Wiesbaden, Bremen (epd). Mario Lewalter blickt nicht gerne auf seine Kindheit zurück. Als er zwei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Zu seinem Vater hatte er daraufhin kaum noch Kontakt. Die Erinnerung an ihn verblasste immer mehr. Er wuchs in dem Glauben auf, dass sein Vater ein schlechter Mensch sei.
„Meine Mutter hat mir immer wieder erzählt, mein Vater sei Alkoholiker gewesen, habe sie geschlagen, wollte mich ihr wegnehmen“, sagt der Wiesbadener. Irgendwann glaubte Lewalter daran und hatte das Bild eines alkoholsüchtigen, gewalttätigen Mannes im Kopf. Zu hinterfragen begann er dieses Bild erst, als er älter wurde.
Seine Mutter habe ihm zwar immer wieder gesagt: „Wenn du deinen Vater sehen willst, dann darfst du das“, aber aufgrund der Erzählungen seiner Mutter wollte er das zunächst gar nicht. „Heute weiß ich: Ich stand im Loyalitätskonflikt.“ Sein Vater hatte jahrelang immer wieder versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Für ihn jedoch war der Vater ein böser Mensch. Lewalter blockte daher jeden Annäherungsversuch ab.
Lewalter erinnert sich daran, wie seine Mutter all seine in ihren Augen negativen Eigenschaften dem schlechten väterlichen Einfluss zuschrieb. „Meine Mutter sagte immer, wenn ich wütend war: Du bist wie dein Vater. Das war für mich das Schlimmste.“ Deswegen versuchte er fortan stets, Emotionen wie Wut zu unterdrücken - bis er immer mehr einen Großteil seines eigenen Charakters kleinhielt. „Ich habe meine eigene Identität verleugnet“, sagt der heute 46-Jährige.
Seine angestaute Wut, der Selbsthass, die Verzweiflung hatten auch einen negativen Effekt auf seine körperliche Gesundheit. „Ich hatte Rückenschmerzen und Schlafprobleme. Als ich 28 Jahre alt war, sagte mir ein Arzt, dass das an der psychischen Misshandlung liegen könne.“
Der Psychologe Stefan Rücker befasst sich seit geraumer Zeit mit den Folgen einer Eltern-Kind-Entfremdung. „Welche Folgen die tatsächlich für Kinder hat, ist unterschiedlich. Es gibt robuste, resiliente Kinder, die solch ein einschneidendes Lebensereignis gut verarbeiten.“ Doch das sei die weitaus geringere Zahl. „Der Großteil der entfremdeten Kinder erlebt zunächst einmal Stress.“
Betroffene leiden im Erwachsenenalter häufiger unter Depressionen und Schwierigkeiten im Beziehungsaufbau, sagt Rücker. „Der durch Entfremdung entstandene Verlust einer wichtigen Bezugsperson weist Trauma-Potenzial auf. Traumata bilden die Grundlage für nahezu alle psychischen Erkrankungen“, erklärt der Bremer Psychologe.
Lewalter unterdrückte die Erinnerung an seinen Vater bis zu einem bestimmten Tag. An jenem Freitagmorgen - er war damals 38 Jahre alt - ruft ihn eine unbekannte Nummer in der Werkstatt an, in der der Kfz-Mechaniker seinerzeit arbeitete. Jemand sagte: „Hier ist dein Vater.“ Die Erinnerung daran wühlt ihn noch heute auf.
„Irgendwann bin ich dann zu meinem Vater gefahren und wir haben uns unterhalten, ganz zwanglos“, erzählt er weiter. Er habe erfahren, was der Vater alles unternommen habe, um seinen Sohn zu sehen.
„Ich wollte wissen, was mein Vater für ein Mensch ist. Ich wollte ihn kennenlernen“, sagt er. Sein Vater hatte nach der Trennung eine andere Frau kennengelernt. Sie hat drei Kinder mit in die Beziehung gebracht, eines davon mit Behinderung. „Noch heute kümmert er sich um dieses Kind. Da habe ich gemerkt: Das kann gar nicht so ein schlechter Mensch sein, wie meine Mutter ihn immer beschrieben hatte.“
Das Treffen mit seinem Vater hatte viele positive Folgen für Lewalter. „Endlich konnte ich mich selbst akzeptieren, meine Emotionen und all die aufgestaute Wut annehmen und Frieden schließen mit allem.“
Vor einem Jahr ist sein Vater gestorben. Wann immer er nun von seiner Mutter den Satz „Du bist wie dein Vater“ zu hören bekomme, antworte er nur: „Ja, genau. Ich bin wie mein Vater.“ Er habe seinen Frieden damit geschlossen.