Leipzig (epd). Sie sind offenbar gerade „in“. Experten wie Matthias Rost von der diakonischen Leipziger Jugenddrogenberatung „K(L)ICK“ registrieren jedenfalls steigende Zahlen: Immer mehr junge Leute schlucken Benzodiazepine, rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schlafmittel. Im epd-Interview erklärt der Suchttherapeut mögliche Gründe, warnt vor den massiven Folgen des Missbrauchs und schildert Ansätze zur Prävention. Mit ihm sprach Dieter Sell.
epd sozial: Herr Rost, Medikamente wie Benzodiazepine sind keine klassischen Drogen wie Cannabis oder Heroin. Warum nehmen Jugendliche „Benzos“, wie die Substanzen ja oft verkürzend genannt werden?
Matthias Rost: Das ist kein neues Phänomen, wir haben momentan eine Welle: Wenn die Welt wie gerade jetzt unsicherer wird, werden mehr Drogen genommen, die beruhigen, die runterbringen, die Angst lösen, so wie Benzodiazepine. In Phasen, in denen es gut läuft, sind es eher Leistungsdrogen. Viele Konsumenten sagen, sie spüren beim Gebrauch von Benzos eine Sorglosigkeit. Alle Unsicherheiten sind weg, man ist mit sich für den Moment komplett im Reinen, einfach in Watte gepackt. Wobei Benzos oft mit anderen Substanzen kombiniert werden.
epd: Können Sie das näher erläutern, was bedeutet dieser Mischkonsum?
Rost: Das ist immer abhängig vom Kontext, wo ich konsumiere, wie ich konsumiere. Experimentiert wird viel, auch mit Pilzen, mit Halluzinogenen. Was oft gemeinsam genommen wird, sind Medikamente und Alkohol. Wobei das eine sehr fatale Kombination ist, weil Alkohol die Wirkung der Benzos verstärkt. Genauso ist es mit Cannabis. Wenn ich dann irgendwann wieder hochkommen und in den Leistungsmodus will, um beispielsweise arbeiten zu gehen, könnten Aufputscher wie Speed oder Crystal Meth, manchmal auch Kokain, eine Rolle spielen. Nur Benzos nehmen, das gibt es kaum, da werden verschiedene Drogen austariert, um Emotionen zu verstärken oder loszuwerden, Upper und Downer - was bei einem Entzug ein zusätzliches Problem ist.
epd: Hat diese Form des Medikamentenmissbrauchs zugenommen?
Rost: Die Zahlen sind steigend, ja. Es ist aber kein Vergleich zu Alkohol, Tabak oder Cannabis. Wir haben jährlich etwa 1.000 Todesfälle aufgrund illegaler Drogen. Aber jährlich sterben mehr als 127.000 Menschen allein an den Folgen des Tabakkonsums - allerdings spricht darüber keiner. Wobei Drogenkonsum ganz allgemein ja keine logische Entscheidung ist: Es geht um Emotionen, um Jugendszene, darum, ob irgendetwas in ist. Bei Prävention und Aufklärung spielen dagegen oft Fakten und Logik eine Rolle - und wenig die eigentliche Konsum-Motivation. Die Fakten sind wichtig, klar. Aber die ändern nicht zwingend das Verhalten.
epd: Wie groß ist denn die Suchtgefahr bei Benzodiazepinen?
Rost: Das ist eine sehr wichtige Arzneimittelgruppe, wenn sie mit einer Diagnose ärztlich verschrieben und kontrolliert eingesetzt wird. Wenn die Substanzen unkontrolliert genommen werden, steigt das Risiko einer Abhängigkeit - und diese Gefahr ist nicht zu verachten. Der Entzug ist mindestens unangenehm. Teilweise beschreiben Konsumenten ihn schlimmer als bei vielen anderen Substanzen. Und er birgt große Gefahren, das sollte möglichst in der Klinik geschehen. Das Kreislaufsystem wird massiv belastet, wenn die Substanz wegfällt. Die ganze Hirnchemie wird ja von Benzos beeinflusst. Wenn ich da beim Entzug plötzlich die Bremse bei der Emotionssteuerung löse, können Psychosen und überschießende Emotionen auftreten.
epd: Wie kommen Jugendliche denn an diese Medikamente, die ja verschreibungspflichtig sind?
Rost: Das Rankommen ist in der Drogenszene noch nie ein Problem gewesen. Zum einen gibt es natürlich einen Schwarzmarkt, auf dem man die Pillen relativ easy bekommt. Dann gibt es gefälschte Rezepte. Und Online-Apotheken im europäischen Ausland, die teilweise gar nicht wissen, wie ein deutsches Rezept aussieht und die wenig kontrollieren. Verbote und strengere Regulierungen über Betäubungsmittel-Rezepte können den Markt eindämmen. Aber das kann nicht der einzige Lösungsweg sein. Das wird nicht funktionieren.
epd: Spielt bei der Benzo-Welle Musik eine Rolle, speziell Rap?
Rost: Absolut, das hat Einfluss. Rap-Songs, in denen der Medikamentenmissbrauch verherrlicht wird, bagatellisieren und führen zu einer gewissen Salonfähigkeit des Missbrauchs. Das kann ein Baustein sein, wenn ich in Gedanken die Texte mitsinge und irgendwann in einer Situation denke, in der es schwierig wird: Mensch, das klang doch eigentlich ganz spannend.
epd: Versuchen Jugendliche mit den Wirkstoffen auch eigene psychische Probleme zu bekämpfen, beispielsweise, um arbeitsfähig zu sein?
Rost: Das ist auf jeden Fall ein Thema. Diese Selbstmedikamentation erleben wir relativ häufig. Viele Jugendliche streben nach schnellen und einfachen Lösungen, bei Aufmerksamkeitsstörungen, Borderline oder Depressionen. Die erfolgversprechende Psychotherapie ist dagegen viel Arbeit. Aber da sind auch Eltern, Therapeuten und Ärzte in der Verantwortung, die Jugendlichen zu begleiten und ihnen ein realistisches Bild ihrer Erkrankung zu geben und vielleicht den längeren und schwereren Weg zu gehen, möglichst ohne Medikamente.
epd: Wie sehen aus Ihrer Sicht denn erfolgversprechende Lösungsansätze im Kampf gegen den Medikamentenmissbrauch aus?
Rost: Wichtig wäre, das Angebot von Psychotherapien für Jugendliche auszubauen. Das ist eine große Mangelware, mit teils jahrelangen Wartezeiten. Und was die Prävention angeht: Da geht es um Begleitung, darum, den Umgang mit Emotionen, mit mir selber und meinen speziellen Problemen zu lernen, um Konfliktfähigkeit. Da ist Balance gefragt zwischen Freiheiten lassen und Grenzen setzen. Das ist viel Arbeit von Schulen und vor allem von Eltern. Deshalb müssen wir immer stärker die Erziehungskompetenz von Eltern schulen. Die Jugendlichen brauchen starke und konsequente Vorbilder, Regeln und Grenzen, klare Ansagen. Es geht auch um Verzicht, das ist ja heute kein großer Skill, das gehört nicht zum Alltag. Da kann man in der Erziehung aber ganz viel machen. Um zu vermitteln: Es wird in meinem Leben Sachen geben, die erlebe ich nicht. Und das ist völlig okay.