Berlin, Leipzig (epd). Schon allein die vielen Herzen auf dem Grab zwischen den Bäumen auf dem Berliner Waldfriedhof sind außergewöhnlich. „Vielleicht 40, und es werden ständig mehr“, zählt Tanja Albroscheit. „Wir vermissen Dich“ hat sie auf eine herzförmige Schiefertafel mit dem Porträt ihres Sohnes Marco gravieren lassen. „Er war ja auch ein außergewöhnlicher Mensch“, sagt sie. Marco Albroscheit ist Ende Mai 2022 im Alter von 23 Jahren gestorben, nach langem Medikamentenmissbrauch. Es war ein Tod auf Raten.
So oft es geht, besucht Tanja Albroscheit das Grab ihres Sohnes. „Marco war ein Familienmensch mit großem Herzen, so hilfsbereit“, erinnert sie sich an seine Kindheit und Jugend. Doch irgendwann geriet Marco in den Strudel der Sucht, nahm erst Cannabis, dann Medikamente. Marco schluckte Schmerzmittel, aber vor allem Benzodiazepine, rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel mit einem enorm hohen Suchtfaktor. Das veränderte alles.
Davor gab es eine gute Zeit, trotz einer Aufmerksamkeitsstörung und einem Typ-1-Diabetes, der bei Marco im Alter von 13 Jahren diagnostiziert wurde. „Das hat mir die Füße richtig weggezogen“, erinnert sich seine Mutter. „Aber er hat das alles gut gepackt, hat prima auf sich und seinen Körper geachtet.“
Dann, so etwa mit 15 Jahren, gab es einen Bruch, wie seine Mutter erzählt. Marco war auf einmal viel unterwegs, ging öfter nicht zur Schule. „Falsche Freunde“, meint Tanja Albroscheit. Er fing an zu kiffen, wurde aggressiver, unzuverlässiger. Es gab Konflikte, Marco wohnte mal bei seinem Vater, dann bei seiner Oma, auch in einer Jugendhilfe-Einrichtung, in der er die Wände zertrümmerte. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter ab, es gab zunehmend Stress mit der Polizei. Dann nahm Marco statt Cannabis Medikamente, die er mal ganz regulär bekam, mal auf dem Schwarzmarkt besorgte, mal mit Arzt-Hopping, mal mit gefälschten Rezepten.
Es ging oft um „Benzos“, wie Jugendliche sagen, auch um andere Wirkstoffe wie das Schmerzmittel Tramadol. Das Schlimmste war wohl Ketamin, ein Narkosemittel, das als Partydroge gehandelt wird. Marco fiel, robbte über den Boden, guckte durch seine Mutter durch, als wäre sie gar nicht da, entwickelte Psychosen, so erzählt sie es mit Tränen in den Augen: „Er war wie ein Gespenst, ganz furchtbar.“
Medikamentensucht, wie sie ihren Sohn erfasst hat, beobachten Experten bei Jugendlichen gerade öfter. Matthias Rost von der diakonischen Jugenddrogenberatung „K(L)ICK“ in Leipzig spricht von einer Welle, auch getriggert von Rappern, die in ihren Lied-Texten Benzos verherrlichen. „Viele Konsumenten sagen, sie spüren beim Gebrauch von Benzos eine Sorglosigkeit. Alle Unsicherheiten sind weg, man ist mit sich für den Moment komplett im Reinen, einfach in Watte gepackt.“
„Nur Benzos nehmen, das gibt es kaum, da werden verschiedene Drogen austariert, um Emotionen zu verstärken oder loszuwerden, Upper und Downer“, erläutert Rost. Der Entzug sei besonders heftig. Um vorzubeugen, rät er, mögliche Ursachen einer Sucht in den Blick zu nehmen, etwa über eine Psychotherapie. Bei der Prävention müsse früh angesetzt werden, Erziehung sei zentral. „Da geht es um Begleitung, darum, den Umgang mit Emotionen, mit mir selber und meinen speziellen Problemen zu lernen, um Konfliktfähigkeit. Das ist viel Arbeit von Schulen und vor allem von Eltern.“
Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen liegt bundesweit bei etwa 2,9 Millionen Personen ein problematischer Konsum mit Sucht oder Suchtgefahr vor, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Bei Marco war vielleicht auch der Umzug in eine eigene Wohnung ein Faktor. „Marco war ein introvertierter und zurückhaltender Typ, in seiner Wohnung hat er sich scheinbar einsam gefühlt“, blickt sein langjähriger Freund Dominique Brunet zurück.
Ob das der entscheidende Grund war für den Absturz in die Sucht, die immer heftiger wurde? Tanja Albroscheit weiß es nicht. Zuletzt hatten ihr Sohn und sie wieder zueinander gefunden. „Das hatte mich sehr glücklich gemacht“, sagt sie. Sie habe selbst so viel unternommen, Familientherapie angestoßen, Hilfen angeboten, jahrelang: „Ich hab' alles versucht“, sagt sie. Und trotzdem plagen sie heute Schuldgefühle. Am Ende starb Marco an einer Überdosierung Tramadol.
Entlastend ist da das Bremer Online-Portal „Trosthelden“, auf dem sie Menschen mit ähnlicher Trauererfahrung trifft und eine gute Trauerfreundin gefunden hat. Mittlerweile haben sich die beiden Mütter getroffen. „Bei uns sind die Tränen gelaufen“, berichtet Tanja Albroscheit.
Sie will aber mehr. Sie kämpft dafür, dass Benzodiazepine nicht mehr so einfach erhältlich sind, verlangt, dass es die Wirkstoffe künftig nur noch über Betäubungsmittelrezepte gibt, die besser abgesichert sind. „Das muss sich ändern, das ist so unglaublich wichtig.“ Außerdem will sie aufklären, denkt an Besuche in Schulen und Jugendgruppen. „Ich hoffe nur, dass ich damit jemanden retten kann“, sagt sie. Ihre Botschaft an die Jugendlichen lautet: „Lasst die Finger davon. Ihr könnt überhaupt nicht einschätzen, was das Zeug mit euch macht.“