, es geht also nicht nur um fehlende Pflegefachkräfte. Aber klar ist auch: Mehr Personal führt auch zu höheren Eigenanteilen, das heißt, wenn es keine Reformen gibt, wird das Heim für die Bewohner immer teurer und immer mehr Menschen werden in die Sozialhilfe abrutschen. Auch deshalb muss über eine grundlegend andere Finanzierung der Pflegeversicherung entschieden werden.

epd: Stichwort Bürgerversicherung, samt, wie die Grünen fordern, Abschaffung der privaten Pflegeversicherung: Wie realistisch ist ein solcher Reformansatz, die Idee einer Teilkaskoversicherung?

Wesemann: Man muss den Mut haben, Entscheidungen zu treffen. Wenn sich die Parteien in der Regierung einig wären, könnte das eine Lösung sein. Man braucht künftig deutlich mehr finanziellen Spielraum, und den erreicht man nicht durch Beitragserhöhungen. Das bisherige System kann nichts zur Lösung des Problems beitragen. Also brauchen wir einen politischen Konsens, die Einnahmen auszuweiten, Vermögen zu besteuern oder Pflegebedürftige, die über ein hohes Vermögen verfügen, angemessen an der Finanzierung der Pflege angemessen zu beteiligen. Ob es rechtlich möglich ist, die private Pflegeversicherung zugunsten von mehr Finanzmitteln in der gesetzlichen Pflegekasse aufzulösen, kann ich ad hoc schwer sagen. Ich meine aber, es muss erlaubt sein, auch darüber nachzudenken, wenn ein solcher Schritt zur langfristigen Absicherung der Pflege dient.

epd: Jede Lohnerhöhung in der Pflege, die ja eigentlich überall begrüßt wird, um die Jobs attraktiver zu machen, lässt die Eigenanteile der Pflegebedürftigen steigen. Das gleicht der Quadratur des Kreises. Was wäre hier eine Lösung?

Wesemann: Auch hier haben wir Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, bislang ohne Resonanz. Ein erster Ansatz wäre die Herausnahme der Ausbildungskosten aus den Eigenanteilen. Die Kosten der medizinischen Behandlungspflege müsste statt der Pflege- die Krankenkasse tragen. Damit würde man sehr schnell eine Entlastung schaffen. Mittelfristig muss man aber über ein völlig anderes Finanzierungskonzept beraten, um mehr Einnahmen in der Pflegeversicherung zu haben. Und dann ist man wieder bei der Frage einer Bürgerversicherung oder so gearteter Modelle, bei denen alle Beschäftigten in eine Kasse einbezahlen.

epd: Letzte Frage: Ihr Verband will im Oktober ein Strategiepapier „Trotzdem Pflege: für Jeden, zu jeder Zeit“ vorstellen. Kann man schon erfahren, was die zentralen Forderungen sein werden?

Wesemann: Im Wesentlichen geht es da um all die Dinge, die wir hier besprochen haben. Es ist eine Weiterentwicklung unserer Positionen, die wir für Reformen vor vier Jahren vorgelegt haben. Wir sind in der Überarbeitung des Papiers. Dabei bleiben die großen Säulen des erwünschten Umbaus der Pflegeversicherung und der gesamten Pflegeinfrastruktur erhalten. Es geht um die grundständige und legislaturübergreifende Finanz- und Strukturreform. Aber auch darum, wie und wo wir Leistungen erbringen, also die Frage der sektorenübergreifenden Versorgung samt der Förderung neuer Wohnformen. Auch fordern wir eine verpflichtende Beteiligung der Kommunen an der Pflegeplanung. Sie wissen am besten, welche pflegerischen Ressourcen es vor Ort gibt und wo Lücken geschlossen werden müssen. Sie müssen das Hilfesystem managen. Und wir brauchen auch künftig die Unterstützung der pflegenden Angehörigen, der Freunde und Nachbarn. Sie tragen die Hauptlast der Pflege und müssen massiv entlastet werden, durch professionelle ambulante Unterstützung, aber auch finanziell.