sozial-Recht

Landessozialgericht

Hilfsmittel darf nicht zur absoluten Passivität zwingen



Essen (epd). Gehbehinderte Menschen dürfen mit der Gewährung von Hilfsmitteln nicht zur absoluten Passivität gezwungen werden. Wollen sie sich eine „selbstbestimmte Mobilität“ mit einem motor-gestützten Therapiedreirad erhalten, darf die Krankenkasse sie nicht auf einen E-Rollstuhl oder einen Elektro-Scooter verweisen, bei denen die gehbehinderte Person keinerlei Muskelkraft zur Fortbewegung benötigt, entschied das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen in einem am 18. Januar veröffentlichten Urteil.

Im Streitfall ging es um eine heute 39-jährige Frau, die wegen einer Knochenkrebserkrankung stark gehbehindert ist. Bei ihr liegt zudem ein chronisches Erschöpfungssyndrom vor. Sie hat einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen „G“ und „B“.

Dreirad mit Elektromotor

Um sich in ihrem Nahbereich fortbewegen zu können, hatte sie bei ihrer Krankenkasse 2017 das Therapiedreirad „Easy Rider 2“ beantragt. Dabei handelt es sich um ein Dreirad mit unterstützendem Elektromotor. Die Krankenkasse leitete den Antrag an den damals ihrer Meinung nach für die Eingliederungshilfe zuständigen Sozialhilfeträger weiter.

Dieser lehnte die Kostenübernahme für das Therapiedreirad ab. Die gehbehinderte Frau habe bereits ein behinderungsgerecht umgebautes Auto und einen Rollstuhl. Die Krankenkasse hatte ihr zudem angeboten, sie mit einem Elektro-Scooter zu versorgen.

Vor Gericht machte die Frau geltend, dass dass das Therapiedreirad ihr eine selbstbestimmte Mobilität ermögliche.

Kein gleichwertiges Hilfsmittel

Das LSG urteilte, dass es sich bei dem Therapiedreirad um ein Hilfsmittel der medizinischen Rehabilitation handele und die Krankenkasse zuständig sei. Das Hilfsmittel sei zum Behinderungsausgleich und zur Erschließung des Nahbereichs ihrer Wohnung erforderlich. Es diene dem Grundbedürfnis nach Mobilität. „Dabei ist dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen volle Wirkung zu verschaffen“, entschied das LSG.

Hier stelle die Versorgung mit dem Rollstuhl kein gleichwertiges Hilfsmittel dar, da die Klägerin diesen wegen ihres Erschöpfungszustands nur mit einer Begleitperson nutzen könne. Gleiches gelte für das Auto.

Auch müsse sie sich nicht auf einen Elektro-Scooter verweisen lassen. Denn ihr Wunsch, sich mit eigener Muskelkraft fortbewegen zu können, sei zu berücksichtigen. „Es dient dem berechtigten Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens“, dass der behinderte Mensch nicht mit einem Hilfsmittel versorgt werde, welches ihn „zur absoluten Passivität zwingt“.

Das LSG hat die Revision zum Bundessozialgericht in Kassel zugelassen, da nach einer Änderung der Gesetzeslage unter Umständen auch der Eingliederungshilfeträger für die Versorgung in Betracht kommt.

Az.: L 9 SO 317/21