München (epd). Nur 200 Meter Luftlinie trennten Corinna Gruner vor neun Jahren vom „Forum Luitpold Pfennigparade“ - und doch lagen Welten zwischen dem Haus der Münchnerin und der Einrichtung für ältere Menschen mit Körperbehinderung. „Ich wollte immer gern in Kontakt treten, aber die Hürde war da: Kann ich da einfach hingehen?“, schildert die 57-Jährige ihr Dilemma. Mittlerweile ist Gruner seit fast zehn Jahren ehrenamtlich in einer der Wohngruppen aktiv. Sie organisiert Spieleabende und begleitet einzelne Bewohnerinnen und Bewohner in den Biergarten oder ins Konzert oder zum Eis-Essen - je nach Wunsch. „Helfen tut doppelt gut“, ist ihr Fazit, „dem anderen, aber mir selbst auch.“
Das sollen künftig noch mehr Menschen erleben. Mit der Kampagne „Freizeit Hoch 2“ will die Freiwilligenagentur „Tatendrang“ im Auftrag der Stadt München mehr Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Freizeit ermöglichen. „Für viele von ihnen ist es schwer, die Freizeit nach ihren individuellen Interessen zu gestalten“, sagt Projektleiterin Sibyl Stangl. Das Personal in Wohneinrichtungen sei knapp, häufig müssten deshalb Gruppenveranstaltungen ausfallen. Mit der Kampagne, die Teil des 2. Aktionsplans „München wird inklusiv“ ist, wolle man neue, besonders auch junge Ehrenamtliche auf die Situation von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen und sie als Freizeitbegleiter gewinnen.
Wie nötig das ist, schildert Stefan Hofer vom Fachdienst des Münchner Förderzentrums Giesing (MFZ), das Wohngruppen für Erwachsene mit einer Körper- oder Mehrfachbehinderung betreibt. „Wer keine Verwandten mehr hat, ist 365 Tage bei uns im MFZ“, sagt der Heilerziehungspfleger. Eine Freiwillige sei bereits über „Tatendrang“ vermittelt worden. „Sie geht jetzt alle zwei Wochen mit einem Bewohner raus ins Restaurant oder zum Eis-Essen - das ist für unsere Leute ein riesiger Zugewinn an Lebensfreude.“
Den Machern der Kampagne ist wichtig, dass alle etwas davon haben. Deshalb sollen die Interessen der Freiwilligen zu denen der behinderten Menschen passen. Sportliche und kulturelle Veranstaltungen seien oft Selbstläufer, sagt Diakon Tom Rausch, Leiter der Offenen Behindertenarbeit (OBA) des evangelischen Dekanats München. „Manche unserer Besucher gehen aber auch gern mal shoppen oder ins Café, andere würden sich gern politisch engagieren oder einen Vortrag hören“, berichtet er. Dafür Begleitung zu finden, sei oft nicht so einfach.
Dass die Kampagne dazu beiträgt, Barrieren in den Köpfen abzubauen, ist der Wunsch von Oswald Utz, dem Behindertenbeauftragten der Landeshauptstadt München. Bei seinen Besuchen in Schulklassen erlebe er, dass es „ein großes Potenzial“ gerade bei jungen Menschen gebe. „Aber es ist ihnen nicht bekannt oder sie kommen nicht auf die Idee, sich für Menschen mit Behinderung zu engagieren“, sagt er. Um Hemmschwellen abzubauen, sei ein Ansprechpartner nötig, der die Freiwilligen in der ersten Zeit begleite und Fragen beantworte - so, wie es bei „Freizeit hoch2“ vorgesehen sei.
Am Ende, so Utz, gehe es darum, Menschen zusammenzubringen. Arm und Reich, gesellschaftlich aktiv oder außen vor - solche Spaltungen seien auch in München greifbar. „Die Frage ist: Kriegen wir das als Stadtgesellschaft hin, oder driften wir noch weiter auseinander?“, sagt Utz. In die Kampagne „Freizeit hoch2“ setzt er dabei Hoffnung - damit aus 200 Metern Luftlinie keine unüberwindbare Distanz wird.