Kassel (epd). In einer notstandsähnlichen Situation kann auch die Behandlung einer werdenden Mutter ausnahmsweise mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel erfolgen. Soll die Arznei das Kind vor einer gefährlichen Infektion schützen, ist die Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nur bei einer hohen Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Krankheitsverlauf möglich, urteilte am 24. Januar das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel. Es müsse zudem Aussicht auf einen Therapieerfolg bestehen.
Im Streitfall hatte sich die aus Bayern stammende Klägerin 2015 in der neunten Schwangerschaftswoche mit dem für sie ungefährlichen Zytomegalie-Virus infiziert. Bei ungeborenen Kindern kann diese Form des Herpes-Virus allerdings schwerwiegende Gesundheitsfolgen bis hin zum Abort haben. Eine nach medizinischen Standards anerkannte Therapie zur Bekämpfung des Virus gab es zum damaligen Zeitpunkt nicht.
Um ihr Kind vor einer Infektion zu schützen, beantragte die werdende Mutter bei ihrer Krankenkasse, der AOK Bayern, die Kostenübernahme für das Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest. Das Arzneimittel ist in Deutschland vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zur Vorbeugung einer Virusinfektion im Rahmen einer immununterdrückenden Therapie zugelassen, nicht aber zur Behandlung einer Infektion mit dem Zytomegalie-Virus. In Studien gab es teils Hinweise, dass die Arznei wirksam sei, andere Untersuchungen hielten das Medikament für unwirksam.
Die Krankenkasse lehnte die beantragte Kostenübernahme ab und verwies auf die fehlende Zulassung. Auch ausnahmsweise könnten im Rahmen des sogenannten Off-Label-Use die Kosten nicht übernommen werden, da das Arzneimittel wirkungslos sei.
Daraufhin ließ die Versicherte auf eigene Kosten ambulant die Behandlung durchführen. Die Kosten in Höhe von 8.753 Euro machte sie bei ihrer Krankenkasse geltend.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) wies sie mit Urteil vom 25. November 2021 ab. Ein Off-Label-Use, also der Einsatz von Arzneimitteln ohne bestehende Zulassung, sei wegen fehlender Wirksamkeitshinweise nicht möglich. Auch nach dem Sozialgesetzbuch, das eine Behandlung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln auf Krankenkassenkosten ausnahmsweise vorsieht, komme dies nicht in Betracht.
Vor dem BSG erklärte die Klägerin, dass zwar keine Zulassung von Cytotect CP Biotest zur Behandlung der Zytomegalie-Infektion vorliege. In Studien seien jedoch Hinweise für einen Behandlungserfolg aufgezeigt worden. Ohne die Behandlung mit der Arznei habe eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine schwere Erkrankung des ungeborenen Kindes bestanden.
Doch auch die obersten Sozialrichter lehnten den Kostenerstattungsanspruch ab. Allerdings habe eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorgelegen. Es gelte zudem der Grundsatz, dass der Staat nicht nur das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten schützen müsse, sondern auch die des ungeborenen Kindes. Der Gesetzgeber könne aber festlegen, unter welchen Voraussetzungen die ausnahmsweise Behandlung mit nicht zugelassenen Arzneimitteln infrage kommt. Im Rahmen des Off-Label-Use sei der Arzneimitteleinsatz auf Kosten der Krankenkasse hier wegen der fehlenden Aussicht eines Therapieerfolgs nicht möglich.
Auch nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs V könne keine Kostenübernahme für das nicht zugelassene Arzneimittel verlangt werden. Dies komme nur bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder mit diesen vergleichbaren Erkrankungen infrage, für die keine alternative anerkannte medizinische Behandlung zur Verfügung steht. Es müsse zudem eine notstandsähnliche Situation mit Zeitdruck und einer hohen Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts vorliegen. Dies sei nach der hier allein statistischen Betrachtung nicht der Fall gewesen.
Dass überhaupt Krankenkassen auch für nicht zugelassene Arzneimittel ausnahmsweise die Kosten übernehmen können, geht auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 zurück. Danach müssen die gesetzlichen Krankenkassen bei lebensbedrohlichen Krankheiten auch nicht anerkannte Alternativmethoden bezahlen, wenn die Schulmedizin ohne Erfolg geblieben ist und wenn alternative Methoden „eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen“.
Für den Off-Label-Use ließ danach das BSG mit Urteil vom 14. Dezember 2006 eine „schwerwiegende“ Erkrankung ausreichen. Es komme aber auch darauf an, ob ein „gewisser Zeitdruck“ besteht, der eine umgehende Behandlung erforderlich macht.
Az.: B 1 KR 7/22 R (BSG, Schwangerschaft)
Az.: L 4 KR 318/18 (Bayerisches Landessozialgericht)
Az.: 1 BvR 347/98 (Bundesverfassungsgericht)
Az.: B 1 KR 12/06 R (BSG, Off-Label-Use)