sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

wer in der Notaufnahme eines Krankenhauses arbeitet, muss etwas aushalten können. „Die Geräuschkulisse gleicht einem Flughafen“, berichtet eine Pflegerin. Laut Harald Dormann, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme im Klinikum Fürth, ist der Personalmangel eine Belastung für die Häuser, aber auch für die Patienten: Er führe "zu einem regelrechten Stau in den Notaufnahmen, weil keine Weiterbehandlung in den Kliniken möglich ist", sagte der Internist dem epd. Nach einer Umfrage unter Krankenhäusern verursachen die Notaufnahmen in aller Regel finanzielle Verluste.

Ein neu gegründeter Verein will an vergessene und verleugnete Opfer der NS-Herrschaft erinnern: an sogenannte „Asoziale“ und „Gewohnheitsverbrecher“, die in den Konzentrationslagern starben. Der „Verband für die Erinnerung an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus“ hofft, damit „auch ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass eine aktuelle Diffamierung von Menschen als ‚asozial‘ an die Nazisprache anknüpft“, erklärt die 2. Vorsitzende des Vereins, Ines Eichmüller.

Mit Curata und Convivo sind zwei große private Pflegebetreiber in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Beide Träger haben für Teile ihrer Unternehmen Insolvenzverfahren eingeleitet. 7.800 Beschäftigte bangen um ihre Jobs. Erste Forderungen werden laut, die Versorgungsaufträge künftig an die Gemeinnützigkeit zu koppeln. Dabei wird jedoch übersehen, dass immer wieder auch Heime von gemeinnützigen Trägern pleitegehen.

Schwangere können sich zum Schutz ihres ungeborenen Kindes nur im äußersten Notfall auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln behandeln lassen. Für deren Einsatz müsse eine gewisse Heilungschance vorliegen sowie akuter Zeitdruck bestehen, urteilte das Bundessozialgericht.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Gesundheit

Personalmangel führt zu langen Wartezeiten in Zentralen Notaufnahmen




Ein Mädchen in der Kinder-Notaufnahme des Evangelischen Krankenhauses in Bielefeld
epd-bild/Rheinhard Elbracht
Pflegekräfte arbeiten seit vielen Jahren am Limit. Besonders jene in den Zentralen Notaufnahmen der Krankenhäuser fühlen sich von der Politik übersehen. Fachkräfte berichten von der Überlastung in der Notaufnahme.

Frankfurt a.M., Fürth (epd). Die Schreie einer psychotischen Patientin mischen sich mit dem Brüllen eines dementen älteren Herren. Am Empfang versperrt ein Mann mit einer massiv blutenden Wunde den Weg. Wie sich herausstellt, wollte er eine Bierflasche zertreten.

So beschreibt eine Pflegerin auf Twitter eine Nachtschicht in einer Zentralen Notaufnahme in ihrer Klinik. „Die Geräuschkulisse gleicht einem Flughafen“, berichtet sie ihren rund 60.000 Followern. Doch sind die Zustände wirklich so dramatisch?

Viele fachfremde Aufgaben

Der Evangelische Pressedienst (epd) sprach mit der Pflegerin Lara Engelmann (Name geändert), die seit ihrer Ausbildung im Jahr 2013 in der Notaufnahme arbeitet, derzeit neben ihrem Medizinstudium. Die 28-Jährige lebt und arbeitet in Norddeutschland. Den genauen Ort und ihren Namen möchte sie nicht nennen. „Je mehr ich über meinen Arbeitsplatz preisgebe, desto mehr gebe ich auch über meine Patienten preis“, sagt sie.

Sie müsse sich als Pflegekraft in der Notaufnahme um viele fachfremde Aufgaben kümmern wie etwa den Transport der Patienten auf die Stationen. „In großen Häusern kann das ein echter Zeitfresser sein“, sagt sie. Zentrale Notaufnahmen kümmern sich nicht nur um die Erstaufnahme, sondern klären auch den stationären Behandlungsbedarf ab. Dabei wird jeder Patient, der in die Notaufnahme kommt, einer Kategorie, meist einer Farbskala zugeordnet. „Rot heißt ‚muss jetzt sofort behandelt werden‘, grün oder blau bedeuten ‚kann warten‘“, erklärt Engelmann.

Doch auch Patienten ohne akuten Behandlungsbedarf hätten oft einen hohen Leidensdruck. „Jemand, der zum Beispiel unter einem Parasitenbefall leidet, will die Parasiten sofort loswerden“, sagt sie. Da aber keine Lebensgefahr bestehe, müsse er warten, bis das Personal Zeit hat. Manchmal über Stunden.

Engelmann klagt über mangelnde Wertschätzung durch den Arbeitgeber. „Man gibt sich im Dienst wahnsinnige Mühe, die Patienten gut zu versorgen. Wenn man das nicht schafft, bekommt man eine Standpauke.“ Engelmann empfindet die aktuellen Zustände als frustrierend und betont: „Es ist ein unglaublich schöner Beruf, wenn man ihn richtig ausüben kann.“

Stau in den Notaufnahmen

Eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) im vergangenen Jahr ergab: Rund 18 Prozent aller stationären Betten sind bundesweit infolge des Personalmangels nicht belegbar. „Das führt zu einem regelrechten Stau in den Notaufnahmen, da keine Weiterbehandlung in den Kliniken möglich ist“, sagt Harald Dormann, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme im Klinikum Fürth. Dieser Stau stellt laut Dormann die Hauptbelastung in den Zentralen Notaufnahmen dar.

Der Internist sagte dem epd: „In der Corona-Pandemie haben wir in den Zentralen Notaufnahmen mehr als doppelt so viele Infizierte behandelt wie alle anderen Klinikbereiche zusammen.“ Dass die Pflegekräfte in den Notaufnahmen von der Corona-Prämie ausgeschlossen sind und keine Sondervergütung erhalten, empört ihn. „Das unterstreicht noch einmal die Tatsache, dass die enorme Leistung der Zentrale Notaufnahmen von der Gesundheitspolitik völlig übersehen wird“, sagt er.

Den Appell des Bundesgesundheitsministeriums an die Patientinnen und Patienten, den Hausarzt anstelle der Notaufnahme aufzusuchen, hält er für nicht zielführend. „Die meisten schätzen richtig ein, wann ein Besuch in der Notaufnahme sinnvoll ist“, sagt er. Allerdings fehle es an zeitnahen Terminangeboten im ambulanten Bereich. Patienten nutzten die Notaufnahmen oft als letzten Rettungsanker.

Engelmann sagt: „Das Problem sind nicht die Patienten.“ Konkret entlasten würde es die Pflegekräfte, wenn sie mehr Kolleginnen und Kollegen hätten. Stattdessen kämen täglich Kündigungen ins Haus. Der Grund sei immer derselbe: „Man hält es nicht länger aus.“

Stefanie Unbehauen


Gesundheit

Kliniken: Ambulante Notfallversorgung muss neu geordnet werden




Fahrzeuge der Notaufnahme des BG Klinikums Bergmannstrost in Halle
epd-bild/Steffen Schellhorn
Die Notaufnahmen der Krankenhäuser stehen vor einem doppelten Problem: Sie können die Hilfe suchenden Patientinnen und Patienten oft nicht schnell genug versorgen. Und sie können ihre Kosten nicht decken, beklagt die Deutsche Krankenhausgesellschaft.

Berlin (epd). Die Krankenhäuser können einer Umfrage zufolge die Versorgung der medizinischen Notfälle nicht kostendeckend betreiben. Sämtliche Notaufnahmen in Deutschland werden defizitär betrieben, kein Krankenhaus erreicht mit seiner Notfallversorgung auch nur ein ausgeglichenes Ergebnis, wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) am 20. Januar in Berlin mitteilte. Sie hatte nach eigenen Angaben im Januar eine Blitzumfrage unter mehr als 100 Allgemeinkrankenhäusern in Auftrag gegeben.

„Es besteht großer Handlungsbedarf“

Demnach mussten im vergangenen Jahr 77 Prozent der Krankenhäuser wegen Personalmangel ihre Notfallambulanzen mindestens einmal komplett abmelden. „Es besteht großer Handlungsbedarf“, sagte der Vorstandsvorsitzende der DKG, Gerald Gaß.

Laut Umfrage sind die Notaufnahmen für die Menschen in Deutschland der erste Anlaufpunkt, wenn es um Hilfe im Notfall oder um medizinische Hilfe außerhalb der Sprechzeiten der Arztpraxen geht. Der größte Teil der Patientinnen und Patienten erreiche sie fußläufig oder mit dem Auto, die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigungen 116 117 spiele praktisch keine Rolle.

Forderung nach integrierten Notfallzentren

Drei Viertel der Krankenhäuser gaben an, mit den Kassenärztlichen Vereinigungen nur mittelmäßig oder schlecht zusammenzuarbeiten. „Die Notaufnahmen sind vielerorts zum Ersatz der wegbrechenden Versorgung im niedergelassenen Bereich geworden“, klagte Gaß. Es gelinge den niedergelassenen Ärzten nicht, ihre Pflicht zur ambulanten Notfallversorgung umfassend zu erfüllen. Die DKG schlägt deshalb integrierte Notfallzentren in den Kliniken vor, in denen Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte gemeinsam die Notfallversorgung übernehmen.

Grundlage der Blitzumfrage ist die Befragung von 112 Allgemeinkrankenhäusern mit jeweils mindestens 100 Betten. Die Umfrage fand im Januar statt.

Der Deutsche Hausärzteverband reagierte getroffen: „Mit dem Finger auf die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu zeigen, ist vollkommen fehl am Platz.“ Richtig sei aber, dass eine bessere Koordination der Patientinnen und Patienten die Notaufnahmen in den Krankenhäusern entlasten und medizinisch nicht notwendige Krankenhauseinweisungen verhindern könnte. „Diese Koordination kann nur durch die Hausarztpraxis erfolgen“, erklärte der Verband am 20. Januar in Berlin.

Markus Jantzer


Flüchtlinge

Kommunen müssen wieder mehr Schutzsuchende unterbringen




Der Flüchtling Dani Botrus in einem Zelt auf dem Messegelände in Hannover
epd-bild/Jens Schulze
Über eine Million Ukrainer sind 2022 nach Deutschland geflüchtet. Sie sind nicht die Einzigen - auch die Zahl Schutzsuchender aus anderen Ländern ist gestiegen. Von den Kommunen ist Flexibilität gefordert - ein Besuch auf dem Messegelände Hannover, wo Flüchtlinge untergebracht sind.

Hannover, Berlin (epd). Der Deutschkurs ist längst zu Ende, doch Kasim Sayan sitzt noch immer am Tisch und lernt. „Obst, Wasser, Kaffee“ steht in ordentlicher Schrift in seinem Block, daneben: „Ich komme, Du kommst, er, sie, es kommt …“. „Ich bin Kurde und komme aus der Türkei“, sagt der 35-Jährige - erfreut, dass ihm der Satz so flüssig über die Lippen kommt.

18 Mitarbeiter beraten die Flüchtlinge

Dreimal in der Woche finden in Halle 8 auf dem Gelände der Deutschen Messe in Hannover Deutschkurse statt. Und nicht nur das. In der Halle, die für die Stadt Hannover als Erstaufnahme fungiert, werden Post und Essen ausgegeben, 115 Waschmaschinen und Trockner säumen die Längsseite. Die Stadt verteilt Starterpakete, die etwas Geld, eine Fahrkarte und den „Hannover-Aktiv-Pass“ enthalten. Der Betreiber European Homecare hat hier sein Büro. 18 Mitarbeiter beraten die Flüchtlinge.

Nebenan in Halle 9 sind Zelte aufgebaut, mit je zwölf Betten. Es gibt eine Sanitätsstelle, einmal die Woche kommt das Zahnmobil. Bis zu 2.592 Menschen finden hier Platz. Die Betten können auf 3.500 aufgestockt werden, dann müssten sich 16 Menschen ein Zelt teilen. „Gut, dass wir flexibel sind, aber dazu wird es hoffentlich nicht kommen“, sagt Guram Alibegashvili, der bei European Homecare für die Region Hannover zuständig ist. „Alles ist allerdings besser als Turnhallen.“

Mehr als 244.000 Menschen haben dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zufolge 2022 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Damit ist die Zahl nicht-ukrainischer Schutzsuchender um 28 Prozent gegenüber 2021 gestiegen. Ukrainer müssen kein Asyl beantragen, sie erhalten sofort einen befristeten Aufenthaltstitel. Bis zum Jahresende 2022 wurden mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge registriert - die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Auch das Messegelände ist für sie Anlaufstelle. Ukrainer finden Hilfe in den Hallen 27 und 13.

Wie viele Menschen noch kommen, weiß niemand

Rund 244.000 Asylsuchende und eine Million Menschen aus der Ukraine - für das Land Niedersachsen heißt das: Zum Stichtag 15. Januar 2023 wurden knapp 110.000 Ukrainer registriert, dazu kommen etwa 10.000 Menschen, die zurzeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes untergebracht sind.

Wie viele Menschen 2023 nach Deutschland kommen, weiß niemand. Das hängt unter anderem vom Verlauf des Ukraine-Krieges ab. Die EU rechnet aufgrund der Vielzahl geopolitischer Krisen mit einem erneuten Anstieg der Asylbewerberzahlen. Eine aussagekräftige Einschätzung sei nicht möglich, sagt eine Sprecherin des Bamf. „Es wird immer die Herausforderung bestehen, auf unterschiedliche Szenarien eingestellt zu sein.“

Aufnahmekapazitäten vielerorts ausgeschöpft

Unterschiedliche Szenarien - Alibegashvili lacht. Der gebürtige Georgier weiß um die Herausforderung, einerseits ausreichend Kapazitäten, andererseits kein Überangebot vorzuhalten. Auf dem Messegelände in Hannover ist die Situation derzeit noch entspannt. Es ist ruhig in den sonnendurchfluteten Hallen, 350 Menschen sind da - vor allem Männer zwischen 18 und 50 Jahren. Die Syrer, Afghanen, Türken trinken Kaffee, blicken auf Ihre Handys. Laut Bamf entfielen im Jahr 2022 rund 60 Prozent aller Asylerstanträge auf diese drei Nationalitäten. Dazu kommen Menschen aus dem Irak, Iran, Georgien, Kolumbien und Russland.

Der Deutsche Städtetag warnte schon vor einem Monat, dass die Aufnahmekapazitäten vielerorts ausgeschöpft seien. „Viele Städte bauen bereits Notunterkünfte auf, stellen Wohncontainer auf oder mieten Hotels an“, sagte Städtetag-Präsident Markus Lewe (CDU).

Alibegashvili, der in der Region Hannover elf Flüchtlingsheime betreut, bestätigt, dass es schwieriger wird, freie Plätze zu finden, damit die Menschen von den Behelfsunterkünften in kleinere Wohnprojekte ziehen können. Eigentlich sollen sie nur wenige Wochen in den Messehallen bleiben, für manche werden es Monate.

Julia Pennigsdorf


Familie

Trennungskind: "Ich habe meine Identität verleugnet"




Mario Lewalter
epd-bild/Andrea Enderlein
Wer als Kind zum Spielball zerstrittener Lebenspartner wird, trägt oft für sein Leben tiefe Narben davon. Ein heute Erwachsener berichtet über die psychischen Folgen der Manipulationen, die er als Minderjähriger von seinen Eltern erfahren hat.

Wiesbaden, Bremen (epd). Mario Lewalter blickt nicht gerne auf seine Kindheit zurück. Als er zwei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Zu seinem Vater hatte er daraufhin kaum noch Kontakt. Die Erinnerung an ihn verblasste immer mehr. Er wuchs in dem Glauben auf, dass sein Vater ein schlechter Mensch sei.

„Meine Mutter hat mir immer wieder erzählt, mein Vater sei Alkoholiker gewesen, habe sie geschlagen, wollte mich ihr wegnehmen“, sagt der Wiesbadener. Irgendwann glaubte Lewalter daran und hatte das Bild eines alkoholsüchtigen, gewalttätigen Mannes im Kopf. Zu hinterfragen begann er dieses Bild erst, als er älter wurde.

Jahrelang in einem Loyalitätskonflikt

Seine Mutter habe ihm zwar immer wieder gesagt: „Wenn du deinen Vater sehen willst, dann darfst du das“, aber aufgrund der Erzählungen seiner Mutter wollte er das zunächst gar nicht. „Heute weiß ich: Ich stand im Loyalitätskonflikt.“ Sein Vater hatte jahrelang immer wieder versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Für ihn jedoch war der Vater ein böser Mensch. Lewalter blockte daher jeden Annäherungsversuch ab.

Lewalter erinnert sich daran, wie seine Mutter all seine in ihren Augen negativen Eigenschaften dem schlechten väterlichen Einfluss zuschrieb. „Meine Mutter sagte immer, wenn ich wütend war: Du bist wie dein Vater. Das war für mich das Schlimmste.“ Deswegen versuchte er fortan stets, Emotionen wie Wut zu unterdrücken - bis er immer mehr einen Großteil seines eigenen Charakters kleinhielt. „Ich habe meine eigene Identität verleugnet“, sagt der heute 46-Jährige.

Rückenschmerzen und Schlafprobleme

Seine angestaute Wut, der Selbsthass, die Verzweiflung hatten auch einen negativen Effekt auf seine körperliche Gesundheit. „Ich hatte Rückenschmerzen und Schlafprobleme. Als ich 28 Jahre alt war, sagte mir ein Arzt, dass das an der psychischen Misshandlung liegen könne.“

Der Psychologe Stefan Rücker befasst sich seit geraumer Zeit mit den Folgen einer Eltern-Kind-Entfremdung. „Welche Folgen die tatsächlich für Kinder hat, ist unterschiedlich. Es gibt robuste, resiliente Kinder, die solch ein einschneidendes Lebensereignis gut verarbeiten.“ Doch das sei die weitaus geringere Zahl. „Der Großteil der entfremdeten Kinder erlebt zunächst einmal Stress.“

Betroffene leiden im Erwachsenenalter häufiger unter Depressionen und Schwierigkeiten im Beziehungsaufbau, sagt Rücker. „Der durch Entfremdung entstandene Verlust einer wichtigen Bezugsperson weist Trauma-Potenzial auf. Traumata bilden die Grundlage für nahezu alle psychischen Erkrankungen“, erklärt der Bremer Psychologe.

Überraschender Anruf des Vaters

Lewalter unterdrückte die Erinnerung an seinen Vater bis zu einem bestimmten Tag. An jenem Freitagmorgen - er war damals 38 Jahre alt - ruft ihn eine unbekannte Nummer in der Werkstatt an, in der der Kfz-Mechaniker seinerzeit arbeitete. Jemand sagte: „Hier ist dein Vater.“ Die Erinnerung daran wühlt ihn noch heute auf.

„Irgendwann bin ich dann zu meinem Vater gefahren und wir haben uns unterhalten, ganz zwanglos“, erzählt er weiter. Er habe erfahren, was der Vater alles unternommen habe, um seinen Sohn zu sehen.

„Ich wollte wissen, was mein Vater für ein Mensch ist. Ich wollte ihn kennenlernen“, sagt er. Sein Vater hatte nach der Trennung eine andere Frau kennengelernt. Sie hat drei Kinder mit in die Beziehung gebracht, eines davon mit Behinderung. „Noch heute kümmert er sich um dieses Kind. Da habe ich gemerkt: Das kann gar nicht so ein schlechter Mensch sein, wie meine Mutter ihn immer beschrieben hatte.“

Treffen führte zu positivem Wandel

Das Treffen mit seinem Vater hatte viele positive Folgen für Lewalter. „Endlich konnte ich mich selbst akzeptieren, meine Emotionen und all die aufgestaute Wut annehmen und Frieden schließen mit allem.“

Vor einem Jahr ist sein Vater gestorben. Wann immer er nun von seiner Mutter den Satz „Du bist wie dein Vater“ zu hören bekomme, antworte er nur: „Ja, genau. Ich bin wie mein Vater.“ Er habe seinen Frieden damit geschlossen.

Stefanie Unbehauen


Armut

Studie: Armutsrisiko von Kindern und jungen Erwachsenen gestiegen




Ein Kind malt mit Fingerfarben.
epd-bild/Thomas Lohnes
Kinderarmut bleibt ein Problem: Laut einer Studie steigt die Zahl der Menschen unter 18 Jahren, die in Haushalten mit Grundsicherung leben, erstmals seit fünf Jahren wieder. Die Kindergrundsicherung müsse kommen, lautet eine Forderung der Forscher.

Gütersloh (epd). Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene in Deutschland gelten nach Berechnungen der Bertelsmann Stiftung als armutsgefährdet. In absoluten Zahlen sind das knapp 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,55 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren, wie es im am 26. Januar in Gütersloh veröffentlichten „Factsheet Kinder- und Jugendarmut“ heißt. Der Studie zufolge gelten Kinder als arm, wenn ihre Eltern über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen oder Leistungen der Grundsicherung erhalten.

Mangel, Verzicht und Scham

„Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat zugleich deutlich schlechtere Zukunftsaussichten“, sagte Anette Stein, Direktorin des Programms Bildung und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung. Die derzeitigen Krisen und Preissteigerungen verschärften das Problem. Stein appellierte an die Bundesregierung, die geplante Kindergrundsicherung zügig zu beschließen, um „gezielt denjenigen helfen, die besonders darauf angewiesen sind“.

Für die Studie wurden den Angaben zufolge unter anderem auch aktuelle Daten der Bundesagentur für Arbeit zu Kindern und Jugendlichen, deren Familien staatliche Unterstützung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II beantragt haben, aus dem Sommer 2022 herangezogen. Die Statistiken zeigten, dass sowohl die Anzahl als auch der Anteil von Kindern in SGB-II-Haushalten erstmals seit fünf Jahren deutlich gestiegen sei, hieß es. Die Studien-Autorinnen führen die Zunahme vor allem auf die aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen zurück. Ukrainische Kriegsflüchtlinge haben seit dem 1. Juni 2022 Anspruch auf Grundsicherung.

Demnach lebten im vergangenen Sommer rund 1,9 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren in Haushalten mit SGB-II-Bezug. Die Quote betrug im Juni 2022 in Westdeutschland 13,4 Prozent und in Ostdeutschland 16 Prozent. Der Studie zufolge ist die Armut in den Städten deutlich stärker ausgeprägt: Die höchste Quote weist die konjunkturschwache Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen mit 41,7 Prozent auf.

Auch die norddeutschen Städte Bremerhaven (36,3) und Bremen (30,9) haben hohe Quoten von Kindern und Jugendlichen im SGB-II-Bezug. Weit unter zehn Prozent bleiben dagegen häufig ländliche Regionen wie Roth in Bayern (2,7), Biberach in Baden-Württemberg (5,2) oder Eichsfeld in Thüringen (6,6).

Höchstes Armutsrisiko bei 18- bis 25-Jährigen

Besonders betroffen von Armut sind Haushalte von Alleinerziehenden und Eltern mit mehr als drei Kindern. Die in diesen Fällen sehr aufwendige Sorge- und Betreuungsverantwortung mache es den Eltern oftmals unmöglich, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, hieß es. Das größte Armutsrisiko hätten Kinder in Mehrkindfamilien mit einem alleinerziehenden Elternteil (86 Prozent). Hier stützen sich die Studien-Autorinnen auf Daten des Statistischen Bundesamtes aus dem Mikrozensus sowie der Bundesagentur für Arbeit von 2021.

Auch viele junge Erwachsene seien mit Armut konfrontiert, hieß es weiter. So wiesen die 18- bis 25-Jährigen im bundesweiten Vergleich mit 25,5 Prozent sogar das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen auf. Frauen seien dabei stärker betroffen als Männer, junge Menschen in Ostdeutschland häufiger als die in Westdeutschland.

SGB-II-Leistungen bezögen nur sieben Prozent dieser Altersgruppe, was auf den ersten Blick überrasche, sagte Anette Stein. Das liegt ihren Worten zufolge hauptsächlich daran, dass junge Erwachsene für gewöhnlich eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren und erstmals allein leben. Sie beantragten entsprechend andere Leistungen wie BAföG oder Wohngeld. „Die hohe Armutsbetroffenheit junger Erwachsener weist jedoch darauf hin, dass die verschiedenen Systeme nicht gut zusammenwirken“, betonte die Expertin der Stiftung.

Katrin Nordwald


Sucht

Drogenbeauftragter fordert strengere Regeln für Alkohol und Tabak




Frisch gebrautes Bier
epd-bild/Peter Roggenthin
Alkohol, Tabak, Glücksspiel: Legale Suchtmittel macht der Drogenbeauftragte der Bundesregierung zu einem seiner Arbeitsschwerpunkte. Er kritisiert den in seinen Augen zu liberalen Umgang damit - und ist für die Legalisierung von Cannabis.

Berlin (epd). Der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert (SPD), dringt auf strengere Regeln für den Umgang mit Alkohol, Tabak und Glücksspiel. Kaum ein europäisches Land habe einen so liberalen Umgang damit, erklärte Blienert am 26. Januar. Er plädierte für ein weitergehendes Werbeverbot und wiederholte seine Forderung nach einer Anhebung der Altersgrenze für Alkohol auf 18 Jahre. „Werbung für Suchtstoffe ist das Gegenteil von Prävention“, betonte Blienert, der in Berlin die Schwerpunkte seiner Arbeit vorstellte. Dazu zählte er Schutz und Prävention vor den legalen Drogen.

Ein ganzer Eimer reinen Alkohols

Er führte aus, jährlich würden etwa 150.000 Menschen an den Folgen von Alkohol- und Tabakkonsum sterben. „Jeder Erwachsene trinkt im Schnitt einen ganzen Eimer reinen Alkohols im Jahr“, sagte Blienert. Er wünscht sich ein Werbeverbot für Alkohol auch im Internet, sozialen Netzwerken, Radio und Fernsehen. Ebenso forderte er ein Ende von der Praxis, dass durch bunte Bilder auf Zigarettenschachteln an Kiosken, in Supermärkten und Tankstellen Werbung für Tabak gemacht wird. Die Werbung für Alkohol und Tabak müsse aus dem Blick von Kindern und Jugendlichen verschwinden, sagte er.

Erreichen will er das auch für den Bereich Glücksspiel. Werbung für Sportwetten sähe Blienert am liebsten erst nach 21 Uhr in Radio, Fernsehen und Internet erlaubt. Der Drogenbeauftragte selbst hat keine Gesetzgebungskompetenz. Umsetzen müssten seine Ministerien die Ministerien, die für die Werberegeln oder den Jugendschutz zuständig sind.

Blienert verteidigte gleichzeitig die Pläne der Koalition aus SPD, Grünen und FDP zur Legalisierung von Cannabis. Dabei gehe es um die Reduzierung von Risiken für Jugendliche. Standardisiertes Cannabis aus dem Laden sei ihm lieber als verunreinigtes vom Dealer aus dem Stadtpark, sagte Blienert. Einen Widerspruch zwischen der Kritik am liberalen Umgang mit legalen Drogen und dem Vorhaben der Cannabis-Legalisierung sieht er nicht. Cannabis werde dadurch kein neues Problem. Derzeit verschließe man nur eher die Augen davor. Zugleich sehe man aber die Probleme durch den missbräuchlichen Alkoholkonsum. Das sei eher heute eine widersprüchliche Situation, sagte Blienert.

Gesetzentwurf zur Legalisierung von Cannabis bis Ende März

Die Legalisierung von Cannabis gehört zu den zentralen Versprechen der Ampel-Koalition. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im Oktober Eckpunkte vorgelegt, die vorsehen, dass Erwachsene künftig straffrei 20 bis 30 Gramm der Droge besitzen und in begrenztem Maß auch selbst Cannabis anbauen dürfen. Der Verkauf soll staatlich kontrolliert werden. Für unter 18-Jährige blieben den Plänen zufolge Besitz und Konsum von Cannabis verboten, sollen aber nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.

Blienert zufolge soll ein konkreter Gesetzentwurf bis Ende März vorliegen. Parallel gibt es eine Prüfung der EU-Kommission, weil nicht klar ist, ob und wie die Pläne mit EU-Recht vereinbar sind. Die Legalisierung von Cannabis ist umstritten. Kritik an dem Vorhaben kommt unter anderem von der Ärzteschaft.

Als einen weiteren Arbeitsschwerpunkt benannte Blienert den Bereich Beratung und Therapie für Suchtkranke. Er plädierte für einen Ausbau und eine Vereinfachung der Angebote. Betroffenen hätten es unter Umständen mit Angeboten und Leistungen von Kommunen, Krankenkassen, Rentenkasse oder Sozialamt zu tun. Überall gebe es andere Regelungen und neue Anträge. Das könnten kaum ein Suchtkranker oder verzweifelte Angehörige durchschauen, sagte Blienert.

Corinna Buschow


Geschichte

Vergessene Opfer der NS-Zeit




Mahnmal des Konzentrationslagers Dachau
epd-bild/mck
Sie waren vergessene und verleugnete Opfer der NS-Herrschaft: sogenannte "Asoziale" und "Gewohnheitsverbrecher". Jetzt hat sich ein Verband der Angehörigen gegründet, um diese Menschen aus dem Schatten der Geschichte zu holen.

Nürnberg (epd). Bei Frank Nonnenmacher aus Frankfurt am Main war es der Onkel, bei Ines Eichmüller aus Nürnberg der Uropa. Mitglieder der Familie, die unter den Nationalsozialisten als sogenannte „Asoziale“ oder „Gewohnheitsverbrecher“ in die Konzentrationslager gebracht wurden. In vielen betroffenen Familien ein Tabuthema, ebenso wie in der Gesellschaft.

In der Rangfolge der KZ-Gefangenen ganz unten

Vor drei Jahren hat der Bundestag beschlossen, diese Menschen endlich als NS-Opfergruppe anzuerkennen. In Nürnberg wurde nun am 21. Januar ein Verband der Angehörigen gegründet. „Wir wollen in der Erinnerungskultur präsent sein“, erklärt der Mitinitiator und emeritierte Hochschulprofessor Nonnenmacher:

Stand der Holocaust an den europäischen Juden am Anfang der Aufarbeitung, erkämpften sich nach und nach auch andere Opfergruppen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit: Kommunisten, Christen, Sinti und Roma oder Homosexuelle. Nahezu vollständig ausgeblendet aus Erinnerung, Forschung und Wiedergutmachung aber waren die Träger des sogenannten schwarzen oder grünen Winkels in den KZ: Mit ihnen kennzeichneten die Nazis die „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.

Dass diese Menschen bisher kaum gesehen wurden, hat auch mit der Einschätzung von Überlebenden der Konzentrationslager zu tun. Eugen Kogon, der das KZ Buchenwald überlebte, schrieb in seinem Buch „Der SS-Staat“, von „üblen, zum Teil übelsten Elementen“, die andere Häftlinge schikanierten. Wer den grünen Winkel trug, stand in der Rangfolge der KZ-Gefangenen ganz unten. „Ein großer Teil dieser Menschen war so, dass man die Umwelt tatsächlich vor ihnen schützen musste“, schrieb die Wiener Ärztin Ella Lingens, selbst Gefangene in Auschwitz.

Erst spät nahm sich die historische Forschung dieses Themas an und begann ein differenziertes Bild von dieser Opfergruppe zu zeichnen. Zum Beispiel von den „Vergessenen Frauen von Aichach“ (siehe Kasten). Aus dem größten bayerischen Frauengefängnis wurden ab 1943 mindestens 326 Frauen nach Auschwitz deportiert, wo die meisten innerhalb weniger Wochen zu Tode kamen. Dabei handelte es sich um Gefangene in Sicherheitsverwahrung - Frauen, die wegen kleiner Diebstähle, Abtreibungen, Prostitution oder Betrugs mehrfach verurteilt waren.

Lästige Konkurrenten

Über die Nachkriegszeit schreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages: „Tatsächlich fand die Diskriminierung der ‚Asozialen‘ in den Lagern durch das Aufsichtspersonal und die Mithäftlinge ihre Fortsetzung in der unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Opfergruppen in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften.“ Eine organisierte Interessenvertretung für diese Opfer des Nationalsozialismus habe es nie gegeben. „Die nach Kriegsende rasch gegründeten Opferverbände erkannten ehemalige ‚asoziale‘ und ‚kriminelle‘ Mithäftlinge nicht als Leidensgenossen an und lehnten es ab, diese als Mitglieder aufzunehmen oder deren Interessen wahrzunehmen. Vielmehr wurden sie als lästige Konkurrenten im Kampf um Anerkennung und Entschädigung empfunden.“

Demgegenüber stellte der Bundestag nach 75 Jahren fest: Niemand wurde zurecht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet. Das war der Initiative Nonnenmacher zu verdanken, der es über eine Petition auf den Weg gebracht hatte.

„Der Bundestag hat beschlossen, dass die jahrzehntelange Vernachlässigung der Forschung angegangen wird, aber wo bleiben dafür die finanziellen Mittel?“, beschreibt Nonnenmacher die Auslöser für die Gründung des Angehörigenvereins. Als Verband könne man mehr politischen Einfluss geltend machen. Ungeklärt sei auch die Erforschung der Verfolgungsinstanzen, welche Rolle habe dabei etwa die Kriminalpolizei gespielt?

Jetzt hat sich am 21. Januar in Nürnberg der „Verband für die “Erinnerung an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus„ gegründet. “Zum ersten Mal seit über 75 Jahren kamen Angehörige dieser in der deutschen Gesellschaft so lange verschwiegenen und diskriminierten NS-Opfergruppen zusammen„, sagte Frank Nonnenmacher, der Vorsitzende des neuen Verbandes dem Evangelischen Pressedienst (epd. Ines Eichmüller, die Zweite Vorsitzende, sagte: “Wir hoffen, mit der Einführung des Begriffs ‚die Verleugneten‘ auch ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass eine aktuelle Diffamierung von Menschen als ‚asozial‘ an die Nazisprache anknüpft."

Rudolf Stumberger


Geschichte

Die gefangenen Frauen von Aichach



Aichach (epd). Sie standen Jahrzehnte im Schatten des Vergessens und des Verdrängens: die Frauen der Justizvollzugsanstalt Aichach, dem zur NS-Zeit größten Frauengefängnis in Bayern. Zeitweilig waren in der für 500 Insassen gebauten Anstalt bis zu 2.000 Frauen untergebracht, darunter politische Gefangene wie die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. In Aichach wurden auch sogenannte „asoziale“ Frauen zwangssterilisiert, und mehr als 350 Frauen in „Sicherheitsverwahrung“ wurden nach Auschwitz in den Tod geschickt.

Dass diese Schicksale nicht vergessen werden, darum kümmert sich das Frauenforum Aichach-Friedberg. Für die Opfer soll ein Denkmal errichtet werden, der Historiker Franz Josef Merkl wurde mit Nachforschungen beauftragt. „Viel zu lange wurde bei all den Bemühungen zur Aufarbeitung der Nazizeit den Frauen in der Strafanstalt keine Beachtung zuteil“, sagt Forumssprecherin Jacoba Zapf.

Häftling schluckte 43 Nägel, zehn Näh- und zwei Stecknadeln

Wenig weist im schwäbischen Aichach mit seinen rund 21.000 Einwohnern auf die Verbrechen hin, die während der NS-Zeit im Frauengefängnis geschahen. In dem 1909 in Betrieb genommen Gefängnis mit heute 433 Haftplätzen für Frauen gibt es ein kleines Museum. Gezeigt werden ein gynäkologischer Behandlungsstuhl, Gefängniskleidung oder eine Kamera, die Fotos für die Verbrecherkartei lieferte.

In einer Ecke ist zu lesen, dass eine Gefangene, eine gewisse Anna G., am 19. Februar 1940 43 Nägel, zehn Näh- und zwei Stecknadeln verschluckte. Nägel und Nadeln sind zu besichtigen. Warum Anna G. und andere Gefangene sich diese Tortur angetan haben, bleibt indes unklar.

Den Frauenschicksalen ist Merkl im Auftrag des Frauenforums nachgegangen. Er zeigt etwa auf, wie sich unter den Nazis die Zahl der eingesperrten Frauen mehr als verdreifachte. Zählte man 1933 noch 691 Gefangene, stieg diese Zahl bis 1945 auf 2.000, hinzu kamen an die 1.000 Frauen in den Außenlagern. Zu ihnen zählten auch die vielen Frauen, die wegen „Wehrkraftzersetzung“ oder dem Abhören von ausländischen Sendern verurteilt waren.

Auch sogenannte „asoziale“ Frauen kamen in das Gefängnis, wobei unter den Nazis als „asozial“ all das galt, was vom angeblich „gesunden Menschenverstand“ abwich. Unter dieser bewusst unscharfen Definition fielen Alkoholkranke ebenso wie Langzeitarbeitslose oder Prostituierte. Für die „Reinhaltung der Rasse“ wurden in Aichach auch Frauen zwangssterilisiert - Merkl konnte anhand von Rechnungen mindestens 110 solcher Zwangsmaßnahmen nachweisen.

Rudolf Stumberger


Arbeit

Neue Arbeitswelt: EU besorgt um Sozialdialog



Brüssel (epd). Die EU-Kommission hat Vorschläge präsentiert, die den Dialog zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern stärken sollen. „Länder, die einen starken Sozialdialog pflegen und eine hohe Tarifbindung haben, erweisen sich als resilienter“, erklärte EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis am 25. Januar in Brüssel. Die Kommission reagiert damit auf moderne Arbeitsformen, rückläufige Mitgliederzahlen in Gewerkschaften und sinkende Tarifbindung.

Dombrovskis betonte zudem, der soziale Dialog stelle sicher, dass sich der Arbeitsmarkt zugunsten von Angestellten und Unternehmen entwickele. Der Anteil der Arbeitnehmer mit Tarifverträgen ging den Angaben nach im EU-Durchschnitt von etwa 66 Prozent im Jahr 2000 auf etwa 56 Prozent im Jahr 2019 zurück, wie die EU-Kommission mitteilte. Beschäftigte einiger Sektoren, wie dem Pflegesektor, und junge Menschen würden sehr selten von Tarifverhandlungen profitieren.

Atypische Beschäftigungsverhältnisse

Auch die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sei europaweit gesunken. „Gerade die Sektoren, in denen Gewerkschaften stark waren, sind auf dem Rückzug“, erklärte EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit. „In einer Zeit, in der sich der Arbeitsmarkt jeden Tag an neue Formen von Arbeit anpasst, ist es an der Zeit sicherzustellen, dass der Sozialdialog als integraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft erhalten bleibt“, sagte Schmit.

Der Vorschlag der EU-Kommission will die Sozialpartner ermutigen, sich mit neuen Arbeitsformen und atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu befassen und über die Vorteile des sozialen Dialogs und mögliche Tarifverträge zu informieren. Außerdem ruft die Kommission die Mitgliedsstaaten dazu auf, die Sozialpartner bei der Gestaltung der Beschäftigungs- und Sozialpolitik einzubeziehen. Die Empfehlungen sind nicht bindend.



Arbeit

Bremen hat größte Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen



Bremen (epd). Die Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen im Land Bremen sind nach Angaben der Bremer Arbeitnehmerkammer bundesweit am größten. Während der Abstand 2021 im Bundesdurchschnitt rund 18 Prozent betrug, lag er in Bremen bei rund 22 Prozent, wie die Kammer am 25. Januar mitteilte. Diese „Gender Pay Gap“ genannte Lohnlücke sei typisch für Bremen, sagte der Kammer-Referent für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Tobias Peters: „Das Einkommen in Industrieberufen ist oft hoch - der Frauenanteil hingegen gering.“

Arbeiteten viele Frauen in einer Branche, sei der Lohn in der Regel niedriger, hieß es. So sei es unter anderem im Lebensmittel-Einzelhandel, in Arztpraxen, bei Büro- und Sekretariatsarbeiten oder in Erziehungsberufen. Darauf sei fast ein Drittel des Lohnabstands zurückzuführen. Die Position im Unternehmen erkläre ein weiteres Fünftel des Verdienstunterschieds, hieß es.

In Deutschland war nach den Zahlen der Arbeitnehmerkammer 2022 weniger als jede vierte Führungskraft weiblich. Im Land Bremen war es mit 19,7 Prozent sogar nur knapp jede fünfte.

Beim „Gender Pay Gap“ werden den Angaben zufolge Stundenlöhne verglichen, die Arbeitszeit sollte keine Rolle spielen. Dennoch lasse sich ein Zehntel des Verdienstunterschieds mit den schlechteren Stundenlöhnen für Teilzeitkräfte erklären, erläuterte die Kammer.




sozial-Branche

Pflege

Insolvenzen privater Heime: Kritik an Profitorientierung in der Pflege




Heimbewohnerinnen im Rollstuhl
epd-bild/Nancy Heusel
Fast 8.000 Beschäftigte bangen um ihre Jobs: Zwei private Pflegeheimbetreiber haben für einige ihrer Gesellschaften Insolvenz beantragt. Wie es weitergeht, ist ungewiss. Diskutiert wird, ob Vorgaben bei den Versorgungsaufträgen solche Pleiten verhindern könnten.

Frankfurt a.M. (epd). Das Haus „Fuchsenmühle“ in Ochsenfurt des Betreibers Curata wird Ende April wegen Insolvenz geschlossen. Einer, dem die Folgen der Betriebspleite der privaten Pflegegruppe auf die Füße fallen, ist Alexander Schraml. Der Jurist ist Vorstand des Kommunalunternehmens des Landkreises Würzburg (KU), das in einer gemeinnützigen GmbH selbst Pflegeheime betreibt. In örtlichen Medien wurde das KU schon als möglicher neuer Betreiber der „Fuchsenmühle“ gehandelt. Doch das sei eher unwahrscheinlich, sagte Schraml dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Die Einrichtung in Ochsenfurt wurde 1995 eröffnet und bietet rund 100 Plätze. Dort leben derzeit 63 Pflegebedürftige, die auf betreutes Wohnen angewiesen sind. Laut Schraml gab es bereits ein Krisengespräch, zu dem der Landrat eingeladen hatte. „Ob eine Übernahme und Fortführung des Heimes durch einen anderen Träger möglich ist, erscheint sehr zweifelhaft. Viele Bewohnerinnen und Bewohner haben sich schon einen neuen Heimplatz gesucht, viele Arbeitnehmer haben sich bereits erfolgreich wegbeworben“, berichtet Schraml. der auch Vorsitzender des Bundesverbands der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen ist. Die Zukunft des Hauses sei weiter ungewiss.

„Arbeiten am Restrukturierungsplan laufen“

„Die Arbeiten am Restrukturierungsplan laufen auf Hochtouren“, sagte auf Anfrage Anke Sostmann von der von Curata beauftragten Kommunikationsagentur Feldhoff & Cie. Für Einrichtungen, deren Schließung anstehe, würden alternative Pflegeplätze für die Bewohnerinnen und Bewohner gesucht. „Dazu wird auch mit anderen Trägern von Pflegeeinrichtungen gesprochen.“

Ziel sei die umfassende Sanierung der Curata Gruppe als Ganzes, um den stabilen Kern des Verbunds zu schützen. Sostmann rechnet mit dem Abschluss des Insolvenzverfahrens bis Ende Juni.

Nach ihren Angaben werden bisher vier Einrichtungen geschlossen: neben Ochsenfurt, Visselhövede in Niedersachsen und Bad Soden Salmünster auch der Standort Eberbach nahe Heidelberg. Ob das so bleibt, ist offen: „Details zu weiteren Einrichtungen lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen“, erklärte Sostmann.

Fehlende Auslastung wegen Personalmangels

Seit 6. Januar steht eine Erklärung für die wirtschaftliche Schieflage der Gruppe mit ihren 40 Einrichtungen und verschachtelten Strukturen auf der Homepage des Unternehmens. Eine der zahlungsunfähigen Gesellschaften der Gruppe ist demnach die Curata Care Holding. Daneben stehen mehrere Service- und Betreibergesellschaften unter vorläufiger Eigenverwaltung.

Der Konzern mit Sitz in Berlin begründet, warum er in die Insolvenz musste: „Unter anderem durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die stark gestiegenen Energiekosten und sonstige allgemeine Preissteigerungen sind Teile der Curata Gruppe in eine finanzielle Schieflage geraten.“ Verschärft worden sei die für die gesamte Branche herausfordernde Situation vor allem durch den Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal, der dazu führe, dass wirtschaftlich notwendige Belegungsquoten teilweise nicht erreicht werden könnten.

Auch Convivo in Bremen ist zahlungsunfähig

Nahezu identisch liest sich die Begründung für die Insolvenz eines weiteren privaten Pflegeheimbetreibers: die der Bremer Gruppe Convivo, die seit 30 Jahren aktiv ist und nach eigenen Angaben über 100 Pflegeeinrichtungen mit Schwerpunkt im Nordwesten Deutschlands unterhält. Nach eigenen Angaben beschäftigt sie rund 4.800 Mitarbeitende und zählt zu den größten Pflegebetreibern in Deutschland. Der Insolvenzantrag „für die wesentlichen Gesellschaften“ der Gruppe wurde am 23. Januar beim Amtsgericht Bremen gestellt.

Über die Gründe der Schieflage schreibt das Unternehmen in einer Presseinformation: „Der erhebliche Fachkräftemangel und verdoppelte Krankenstände aufgrund hoher Belastungen der Corona-Pandemie führten zu niedrigen Belegungszahlen. Statt der branchenüblichen Kalkulation von etwa 95 Prozent sank die Belegung zuletzt auf 70 Prozent im Bereich der stationären Pflege.“ Dazu kämen hohe Personalkosten durch Leiharbeitskräfte, um den Personalmangel zu kompensieren.

Geht man davon aus, dass für alle Pflegeanbieter prinzipiell die gleichen Bedingungen gelten, sich am Markt zu bewähren, dann müsste in der Logik von Curata und Convivo eine Pleite die Nächste jagen. Doch das ist nicht der Fall. Wie überhaupt die jetzigen Insolvenzen die ersten größerer privater Pflegeketten sind.

Viele Heime in problematischer Wirtschaftslage

Dass es dazu kam, überrascht Experten nicht. Die wirtschaftliche Lage der Pflegeheime hat sich seit Jahren - und längst vor Corona - deutlich zugespitzt. Das zeigt der Blick in den „Pflegeheim Rating Report 2022“. Er wurde gemeinsam vom RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und der hcb GmbH in Kooperation mit der Evangelischen Bank eG, der Curacon GmbH und der Terranus GmbH erstellt.

Rund 20 Prozent lagen demnach 2019 im „roten Bereich“ mit erhöhter Insolvenzgefahr, gut 26 Prozent schrieben einen Verlust. Die Lage hat sich verschlechtert: Im Jahr 2016 machten nur rund zehn Prozent der Pflegeheime einen Jahresverlust.

Immer wieder gehen Heime pleite

In Deutschland kommt es immer wieder zu Pleiten in der stationären Pflege. Doch sind meist nur einzelne oder zumindest wenige Heime betroffen. Es geraten nicht nur kommerzielle Träger in Finanznot. Gerade das DRK war davon wiederholt betroffen: Im Kreisverband Bremen musst die DRK Bremen Pflege GmbH 2022 Insolvenz beantragen, ebenso die DRK Ostwestfalen-Lippe Soziales Wohnen gGmbH. Das gleiche Schicksal ereilte im Vorjahr die Pflege und Service GmbH des DRK in Goslar.

Im November vergangenen Jahres meldete ein diakonisches Haus in Bremen Insolvenz an. Betreiber des Senioren- und Pflegeheims ist die gemeinnützige Gesellschaft „Leben im Alter“.

Jetzt wird auch diskutiert, ob die kommerzielle Pflege noch das Konzept der Zukunft sein soll. Doch mit weitergehenden Forderungen zur Trägerstruktur melden sich nur wenige Organisationen zu Wort. Der Deutsche Pflegerat und der Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland wollten sich auf epd-Anfrage zur Curata-Pleite nicht äußern.

Ver.di: Gewinnstreben und Gesundheitsversorgung passen nicht zusammen

Anders die Gewerkschaft ver.di: „Nicht zum ersten Mal zeigt sich: Die Orientierung auf den größtmöglichen Gewinn und eine gute Gesundheitsversorgung passen nicht zusammen“, sagt Vorstandsmitglied Sylvia Bühler. Weil in der Pandemie die Pflegekassen die stationären Einrichtungen mit hohen Summen unterstützt hätten, müsse nun „geklärt werden, was mit diesem Versichertengeld bei dem kommerziellen Unternehmen Curata geschehen ist“, forderte Bühler.

Für sie gehört das ganze Finanzierungs- und Zulassungssystem der stationären Pflege auf den Prüfstand: „Versorgungsverträge sollten nur noch mit gemeinnützigen beziehungsweise kommunalen Pflegeeinrichtungen geschlossen werden.“

Auch KU-Vorstand Schraml kann diesem Vorschlag etwas abgewinnen. Zwar könne er zu den genauen Ursachen der Curata-Schieflage nichts sagen, mutmaßt aber: „Möglicherweise wurden Gewinne der vergangenen Jahre entzogen. Anders als bei gemeinnützigen Trägern ist das ja auch möglich. Und jetzt fehlt das Geld.“

Versorgungsaufträge an die Gemeinnützigkeit zu koppeln, hält der Fachmann für sinnvoll: „Pflegeheime werden zu einem nicht unerheblichen Teil aus Pflegepflichtbeiträgen oder über staatliche Zuschüsse der Investitionskostenförderung finanziert. Dieses Geld muss zugunsten der Pflegebedürftigen im System bleiben und darf nicht an Private ausgeschüttet werden.“

Klage über hohen Kostendruck

Laut Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), gebe es immer wieder Insolvenzen, „jedoch oftmals weniger öffentlich präsent, weil es sich um mittelständische und familiengeführte Unternehmen handelt“. Zum hohen Kostendruck sagte er dem epd: „Da sind der Wegfall des Pandemie-Rettungsschirms sowie drastische Sachkostensteigerungen insbesondere bei den Energiekosten aufgrund der weltpolitischen Lage.“

Hauptproblem seien aber die stark gestiegenen Personalkosten, für die es keine Refinanzierung gebe. „Wir sind in einer Abwerbespirale, in der sich die Einrichtungen gegenseitig kannibalisieren“, sagt der bpa-Präsident. Die Notwendigkeit der Zuwanderung von Fachkräften sei von der Politik lange Jahre geleugnet worden: „Dafür zahlt die Gesellschaft jetzt einen sehr hohen Preis.“

Dirk Baas


Pflege

Pflegen bis zur Rente: Auf die Arbeitsbedingungen kommt es an




Erschöpfte Pflegerin
epd-bild/Werner Krüper
Pflegekräfte verlassen überdurchschnittlich häufig und schon nach relativ wenigen Berufsjahren die Branche. Wie sie sich allerdings in dem von ihnen gewählten Ausbildungsberuf halten lassen, zeigt eine Studie der Berufsgenossenschaft.

Hamburg (epd). Unter bestimmten Voraussetzungen können Pflegekräfte in ihrem Beruf das Rentenalter erreichen. Dies zeigt ein Forschungsprojekt der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), wie die Behörde am 25. Januar in Hamburg mitteilte. Im Mittelpunkt des Projekts „Ein Leben lang in der Pflege“ habe die Frage gestanden: Welche positiven, gesundheitserhaltenden Aspekte tragen dazu bei, dass Menschen gern und lange professionell in der Pflege arbeiten?

Fürsorge durch Arbeitgeber und Vorgesetzte

In Interviews und Gruppendiskussionen mit 61 Pflegerinnen und Pflegern der Altersgruppe 50 plus sei deutlich geworden: Besonders wichtig sind gute Rahmenbedingungen wie verlässliche Dienstplanung, Ausstattung mit Personal und Hilfsmitteln, die Entlastung von pflegefremden Tätigkeiten sowie Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Von großer Bedeutung seien auch die Berufsmotivation, die Zusammenarbeit im Team sowie eine Anerkennung für die geleistete Arbeit, berichten die Projektleitenden Michaela Sorber und Björn Teigelake von der BGW. Zudem hätten die Befragten betont, wie wichtig es sei, Fürsorge durch Arbeitgeber und Vorgesetzte zu erfahren und auch selbstfürsorglich zu handeln.

In ihren Antworten beurteilten die über 50-jährigen Pflegekräfte ihren Beruf als abwechslungsreich, fordernd und sinnstiftend. „Viele von ihnen konnten sich nicht vorstellen, einen anderen Beruf auszuüben, und würden den Pflegeberuf nach wie vor wählen“, heißt es in der Studie. Wenn sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr vertretbar fanden, wechselten die Fachkräfte das Unternehmen, nicht den Beruf.

„Um lange im Beruf zu bleiben, spielt der Berufseinstieg eine wichtige Rolle“, sagte Pflegewissenschaftlerin Sorber. Dazu zähle einerseits eine fundierte Ausbildung, in der die Neulinge gut angeleitet und auf ihre Aufgaben vorbereitet werden. Auch beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf sollten die Anfängerinnen und Anfänger begleitet werden. „Eine gute Einarbeitung ist maßgeblich für die weitere Entwicklung des Berufsverlaufs.“

Entwicklungsmöglichkeiten des Berufs nutzen

Für einen langen Berufsverbleib ist es laut Studie wesentlich, die zahlreichen Entwicklungsmöglichkeiten des Pflegeberufs zu nutzen. Immer wieder gelte es, die individuell passenden Arbeitsbereiche und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung zu finden. Dazu müssten die Beschäftigten allerdings auch zu Veränderungen bereit sein und sich auf Neues einlassen.

Wer in körperlich weniger anstrengende Aufgabengebiete oder in Bereiche ohne Schichtarbeit wechseln möchte, sollte das Älterwerden im Beruf rechtzeitig in den Blick nehmen und Weiterbildungsmöglichkeiten wahrnehmen. Ausschlaggebend sei auch, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden dabei unterstützen, eine passende Tätigkeit und tragfähige Arbeitsbedingungen zu finden, heißt es in dem Projektbericht weiter.

Darüber hinaus finden es die Pflegenden wichtig, Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung zu fördern. „In einem guten Team lässt sich vieles erreichen, vieles kompensieren“, sagte Björn Teigelake, Gesundheitspädagoge bei der BGW. Eine Mischung aus Beschäftigten unterschiedlichen Alters wurde von den Befragten ausdrücklich befürwortet:

„Pflegende müssen auch mehr Wertschätzung erfahren“, ergänzt Teigelake mit Blick auf die Studienergebnisse. „Ihre Person und Expertise muss ernstgenommen werden. Das bedeutet insbesondere, sie in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und zu informieren.“ Wertschätzung und Anerkennung müssten Pflegende von anderen Berufsgruppen, von Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen und auch gesellschaftlich erfahren.

Markus Jantzer


Pflege

Dokumentation

Plädoyer für einen radikalen Systemwechsel in der Pflege



Für die Ruhrgebietskonferenz Pflege darf das Jahr 2023 keinen Stillstand bringen. Die Arbeitgeberinitiative drängt auf grundlegende Reformen und hat ein Papier vorgelegt, das einen Umbau der Pflege skizziert. epd sozial dokumentiert es leicht gekürzt.

„In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen führen wir aktuell grundlegende Debatten über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Über die Zukunft der Versorgung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen wird dabei immer nur dann diskutiert, wenn es mal wieder um die Deckung von Finanzierungslücken und die “Zumutbarkeit" von Beitragserhöhungen für die Kranken- und Pflegeversicherung geht. Das muss endlich aufhören.

Geld für Pflege ist kein Almosen. Wir müssen uns ehrlich machen und den Bürgerinnen und Bürgern offen sagen, dass uns die Pflege und Betreuung in Zukunft mehr Geld kosten wird, es aber mit planlosem Aktionismus nicht sinnlos verschleudert werden darf. Allein die zahlenmäßige Zunahme von hilfe- und pflegebedürftigen Menschen durch die demografische Entwicklung in unserem Lande macht die Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln in Zukunft notwendig. Wollen wir ernsthaft die Pflege und Betreuung zukunftsfähig machen, muss Schluss sein mit den kurzfristigen Reaktionen auf die immer wiederkehrenden Krisen im Gesundheits- und Pflegesystem. (...)

Weniger Bürokratie und mehr Flexibilität

Für die Suche nach Lösungen zur Behebung des Fachkräftemangels brauchen wir aber mehr unternehmerische Kreativität und Flexibilität. Politik muss dafür sorgen, dass Hürden und Hemmnisse beseitigt und die Rahmenbedingungen für mehr Kreativität und Flexibilität geschaffen werden. Die Integration von ausländischen Arbeitskräften, der Ausbau von Wohngemeinschaften für Menschen mit Betreuungsbedarf, virtuelle Gruppenangebote oder die Etablierung von niedrigschwelligen Betreuungsgruppen sind nur vier von vielen Handlungsfeldern, wo Bürokratieabbau und Flexibilität dringend geboten wären. Auch die Anforderungen an die Mindestausstattung mit examinierten Fach- und Führungskräften in ambulanten Diensten und Tagespflegen müssen dringend überdacht werden.

Politische Forderungen mit Geld hinterlegen

Wenn der Vorrang von ambulanter Pflege und Betreuung vor stationärer Versorgung gewährleistet werden soll, muss dieser Bereich auch finanziell und strukturell gestärkt werden. Es reicht nicht, dass Politik das ständig postuliert und letztendlich aber nicht für eine ausreichende Finanzierung sorgt. Das betrifft auch die gerade umgesetzten Lohnsteigerungen in der Pflege. Politische Forderungen müssen von Politik auch mit Geld hinterlegt werden, sonst kann sich Pflege in Zukunft nur noch ein kleiner Teil der Betroffenen leisten ohne in den Sozialhilfebezug zu fallen.

Diese Entwicklung ist in der stationären Versorgung bereits zu erkennen. Deshalb muss ganz oben auf der politischen Agenda eine radikale Reform der Finanzierung der stationären Pflege stehen. Seit Jahren liegt das Konzept des so genannten „Sockel-Spitze-Austauschs“ bereits vor. Das würde die konsequente Eindämmung des Eigenanteils zur Folge haben.

Professor Heinz Rothgang hat schon vor längerer Zeit in einem Gutachten einen Sockelbetrag von 470 Euro pro Monat und Bewohner ins Spiel gebracht. Die darüber hinaus gehenden Kosten für Pflegeleistungen würden dann von der Pflegeversicherung getragen. Das würde die Umsetzung des Teilkaskogedankens in der Pflege bedeuten. Für den ambulanten Bereich muss eine analoge Regelung noch entwickelt werden, die ebenfalls eine Beschränkung des Eigenanteils ermöglicht.

In der stationären Pflege muss in Zukunft auch die Erbringung von Behand-lungspflegen finanziell vergütet werden. Heute werden diese Leistungen in den Pflegesatz eingepreist und damit letztendlich auch von den Bewohnern und Bewohnerinnen finanziert. (...)

Pflege und Wohnen ohne Sektorengrenzen

Um die Schieflagen und Ungerechtigkeiten aus dem System zu eliminieren, müssen wir aber noch viel größer denken und für eine Auflösung der Sektoren eintreten. (...) Wir treten daher für „Pflegen und Wohnen ohne Sektorengrenzen“ ein. Das wird auch den Betroffenen helfen, die sich heute ohne professionelle Hilfe im Dschungel der Pflegelandschaft nicht zurechtfinden können. (...)

Die Sozialgesetzbücher müssen entrümpelt und neu zusammengesetzt werden. Wir brauchen weniger, um mehr leisten zu können. Die Eingliederungshilfe kann uns gute Denkanstöße liefern. Die Neugestaltung des SGB IX mit dem darin enthaltenen Teilhabe- und Selbstbestimmungsgedanken könnte durchaus richtungsweisend sein. (...)

Systemwechsel hin zu persönlichen Budgets

Übertragen auf die Pflege halten wir die Einführung von persönlichen Budgets zur Finanzierung und Gestaltung der individuellen Versorgung für eine gute Lösung. Dabei ist es letztendlich egal, wo die Versorgung stattfindet, ob ambulant, in der eigenen Häuslichkeit, in Wohngemeinschaften, in der Tagespflege beziehungsweise der Betreuungsgruppe oder in Kurzzeit- oder Langzeitpflegeeinrichtungen.

Im Rahmen des persönlichen Budgets könnten die Betroffenen gemeinsam mit den Leistungserbringern die bestmöglichen Settings vereinbaren. Diese „Lösung“ wird die leidige Versäulung des Versorgungssystems beseitigen. Das klingt nicht nur nach einer radikalen Reform, das wäre tatsächlich ein echter Systemwechsel, mit dem „care“ und „cure“ endlich als Einheit gesehen würden. Es wird auch dazu beitragen können, die unübersichtliche Beratungslandschaft zu vereinfachen. (...)

Digitalisierung als Teil der Regelfinanzierung

Schneller und zielgerichteter muss auch die Digitalisierung in der Pflege gehen. Eine technisch unterstützte Pflege wird es nur geben, wenn digitale Lösungen endlich zur anerkannten Grundausstattung gehören und nicht ständig über Modellvorhaben in die Unternehmen hineinprojektiert werden müssten. Investitionen in IT-Anwendungen müssen in Zukunft genauso behandelt werden wie Investitionen in Steine und Beton.

Digitale Pflegeanwendungen für Betroffene müssen ohne zeitraubende und un-übersichtliche Antragsverfahren zu bezahlbaren Preisen zugänglich gemacht werden. Um den Grundstock zu legen, braucht die ambulante und stationäre Langzeitpflege ein Investitionsprogramm wie es für Krankenhäuser und Kliniken schon längst beschlossen ist. Zudem müssen auch ergänzende digital-virtuelle Betreuungs- und Pflegeangebote in den Leis-tungskatalog aufgenommen werden, wenn sie in das Versorgungssetting komplementär eingebettet werden. (...)

Ein radikaler Systemwechsel ist erforderlich, der wird aber nicht ohne die Un-ternehmen und deren Beschäftigte sowie den anderen handelnden Akteuren in der Pflege gehen. Deshalb brauchen wir jetzt den Startschuss für eine gemeinsame Kraftanstrengung und eine positiv zupackende Grundhaltung, um die oben beschriebenen Veränderungen zu stemmen.

Wir sind davon überzeugt, dass der demografische Wandel nicht nur eine Belastung für unsere Gesellschaft darstellt. Er ist zugleich eine Chance und beinhaltet bislang ungenutzte Ressourcen. In den nächsten Jahren werden wir eine sehr große Anzahl von Menschen haben, die im Ruhestand nach neuen Herausforderungen und Anwendungsfeldern für ihre Kompetenzen suchen. Wir brauchen daher auch Strategien zur Gewinnung und Nutzung der Potenziale einer älteren Generation, die es gewohnt ist mit anzupacken."



Pflege

Wohlfahrtsverbände begrüßen Millionen-Zusage für Pflege-Springer



Nürnberg/München (epd). Die Freie Wohlfahrtspflege in Bayern begrüßt die von der Landesregierung angekündigte millionenschwere Unterstützung von Springer-Modellen in der Altenpflege. So könne eine Idee, die ursprünglich von der Evangelischen Kirche finanziert und von der bayerischen Diakonie erstmals umgesetzt wurde, „flächendeckend erprobt werden“, erklärte die Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern, die bayerische Diakonie-Präsidentin Sabine Weingärtner, am 25. Januar in Nürnberg.

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) hatte vor knapp einer Woche angekündigt, rund 7,5 Millionen Euro für die weitere Erprobung Springer-Projekte in der Altenhilfe bereitzustellen. Bei derartigen Projekten steht die Idee im Vordergrund, Mitarbeitende für personelle Engpässe bereitzuhalten, um so zu verhindern, Personal aus der Freizeit zurückholen zu müssen. In der Pilotphase habe sich gezeigt, dass die Springerlösung zu verlässlicheren Dienstplänen und weniger Überstunden führt.

„Starkes Signal“

Weingärtner sagte, von 2019 bis 2022 wurden fünf ambulante und sechs stationäre Einrichtungen der Diakonie in Bayern ausgewählt und gefördert, um das Springer-Modell zu erproben. Die Ergebnisse seien eindeutig gewesen. Die Überstunden seien um bis zu 66 Prozent zurückgegangen, zeitgleich dazu habe sich die Arbeitszufriedenheit erhöht und die Krankheitsquote um 40 Prozent abgenommen. Die Förderung sei „ein starkes Signal“, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege konkret zu verbessern.

In der Freien Wohlfahrtspflege Bayern sind das Bayerische Rotes Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt, der Landes-Caritasverband Bayern, die Diakonie Bayern, der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern und der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern organisiert. Gemeinsam erbringen die Verbände mit über 455.000 hauptamtlichen und rund 136.500 ehrenamtlichen Mitarbeitern rund 75 Prozent aller sozialen Dienstleistungen im Freistaat.



Gesundheit

Asklepios-Kliniken servieren Margarine statt Butter




Brot mit Butter und Schinken oder Quark
epd-bild/Jens Schulze
In den Asklepios-Kliniken gibt es für gesetzlich versicherte Patienten jetzt Margarine statt Butter. Der Konzern spart so nach eigenen Angaben 330.000 Euro. Ernährungsmediziner sehen in der Umstellung keinen medizinischen Nachteil.

Hamburg (epd). Krankenhauskost ist kein Fünf-Sterne-Menü, und Zuhause schmeckt's sowieso am besten: Wer ins Krankenhaus kommt, stuft seine Erwartungen ans Essen am besten gleich etwas zurück, um nicht enttäuscht zu werden. Jetzt wird das Geschmackserlebnis noch weiter getrübt, zumindest für butterliebende Patientinnen und Patienten der Hamburger Asklepios-Kliniken: Wer gesetzlich versichert ist, kriegt dort neuerdings nur noch Margarine serviert, während Privatpatienten weiterhin Joghurt-Butter aufs Brot bekommen.

Der private Klinik-Konzern, der bundesweit rund 170 Gesundheitseinrichtungen betreibt, spart so nach eigenen Angaben 330.000 Euro pro Jahr. Das sei nötig, weil sich der Einkaufspreis für die Joghurt-Butter mehr als verdoppelt habe, sagt Asklepios-Sprecher Mathias Eberenz.

Ernährungsmediziner: Für Patienten unbedenklich

„Natürlich ist Butter ein sehr emotionales Thema gerade für ältere Menschen“, sagt Eberenz. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Butter auf dem Brot Ausdruck des Wohlstands. Vor dem Hintergrund gestiegener Einkaufs-, Logistik- und Personalkosten in der für die Versorgung mit Speisen zuständigen Tochtergesellschaft seien jedoch Einsparungen nötig, betont der Asklepios-Sprecher. Kliniken könnten Mehrausgaben nicht wie Einzelhändler an ihre Kunden weiterreichen, daher habe Asklepios von Butter auf Margarine umgestellt.

Der Hamburger Ernährungsmediziner Matthias Riedl, bekannt aus der NDR-Fernsehsendung „Die Ernährungs-Docs“, sieht keinen medizinischen Nachteil darin, dass die Asklepios-Kliniken in der Hansestadt jetzt Margarine statt Butter servieren. Nach Riedls Ansicht sei das eher eine Geschmacks- als eine Gesundheitsfrage. Beide Produkte enthielten kalorienhaltige Fettprodukte und hätten ihre jeweiligen Vor- und Nachteile.

Einen generellen Tipp hat Riedl aber: Sowohl bei Butter als auch bei Margarine sollten Verbraucher, Köche und Co. auf Bio-Produkte setzen, da diese mehr Omega-3-Fettsäuren enthielten. Solche Fettsäuren stärken laut Riedl die Immunabwehr und bringen Entzündungsvorgänge zum Abklingen.

Butter aus vertraglichen Gründen

Wer nicht Bio-Margarine verwendet, dem rät Riedl, zumindest auf die Zutatenliste zu achten, denn: „Es besteht die Neigung der Industrie, preiswerte Fette wie Palmöl oder Sonnenblumenöl zu verwenden.“ Auch Bindemittel und Aromen würden häufig in die Margarine gemischt. „Das ist alles andere als gesund“, sagt der Mediziner. Ein gesünderes Öl sei Kokosöl.

Insgesamt hält Riedl die Diskussion über das Für und Wider von Butter und Margarine eher für einen „Nebenschauplatz“. Viel wichtiger sei es, darauf zu achten, ob Patientinnen und Patienten mangelernährt sind oder nicht. Das sei bei bis zu 30 Prozent der Menschen, die ins Krankenhaus kommen, der Fall, insbesondere ältere Patientinnen und Patienten seien betroffen, sagt Riedl.

Dass die Hamburger Asklepios-Kliniken bislang Joghurt-Butter und keine klassische Butter servierten, hat laut Eberenz übrigens folgenden Grund: Joghurt-Butter sei streichfähiger als reine Butter, das sei speziell für ältere Menschen wichtig, sagt er. Und dass Privatversicherte weiterhin Joghurt-Butter erhalten, sei keinesfalls Ausdruck einer Zwei-Klassen-Gesellschaft - es basiere auf vertraglichen Regelungen.

Marcel Maack


Verbände

Diakonie-Chef Keller: Zu wenig Personal für soziale Dienstleistungen




Urs Keller
epd-bild/Diakonisches Werk Baden
Die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen steigt. Wegen des Personalmangels werde es jedoch künftig weniger Kita-Gruppen, Pflegeplätze sowie weniger ambulante Versorgung und Beratungsangebote geben, befürchtet die Diakonie.

Ettlingen, Karlsruhe (epd). Die Diakonie Baden schlägt Alarm: Sie sieht die sozialen Sicherungssysteme in Gefahr. Während der Bedarf an sozialen Dienstleistungen wachse, gebe es immer weniger Personal, sagte der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Baden, Oberkirchenrat Urs Keller, am 23. Januar in Karlsruhe: „So wie bisher wird vieles nicht mehr sein.“ Es werde künftig weniger Kita-Gruppen, Pflegeplätze sowie weniger ambulante Versorgung und weniger Beratungsangebote geben.

„Wir brauchen eine Umverteilungsdebatte“

Keller hält einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft hin zu mehr Selbstverantwortung für nötig. Zur Zukunft der sozialen Sicherung müsse ein offener Diskurs geführt werden, mit Betroffenenvertretern, Kirchen, der Politik, den Kranken- und Pflegekassen, der Wissenschaft, anderen Sozialverbänden und kommunalen Gebietskörperschaften, sagte Keller beim Diakonie-Jahrespressegespräch.

„Wir brauchen eine Umverteilungsdebatte, für die durch den Ukraine-Krieg ausgelösten sprunghaften Kostensteigerungen“, forderte Keller: „Soziale Sicherung kostet Geld.“ Nötig seien neue Instrumente zur Finanzierung. Es gebe sehr viel Wohlstand in Deutschland. Hier sollte die Politik öffentlich diskutieren, ob Vermögende für soziale Versorgung herangezogen werden könnten.

„Unsere soziale Fürsorge ist nicht für Krisenzeiten ausgelegt“, sagte Beatrix Vogt-Wuchter, Vorständin des Diakonischen Werkes Baden mit Blick auf die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. Das Personal sei ausgelaugt. „Diejenigen, die geholfen haben, brauchen jetzt Hilfe.“

Warnung vor Verschärfung des Personalmangels

Sie kritisierte die „überbordende Bürokratie“ für Betroffene und Angehörige wie auch für Mitarbeitende. „Die Pflege ist überreguliert“, sagte die Diakonie-Vorständin. Ein wichtiger Stützpfeiler in der sozialen Sicherung seien die Freiwilligendienste. Sie hoffe, dass die Politik diese Dienste auch künftig finanziell fördere, so Vogt-Wuchter.

Es bestehe ein krasses Missverhältnis zwischen dem steigenden gesellschaftlichen Bedarf an Hilfsangeboten auf der einen Seite und dem Personal sowie den finanziellen Möglichkeiten auf der anderen Seite, sagte André Peters, Vorstand des Diakonischen Werkes Baden.

Die grundlegende Herausforderung bestehe in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, erläuterte Peters. Eine Chance für Einsparung für Personal sieht er in der zunehmenden Digitalisierung.

Insbesondere in der Pflege und der Behindertenhilfe herrscht Personalmangel. Viele Pflegedienste und Pflegeheime nehmen niemanden mehr auf, hat die Diakonie festgestellt. Der Personalmangel werde sich weiter zuspitzen, hieß es. Bis 2030 würden bundesweit 300.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt.

Christine Süß-Demuth


Kirchen

Bundeskonferenz fordert für die Diakonie Tarifverträge



Kassel (epd). Die Bundeskonferenz der Mitarbeitervertretungen in der Diakonie fordert Tarifverträge für evangelische Sozialunternehmen. In diakonischen Betrieben müssten außerdem für die Beschäftigten die gleichen Rechte gelten wie in weltlichen Unternehmen, beschloss die Bundeskonferenz in ihrer jüngsten Sitzung, wie sie am 23. Januar in Kassel mitteilte. Voraussetzung dafür sei die Anwendung und Weiterentwicklung der staatlichen Gesetze, des Betriebsverfassungsgesetzes und der Unternehmensmitbestimmungsgesetze.

„Der Eingriff ins Arbeitsrecht durch Gesetze der evangelischen Kirche muss für diakonische Unternehmen ein Ende haben“, beschloss die Konferenz. Denn durch die kirchlichen Gesetze würden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Vertretungen in wesentlichen Rechten beschnitten.

Die Delegierten der Bundeskonferenz sprachen sich auch dafür aus, das Mitarbeitervertretungsgesetz zu novellieren und damit weiter an das säkulare Gesetz anzupassen. Dazu würden bereits Gespräche mit dem Kirchenamt und der Politik geführt. Es solle geprüft werden, wie das in kirchlichen Einrichtungen geltende Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden könne.

Strukturelles Ungleichgewicht

Die Forderung nach Tarifverträgen für diakonische Unternehmen begründete die Bundeskonferenz auch damit, dass die Arbeitsrechtlichen Kommissionen von Kirche und Diakonie, in denen Löhne und Arbeitsbedingungen verhandelt werden, nicht geeignet seien, das strukturelle Ungleichgewicht der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern aufzuheben. Die Bundeskonferenz verwies darauf, dass es im Bereich der Diakonie bereits Tarifverträge gibt, beispielsweise in Niedersachsen und in Teilen der Nordkirche. „Auch im Bereich der verfassten Kirche gibt es Tarifverträge in Berlin-Brandenburg, Schleswig-Holstein und Hamburg. Schlechte Erfahrungen damit sind der Bundeskonferenz nicht bekannt“, erklärten die Delegierten in Kassel.

Die Bundeskonferenz stellt den Zusammenschluss der betrieblichen Interessenvertretungen aus Einrichtungen der Diakonie in Deutschland dar. Als Spitzenorgan der Mitarbeitervertretungen spricht sie nach eigenen Angaben für rund 650.000 Beschäftigte.




sozial-Recht

Bundessozialgericht

Nicht zugelassene Arznei ausnahmsweise auch für ungeborene Kinder




Abtasten des Bauchs einer schwangeren Frau
epd-bild/Daniel Peter
Die Therapie mit nicht zugelassenen Arzneimitteln auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung ist auch bei der Behandlung Schwangerer möglich. Hierfür muss aber eine notstandsähnliche Lage vorliegen, forderte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). In einer notstandsähnlichen Situation kann auch die Behandlung einer werdenden Mutter ausnahmsweise mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel erfolgen. Soll die Arznei das Kind vor einer gefährlichen Infektion schützen, ist die Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nur bei einer hohen Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Krankheitsverlauf möglich, urteilte am 24. Januar das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Es müsse zudem Aussicht auf einen Therapieerfolg bestehen.

Schwerwiegende Gesundheitsfolgen möglich

Im Streitfall hatte sich die aus Bayern stammende Klägerin 2015 in der neunten Schwangerschaftswoche mit dem für sie ungefährlichen Zytomegalie-Virus infiziert. Bei ungeborenen Kindern kann diese Form des Herpes-Virus allerdings schwerwiegende Gesundheitsfolgen bis hin zum Abort haben. Eine nach medizinischen Standards anerkannte Therapie zur Bekämpfung des Virus gab es zum damaligen Zeitpunkt nicht.

Um ihr Kind vor einer Infektion zu schützen, beantragte die werdende Mutter bei ihrer Krankenkasse, der AOK Bayern, die Kostenübernahme für das Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest. Das Arzneimittel ist in Deutschland vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Vorbeugung einer Virusinfektion im Rahmen einer immununterdrückenden Therapie zugelassen, nicht aber zur Behandlung einer Infektion mit dem Zytomegalie-Virus. In Studien gab es teils Hinweise, dass die Arznei wirksam sei, andere Untersuchungen hielten das Medikament für unwirksam.

Die Krankenkasse lehnte die beantragte Kostenübernahme ab und verwies auf die fehlende Zulassung. Auch ausnahmsweise könnten im Rahmen des sogenannten Off-Label-Use die Kosten nicht übernommen werden, da das Arzneimittel wirkungslos sei.

Fehlende Wirksamkeitshinweise

Daraufhin ließ die Versicherte auf eigene Kosten ambulant die Behandlung durchführen. Die Kosten in Höhe von 8.753 Euro machte sie bei ihrer Krankenkasse geltend.

Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) wies sie mit Urteil vom 25. November 2021 ab. Ein Off-Label-Use, also der Einsatz von Arzneimitteln ohne bestehende Zulassung, sei wegen fehlender Wirksamkeitshinweise nicht möglich. Auch nach dem Sozialgesetzbuch, das eine Behandlung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln auf Krankenkassenkosten ausnahmsweise vorsieht, komme dies nicht in Betracht.

Vor dem BSG erklärte die Klägerin, dass zwar keine Zulassung von Cytotect CP Biotest zur Behandlung der Zytomegalie-Infektion vorliege. In Studien seien jedoch Hinweise für einen Behandlungserfolg aufgezeigt worden. Ohne die Behandlung mit der Arznei habe eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere Erkrankung des ungeborenen Kindes bestanden.

Doch auch die obersten Sozialrichter lehnten den Kostenerstattungsanspruch ab. Allerdings habe eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorgelegen. Es gelte zudem der Grundsatz, dass der Staat nicht nur das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten schützen müsse, sondern auch die des ungeborenen Kindes. Der Gesetzgeber könne aber festlegen, unter welchen Voraussetzungen die ausnahmsweise Behandlung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln infrage kommt. Im Rahmen des Off-Label-Use sei der Arzneimitteleinsatz auf Kosten der Krankenkasse hier wegen der fehlenden Aussicht eines Therapieerfolgs nicht möglich.

Schulmedizin ohne Erfolg

Auch nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs V könne keine Kostenübernahme für das nicht zugelassene Arzneimittel verlangt werden. Dies komme nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder mit diesen vergleichbaren Erkrankungen infrage, für die keine alternative anerkannte medizinische Behandlung zur Verfügung steht. Es müsse zudem eine notstandsähnliche Situation mit Zeitdruck und einer hohen Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts vorliegen. Dies sei nach der hier allein statistischen Betrachtung nicht der Fall gewesen.

Dass überhaupt Krankenkassen auch für nicht zugelassene Arzneimittel ausnahmsweise die Kosten übernehmen können, geht auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 zurück. Danach müssen die gesetzlichen Krankenkassen bei lebensbedrohlichen Krankheiten auch nicht anerkannte Alternativmethoden bezahlen, wenn die Schulmedizin ohne Erfolg geblieben ist und wenn alternative Methoden „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen“.

Für den Off-Label-Use ließ danach das BSG mit Urteil vom 14. Dezember 2006 eine „schwerwiegende“ Erkrankung ausreichen. Es komme aber auch darauf an, ob ein „gewisser Zeitdruck“ besteht, der eine umgehende Behandlung erforderlich macht.

Az.: B 1 KR 7/22 R (BSG, Schwangerschaft)

Az.: L 4 KR 318/18 (Bayerisches Landessozialgericht)

Az.: 1 BvR 347/98 (Bundesverfassungsgericht)

Az.: B 1 KR 12/06 R (BSG, Off-Label-Use)

Frank Leth


Bundesverwaltungsgericht

Flüchtlingsschutz für syrische Kriegsdienstverweigerer mit Hürden



Leipzig (epd). Vor dem Militärdienst in Syrien geflohene Kriegsdienstverweigerer können auch bei Kriegsverbrechen der syrischen Armee nicht unbedingt mit einer Anerkennung als Flüchtling rechnen. Es müssen schon konkrete und nicht „diffuse“ Tatsachen vorliegen, die eine oppositionelle Haltung zum syrischen Regime belegen, urteilte am 19. Januar das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

In den entschiedenen Fällen ging es um mehrere, in den Jahren 1986 bis 2002 geborene syrische Flüchtlinge, die nicht in der syrischen Armee ihren Militärdienst ableisten wollten. Sie flohen nach Deutschland. Da ihnen bei einer Rückkehr in das Bürgerkriegsland eine Gefahr für Leib und Leben drohte, wurden sie als sogenannte subsidiär Schutzberechtigte anerkannt und damit vor einer Abschiebung geschützt.

Anerkennung als reguläre Flüchtlinge

Die Kläger wollte jedoch gerichtlich die Anerkennung als reguläre Flüchtlinge erstreiten. In diesem Fall hätten sie zum Beispiel mehr Rechte beim Nachzug von Angehörigen nach Deutschland.

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg erkannte sie als Flüchtlinge an. Die maßgeblichen Tatsachengrundlagen seien zwar „in gewissem Maße diffus“. Warum genau die Kläger geflohen sind, sei nicht genügend geklärt. Dennoch sei bei einer Rückkehr von einer politischen Verfolgung auszugehen. Denn das syrische Regime gehe bei einer Militärdienstentziehung von einer oppositionellen Haltung aus und stufe Betroffene als vermeintliche politische Gegner ein.

Noch vor den OVG-Entscheidungen hatte auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 19. November 2020 geurteilt, dass bei der Verweigerung des Militärdienstes in Syrien die „starke Vermutung“ für politische Verfolgung bestehe. Dies könne dann der Fall sein, wenn der Militärdienst verweigert wurde, um nicht an vom syrischen Militär zu verantwortende Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit teilnehmen zu müssen. Keinen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung gebe es jedoch, wenn der Militärdienst allein aus Angst vor der Gewalt abgelehnt werde.

„Diffuse“ Tatsachengrundlage

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte nun, dass es bei der Verweigerung des Militärdienstes die „starke Vermutung“ für einen Verfolgungsgrund gebe. Dennoch führe dies noch nicht zur automatischen Flüchtlingsanerkennung. Behörden und Gerichte müssten „in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung“ prüfen. Hier habe das OVG die politische Verfolgung nur auf einer „diffusen“ Tatsachengrundlage gestützt. Dies reiche für eine Flüchtlingsanerkennung nicht aus. Die Berliner Richter müssten dies daher erneut prüfen.

Az.: 1 C 1.22 und weitere (Bundesverwaltungsgericht)

Az.: C-238/19 (EuGH)



Landessozialgericht

Hilfsmittel darf nicht zur absoluten Passivität zwingen



Essen (epd). Gehbehinderte Menschen dürfen mit der Gewährung von Hilfsmitteln nicht zur absoluten Passivität gezwungen werden. Wollen sie sich eine „selbstbestimmte Mobilität“ mit einem motor-gestützten Therapiedreirad erhalten, darf die Krankenkasse sie nicht auf einen E-Rollstuhl oder einen Elektro-Scooter verweisen, bei denen die gehbehinderte Person keinerlei Muskelkraft zur Fortbewegung benötigt, entschied das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen in einem am 18. Januar veröffentlichten Urteil.

Im Streitfall ging es um eine heute 39-jährige Frau, die wegen einer Knochenkrebserkrankung stark gehbehindert ist. Bei ihr liegt zudem ein chronisches Erschöpfungssyndrom vor. Sie hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen „G“ und „B“.

Dreirad mit Elektromotor

Um sich in ihrem Nahbereich fortbewegen zu können, hatte sie bei ihrer Krankenkasse 2017 das Therapiedreirad „Easy Rider 2“ beantragt. Dabei handelt es sich um ein Dreirad mit unterstützendem Elektromotor. Die Krankenkasse leitete den Antrag an den damals ihrer Meinung nach für die Eingliederungshilfe zuständigen Sozialhilfeträger weiter.

Dieser lehnte die Kostenübernahme für das Therapiedreirad ab. Die gehbehinderte Frau habe bereits ein behinderungsgerecht umgebautes Auto und einen Rollstuhl. Die Krankenkasse hatte ihr zudem angeboten, sie mit einem Elektro-Scooter zu versorgen.

Vor Gericht machte die Frau geltend, dass dass das Therapiedreirad ihr eine selbstbestimmte Mobilität ermögliche.

Kein gleichwertiges Hilfsmittel

Das LSG urteilte, dass es sich bei dem Therapiedreirad um ein Hilfsmittel der medizinischen Rehabilitation handele und die Krankenkasse zuständig sei. Das Hilfsmittel sei zum Behinderungsausgleich und zur Erschließung des Nahbereichs ihrer Wohnung erforderlich. Es diene dem Grundbedürfnis nach Mobilität. „Dabei ist dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen volle Wirkung zu verschaffen“, entschied das LSG.

Hier stelle die Versorgung mit dem Rollstuhl kein gleichwertiges Hilfsmittel dar, da die Klägerin diesen wegen ihres Erschöpfungszustands nur mit einer Begleitperson nutzen könne. Gleiches gelte für das Auto.

Auch müsse sie sich nicht auf einen Elektro-Scooter verweisen lassen. Denn ihr Wunsch, sich mit eigener Muskelkraft fortbewegen zu können, sei zu berücksichtigen. „Es dient dem berechtigten Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens“, dass der behinderte Mensch nicht mit einem Hilfsmittel versorgt werde, welches ihn „zur absoluten Passivität zwingt“.

Das LSG hat die Revision zum Bundessozialgericht in Kassel zugelassen, da nach einer Änderung der Gesetzeslage unter Umständen auch der Eingliederungshilfeträger für die Versorgung in Betracht kommt.

Az.: L 9 SO 317/21



Oberlandesgericht

Hürden für Zwangsbehandlung psychisch kranker Straftäter



Frankfurt a.M. (epd). Eine mutmaßlich psychisch kranke Straftäterin muss sich gegen eine Zwangsbehandlung mithilfe eines Anwalts verteidigen können. Denn wegen des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit und des Selbstbestimmungsrechts müsse nicht nur der im Strafverfahren bestellte Pflichtverteidiger am Verfahren der Zwangsmedikation beteiligt werden, das Gericht müsse zudem auch die Betroffene persönlich anhören, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main in einem am 18. Januar bekanntgegebenen Beschluss.

Zwangsmedikation mit Antipsychotika

Konkret ging es um eine mutmaßlich psychisch krank Frau, der versuchte räuberische Erpressung und mehrere Brandstiftungen vorgeworfen wurden. Das Strafverfahren ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Wegen einer Psychose und einer möglichen Einschränkung ihrer Steuerfähigkeit ist sie vorläufig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

Die Klinik beantragte die Zwangsmedikation mit Antipsychotika. Das zuständige Sozialministerium genehmigte die zwangsweise Behandlung der Frau. Nach der ersten Behandlung Mitte Oktober 2022 erlitt sie mehrere Kreislaufschwächen. Sie war aber geordneter im Denken, deutlich ruhiger und konnte anderen Personen angemessener begegnen, wie es in der Pressemitteilung des Gerichts heißt.

Besonders schwerwiegender Eingriff

Vor Gericht wollte sie feststellen lassen, dass die Zwangsbehandlung rechtswidrig abgelaufen ist. Dem Wunsch stimmte das OLG zu. Es handele sich hier um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte. Daher hätte der im Strafverfahren bestellte Pflichtverteidiger der Frau auch am Verfahren zur Zwangsmedikation beteiligt werden müssen. Denn es hätten erhebliche Zweifel bestanden, dass sie sich selbst angemessen vertreten könne. Auch hätte das Landgericht die Frau persönlich anhören und gegebenenfalls einen forensischen Sachverständigen einschalten müssen.

Das OLG verwies auf das hessische Maßregelvollzugsgesetz. Danach sei eine Zwangsbehandlung bereits während der einstweiligen Unterbringung nur zulässig, wenn „durch die Verzögerung der Behandlung der Erfolg eines zu erwartenden nachfolgenden Maßregelvollzugs nachhaltig infrage gestellt wäre“. Das sei hier nicht festgestellt worden. Der pauschale Hinweis auf eine drohende Chronifizierung der psychiatrischen Erkrankung reiche nicht aus.

Nach diesen Maßgaben muss das Landgericht erneut die Beschwerde gegen die Zwangsbehandlung prüfen.

Az.: 3 Ws 488/22




sozial-Köpfe

Kirchen

Ralf Nolte wird Diözesan-Caritasdirektor in Paderborn




Ralf Nolte
Caritasverband für das Erzbistum Paderborn
Die zweite hauptamtliche Vorstandsposition beim Caritasverband für das Erzbistum Paderborn wird ab 1. Februar mit Ralf Nolte besetzt. Vorstandsvorsitzende wird zum 1. Februar die derzeitige Vorständin Esther van Bebber.

Paderborn (epd). Ralf Nolte (51) wird am 1. Februar 2023 Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Paderborn. Diözesanadministrator Michael Bredeck ernannte ihn auf Vorschlag des Diözesan-Caritasrates des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn. Der Briloner besetzt die zweite Vorstandsposition neben Direktorin Esther van Bebber, die ebenfalls zum 1. Februar als Vorstandsvorsitzende die Nachfolge von Josef Lüttig antritt, der dann in den Ruhestand geht.

Nolte ist Religionspädagoge und systemischer Organisationsberater und seit 2012 als Referent für Personal- und Organisationsentwicklung in der Paderborner Geschäftsstelle des Diözesan-Caritasverbandes tätig. Seitdem leitete er die Ausbildung von mehr als 120 Seelsorglichen Begleitungen in sozialen Einrichtungen. Seit 2013 ist er Diözesanbeauftragter für die Seelsorgliche Begleitung und im Rahmen der Bistumsentwicklung im Erzbistum Paderborn seit 2015 verantwortlich für die Förderung einer diakonischen Kirchenentwicklung. In diesem Zusammenhang ist er auch zuständig für den Fachdienst Caritas-Koordination.

Nolte studierte Religionspädagogik an der Katholischen Fachhochschule in Paderborn und war 16 Jahre als Gemeindereferent in Paderborn, Bestwig und Brilon tätig. Seit dem vergangenen Jahr studiert er nebenberuflich im Master „Nonprofit-Management and Governance“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Der Caritasverband für das Erzbistum Paderborn ist der Zusammenschluss von mehr als 200 katholischen Trägern der Alten- und Gesundheitshilfe, der Jugend- und Behindertenhilfe sowie weiterer Dienste mit rund 70.000 Beschäftigten.



Weitere Personalien



Frank Eibisch (57) hat zum Jahreswechsel das Amt des Vorstandsvorsitzenden der Theodor Fliedner Stiftung angetreten. Er übernimmt die Funktion des theologischen Vorstands. Eibisch war zuletzt Vorsitzender der Geschäftsführung der Agaplesion Mitteldeutschland gGmbH sowie Geschäftsführer der Anhaltischen Hospizgesellschaft gemeinnützige GmbH und der Leipziger Hospizgesellschaft gemeinnützige GmbH. Eibisch ist Diplom-Theologe, Diplom-Diakoniewissenschaftler sowie Führungs- und systemischer Coach. Bei der Theodor Fliedner Stiftung mit Hauptsitz in Mülheim an der Ruhr sind 2.600 Mitarbeitende beschäftigt - im Bereich der Altenhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der Hilfe für Menschen mit Behinderungen, der Psychiatrie und Psychotherapie sowie der Ausbildung, Forschung und Lehre.

Oliver Hans (57) wird Nachfolger des bisherigen geschäftsführenden Vorstands der Caritas Stiftung Stuttgart, Heinz Wolf. Der bisherige Geschäftsführer der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse soll sein Amt am 1. Mai antreten. Wolf wird zum 30. Juni mit 64 Jahren seine Position bei der Stiftung abgeben. Er hatte die Caritas Stiftung Stuttgart 1999 mit gegründet und seit Anfang 2009 geleitet. Er will sich nun anderen Tätigkeiten im Stiftungssektor zuwenden. Die Stiftung weist nach eigenen Angaben eine Bilanzsumme von rund 90 Millionen Euro aus. Sie fördert beispielsweise den Ausbau von Begegnungsstätten in der Altenhilfe, Arbeits- und Integrationsprojekte der Caritas und Projekte für benachteiligte Kinder und Jugendliche.

Gerhard Wegner (69), evangelischer Theologe, wird neuer Antisemitismus-Beauftragter des Landes Niedersachsen. Der frühere Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) tritt zum Februar die Nachfolge von Franz Rainer Enste an. Enste war der erste Landesbeauftragte gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens. Er hatte das Ehrenamt drei Jahre lang inne. Wegner leitete von 2004 an bis zu seinem Ruhestand im Frühjahr 2019 das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD mit Sitz in Hannover. Der habilitierte Theologe ist zudem ehrenamtlicher Vorsitzender des Niedersächsischen Bundes für freie Erwachsenenbildung.

Jürgen Simon Müller (58) ist neuer Vorstand der Diakonie Ingolstadt. Der Sozialpädagoge und katholische Theologe ist seit elf Jahren in leitender Funktion bei der Diakonie tätig, zuletzt als Fachbereichsleitung Gesundheit, Senioren und Pflege. Sein Vorgänger, Diakon Christof Bayer, ging zum Jahresende in den Ruhestand. Die Diakonie Ingolstadt ist mit ihren mehr als 400 Mitarbeitenden und knapp 60 Einrichtungen einer der größten Sozialträger der Region.

Andreas Philippi ist von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zum neuen niedersächsischen Minister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung ernannt worden. Der SPD-Politiker folgt im Amt auf Daniela Behrens (SPD), die neue niedersächsische Innenministerin geworden ist. Für den ausgebildeten Mediziner zählen die Reform des Krankenhauswesens sowie eine gute und verlässliche medizinische Versorgung im stationären und auch ambulanten Bereich und in der Pflege zu den drängendsten Themen. Philippi (57) war zuvor Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Göttingen.

Amal Abbass, Psychologin und Sozialunternehmerin mit sudanesichen Wurzeln, erhält den Berliner Frauenpreis. Die gebürtige Dresdnerin bekommt die mit 5.000 Euro dotierte Auszeichnung für ihren jahrelangen Einsatz für die Gleichstellung von Frauen und den Kampf gegen Mehrfachdiskriminierungen. Abbass und ihre Unterstützerinnen haben das Tubman Network aufgebaut, mit dem sie Hilfsangebote in der Stadt organisieren.

Max Mutzke ist Schirmherr der diesjährigen Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien von NACOA Deutschland. Dabei soll in der Woche vom 12. bis 18. Februar auf die Situation der Kinder aufmerksam gemacht werden, die mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwachsen. Der Sänger und Songwriter Mutzke, vielen Menschen bekannt durch seine Teilnahme am Eurovision Song Contest 2004, wuchs mit einer alkoholkranken Mutter auf. Schwerpunktthema der Aktionswoche ist die Stigmatisierung von Suchtkranken und ihren Angehörigen. Koordiniert wird die Aktionswoche von NACOA Deutschland, der Interessenvertretung für Kinder aus sucht-belasteten Familien.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis März



Januar

30.1.:

Online-Seminar „Feedbackmethoden und Lernkultur - Kommunikationstraining für eine bessere Zusammenarbeit“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

31.1.:

Online-Seminar „Probleme in der Pflege lösen“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356159

Februar

1.2.:

Online-Seminar „Arbeitszeit aktuell“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

8.2. Köln:

Seminar „Personaleinsatzplanung unter dem Bundesteilhabegesetz: Chancen - Risiken - Lösungsansätze“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-0

9.-10.2. Frankfurt a.M.:

Forum „Bleiben oder gehen? Die Bindung von Mitarbeitenden - mehr als eine theologische Frage!“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

13.-15.2. Berlin:

Seminar „Überzeugend auftreten in Präsentation, Verhandlung und Gespräch - Einsatz von Körper, Stimme, Sprache“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

16.-23.2.:

Online-Seminar „Ausländer- und Sozialrecht für EU-BürgerInnnen“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

20.-22.2. Freiburg:

Seminar „Beratungsresistent - Lösungsorientiert handeln unter schwierigen Bedingungen“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

21.2. Hamburg:

Fachtagung „Qualifikationsmix neu denken: Aufgabenumverteilung im Gesundheitswesen“

des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege

Tel: 030/83001-277

27.-28.2.:

Online-Seminar „Den Menschen im Blick. Kompetenzen gegen Diskriminierung im Alltag und Beruf“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

März

1.3.:

Online-Fortbildung „Soziale Arbeit über Grenzen hinweg - Kinderschutzfälle mit Auslandsbezug und grenzüberschreitende Unterbringung“

des Deutschen Vereins

Tel.: 030/62980605

2.-3.3.:

Online-Seminar „Das operative Geschäft: Steuerung und Controlling in der Eingliederungshilfe“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-495

13.-15.3. Berlin:

Fortbildung „Erfolgreiche Lobbyarbeit im politischen Raum“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200 1700

17.3.-19.3.:

Online-Seminar „Konflikte souverän online beraten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-170

23.-24.3.:

Digital-Seminar „Handlungsfelder für eine zukunftsorientierte kommunale Wohnungspolitik“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980 419

30.-31.3. Berlin:

Seminar „Grundlagen der Sprachmittlung in der Sozialen Arbeit und im Gesundheitswesen - Verständigungshindernisse professionell überwinden“

der Fortbildungsakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-476