sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

Drogentod mit 23: Marco Albroscheit war süchtig nach Medikamenten. Neben Schmerzmitteln schluckte er vor allem Benzodiazepine, rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel mit einem enorm hohen Suchtfaktor. Sie zu bekommen, war offenbar nicht sehr schwer. Medikamentensucht beobachten Experten bei Jugendlichen derzeit öfter. Matthias Rost von der Jugenddrogenberatung „K(L)ICK“ spricht von einer Welle. „Viele Konsumenten sagen, sie spüren beim Gebrauch von Benzos eine Sorglosigkeit.“ Nach Schätzungen liegt bundesweit bei etwa 2,9 Millionen Personen ein problematischer Medikamentenkonsum mit Sucht oder Suchtgefahr vor.

Eltern-Kind-Kuren bieten überforderten Elternteilen die Chance, zur Ruhe zu kommen. Meistens sind es Mütter, die die Kuren in Anspruch nehmen. Ein verwitweter Vater berichtet, welche Steine ihm in den Weg gelegt wurden, als er mit seinen zwei Kindern eine Vater-Kind-Kur machen wollte.

Die zunehmende Leiharbeit in der Pflege ist zum Thema im Bundesrat geworden. Die Ausschüsse des Länderrats befassen sich nun mit einem Antrag aus Bayern, wonach künftig Stammpersonal und Leiharbeitskräfte gleich behandelt werden sollen. Denn häufig verdienen Zeitarbeitskräfte besser als das Stammpersonal und müssen nicht nachts und an den Wochenenden arbeiten. „Sie sind aber auch genervt davon, permanent neue Kräfte für die tägliche Arbeit in ihrer Einrichtung anlernen zu müssen“, erläutert ein Geschäftsführer eines bayerischen Pflegeunternehmens.

Minilöhne für Häftlinge von rund zwei Euro verstoßen gegen das Grundgesetz. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts müssen Gefangene für ihre in einer Justizvollzugsanstalt geleistete Arbeit eine „angemessene Anerkennung“ erhalten. Der Gegenwert für ihre Leistung muss für sie „unmittelbar erkennbar“ sein. Die Karlsruher Richter erklärten damit die Vergütungsregelungen für Gefangene in NRW und Bayern wegen des Verstoßes gegen das Resozialisierungsgebot für verfassungswidrig. Bis zum 30. Juni 2025 muss der Gesetzgeber verfassungsgemäße Regelungen schaffen.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Sucht

Mit 23 nach Medikamentenmissbrauch gestorben




Tanja Albroscheit hat ein Erinnerungsbuch mit Fotos von ihrem Sohn Marco.
epd-bild/Dieter Sell
Benzodiazepine sind unter Jugendlichen beliebt, Rap-Songs verherrlichen sie. Doch die Beruhigungs- und Schlafmittel machen schnell süchtig, Missbrauch kann fatale Folgen haben. Tanja Albroscheit hat ihren Sohn verloren und kämpft heute gegen Benzos.

Berlin, Leipzig (epd). Schon allein die vielen Herzen auf dem Grab zwischen den Bäumen auf dem Berliner Waldfriedhof sind außergewöhnlich. „Vielleicht 40, und es werden ständig mehr“, zählt Tanja Albroscheit. „Wir vermissen Dich“ hat sie auf eine herzförmige Schiefertafel mit dem Porträt ihres Sohnes Marco gravieren lassen. „Er war ja auch ein außergewöhnlicher Mensch“, sagt sie. Marco Albroscheit ist Ende Mai 2022 im Alter von 23 Jahren gestorben, nach langem Medikamentenmissbrauch. Es war ein Tod auf Raten.

Im Strudel der Sucht

So oft es geht, besucht Tanja Albroscheit das Grab ihres Sohnes. „Marco war ein Familienmensch mit großem Herzen, so hilfsbereit“, erinnert sie sich an seine Kindheit und Jugend. Doch irgendwann geriet Marco in den Strudel der Sucht, nahm erst Cannabis, dann Medikamente. Marco schluckte Schmerzmittel, aber vor allem Benzodiazepine, rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel mit einem enorm hohen Suchtfaktor. Das veränderte alles.

Davor gab es eine gute Zeit, trotz einer Aufmerksamkeitsstörung und einem Typ-1-Diabetes, der bei Marco im Alter von 13 Jahren diagnostiziert wurde. „Das hat mir die Füße richtig weggezogen“, erinnert sich seine Mutter. „Aber er hat das alles gut gepackt, hat prima auf sich und seinen Körper geachtet.“

Dann, so etwa mit 15 Jahren, gab es einen Bruch, wie seine Mutter erzählt. Marco war auf einmal viel unterwegs, ging öfter nicht zur Schule. „Falsche Freunde“, meint Tanja Albroscheit. Er fing an zu kiffen, wurde aggressiver, unzuverlässiger. Es gab Konflikte, Marco wohnte mal bei seinem Vater, dann bei seiner Oma, auch in einer Jugendhilfe-Einrichtung, in der er die Wände zertrümmerte. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter ab, es gab zunehmend Stress mit der Polizei. Dann nahm Marco statt Cannabis Medikamente, die er mal ganz regulär bekam, mal auf dem Schwarzmarkt besorgte, mal mit Arzt-Hopping, mal mit gefälschten Rezepten.

„Er war wie ein Gespenst, ganz furchtbar“

Es ging oft um „Benzos“, wie Jugendliche sagen, auch um andere Wirkstoffe wie das Schmerzmittel Tramadol. Das Schlimmste war wohl Ketamin, ein Narkosemittel, das als Partydroge gehandelt wird. Marco fiel, robbte über den Boden, guckte durch seine Mutter durch, als wäre sie gar nicht da, entwickelte Psychosen, so erzählt sie es mit Tränen in den Augen: „Er war wie ein Gespenst, ganz furchtbar.“

Medikamentensucht, wie sie ihren Sohn erfasst hat, beobachten Experten bei Jugendlichen gerade öfter. Matthias Rost von der diakonischen Jugenddrogenberatung „K(L)ICK“ in Leipzig spricht von einer Welle, auch getriggert von Rappern, die in ihren Lied-Texten Benzos verherrlichen. „Viele Konsumenten sagen, sie spüren beim Gebrauch von Benzos eine Sorglosigkeit. Alle Unsicherheiten sind weg, man ist mit sich für den Moment komplett im Reinen, einfach in Watte gepackt.“

„Nur Benzos nehmen, das gibt es kaum, da werden verschiedene Drogen austariert, um Emotionen zu verstärken oder loszuwerden, Upper und Downer“, erläutert Rost. Der Entzug sei besonders heftig. Um vorzubeugen, rät er, mögliche Ursachen einer Sucht in den Blick zu nehmen, etwa über eine Psychotherapie. Bei der Prävention müsse früh angesetzt werden, Erziehung sei zentral. „Da geht es um Begleitung, darum, den Umgang mit Emotionen, mit mir selber und meinen speziellen Problemen zu lernen, um Konfliktfähigkeit. Das ist viel Arbeit von Schulen und vor allem von Eltern.“

Gefühl der Einsamkeit

Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen liegt bundesweit bei etwa 2,9 Millionen Personen ein problematischer Konsum mit Sucht oder Suchtgefahr vor, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Bei Marco war vielleicht auch der Umzug in eine eigene Wohnung ein Faktor. „Marco war ein introvertierter und zurückhaltender Typ, in seiner Wohnung hat er sich scheinbar einsam gefühlt“, blickt sein langjähriger Freund Dominique Brunet zurück.

Ob das der entscheidende Grund war für den Absturz in die Sucht, die immer heftiger wurde? Tanja Albroscheit weiß es nicht. Zuletzt hatten ihr Sohn und sie wieder zueinander gefunden. „Das hatte mich sehr glücklich gemacht“, sagt sie. Sie habe selbst so viel unternommen, Familientherapie angestoßen, Hilfen angeboten, jahrelang: „Ich hab' alles versucht“, sagt sie. Und trotzdem plagen sie heute Schuldgefühle. Am Ende starb Marco an einer Überdosierung Tramadol.

Entlastend ist da das Bremer Online-Portal „Trosthelden“, auf dem sie Menschen mit ähnlicher Trauererfahrung trifft und eine gute Trauerfreundin gefunden hat. Mittlerweile haben sich die beiden Mütter getroffen. „Bei uns sind die Tränen gelaufen“, berichtet Tanja Albroscheit.

Sie will aber mehr. Sie kämpft dafür, dass Benzodiazepine nicht mehr so einfach erhältlich sind, verlangt, dass es die Wirkstoffe künftig nur noch über Betäubungsmittelrezepte gibt, die besser abgesichert sind. „Das muss sich ändern, das ist so unglaublich wichtig.“ Außerdem will sie aufklären, denkt an Besuche in Schulen und Jugendgruppen. „Ich hoffe nur, dass ich damit jemanden retten kann“, sagt sie. Ihre Botschaft an die Jugendlichen lautet: „Lasst die Finger davon. Ihr könnt überhaupt nicht einschätzen, was das Zeug mit euch macht.“

Dieter Sell


Sucht

Interview

"Die ganze Hirnchemie wird beeinflusst"




Matthias Rost
epd-bild/Matthias Rost
Medikamente können zu Suchtmitteln werden. Der Leipziger Drogenberater Matthias Rost erlebt gerade, dass Benzodiazepine bei Jugendlichen vermehrt konsumiert werden - bis hin zum Suchtgebrauch. Davon wieder wegzukommen, ist nicht ohne Risiko

Leipzig (epd). Sie sind offenbar gerade „in“. Experten wie Matthias Rost von der diakonischen Leipziger Jugenddrogenberatung „K(L)ICK“ registrieren jedenfalls steigende Zahlen: Immer mehr junge Leute schlucken Benzodiazepine, rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel. Im epd-Interview erklärt der Suchttherapeut mögliche Gründe, warnt vor den massiven Folgen des Missbrauchs und schildert Ansätze zur Prävention. Mit ihm sprach Dieter Sell.

epd sozial: Herr Rost, Medikamente wie Benzodiazepine sind keine klassischen Drogen wie Cannabis oder Heroin. Warum nehmen Jugendliche „Benzos“, wie die Substanzen ja oft verkürzend genannt werden?

Matthias Rost: Das ist kein neues Phänomen, wir haben momentan eine Welle: Wenn die Welt wie gerade jetzt unsicherer wird, werden mehr Drogen genommen, die beruhigen, die runterbringen, die Angst lösen, so wie Benzodiazepine. In Phasen, in denen es gut läuft, sind es eher Leistungsdrogen. Viele Konsumenten sagen, sie spüren beim Gebrauch von Benzos eine Sorglosigkeit. Alle Unsicherheiten sind weg, man ist mit sich für den Moment komplett im Reinen, einfach in Watte gepackt. Wobei Benzos oft mit anderen Substanzen kombiniert werden.

epd: Können Sie das näher erläutern, was bedeutet dieser Mischkonsum?

Rost: Das ist immer abhängig vom Kontext, wo ich konsumiere, wie ich konsumiere. Experimentiert wird viel, auch mit Pilzen, mit Halluzinogenen. Was oft gemeinsam genommen wird, sind Medikamente und Alkohol. Wobei das eine sehr fatale Kombination ist, weil Alkohol die Wirkung der Benzos verstärkt. Genauso ist es mit Cannabis. Wenn ich dann irgendwann wieder hochkommen und in den Leistungsmodus will, um beispielsweise arbeiten zu gehen, könnten Aufputscher wie Speed oder Crystal Meth, manchmal auch Kokain, eine Rolle spielen. Nur Benzos nehmen, das gibt es kaum, da werden verschiedene Drogen austariert, um Emotionen zu verstärken oder loszuwerden, Upper und Downer - was bei einem Entzug ein zusätzliches Problem ist.

epd: Hat diese Form des Medikamentenmissbrauchs zugenommen?

Rost: Die Zahlen sind steigend, ja. Es ist aber kein Vergleich zu Alkohol, Tabak oder Cannabis. Wir haben jährlich etwa 1.000 Todesfälle aufgrund illegaler Drogen. Aber jährlich sterben mehr als 127.000 Menschen allein an den Folgen des Tabakkonsums - allerdings spricht darüber keiner. Wobei Drogenkonsum ganz allgemein ja keine logische Entscheidung ist: Es geht um Emotionen, um Jugendszene, darum, ob irgendetwas in ist. Bei Prävention und Aufklärung spielen dagegen oft Fakten und Logik eine Rolle - und wenig die eigentliche Konsum-Motivation. Die Fakten sind wichtig, klar. Aber die ändern nicht zwingend das Verhalten.

epd: Wie groß ist denn die Suchtgefahr bei Benzodiazepinen?

Rost: Das ist eine sehr wichtige Arzneimittelgruppe, wenn sie mit einer Diagnose ärztlich verschrieben und kontrolliert eingesetzt wird. Wenn die Substanzen unkontrolliert genommen werden, steigt das Risiko einer Abhängigkeit - und diese Gefahr ist nicht zu verachten. Der Entzug ist mindestens unangenehm. Teilweise beschreiben Konsumenten ihn schlimmer als bei vielen anderen Substanzen. Und er birgt große Gefahren, das sollte möglichst in der Klinik geschehen. Das Kreislaufsystem wird massiv belastet, wenn die Substanz wegfällt. Die ganze Hirnchemie wird ja von Benzos beeinflusst. Wenn ich da beim Entzug plötzlich die Bremse bei der Emotionssteuerung löse, können Psychosen und überschießende Emotionen auftreten.

epd: Wie kommen Jugendliche denn an diese Medikamente, die ja verschreibungspflichtig sind?

Rost: Das Rankommen ist in der Drogenszene noch nie ein Problem gewesen. Zum einen gibt es natürlich einen Schwarzmarkt, auf dem man die Pillen relativ easy bekommt. Dann gibt es gefälschte Rezepte. Und Online-Apotheken im europäischen Ausland, die teilweise gar nicht wissen, wie ein deutsches Rezept aussieht und die wenig kontrollieren. Verbote und strengere Regulierungen über Betäubungsmittel-Rezepte können den Markt eindämmen. Aber das kann nicht der einzige Lösungsweg sein. Das wird nicht funktionieren.

epd: Spielt bei der Benzo-Welle Musik eine Rolle, speziell Rap?

Rost: Absolut, das hat Einfluss. Rap-Songs, in denen der Medikamentenmissbrauch verherrlicht wird, bagatellisieren und führen zu einer gewissen Salonfähigkeit des Missbrauchs. Das kann ein Baustein sein, wenn ich in Gedanken die Texte mitsinge und irgendwann in einer Situation denke, in der es schwierig wird: Mensch, das klang doch eigentlich ganz spannend.

epd: Versuchen Jugendliche mit den Wirkstoffen auch eigene psychische Probleme zu bekämpfen, beispielsweise, um arbeitsfähig zu sein?

Rost: Das ist auf jeden Fall ein Thema. Diese Selbstmedikamentation erleben wir relativ häufig. Viele Jugendliche streben nach schnellen und einfachen Lösungen, bei Aufmerksamkeitsstörungen, Borderline oder Depressionen. Die erfolgversprechende Psychotherapie ist dagegen viel Arbeit. Aber da sind auch Eltern, Therapeuten und Ärzte in der Verantwortung, die Jugendlichen zu begleiten und ihnen ein realistisches Bild ihrer Erkrankung zu geben und vielleicht den längeren und schwereren Weg zu gehen, möglichst ohne Medikamente.

epd: Wie sehen aus Ihrer Sicht denn erfolgversprechende Lösungsansätze im Kampf gegen den Medikamentenmissbrauch aus?

Rost: Wichtig wäre, das Angebot von Psychotherapien für Jugendliche auszubauen. Das ist eine große Mangelware, mit teils jahrelangen Wartezeiten. Und was die Prävention angeht: Da geht es um Begleitung, darum, den Umgang mit Emotionen, mit mir selber und meinen speziellen Problemen zu lernen, um Konfliktfähigkeit. Da ist Balance gefragt zwischen Freiheiten lassen und Grenzen setzen. Das ist viel Arbeit von Schulen und vor allem von Eltern. Deshalb müssen wir immer stärker die Erziehungskompetenz von Eltern schulen. Die Jugendlichen brauchen starke und konsequente Vorbilder, Regeln und Grenzen, klare Ansagen. Es geht auch um Verzicht, das ist ja heute kein großer Skill, das gehört nicht zum Alltag. Da kann man in der Erziehung aber ganz viel machen. Um zu vermitteln: Es wird in meinem Leben Sachen geben, die erlebe ich nicht. Und das ist völlig okay.



Sucht

Hintergrund

Das Stichwort: Benzodiazepine



Hamm (epd). Benzodiazepine sind eine Gruppe von rezeptpflichtigen Beruhigungs- und Schlafmitteln, die in Deutschland weit verbreitet sind. Sie werden vom Arzt zeitlich begrenzt gegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen, Angstzustände, Panikattacken, Epilepsie und zur Muskelentspannung verschrieben. Vor Operationen werden sie manchmal zur Narkoseeinleitung eingesetzt. Sie wirken beruhigend, dämpfend, entspannend, angstlösend und schlaffördernd, indem die Empfindlichkeit bestimmter Nervenzellen des Gehirns vermindert wird.

Obwohl Benzodiazepine unverzichtbare Medikamente für akute Gesundheitskrisen sind, müssen sie mit maximalem Augenmaß verordnet werden. Ihr Suchtpotenzial ist enorm hoch. Sie sollten nach mehrwöchiger Einnahme nicht schlagartig abgesetzt, sondern „ausgeschlichen“ werden. Die Verführung, sich mithilfe des Medikaments weiterhin Beschwerdefreiheit und Sorglosigkeit zu verschaffen, ist groß.



Familie

Vater-Kind-Kur: Mit welchen Vorurteilen ein Witwer zu kämpfen hat




Simon Schneidereit spielt in der Kur mit seiner Tochter Ida Federball.
epd-bild/Stefanie Unbehauen
Eltern-Kind-Kuren bieten überforderten Elternteilen die Chance, zur Ruhe zu kommen. Meistens sind es Mütter, die die Kuren in Anspruch nehmen. Ein verwitweter Vater berichtet, welche Steine ihm in den Weg gelegt wurden. Besuch in einer Kurklinik.

Buchen (epd). Simon Schneidereit spielt mit seiner elfjährigen Tochter Federball. Die beiden wirken ausgelassen. Lange Zeit war das nicht so. Seit dem Tod seiner Ehefrau vor einem Jahr ist das Familienleben der Schneidereits auf den Kopf gestellt. „Wir mussten unseren Familienalltag neu strukturieren“, sagt der Familienvater.

Die Diagnose Gebärmutterhalskrebs bedeutete für die gesamte Familie einen Einschnitt in ihren Alltag: „Ich pflegte meine Frau selbst. Ich hatte also eine Dreifachbelastung durch Pflege, Vollzeitjob und Haushalt“, erinnert sich der 38-Jährige. Am 31. Mai 2022 starb seine Frau nach dreijähriger Erkrankung.

ADHS und Angststörungen als Folge des Verlustes der Mutter

Für seine Kinder musste Schneidereit weiter funktionieren. Denn die leiden besonders. Sein Sohn Mads hat das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS. Der Neunjährige musste bereits die erste Klasse wiederholen. Tochter Ida erkrankte durch den Verlust ihrer Mutter an einer Angststörung. „Ich habe Angst, dass meinem Papa etwas passiert“, sagt die Elfjährige. Um ihre Verlustangst in den Griff zu bekommen und mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, beschloss Schneidereit, eine Vater-Kind-Kur zu beantragen. Doch der Weg dorthin stellte sich als schwierig heraus.

„Viele sind immer noch der Meinung, solche Kuren seien nur für Mütter, Väter bräuchten das nicht“, schildert der Dachdecker im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er hatte rund zehn Gespräche mit verschiedenen Kliniken deutschlandweit geführt - ohne Erfolg. „Es fielen Sätze wie ‚Wir wollen keine sexuellen Handlungen haben. Wir haben nicht die Räume, um Männer und Frauen zu trennen.‘“

Auch die Unterstützung durch seine Krankenkasse hielt er für ungenügend. „Sie hatten mir zwei DINA-4 Seiten gereicht mit möglichen Kuren und wünschten mir viel Glück“, sagt er. Für sie sei es damit erledigt gewesen. Nach langer Suche fand Schneidereit, der in Schleswig-Holstein lebt, schließlich einen Platz - im rund 800 Kilometer entfernten „Gesundheitszentrum an der Höhle“ in Buchen im Odenwald.

Geschäftsführer: Antrag für Väter noch immer schambehaftet

Steffen Kreß ist stellvertretender Geschäftsführer der Klinik. Er betont: „Bei uns ist jeder willkommen.“ Eine Quote gibt es nicht. Doch nur neun Prozent der Elternteile, die eine Kur in seiner Klinik machen, sind Väter. „Das Beantragen einer Vater-Kind-Kur ist immer noch schambehaftet. Väter dürfen keine Schwäche zeigen“, sagt Kreß. Beruf und soziale Prägung spielten hier eine große Rolle. „Bei einem Sozialarbeiter ist die Akzeptanz größer als bei einem Bauarbeiter oder einem Metzger.“ Witze und Neckereien der Kollegen seien hier keine Seltenheit.

Schneidereit kann das so nicht bestätigen. Der Dachdecker hat viel Zuspruch von seinen Handwerkerkollegen erhalten. „Sie sagten mir: Nehmt euch die Auszeit, um den Schmerz und die Trauer zu verarbeiten, und kommt gestärkt zurück. Ihr habt euch die Ruhe verdient.“ Auch von den anderen Müttern im Gesundheitszentrum habe er sich als Mann und Vater zu keinem Zeitpunkt unerwünscht gefühlt.

Besonders Gruppentherapien hilfreich

Psychologin Ramona Trautz arbeitet seit fünf Jahren in der Klinik an der Höhle. Dass auch Männer eine Kur machen, hält sie für eine Bereicherung. „Gerade in Gruppentherapien haben Männer oftmals einen anderen, pragmatischeren Blick auf die Dinge“, sagt sie.

Ein Kuraufenthalt dauert drei Wochen. Schneidereit hätte gerne um eine weitere Woche verlängert. „Erst nach zwei Wochen hatte ich das Gefühl, anzukommen und mich zu entspannen“, sagt er. Davor habe er sich noch sehr im „Alltagswahnsinn“ befunden. In zwei Jahren habe er noch einmal die Möglichkeit, eine Kur zu machen. Diese wolle er nutzen. Seine Kinder sind von der Idee begeistert. „Wir wollen unbedingt noch mal hierher“, sind sich die beiden einig.

Schneidereit hofft dann auf eine reibungslose Beantragung. Selbst auf dem Antrag für die Kur, den er bei seiner Kasse einreichen musste, stand groß „Mutter-Kind-Kur“. „Das habe ich demonstrativ durchgestrichen und Vater-Kind-Kur darauf geschrieben.“

Stefanie Unbehauen


Flüchtlinge

Proteste gegen Asylkompromiss




Trauermarsch gegen den EU-Asylkompromiss
epd-bild/Christian Ditsch
Der EU-Asylkompromiss stößt weiter auf heftige Kritik. Hilfsorganisationen fordern Nachbesserungen, die Evangelische Kirche in Deutschland spricht sich für eine "Rückkehr zu einer menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik" aus.

Berlin (epd). Hilfsorganisationen, Kirchen und Parteien haben am 20. Juni den jüngst gefundenen Asylkompromiss der Europäischen Union kritisiert. Hilfsorganisationen veröffentlichten einen offenen Brief, Pro Asyl demonstrierte in Berlin und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wies unter anderem auf die Situation minderjähriger Geflüchteter und ihrer Familien hin.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich indes erneut hinter die EU-Asylreform gestellt. Er werde sie „beim Europäischen Rat kommende Woche aus Überzeugung verteidigen und dafür eintreten, dass wir noch vor den Europawahlen nächstes Jahr zu einer Einigung mit dem Europäischen Parlament kommen“, sagte Scholz am 22. Juni bei seiner Regierungserklärung im Bundestag in Berlin.

Politische Verantwortung für Bootsunglück vor Griechenland

Die EU-Innenminister hatten sich vor knapp zwei Wochen auf eine Verschärfung des Asylrechts verständigt. Ein zentraler Punkt ist die Einführung von Grenzverfahren an der EU-Außengrenze. Diese sollen den Asylverfahren vorgeschaltet werden. Dabei wird zunächst formal geprüft, ob Schutzsuchende einen Asylantrag stellen dürfen. Sie müssen so lange in den Erstaufnahme-Lagern bleiben. Deutschland, Irland, Luxemburg und Portugal dringen weiter auf Ausnahmen für Minderjährige und ihre Familienangehörigen.

Mehr als 180 Organisationen und Initiativen forderten unterdessen in einem Offenen Brief eine lückenlose Aufklärung des Bootsunglücks vor der griechischen Küsten mit mutmaßlich Hunderten Toten. Der Schiffbruch sei die „unmittelbare Folge politischer Entscheidungen, die Menschen daran hindern sollen, in Europa anzukommen“, heißt es in dem Appell, den unter anderen Organisationen wie Sea-Watch, die Seebrücke und medico international unterzeichnet haben.

Mit einem symbolischen Trauermarsch protestierte die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl im Berliner Regierungsviertel gegen den Asylkompromiss der Europäischen Union. Knapp 100 Demonstranten zogen Polizeiangaben zufolge mit drei Särgen vom Bundesinnenministerium zum Reichstagsgebäude. Mit der geplanten Reform würde geflüchteten Menschen in Europa der Zugang zu rechtsstaatlichen Asylverfahren verwehrt, kritisierte Pro Asyl. Bei dem anstehenden Gesetzgebungsprozess in Brüssel müsse die Bundesregierung die Zustimmung zu dem Kompromiss verweigern.

Menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik

Die EKD veröffentlichte ein überarbeitetes Positionspapier. Der EKD-Flüchtlingsbeauftragte, Bischof Christian Stäblein, sagte: „Wir drängen auf die Rückkehr zu einer menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik, die den Zugang zu fairen Asylverfahren garantiert und Schutzsuchenden legale Wege ermöglicht, ihr Leben zu retten.“ In dem Papier heißt es unter anderem, dass besonders darauf zu achten sei, dass Familien durch Flucht und Migration nicht auseinandergerissen würden. Sie stünden in Deutschland unter besonderem Schutz des Staats.

Die Grünen bekräftigten ihre Forderung zu Nachbesserungen am Asyl-Kompromiss. Deutschland müsse Verantwortung übernehmen bei der Schaffung sicherer Einreisewege, verlangten die parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion, Filiz Polat, und der Europa-Experte Julian Pahlke. Die Zahl der Plätze für eine Aufnahme über das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR „muss signifikant steigen, damit weniger Menschen sich auf gefährliche Routen begeben müssen“, forderten sie.

Laut dem UNHCR waren im Mai 2023 schätzungsweise 110 Millionen Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht vor Verfolgung, Gewalt und Krieg. Zudem erfasste das UNHCR mehr als fünf Millionen Asylbewerberinnen und -bewerber.

Konstantin Sacher, Bettina Markmeyer


Sterbehilfe

Suizid-Fachverbände fordern Ausbau der Präventionsangebote



Berlin (epd). Drei Organisationen aus der Suizidprävention fordern eine bundesweite Informations- und Koordinerungsstelle zur Vermeidung von Selbsttötungen. Reinhard Lindner vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm sagte am 20. Juni, der flächendeckende Ausbau bereits bestehender Präventionsangebote biete den „besten Schutz vor Suiziden“. Die in den beiden Gesetzentwürfen im Bundestag vorgesehene verpflichtende Beratung vor der Gabe tödlicher Medikamente biete keinen Ansatz zur Hilfe für suizidale Menschen, erklärte der Fachmann.

Gemeinsam sprachen sich das Nationale Suizidpräventionsprogramm, die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention und die Deutsche Akademie für Suizidprävention gegen die beabsichtigte Einführung von Beratungsstellen aus, die Sterbewillige nach den Plänen beider Abgeordnetengruppen zwingend konsultieren sollen.

Zugang zu tödlichen Medikamenten

Lindner betonte, jedem Menschen, „der an Suizid denkt, sollten in erster Linie spezielle Hilfen und psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung ermöglicht werden“. Dazu müssten bestehende regionale Beratungsstellen vernetzt und auch dauerhaft finanziert werden. Das gelte sowohl für Telefon- wie auch für und Onlineangebote. Zudem regte der Kasseler Professor an, eine bundesweite Informations- und Koordinationsstelle mit einer einheitlichen Telefonnummer, Website und Social Media Angeboten einzurichten.

Dass künftig nach dem fusionierten Gesetzentwurf der Gruppen um Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Grüne) nach einer Beratung Sterbewillige Zugang zu tödlichen Medikamenten erhalten sollen, stößt beim Experten Lindner auf Ablehnung. Dass das drei Wochen nach der Beratung erfolgen könne, widerspreche jeder wissenschaftlichen Expertise. Dieser Zeitraum sei viel zu kurz, um mit Hilfe fachlicher Begleitung „eine suizidale Krise selbstbestimmt bewältigen zu können“.

Zwei Gesetzespläne im Bundestag

Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das wenige Jahre zuvor beschlossene Verbot organisierter Suizidassistenz gekippt hatte, wird im Bundestag um eine Neuregelung gerungen. Dabei geht es um eine besondere Form der Sterbehilfe, bei der dem oder der Sterbewilligen ein tödliches Medikament überlassen wird, das er oder sie selbst einnimmt. Anders als die verbotene Tötung auf Verlangen bewegt sich derzeit die Hilfe bei der Selbsttötung in einer rechtlichen Grauzone.

Im Bundestag gibt es zwei Regelungsvorschläge, nachdem sich die beiden eher liberal ausgerichteten Abgeordnetengruppen auf einen Entwurf verständigt haben. Die Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Grüne) betont darin das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und will die Vergabe von tödlich wirkenden Medikamenten nach einer Beratung ermöglichen. Eine Gruppe um Lars Castellucci (SPD) und Ansgar Heveling (CDU) betont dagegen eher den Lebensschutz und macht neben einer Beratung auch eine psychiatrische Begutachtung zur Voraussetzung für eine straffreie Abgabe solcher Mittel. Voraussichtlich in der ersten Juliwoche soll über die Gesetzespläne abgestimmt werden.

Dirk Baas, Corinna Buschow


Frauen

Die USA ein Jahr nach dem Anti-Abtreibungs-Urteil



Das grundsätzliche Gerichtsurteil gegen Schwangerschaftsabbruch vor einem Jahr sollte in den USA einen Schlusspunkt im Abtreibungsstreit setzen. Die von Gegnern erhoffte Zeitenwende ist jedoch nicht eingetreten.

Washington (epd). In den USA gibt es ein Jahr nach dem Grundsatzurteil zum Schwangerschaftsabbruch einen politischen Flickenteppich. Betroffene Frauen müssen sich in einzelnen Bundesstaaten mit unterschiedlichen Gesetzen zum Schwangerschaftsabbruch auseinandersetzen. Abtreibungen sind in den USA stark umstritten.

Am 24. Juni 2022 hob das Oberste Gericht der USA das seit beinahe einem halben Jahrhundert wegweisende Grundsatzurteil „Roe v. Wade“ auf. Demnach hatten Frauen im ganzen Land das Recht, eine Schwangerschaft abzubrechen. Ausschlaggebend für die Aufhebung dieses Urteils waren drei vom früheren US-Präsidenten Donald Trump ernannte Richter. Nun darf jeder Bundesstaat ein Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch beschließen.

Bischöfe dankten Gott für das Urteil

„Wir sind begeistert und überglücklich“, kommentierte damals eine Vertreterin der „Liga für das Recht auf Leben“. Römisch-katholische Bischöfe erklärten, sie dankten Gott. Dagegen empörte sich eine Vertreterin des Familienplanungsverbandes Planned Parenthood, das Urteil raube Frauen das Recht, über ihren Körper zu bestimmen „und gibt Politikern dieses Recht“. Andere Kritikerinnen sprachen von „Zwangsschwangerschaften“.

Seit dem Urteil haben 14 Staaten Abtreibung in fast allen Fällen verboten, darunter Texas, Oklahoma, Missouri und Idaho. Georgia verbietet den Schwangerschaftsabbruch nach der sechsten Woche, Arizona und Florida nach der 15. Woche, Utah nach der 18. und North Carolina nach der 20. In neun Staaten befassen sich laut einer Aufstellung der „New York Times“ Gerichte mit vorgeschlagenen Restriktionen. Im Rest der USA ist Schwangerschaft weitgehend legal, auch in den bevölkerungsreichen Staaten Kalifornien und New York.

Die Bevölkerung ist weitgehend gespalten zur Frage Schwangerschaftsabbruch, mehrheitlich jedoch gegen ein Verbot. Laut einer als verlässlich eingestuften Erhebung des Pew Research Center im März und April 2023 vertreten 62 Prozent der US-Amerikaner die Ansicht, Abtreibung sollte in allen oder den meisten Fällen legal sein. 36 Prozent plädieren für Illegalität in allen oder den meisten Fällen. Die Zahlen hätten sich seit der Aufhebung des „Roe v. Wade“-Urteils kaum verändert. Joe Bidens Demokraten sind für legale Abtreibung, die Republikaner dagegen.

Bestraft werden die Ärzte, nicht die Frauen

Die bisherigen Strafen richten sich gegen Ärzte und Personen, die bei einem Schwangerschaftsabbruch beistehen, nicht gegen die Frauen, die sich zum Abbruch entscheiden. Haftstrafen für Frauen gelten Abtreibungsgegnern offenbar als zu riskant.

Beim Jahrestreffen der protestantischen Kirche „Südlicher Baptistenverband“ im Juni kam allerdings zur Sprache, warum schwangere Frauen nicht bestraft würden, wenn Abtreibung nach Auffassung des Verbandes doch Mord sei. Brent Leatherwood, Abtreibungsgegner und Vorsitzender der Ethikkommission der Kirche, verwies auf die Verwundbarkeit der Frauen gegen die „Abtreibungsmühlen“ und die Pharmaindustrie. Lebensschützer müssten sich als Retter der Babys und Schützer der Mütter positionieren.

Wegen der unterschiedlichen Gesetze in den Staaten fordern Anti-Abtreibungsgruppen ein nationales Gesetz. Dazu bräuchte es einen republikanischen Präsidenten. Sie werde Kandidaten ablehnen, die sich nicht eindeutig zu einem nationalen Abtreibungsverbot nach der 15. Woche bekennen, sagte die Präsidentin der Lobbygruppe „Susan B. Anthony Pro Life America“, Marjorie Dannenfelser. Von diesem Zeitpunkt an fühle das „ungeborene Kind quälende Schmerzen“.

Taktisches Lavieren vor der Präsidentenwahl

Die Vorwahlen beginnen Anfang 2024. In der republikanischen Partei sind die Zustände komplex. Anwärter von Mike Pence und Ron DeSantis bis hin zu Nikki Haley und Donald Trump verstehen sich als Schützer „ungeborenen Lebens“. Sie sind jedoch vorsichtig mit konkreten Gesetzesvorlagen. Eine harte Linie hilft bei den Vorwahlen der Republikaner, könnte aber bei der Hauptwahl schaden.

Ausgerechnet Trump sorgt für Ungewissheit. Auf seiner Plattform Truth Social prahlte er, er habe „Roe v. Wade“ „getötet“. Als „unakzeptabel“ kritisierte Dannenfelser jedoch eine kürzliche Erklärung der Trump-Wahlkampagne, die Bundesstaaten sollten über Abtreibungsgesetze autark entscheiden. Im Fernsehsender CNN im Mai ging Trump der Frage aus dem Weg, ob er ein Verbotsgesetz unterzeichnen würde. „Ich werde verhandeln, so dass die Leute glücklich sind“, entgegnete der Ex-Präsident.

Demokratische Politiker hoffen, das gekippte „Roe v. Wade“-Urteil werde Befürworter und Befürworterinnen mobilisieren. Derweil wartet man auf ein Verfassungsurteil zur Forderung, der Abtreibungspille Mifepriston die Zulassung zu entziehen.

Konrad Ege



sozial-Branche

Pflege

"Mir bleibt keine Wahl, wenn ich den Betrieb aufrechterhalten will"




Pflege in einer Senioreneinrichtung in Essen
epd-bild/Fritz Stark
Pflegefachkräfte sind knapp. Und seit einiger Zeit wandern etliche Fachkräfte aus festen Arbeitsverhältnissen in Zeitarbeitsfirmen ab. Denn dort verdienen sie mehr. Vor allem aber kassieren die Leiharbeitsfirmen ab. Bayern will das nun stoppen.

München (epd). Man merkt Matthias Rechholz die Ausweglosigkeit der Situation an: „Ich habe hier einen Vertrag liegen, den dürfte ich aus wirtschaftlicher Sicht eigentlich nicht unterschreiben - aber mir bleibt keine Wahl, wenn ich den Betrieb aufrechterhalten will“, sagt der geschäftsführende Vorstand der Diakoniewerke Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz und Eckersdorf in Oberfranken. Es geht um Zeitarbeit in der Pflege. Rechholz ist froh über die bayerische Bundesratsinitiative, die Leiharbeit begrenzen will.

Die Situation ist verzwickt. „Wir haben mehrere Heime, in denen wir auf Zeitarbeit zurückgreifen müssen“, sagt Rechholz, der bei der KDSE in Nürnberg angestellt ist, einer Tochterfirma der Diakonie Bayern. Die KDSE bietet Diakoniewerken verschiedene Dienstleistungen an. Dazu zählt auch Interimsmanagement. Sie hat also Matthias Rechholz als fachkundigen Geschäftsführer zur Verfügung gestellt. Zeitarbeit sei etwa dann notwendig, wenn relativ viele Beschäftigte für einen langen Zeitraum krank seien, sagt Rechholz. Denn in solchen Fällen könne man Stellen nicht neu besetzen, schließlich können die Erkrankten jederzeit wiederkommen.

„Leiharbeit ist existenzgefährdend“

Das Problem liegt vor allem in den wirtschaftlichen Folgen. Denn: Die Kosten der Leiharbeit liegen oftmals weit über den üblichen Personalkosten und werden daher von den Kostenträgern wie den Pflegekassen nicht erstattet. Die Leiharbeit könne „Einrichtungen der Altenhilfe mittelfristig in ihrer Existenz gefährden“, sagt die bayerische Diakonie-Vorständin Sandra Schuhmann. Der Gesetzgeber müsse deshalb dafür sorgen, dass die Kostenschere zwischen Stammpersonal und Leiharbeitskräften nicht zu weit auseinandergeht.

Die bayerische Staatsregierung hat deshalb den Bund am 16. Juni mit einer Initiative im Bundesrat dazu aufgefordert, eine Regelung auf den Weg zu bringen, um Stammpersonal und Leiharbeitskräfte künftig gleich zu behandeln. Anders lautende Vereinbarungen sollten für „unzulässig erklärt und Verstöße sanktioniert werden“, findet Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Zeitarbeitsfirmen zahlten häufig besser und machten bei den Arbeitszeiten mehr Zugeständnisse, als es beim Stammpersonal möglich ist. Der Bundesrat verwies den Antrag aus München an die Ausschüsse.

Rechholz bestätigt, dass Leiharbeiter in der Pflege oft besser bezahlt werden. Im vorliegenden Vertrag fordert die Zeitarbeitsfirma einen Stundenlohn von 64,50 Euro netto - mit Umsatzsteuer also mehr als 76 Euro. „Wenn wir einer Fachkraft Tariflohn inklusive der Sozialabgaben und der privaten Zusatzrente zahlen, landen wir bei nicht einmal 30 Euro“, sagt er. Und eben auch nur diese Summe werde von den Kostenträgern refinanziert. „Natürlich verdienen auch die Zeitarbeitskräfte besser als das Stammpersonal“, sagt er. Die eigentlichen Profiteure allerdings seien die Leiharbeitsfirmen.

Schlecht fürs Betriebsklima

Laut Holetschek hat diese Ungleichbehandlung oft negative Auswirkungen aufs Betriebsklima. Auch das sei richtig, sagt Bechholz. Zum einen seien die Stammkräfte natürlich wenig erfreut, dass Zeitarbeiter oft mehr verdienten, eine geringere Wochenarbeitszeit hätten und oftmals nicht nachts und an den Wochenenden arbeiten müssten. „Zum anderen sind sie aber auch ganz generell genervt davon, permanent neue Kräfte für die tägliche Arbeit in ihrer Einrichtung anlernen zu müssen“, erläutert er. „Das kostet viel Zeit und Energie.“

Für die Diakonie Bayern und den Gesundheitsminister könnten sogenannte Springerkonzepte eine Lösung für das Problem sein. Mit Hilfe solcher Springer-Pools können fehlende Kräfte besser ersetzt werden; die Springer sind keiner festen Station oder Einrichtung zugeordnet und können auf verschiedenen Stationen eingesetzt werden. Auch hier müsse aber die Refinanzierung der Springer sichergestellt sein, sagt Diakonie-Vorständin Schuhmann. Diesem Aspekt trage die bayerische Bundesratsinitiative Rechnung, sagt sie.

Daniel Staffen-Quandt


Gesundheit

Krankenhäuser fordern Ende des Kliniksterbens




Beschäftigte des DGD-Krankenhauses in Frankfurt am Main nahmen am Aktionstag "Alarmstufe rot - Krankenhäuser in Not" teil.
epd-bild/Verena Löwen
Mit einem bundesweiten Protesttag und einer zentralen Kundgebung vor dem Berliner Hauptbahnhof haben Krankenhäuser auf ihre teilweise bedrohliche Finanzlage aufmerksam gemacht. Die Aktion trug das Motto "Alarmstufe Rot: Krankenhäuser in Not".

Berlin (epd). Bei einer Kundgebung am 20. Juni in Berlin haben Vertreter des Krankenhaussektors vor einer drohenden Pleitewelle von Kliniken gewarnt. Die Bundesländer und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dürften nicht tatenlos zusehen, hieß es an dem bundesweiten Protesttag. Die Kliniken bräuchten dringend eine milliardenschwere finanzielle Unterstützung vom Staat.

Kliniken verlangen Soforthilfe

„Noch nie standen die Krankenhäuser unter einem so großen wirtschaftlichen Druck. Die Inflation sorgt für massive Kostenerhöhungen, die anstehenden Tarifsteigerungen werden diese Situation weiter verschärfen“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß. Nach DKG-Angaben nahmen rund 700 Menschen an der Demo in Berlin teil. Weil viele Krankenhäuser nicht ihre Preise anpassen könnten, würden die Kliniken bis Jahresende ein Defizit von zehn Milliarden Euro ansammeln. Er forderte ein sofortiges Handeln der Politik, das den Kliniken noch vor der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geplanten großen Krankenhausreform die Existenz sichere.

Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Privatkliniken, Thomas Bublitz, verwies darauf, dass Lauterbachs Reformen erst in einigen Jahren wirksam würden. Zum Ausgleich der bestehenden Unterfinanzierung durch Erlösverluste, die Inflationsbelastung und steigende Gehälter bräuchten die Kliniken deshalb eine Soforthilfe.

Diese Soforthilfe müsse der erste Teil eines Stufenplans für die vorgesehene Krankenhausreform sein, sagte Bublitz. Die Einigung zwischen Bund und Ländern auf die Inhalte der Reform könnte nach Auffassung des BDPK durch den Stufenplan vereinfacht werden. Nach dem Soforthilfeprogramm sollten in der zweiten Stufe die vorliegenden Reformvorschläge auf die bestehenden und erforderlichen Versorgungsangebote in den Regionen ausgerichtet werden.

Minister Lauterbach in der Kritik

„Selbst der Bundesgesundheitsminister spricht davon, dass wir uns am Vorabend eines Krankenhaussterbens befinden“, sagte Christoph Radbruch, Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes (DEKV), in Berlin: Doch Maßnahmen, um dem „Zerbröseln der Kliniklandschaft“ entgegenzutreten, habe der Minister nicht", kritisierte der Verbandschef.

In den vergangenen 10 bis 15 Jahren hätten die diakonischen Krankenhäuser die unzureichenden Fördermittel der Länder dadurch kompensiert, dass sie Investitionen über Kredite finanziert hätten. Die daraus entstandenen Kapitalkosten seien aus Betriebsmitteln bedient worden, betonte Radbruch.

Ver.di für schnellen Insolvenzschutz

„Es braucht einen schnellen Schutz vor Insolvenzen“, forderte auch ver.di-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler: „Es wäre unverantwortlich, Kliniken zu schließen, die für eine flächendeckende, wohnortnahe und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung gebraucht werden.“ Der Bund müsse deshalb zehn Milliarden Euro bereitstellen, schloss sich die Gewerkschafterin der DKG-Forderung an.

Die Geschäftsführerin des Katholischen Krankenhausverbandes Deutschland, Bernadette Rümmelin warnte vor den Folgen von Insolvenzen für die Versorgungssicherheit der Patientinnen und Patienten. „Die Politik muss jetzt ein nachhaltiges Finanzierungspaket für die Kliniken schnüren, um sie aus der wirtschaftlichen Not herauszuholen“, forderte sie.

Dirk Baas


Behinderung

Kinobesuch und Shoppingtour für Menschen mit Handicap




Plakatmotive für das Projekt "Freizeit Hoch 2"
epd-bild/Agentur Zeichen & Wunder
Wer im Rollstuhl sitzt oder sich im Nahverkehr nicht zurechtfindet, hat in der Freizeit schlechte Karten. Damit mehr Menschen mit Behinderung ihren Hobbys nachgehen können, sucht die Stadt München jetzt Freiwillige für Freizeit-Tandems mit Spaß.

München (epd). Nur 200 Meter Luftlinie trennten Corinna Gruner vor neun Jahren vom „Forum Luitpold Pfennigparade“ - und doch lagen Welten zwischen dem Haus der Münchnerin und der Einrichtung für ältere Menschen mit Körperbehinderung. „Ich wollte immer gern in Kontakt treten, aber die Hürde war da: Kann ich da einfach hingehen?“, schildert die 57-Jährige ihr Dilemma. Mittlerweile ist Gruner seit fast zehn Jahren ehrenamtlich in einer der Wohngruppen aktiv. Sie organisiert Spieleabende und begleitet einzelne Bewohnerinnen und Bewohner in den Biergarten oder ins Konzert oder zum Eis-Essen - je nach Wunsch. „Helfen tut doppelt gut“, ist ihr Fazit, „dem anderen, aber mir selbst auch.“

Aktionsplan „München wird inklusiv“

Das sollen künftig noch mehr Menschen erleben. Mit der Kampagne „Freizeit Hoch 2“ will die Freiwilligenagentur „Tatendrang“ im Auftrag der Stadt München mehr Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Freizeit ermöglichen. „Für viele von ihnen ist es schwer, die Freizeit nach ihren individuellen Interessen zu gestalten“, sagt Projektleiterin Sibyl Stangl. Das Personal in Wohneinrichtungen sei knapp, häufig müssten deshalb Gruppenveranstaltungen ausfallen. Mit der Kampagne, die Teil des 2. Aktionsplans „München wird inklusiv“ ist, wolle man neue, besonders auch junge Ehrenamtliche auf die Situation von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen und sie als Freizeitbegleiter gewinnen.

Wie nötig das ist, schildert Stefan Hofer vom Fachdienst des Münchner Förderzentrums Giesing (MFZ), das Wohngruppen für Erwachsene mit einer Körper- oder Mehrfachbehinderung betreibt. „Wer keine Verwandten mehr hat, ist 365 Tage bei uns im MFZ“, sagt der Heilerziehungspfleger. Eine Freiwillige sei bereits über „Tatendrang“ vermittelt worden. „Sie geht jetzt alle zwei Wochen mit einem Bewohner raus ins Restaurant oder zum Eis-Essen - das ist für unsere Leute ein riesiger Zugewinn an Lebensfreude.“

Den Machern der Kampagne ist wichtig, dass alle etwas davon haben. Deshalb sollen die Interessen der Freiwilligen zu denen der behinderten Menschen passen. Sportliche und kulturelle Veranstaltungen seien oft Selbstläufer, sagt Diakon Tom Rausch, Leiter der Offenen Behindertenarbeit (OBA) des evangelischen Dekanats München. „Manche unserer Besucher gehen aber auch gern mal shoppen oder ins Café, andere würden sich gern politisch engagieren oder einen Vortrag hören“, berichtet er. Dafür Begleitung zu finden, sei oft nicht so einfach.

Barrieren in den Köpfen

Dass die Kampagne dazu beiträgt, Barrieren in den Köpfen abzubauen, ist der Wunsch von Oswald Utz, dem Behindertenbeauftragten der Landeshauptstadt München. Bei seinen Besuchen in Schulklassen erlebe er, dass es „ein großes Potenzial“ gerade bei jungen Menschen gebe. „Aber es ist ihnen nicht bekannt oder sie kommen nicht auf die Idee, sich für Menschen mit Behinderung zu engagieren“, sagt er. Um Hemmschwellen abzubauen, sei ein Ansprechpartner nötig, der die Freiwilligen in der ersten Zeit begleite und Fragen beantworte - so, wie es bei „Freizeit hoch2“ vorgesehen sei.

Am Ende, so Utz, gehe es darum, Menschen zusammenzubringen. Arm und Reich, gesellschaftlich aktiv oder außen vor - solche Spaltungen seien auch in München greifbar. „Die Frage ist: Kriegen wir das als Stadtgesellschaft hin, oder driften wir noch weiter auseinander?“, sagt Utz. In die Kampagne „Freizeit hoch2“ setzt er dabei Hoffnung - damit aus 200 Metern Luftlinie keine unüberwindbare Distanz wird.

Susanne Schröder


Psychologie

Interview

Dank Virtueller Realität schneller frei von Ängsten werden




Spinnen machen vielen Menschen Angst.
Die Dauerkrisen Klima, Corona, Krieg lassen Angsterkrankungen steigen. Übungen in der Virtuellen Realität (VR) können helfen, sich davon zu befreien. Die Psychologin Julia Diemer erklärt die Vorteile von VR im Vergleich zu herkömmlichen Therapien.

Wasserburg (epd). Der Einsatz von Methoden der Virtuellen Realität (VR) kann hilfreich sein, um Angsterkrankungen zu therapieren. „Angsterkrankung“ bedeutet, dass übertriebene, unrealistische Ängste das Leben massiv negativ beeinflussen. „In der VR-Simulation wird ein neuer Umgang mit der Angst geübt“, sagt die Psychologin Julia Diemer vom Wasserburger kbo-Inn-Salzach-Klinikum im epd-Interview. Mit ihr sprach Pat Christ.

epd sozial: Frau Diemer, welche Vorteile bringen Übungen in der Virtuellen Realität (VR) bei der Therapie von Angsterkrankungen im Vergleich zu herkömmlichen Therapiemethoden?

Julia Diemer: VR sollte nicht als Alternative, sondern als Ergänzung einer kognitiven Verhaltenstherapie gesehen werden. VR allein ist keine Therapieform. Es handelt sich um eine Computersimulation, die in einer kognitiven Verhaltenstherapie genutzt werden kann. Man kann mit Virtueller Realität Situationen simulieren, vor denen die Patientinnen und Patienten Angst haben. Traditionell wird bei einer kognitiven Verhaltenstherapie in der Realität geübt. Diese Expositionsübungen, wie wir das nennen, sind für den Erfolg bei Angststörungen elementar. Nun sind jedoch viele Situationen aufwendig oder nur schwer herstellbar. Zum Beispiel ein Vortrag vor Publikum oder Flugreisen. Viele Patientinnen und Patienten haben zudem eine große Scheu, in diese Situationen zu gehen. Virtuelle Realität macht Situationen leichter verfügbar und kann Hemmschwellen senken. Dadurch sind mehr Übungen möglich.

epd: Wie lässt sich erklären, dass Virtuelle Realität gerade bei Angsterkrankungen so gut einsetzbar ist? Schließlich weiß der Patient ja, dass das, was ihm gerade virtuell Angst einflößt, gar nicht existiert.

Diemer: Eigentlich ist das gar nicht so überraschend. Wenn Menschen vor etwas Angst haben, scheuen sie oft auch vor Abbildungen oder Videos der Situation zurück. Man denke an die Angst vor Spinnen oder vor Höhe. In diesen Fällen weiß man ja auch, dass es nur ein Bild oder Video ist. Unsere Angst spricht auch auf Dinge an, die dem Original hinreichend ähnlich sind. Virtuelle Realität ist gegenüber Bildern oder Videos noch deutlich immersiver, wie das im Fachjargon heißt. Man taucht, meist mit einem Head-Mounted-Display und Kopfhörern, regelrecht in die Simulation ein und bekommt nur noch wenig von der realen Umwelt mit. Angst lässt sich ziemlich leicht auslösen, wenn die Simulation die wichtigsten Elemente der gefürchteten Situation enthält.

epd: Eignet sich VR für jeden Patienten mit einer Angsterkrankung? Oder gibt es individuelle Parameter, die eher für oder eher gegen den Einsatz Virtueller Realität sprechen?

Diemer: Virtuelle Realität ist für sehr viele, aber nicht für alle Menschen geeignet. Bei manchen Nutzerinnen und Nutzern treten Nebenwirkungen auf, und zwar ähnlich wie bei einer Reisekrankheit. Es kommt zu Übelkeit, Schwindel oder Kopfschmerzen. Man vermutet, dass dies mit einer Irritation des Gleichgewichtssinns durch die Simulation zusammenhängt. Zwar steht oder sitzt man, bewegt sich dabei aber durch die Simulation. Diese „Cybersickness“ tritt bei einer Minderheit auf, ist meist nur schwach ausgeprägt und klingt nach der Simulation schnell wieder ab. Bei wenigen Patientinnen und Patienten ist die Cybersickness so stark, dass man Virtuelle Realität nicht einsetzen kann. Dann gibt es Patientinnen und Patienten, die trotz Immersion einen inneren Abstand zur Simulation halten. Deren Angst spricht darauf also nicht so stark an. Nach meiner Erfahrung kommt allerdings die Mehrheit mit der Technik gut klar und reagiert ausreichend stark emotional.



Frauen

Expertin: Sexuelle Gewalt wird zu oft bagatellisiert



Hannover (epd). Die Sozialpsychologin Petra Klecina vom Frauennotruf in Hannover hat davor gewarnt, sexuelle Gewalt gegen Frauen zu bagatellisieren. Der Umgang mancher Fans mit den Vorwürfen gegen den „Rammstein“-Sänger Till Lindemann sei ein aktuelles Beispiel dafür, dass das Thema in der Gesellschaft noch immer nicht ernst genug genommen werde. „Teilweise haben sich mir die Haare gesträubt“, sagte Klecina dem Evangelischen Pressedienst (epd).

So hätten einige Fans argumentiert, sie seien allein an der Musik interessiert, und die Vorwürfe interessierten sie nicht. Mit solchen Äußerungen werde das Leid möglicher Opfer ausgeblendet. „Bagatellisierung schützt immer die Täter“, mahnte die Sozialpsychologin. „Sexuelle Gewalt wird immer individuell erlebt, aber sie ist ein gesellschaftliches Problem.“

Kultur des Hinsehens nötig

Nötig sei eine Kultur der Achtsamkeit und des Hinsehens, forderte sie. „Die Statistiken belegen, dass die Zahl der Gewalttaten gestiegen sei - und das ist auch unsere Erfahrung.“ Die MeToo-Bewegung habe dazu geführt, dass mehr Betroffene den Mut hätten, sexualisierte Gewalt anzuzeigen, sagte Klecina, die als zertifizierte Prozessbegleiterin Frauen auch vor Gericht unterstützt. Allerdings schlage die Stimmung in der Gesellschaft wieder um. „Die Diskussionen, die die MeToo-Bewegung angeregt hat, sind manchen mittlerweile zu viel.“

Neben Aufmerksamkeit für das Thema sei Prävention wichtig, damit Frauen oder Mädchen bewusst werde, dass sie sexuelle Übergriffe nicht hinzunehmen hätten. Es könne hilfreich sein, den Frauen Schutz zu bieten und sie zum Beispiel mit Selbstverteidigungskursen zu ermächtigen, sich zur Wehr zu setzen, erläuterte sie.

Übergriffe verhindern

Solche Kurse biete der Frauennotruf in Hannover auch an. Aber zuallererst müsse verhindert werden, dass Täter oder auch Täterinnen überhaupt erst übergriffig würden, betont die Expertin.

„Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz“, betonte Klecina. Wenn also den Frauen unterstellt werde, sie hätten sich zum Beispiel mit Pfefferspray oder einem Selbstverteidigungskurs schützen können, sei dies eine Täter-Opfer-Umkehr. Im Fall von Till Lindemann offenbare sich zudem ein fragwürdiges Frauenbild, wenn es heiße, ihm seien „Frauen zugeführt worden“. Ob dies freiwillig oder unfreiwillig geschehen sei, die Aussage sei in jeder Hinsicht fragwürdig.

Dem Sänger der Band „Rammstein“, Till Lindemann, hatten in den vergangenen Wochen mehrere Frauen sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Lindemann hat die Vorwürfe gegen sich zurückgewiesen. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat ein Ermittlungsverfahren gegen den 60-Jährigen eingeleitet.

Karen Miether


Verbände

AWO warnt in Offenem Brief vor "sozialen Kipppunkten"



Berlin (epd). In einem Offenen Brief an die Bundesregierung mahnt die Arbeiterwohlfahrt (AWO) mehr Einsatz gegen Armut und Vereinsamung an. „Ein in der politischen Nabelschau verfangenes Regieren, das den Druck auf große Teile der Bevölkerung nicht sehen will, ist in höchstem Maße demokratiegefährdend“, heißt es in dem am 22. Juni veröffentlichten Schreiben. Der Verband verweist darauf, dass die seit langem unter Druck stehende soziale Infrastruktur die Folgen steigender Armut und Einsamkeit nicht mehr abfedern könne. Es drohten „soziale Kipppunkte“.

Die im Koalitionsvertrag versprochenen Vorhaben für mehr soziale Gerechtigkeit seien nur teilweise oder gar nicht umgesetzt worden, beklagen Kathrin Sonnenholzner und Michael Groß, die Präsidenten der AWO: „Wir müssen es in aller Deutlichkeit sagen: Immer mehr Menschen werden ins Abseits geraten, während die soziale Infrastruktur bereits jetzt so löchrig ist, dass zu viele durchs Netz fallen.“ Sie fordern die Ampel-Koalition auf, „diesen Kurs zu ändern“. Die Bundesregierung dürfe sich nicht länger „ihrer Verantwortung für ein nachhaltiges Gemeinwohl und -wesen entziehen“.

Sparzwänge und Schuldenbremse

Der Verband fordert in seinem Brief unter anderem eine wirkungsvolle Armutsbekämpfung, die Einführung der Kindergrundsicherung, eine Reform der Pflegeversicherung und Entlastungen auf dem Wohnungsmarkt. Statt stoisch auf Sparzwänge und die Schuldenbremse zu verweisen, müsse die Politik sich an der sozialen Wirklichkeit ausrichten.

Der Offene Brief wurde zum Auftakt der Kampagne „Zuhören. Verstehen. Helfen. Für mehr Zusammenhalt - Raus aus Einsamkeit und Armut!“ versandt. Im Rahmen der Initiative besucht die AWO-Führung über die Sommermonate Einrichtungen und Projekte der AWO in ganz Deutschland, um sich über Unterstützungswünsche zu informieren und Forderungen an die Politik zu sammeln. Begleitet werde die Rundreise durch eine Umfrage in den sozialen Anlaufstellen der Arbeiterwohlfahrt. Beim Start am 22. Juni im AWO Familienzentrum Fennpfuhl in Berlin ging es um die Problemlagen von Kindern und Jugendlichen.



Armut

Tafeln nutzen digitale Plattform



Berlin (epd). Die Lebensmittel-Tafeln in Deutschland setzen künftig auf eine Software zur besseren Zusammenarbeit untereinander und mit Unternehmen. Über die digitalen Lieferscheine könnten Tafeln genauere Daten über die Art, Menge und Transportwege der Lebensmittelspenden erheben, teilte der Bundesverband Tafel Deutschland am 16. Juni in Berlin mit.

Der neue digitale Marktplatz „eco-Plattform“ ermögliche außerdem die einfache Weitergabe von Spenden unter Tafeln, besonders bei größeren Warenmengen. Die mehr als 960 Tafeln in Deutschland unterstützen nach eigenen Angaben etwa zwei Millionen armutsbetroffene Menschen.

Die wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase der „eco-Plattform“ erfolgte demnach durch das ZEW-Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Marion Ott, stellvertretende Leiterin des ZEW-Forschungsbereiches Marktdesign, erklärte, dank der Software könnten die Tafeln ihren Beitrag zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung erheblich verstärken. Die Entwicklung der Plattform wurde den Angaben zufolge von 2019 bis 2022 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit 1,5 Millionen Euro gefördert.



Behinderung

Studie: Rund die Hälfte der Arztpraxen sind barrierefrei



Hamburg (epd). Laut einer Analyse der Stiftung Gesundheit haben 48,2 Prozent aller ambulanten Arztpraxen mindestens eine Vorkehrung für Barrierefreiheit. Das sind bundesweit rund 87.000 Praxen, wie die Stiftung am 21. Juni mitteilte. Flächendeckend seien Maßnahmen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, Sehbehinderung, Hörbehinderung oder mit kognitiven Einschränkungen immer noch nicht vorhanden. In den vergangenen Jahren sei „kein Trend spürbar, dass mehr Arztpraxen barrierefrei für jedermann sind“, sagt Alexandra Köhler, Vorsitzende der Fördergemeinschaft. Die Stiftung setzt sich seit 2009 für mehr Barrierefreiheit in Arztpraxen ein.

Aktuell würden am häufigsten Maßnahmen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität umgesetzt (43,9 Prozent), hieß es. Auf Platz eins der getroffenen Vorkehrungen liege der stufenlose Zugang zur Praxis. 20 Prozent der Arztpraxen sind laut Analyse für Menschen mit Hörbehinderung eingerichtet, 8,2 Prozent bieten Vorkehrungen für Menschen mit Sehbehinderung, Menschen mit kognitiven Einschränkungen finden nur in 1,5 Prozent der Praxen entsprechende Hilfen. „Hier ist noch Luft nach oben“, sagt Köhler.

Im regionalen Vergleich gibt es zudem deutliche Unterschiede: Sind in weiten Teilen Schleswig-Holsteins über die Hälfte der Praxen barrierefrei, haben sich in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern nur zwischen 40 und 50 Prozent der Arztpraxen auf Patienten mit Behinderungen eingestellt. Die meisten barrierfreien Praxen (über 60 Prozent) sind in Sachsen (Landkreis Meißen) und Brandenburg (Landkreise Elbe-Elster, Uckermark) zu finden. Schlusslichter dagegen finden sich in Bayern und Rheinland-Pfalz: In 13 bayerischen und sechs rheinland-pfälzischen Landkreisen sind weniger als 35 Prozent der Praxen barrierefrei.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Arbeit von Häftlingen wird in NRW und Bayern zu schlecht bezahlt




JVA in Frankfurt am Main
epd-bild/Heike Lyding
Häftlinge arbeiten in Gefängnissen zum Tagessatz von 13,86 Euro - zu niedrig, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Die geringe Vergütung von Strafgefangenen widerspricht demnach dem Resozialisierungsgebot.

Karlsruhe (epd). Kleinstlöhne für Häftlinge sind verfassungswidrig. Wie das Bundesverfassungsgericht am 20. Juni in Karlsruhe urteilte, müssen Gefangene für ihre in der Justizvollzugsanstalt (JVA) geleistete Arbeit eine „angemessene Anerkennung“ erhalten. Der Gegenwert, den die Gefangenen für ihre geleistete Arbeit erhalten, müsse für sie „unmittelbar erkennbar“ sein.

Verstoß gegen Resozialisierungsgebot

Die Karlsruher Richter erklärten damit die Vergütungsregelungen für Gefangene in Nordrhein-Westfalen und Bayern wegen des Verstoßes gegen das Resozialisierungsgebot für verfassungswidrig. Bis zum 30. Juni 2025 muss der Gesetzgeber nun verfassungsgemäße Regelungen schaffen.

Die über 42.000 Gefangenen in Deutschland erhalten für ihre im Gefängnis - je nach Bundesland - freiwillig oder verpflichtend geleistete Arbeit bei einem Acht-Stunden-Tag einen Tagessatz von 13,86 Euro. Der Stundenlohn kann nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe zwischen derzeit 1,33 Euro bis 2,22 Euro je nach geleisteter Arbeit variieren.

Gesetzlich beläuft sich die Höhe der Gefangenenentlohnung auf neun Prozent des Durchschnittslohns eines Arbeitnehmers. In mehreren Bundesländern sind auch freie Tage Teil der Vergütung.

In den zwei vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen hielten die Kläger die Gefangenenvergütung für viel zu niedrig und sahen darin einen Verstoß gegen das Resozialisierungsgebot. Einer der Kläger arbeitete in einer Druckerei der JVA Straubing, der zweite als Kabelzerleger in der JVA Werl.

Regelungen nicht gerecht

Das Bundesverfassungsgericht gab ihnen recht, ohne jedoch einen konkreten Mindestlohn für Gefangene zu benennen. Diene die Arbeit im Knast der Resozialisierung und soll ihnen damit eine „eigenverantwortliche Lebensführung“ nach der Haftentlassung vermittelt werden, müsse der Gegenwert der Arbeit für sie „unmittelbar erkennbar“ sein.

Die Regelungen in Bayern und NRW würden dem nicht gerecht und seien widersprüchlich. So sähen die Landesregelungen vor, dass die Gefangenen mit ihrer Arbeitsentlohnung sich nicht nur selbst etwas in der JVA kaufen könnten, sie sollten davon auch einen Beitrag zu den Haftkosten sowie Unterhalts- und Wiedergutmachungszahlungen leisten. Auch eine Schuldentilgung solle ihnen mit der Vergütung ermöglicht werden. Die Entlohnung sei aber so niedrig, dass diese Ziele „realitätsfern“ seien, rügte das Bundesverfassungsgericht. Generell sei eine Beteiligung an den Haftkosten aber möglich.

DGB fordert Orientierung am Mindestlohn

Auch fehle es an einer „wissenschaftlich begleiteten Evaluation der Resozialisierungswirkung von Arbeit und deren Vergütung“, hieß es in dem Urteil. Die Entscheidung hat auch Signalwirkung auf alle anderen Bundesländer, die vergleichbare Entlohnungen für die Gefangenenarbeit vorsehen.

Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied, sagte zu dem Urteil: „Damit muss die von Gefängnisinsassen geleistete Arbeit künftig besser vergütet werden und sollte sich aus unserer Sicht künftig am gesetzlichen Mindestlohn orientieren.“

Az.: 2 BvR 166/16 und 2 BvR 1683/17

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Entschädigung nach Durchsuchung eines nackten Gefangenen



Karlsruhe (epd). Gefangene können nach einer rechtswidrigen vollständigen Entkleidung und körperlichen Untersuchung durch Justizbeamte eine Entschädigung verlangen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem am 16. Juni veröffentlichten Beschluss entschieden und dabei auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verwiesen. Damit hat ein in einer bayerischen Justizvollzugsanstalt (JVA) inhaftierter Mann gute Chancen auf eine finanzielle Wiedergutmachung wegen einer erlittenen allgemeinen Persönlichkeitsrechtsverletzung.

Der zu einer lebenslangen Haftstrafe veruteilte Manne hatte im März 2019 Familienbesuch in der Cafeteria des Gefängnisses erhalten. Nach dem Besuch musste er sich für eine körperliche Untersuchung nackt ausziehen. Zwei Vollzugsbeamte inspizierten zunächst die Achselhöhlen, den Mund und die Fußsohlen und auch den Intimbereich. Ein weiterer JVA-Bediensteter in Ausbildung beobachtete die Durchsuchung.

Im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt

Die Beamten beriefen sich auf die bayerischen Vorschriften. Danach war nach einem Besuch eine körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung an jedem sechsten Strafgefangenen vorgesehen. Ausnahme: Es handelte sich um amtliche oder vergleichbare Besuche etwa von Anwälten, Polizei oder Therapeuten.

Das Bundesverfassungsgericht hatte die körperliche Durchsuchung des Mannes mit Beschluss aus dem Jahr 2020 für rechtswidrig angesehen. Der Häftling sei in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt worden.

Eine von dem Mann geforderte Geldentschädigung in Höhe von 500 Euro lehnte der Freistaat Bayern ab. Doch in solch einem Fall besteht Anspruch auf eine Entschädigung, stellte das Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR und die Europäische Menschenrechtskonvention fest. Der EGMR habe in vergleichbaren Fällen wegen mehrerer rechtswidriger körperlicher Durchsuchungen eine Entschädigung von insgesamt 12.000 Euro für angemessen erachtet. Das Landgericht Regensburg sei hier verpflichtet, „die Gewährleistungen der Konvention zu beachten und in die nationale Rechtsordnung einzupassen“. Das Gericht müsse daher den Entschädigungsanspruch daher noch einmal überprüfen.

Az.: 2 BvR 78/22



Bundessozialgericht

Jobcenter kommt für Dachreparatur bei Eigenheim auf



Kassel (epd). Jobcenter dürfen die Kostenübernahme für eine notwendige Dachreparatur eines selbst bewohnten Eigenheims nicht pauschal ablehnen. Kann der Erhalt der Unterkunft bei einem hilfebedürftigen Grundsicherungsbezieher sonst nicht gesichert werden und handelt es sich um angemessene und erforderliche Aufwendungen, spielt eine zu große Wohnfläche keine Rolle, urteilte am 21. Juni das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Im konkreten Fall bewohnte der alleinstehende Kläger 2017 ein Eigenheim mit einer Wohnfläche von 129 Quadratmeter. Das Jobcenter Landkreis Spree-Neiße zahlte ihm von Mai 2017 bis April 2018 Hartz-IV-Leistungen. Als Kosten für eine Dachreparatur in Höhe von 580 Euro fällig wurden, sollte das Jobcenter diese als Unterkunftskosten übernehmen.

Grundbedarf des Wohnens

Das Jobcenter lehnte ab. Der Mann wohne in einer mit 129 Quadratmetern viel zu großen und nicht angemessenen Unterkunft. Damit könnten Instandhaltungen und Reparaturen nicht vom Jobcenter übernommen werden. Ohne Erfolg wies der Kläger beim Jobcenter darauf hin, dass die Behörde den Grundbedarf des Wohnens sicherstellen müsse.

Das BSG verwies das Verfahren an das Landessozialgericht Potsdam zurück, da nicht festgestellt wurde, ob der Kläger hilfebedürftig sei und das Haus verkaufen konnte. Bei Hilfebedürftigkeit könnten Reparatur- und Instandhaltungskosten des Eigenheims vom Jobcenter übernommen werden. Voraussetzung sei, dass das Wohneigentum angemessen sei und mit der Reparatur lediglich der Erhalt der Immobilie gesichert werde und keine Wertsteigerung erreicht werde. Bei der Prüfung der Angemessenheit komme es nicht allein auf die Wohnfläche an.

Mit dem seit 2023 geltenden Bürgergeld wurde der Schutz für das selbstgenutzte Eigentum erweitert. Danach kann von einem Grundsicherungsempfänger nicht verlangt werden, dass er sein Haus mit einer Wohnfläche bis 140 Quadratmeter verkauft. Bei einer Eigentumswohnung liegt die Grenze bei 130 Quadratmeter.

Az.: B 7 AS 14/22 R



Bundessozialgericht

Bescheid über Grad der Behinderung gilt "ab Bekanntgabe"



Kassel (epd). Bescheide von Sozialbehörden müssen nicht zwingend ein konkretes Datum für den Beginn ihrer Wirksamkeit nennen. So reicht es etwa in einem Bescheid über eine Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) aus, dass diese „ab Bekanntgabe“ greift, urteilte am 15. Juni das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel.

Im konkreten Fall wurde bei dem aus dem Land Brandenburg stammenden Kläger nach einer Krebserkrankung ein GdB von 80 festgestellt. Ab einem GdB von 50 besteht eine Schwerbehinderung, so dass Betroffene zahlreiche Vorteile wie etwa steuerliche Freibeträge geltend machen können. Bei Krebserkrankungen wird meist nach fünf Jahren geprüft, ob weiter eine Schwerbehinderung vorliegt. Hier hatte das zuständige Versorgungsamt den GdB des Klägers schließlich auf 20 verringert. Dies sollte „ab Bekanntgabe dieses Bescheides“ gelten.

Bescheid aus formalen Gründen rechtswidrig

Das Landessozialgericht (LSG) Potsdam hielt den Bescheid aus formalen Gründen für rechtswidrig. Die Wirksamkeit „ab Bekanntgabe“ sei viel zu unbestimmt. Es sei nicht klar, ab welchem Zeitpunkt genau der geringere GdB gelten solle.

Doch das BSG hatte gegen diese Formulierung keine Bedenken, zumal dies auch so ähnlich im Gesetz stehe. Die Bekanntgabe des Bescheides erfolge ab dem Zeitpunkt, ab dem der Empfänger diesen unter normalen Verhältnissen erhalten könne. Dies sei drei Tage nach Versand des Schriftstücks. Lasse sich der Zeitpunkt des Versandes nicht feststellen, müsse dies ein Gericht klären.

Den Rechtsstreit verwies das BSG dennoch an die Vorinstanz zurück. Diese müsse noch Feststellungen über den Gesundheitszustand des Klägers treffen und den möglichen GdB bestimmen.

Az.: B 9 SB 3/22 R



Bundesarbeitsgericht

Betriebsrente muss nicht gesamte Firmenzugehörigkeit berücksichtigen



Erfurt (epd). Arbeitgeber dürfen die Höhe der betrieblichen Altersversorgung vom Einkommen der vergangenen zehn Jahre vor dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis abhängig machen. Wechselt eine zuvor noch in Vollzeit beschäftigte Arbeitnehmerin in Teilzeit, so fällt die Betriebsrente geringer aus, urteilte am 20. Juni das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt.

Die aus Bayern stammende Klägerin war seit August 1984 in Vollzeit und ab Mai 2005 in Teilzeit tätig. Wegen einer Betriebsschließung endete das Arbeitsverhältnis schließlich zum 30. September 2020 mit einem Aufhebungsvertrag.

Vorwurf der Diskriminierung

Der Arbeitgeber hatte seinen Beschäftigten eine betriebliche Altersversorgung gewährt. In den Versorgungsrichtlinien wurde unter anderem festgelegt, dass die Höhe der Betriebsrente sich am Einkommen der zurückliegenden zehn Jahre vor Ausscheiden aus dem Job orientiert.

Die Klägerin sah darin eine Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten. Ihr stehe eine Betriebsrente von monatlich nur 99,77 Euro zu. Würde jedoch auch ihre Vollzeitarbeit seit Beginn ihrer Beschäftigung, also über den Zehnjahreszeitraum hinaus, angerechnet, müssten ihr monatlich 155,19 Euro als Rente zustehen, trug die Klägerin vor. Einen sachlichen Grund, warum die vor über zehn Jahren ausgeübte Vollzeittätigkeit nicht angerechnet werde, gebe es nicht. Sie werde nun so gestellt, als ob sie schon immer in Teilzeit gearbeitet habe.

Doch die Klage hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Das Gericht verneinte eine unzulässige Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten. Denn wechsele ein Teilzeitbeschäftigter vor Beginn des Zehnjahreszeitraums in Vollzeit, könne er auch von einer höheren Betriebsrente profitieren.

Az.: 3 AZR 221/22



Bundesverwaltungsgericht

Klage von Asylbewerbern zu Privatsphäre abgelehnt



Leipzig (epd). Polizisten dürfen unter bestimmten Voraussetzungen spontan Zimmer von Flüchtlingen in Erstaufnahmeeinrichtungen betreten. Das geht aus einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes in Leipzig vom 15. Juni hervor. Gegenstand der Verhandlung waren zwei Klagen gegen Zutritts- und Zimmerkontrollen in Erstaufnahmeeinrichtungen in Baden-Württemberg.

In einem Fall hatten Polizeibeamte ein Zimmer betreten, weil der Geflüchtete abgeschoben werden sollte. Ein weiteres Revisionsverfahren zur Privatsphäre von Bewohnern in Flüchtlingsunterkünften wurde vom Gericht abgewiesen.

Kein Durchsuchungsbeschluss erforderlich

„Das bloße Betreten eines Zimmers einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge durch den Polizeivollzugsdienst zum Zweck der Überstellung eines ausreisepflichtigen Ausländers ist keine Durchsuchung“, hieß es zur Begründung. Das nächtliche Betreten sei rechtens gewesen, hieß es. Die Maßnahme habe keiner vorherigen richterlichen Anordnung bedurft. Es galt laut Gericht, „den vollziehbar ausreisepflichtigen Kläger noch am selben Tag nach Italien zu überstellen“.

Geklagt hatten sechs Asylbewerber aus Ghana und dem Senegal gegen Kontrollen in der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Freiburg sowie ein Asylbewerber aus Kamerun gegen das Betreten seines Zimmers in einer Einrichtung in Ellwangen.

Az.: BVerwG 1 CN 1.22



Verwaltungsgericht

Mindestabstand zwischen Wettbüros und Schulen rechtmäßig



Düsseldorf (epd). Der für Wettbüros festgelegte Mindestabstand von 350 Meter zu öffentlichen Schulen und Jugendhilfe-Einrichtungen ist legitim. Es sei richtig, dass die Bezirksregierung Düsseldorf den Antrag einer Wettveranstalterin und einer Wettvermittlerin auf Erteilung einer Betriebserlaubnis mit Verweis auf diesen Mindestabstandsgebot abgewiesen habe, entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf laut einer Mitteilung vom 20. Juni.

Das Mindestabstandsgebot verfolge „das überragend wichtige Gemeinwohlziel“, Minderjährige vor den Gefahren der Glücksspielsucht zu schützen und einen Gewöhnungseffekt bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern, erklärte das Gericht. Angesichts dieses legitimen Zwecks sei der durch das Abstandsgebot verursachte Eingriff in die Rechte von Wettveranstaltern und Wettvermittlern gerechtfertigt.

Az.: 3 K 3201/21 und 3 K 3202/21




sozial-Köpfe

Altenhilfe

Barbara Dietrich-Schleicher neue Vorstandsvorsitzende des VKAD




Barbara Dietrich-Schleicher
epd-bild/VKAD
Die Mitgliederversammlung des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) hat einen neuen Vorstand gewählt. An dessen Spitze steht nun Barbara Dietrich-Schleicher aus der Diözese Freiburg.

Berlin (epd). Barbara Dietrich-Schleicher ist bei den turnusgemäßen Wahlen an die Spitze des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) gewählt worden. Die Referentin für Sozialstationen im Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg übernimmt das Amt der scheidenden Vorsitzenden Eva-Maria Güthoff, die sich nach acht Jahren im Vorstand nicht mehr zur Wahl stellte.

Die Mitgliederversammlung wählte insgesamt neun Vorstandsmitglieder. Den stellvertretenden Vorsitz hat jetzt Tobias Berghoff, Vorstand des Caritasverbandes Dortmund, inne. „Im Fachverband können wir wichtige Themen rund um die Altenpflege stark vertreten. Das ist wichtig, um gute Pflege in Deutschland weiterhin ermöglichen zu können“, sagte Berghoff nach seiner Wahl.

„Ich danke den Mitgliedern und den Vorstandskolleginnen und -kollegen für ihr Vertrauen und freue mich darauf, die Anliegen der katholischen Langzeitpflege im VKAD gemeinsam voranzubringen“, sagte Dietrich-Schleicher nach ihrer Wahl. „Die Träger von Einrichtungen, Diensten und Schulen für Pflegeberufe sind die Gestalter einer zukunftsfähigen Langzeitpflege.“ Im Vorstand wolle sie deren Expertise aus der Praxis in die politische Interessenvertretung einbringen.

Der Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland ist der Fachverband für die Altenhilfe innerhalb des Deutschen Caritasverbands mit Sitz in Freiburg und einer weiteren Geschäftsstelle in Berlin. Als bundesweit tätiger Fachverband für Altenhilfe und ambulante Pflege vertritt er nach eigenen Angaben rund 550 Träger katholischer Altenhilfe mit knapp 1.200 Einrichtungen und Diensten.



Weitere Personalien



Jürgen Armbruster geht Ende Juni in den Ruhestand. Der Sozialpädagoge war seit 2007 Vorstandsmitglied der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (eva) und seit 2006 Geschäftsführer des Rudolf-Sophien-Stifts (RSS), das die eva zuvor von der Heidehof-Stiftung übernommen hatte. Bis 2022 war der Professor stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe. Daneben ist er Redaktionsleiter der Fachzeitschrift „Die Kerbe - Forum für Sozialpsychiatrie“. Armbrusters Nachfolgerin als Vorstandsmitglied der eva wird ab Juli Sabine Henniger. Neue Geschäftsführerin des Rudolf-Sophien-Stifts wird ab dem gleichen Zeitpunkt Manuela Mayer. Die rund 450 Mitarbeitenden des RSS unterstützen im Großraum Stuttgart und im Landkreis Heidenheim Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Frank Hoffmann, Judith Grümmer und Titus Bahner haben den „Zugabe-Preis“ der Hamburger Körber-Stiftung erhalten. Die Ehrungen sind mit je 60.000 Euro dotiert. Die Auszeichnung gehe an starke Gründerpersönlichkeiten, sagte Jury-Mitglied Barbara Wackernagel-Jacobs. Für die Gründung des gemeinnützigen Sozial- und Inklusionsunternehmens „discovering hands“ ist der Gynäkologe Frank Hoffmann ausgezeichnet worden. Blinde und stark sehbeeinträchtigte Frauen werden hier zu „Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen“ ausgebildet. Judith Grümmer (64) erhielt den Preis für ihre gemeinnützige Organisation „Familienhörbuch gGmbH“, mit der sie es Palliativpatientinnen und -patienten ermöglicht, ihre persönlichen Lebensgeschichten kostenfrei und professionell als Audiobiografien für ihre minderjährigen Kinder aufzunehmen. Bahner (62) hat das Start-up „Kulturland-Genossenschaft“ gegründet, um die nachhaltige Landwirtschaft vor Spekulation mit Grund und Boden zu schützen.

Thomas Brahm bleibt Vorsitzender des PKV-Verbands. Die Gremien des Verbandes der Privaten Krankenversicherung wählten turnusgemäß Hauptausschuss und Vorstand und Brahm als Vorsitzenden bestätigt. Damit wird der Vorstandsvorsitzende der Debeka Versicherungsgruppe aus Koblenz dem PKV-Verband für die nächsten drei Jahre vorstehen. Die Wahl erfolgte einstimmig. Brahm hatte bereits im Januar das Amt von seinem Vorgänger Ralf Kantak übernommen, da dieser in den Ruhestand gegangen ist.

Susanne Hüttmann-Stoll (64) hat ihren Dienst am Bundessozialgericht (BSG) Mitte Juni beendet. Hüttmann-Stoll war ab November 2004 Richterin am BSG. Zunächst dem für das Beitragsrecht zuständigen 12. Senat zugeordnet, gehörte sie ab Januar 2013 dem für das Unfallversicherungsrecht zuständigen 2. Senat des Bundessozialgerichts an, mehrere Jahre auch als dessen stellvertretende Vorsitzende. Über ihre richterliche Tätigkeit hinaus war und ist Hüttmann-Stoll vielfältig engagiert. Sie war bis 2023 ordentliches Mitglied des Bundespersonalausschusses und von März 2008 bis Februar 2020 stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte des BSG. Sie setzte sich außerdem im Deutschen Juristinnenbund (djb) für die Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter ein.

Tobias Brockmann (42) tritt am 1. August die Nachfolge von Ottmar Köck als Kaufmännischer Direktor für die LWL-Gesundheitseinrichtungen im Regionalen Netz Kreis Soest an. Köck geht in den Ruhestand. Der LWL-Krankenhaus- und Gesundheitsausschuss hat sich einstimmig für Brockmann entschieden. Brockmann verfügt über langjährige Führungserfahrung im Klinikmanagement. Brockmann studierte an der Universität Köln Gesundheitsökonomie und arbeitete anschließend bei bundesweit tätigen Klinikunternehmen, darunter viele Jahre bei den Paracelsus-Kliniken als Geschäftsbereichsleiter und Prokurist sowie schließlich als Geschäftsführer.

Christian Weißenberger übernimmt die Leitung des Inklusionsamtes Bayern. Das Amt ist Teil der Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS). Seine Aufgabe ist es, schwerbehinderte Menschen und Arbeitgeber zu unterstützen. Die Ausgaben des Inklusionsamtes zur Förderung der beruflichen Inklusion beliefen sich im Jahr 2022 auf mehr als 71 Millionen Euro. Der neue Leiter des ZBFS-Inklusionsamtes und Jurist war zuletzt als stellvertretender Leiter der Kontrollbehörde für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen in Kulmbach für den Verbraucher- und Tierschutz in Bayern mitverantwortlich.

Lisa Simon ist neue Vorstandsvorsitzende der Förderstiftung der Heilpädogischen Hilfe Osnabrück (HHO). Sie ist bereits seit acht Jahren Vorstandsmitglied und hat sich in dieser Zeit für die Rechte von Menschen mit Behinderung eingesetzt. Die Kommunikationsexpertin und Coachin war zuvor unter anderem Pressesprecherin des Zoos in Osnabrück. Die Heilpädagogische Hilfe ist die größte Einrichtung der Behindertenhilfe in der Region. An rund 80 Standorten betreuen 1.700 Mitarbeitende 4.000 Menschen mit Behinderung. Die Organisation ist Mitglied der Lebenshilfe und der Diakonie in Niedersachsen angeschlossen.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis August



Juli

5.7.:

Online-Schulung „Kompetent online beraten per Video“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

6.7.:

Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Kinder- und Jugendhilfe“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

11.7.:

Webinar „Wie berichte ich nachhaltig?“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0761/79186-35

August

15.8. Köln:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Eingliederungshilfe“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-519

24.8.:

Online-Kurs „Kita-Recht für Leitungskräfte“

der Paritätischen Akademie Hamburg

Tel.: 040/415201-66

28.-31.8. Berlin:

Fortbildung „Bundesrahmenhandbuch Schutzkonzepte vor sexualisierter Gewalt“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

30.8. Berlin:

Seminar „Grundlagen des Arbeitsrechtes in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - Gestaltungsspielräume nutzen“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/98817-159

31.8. Berlin:

Seminar „Einfach empfehlenswert! MitarbeiterInnen als MarkenbotschafterInnen“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel. 030/275828221

31.8. Berlin:

Seminar „Datenschutz in sozialen Einrichtungen“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0251/48261-173

31.8. Berlin:

Seminar „Betriebsverfassungsrecht aus Arbeitgebersicht“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/98817159