sozial-Editorial

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Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

das vor genau fünf Jahren vom Gesetzgeber eingeführte „Konto für Jedermann“ sollte Menschen mit sehr wenig Geld die Einrichtung eines Girokontos ermöglichen. Die Banken können sie seither nicht mehr so leicht abweisen. Aber viele Institute erschweren ihnen den Zugang durch hohe Gebühren, beklagen Michael Findeisen und Julian Merzbacher vom Verein Finanzwende in ihrem Gastbeitrag. Sie fordern eine Gesetzesverschärfung und eine aktivere Finanzaufsicht.

Der Digitalisierungsschub in der Corona-Pandemie verschärft die Probleme armer Bevölkerungsgruppen. Vertreter von Betroffenenorganisationen sagen, Computer, Headset, Kamera oder ein Drucker seien aus den Hartz-IV-Regelsätzen nicht zu finanzieren. Die „digitale Hilflosigkeit“ verstärke die Existenzängste und die Einsamkeit vieler Betroffener. Die Diakonie unterstützt die Aktivisten.

Die Pflegekammern kommen in den Bundesländern einfach nicht in die Gänge. Zwei der drei gegründeten Kammern befinden sich schon wieder in der Abwicklung. In NRW wollen Pflegekräfte trotzdem eine Kammer aufbauen. Der Sozialforscher Stefan Sell kritisiert strategische Fehler. Er sieht die Idee der Berufskammern bereits in einem „Sterbeprozess“.

Medizinische Therapien mit Cannabis-Medikamenten sind immer wieder ein Streitthema. Jetzt hat das Landessozialgericht Stuttgart in zwei Urteilen der Cannabis-Behandlung bei Schmerzpatienten die engen gesetzlichen Grenzen bekräftigt: Zuerst müssen alle medizinischen Alternativen ausgeschöpft sein.

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Markus Jantzer





sozial-Politik

Armut

Teure Konten für Bedürftige




Viele Kreditinstitute verlangen für das Basiskonto hohe Gebühren.
epd-bild/Norbert Neetz
Das Basiskonto soll ein bezahlbares Girokonto für Menschen mit wenig Geld sein. Doch fünf Jahre nach seiner Einführung unterlaufen manche Banken das Gesetz, indem sie an der Preisschraube drehen. Verbraucherschützer fordern Nachbesserungen.

Berlin (epd). Inwieweit das Basiskonto ein Erfolgsmodell ist, können wenige so gut beurteilen wie Michael Findeisen. Der 68-Jährige hat das entsprechende Gesetz maßgeblich mitgestaltet, als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium. Fünf Jahre später ist Findeisen im Ruhestand - und ehrenamtlich für den Verein Finanzwende aktiv. Die Konstruktionsfehler des im Juni 2016 in Kraft getretenen Gesetzes würden nun deutlich, sagt der Jurist. So seien die Gebühren, die Geldinstitute für die Führung eines Basiskontos verlangen können, nicht gedeckelt. Ergebnis: „Die Banken drehen an der Preisschraube.“

Etwa 761.500 Basiskonten in Deutschland

Im Juni 2020 gab es 761.500 Basiskonten, eine aktuellere Zahl liegt laut Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nicht vor. Bis zu 250 Euro jährlich verlangen manche Institute für ein solches Konto, stellen die Finanzmarktkritiker vom Verein Finanzwende fest. Ein stattlicher Preis, wenn man bedenkt, dass das Modell speziell für Menschen gedacht ist, die sehr wenig Geld haben.

Wie oft die staatliche Bankenaufsicht bislang gegen überhöhte Gebühren vorgegangen ist, ließ die BaFin auf Nachfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) offen. Im Gesetz stehe, die Entgelte sollten „angemessen“ sein, erklärte ein Sprecher. Was das konkret heißt, habe der Gesetzgeber nicht festgelegt und sei „im Einzelfall zu prüfen“. Das sei seit Einführung des Basiskontos vor fünf Jahren „in mehr als 60 Fällen“ geschehen.

Gerichte kassieren zu hohe Gebühren

Besonders dreiste Gebührenforderungen wurden in Einzelfällen von Gerichten einkassiert. So erklärte der Bundesgerichtshof (BGH) im Juni vergangenen Jahres, ein Entgelt von monatlich 8,99 Euro - in Verbindung mit 1,50 Euro pro Überweisung - sei „unwirksam“, weil es zu einer „unangemessenen Benachteiligung“ führe.

Das Gebührenmodell entworfen hatte die Deutsche Bank, dagegen geklagt der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv). Zwar erhoffte sich der Verband vom Richterspruch eine „Signalwirkung für die gesamte Branche“. Doch gilt die Entscheidung nur für das konkrete Gebührenmodell - und ist deshalb nicht übertragbar. Verbraucherschützer Klaus Müller forderte deshalb, die Bundesregierung müsse aktiv werden, denn: „Das aktuelle Gesetz lässt Banken zu viel Spielraum bei der Preiskalkulation.“

Banken sehen angemessene Entgelte

Bankenverbände sehen keinen Handlungsbedarf. Laut Gesetz definiere sich die Angemessenheit der Entgelte auch an den Dienstleistungen, die die Geldinstitute jenseits des Basiskontos anbieten, sagte Silvia Frömbgen, Abteilungsdirektorin beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV), dem epd. „Mir ist kein Fall bekannt, bei dem dagegen eklatant verstoßen wurde.“ Ein Girokonto sei eine Dienstleistung, die nun mal ihren Preis habe.

Dass Menschen mit Geldproblemen, etwa Suchtkranke oder Obdachlose, das Recht auf ein Girokonto haben, ist keine Selbstverständlichkeit: Viele Jahre lang hatten Experten der Schuldnerberatung und der Sozialverbände das Konto für Jedermann vergeblich gefordert. Machten sie Fälle öffentlich, in denen Betroffenen eine Bankverbindung verweigert worden war, sprachen Geldinstitute regelmäßig von „Einzelfällen“. Zudem verwiesen die Banken - wie auch verschiedene Bundesregierungen - gerne auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Kreditwirtschaft aus dem Jahr 1995. Der Anspruch einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers auf ein Konto leitete sich daraus jedoch nicht ab.

Experte: Gute Idee wird ausgehöhlt

Michael Findeisen vom Verein Finanzwende warnt davor, dass die Idee des Gesetzes bald ausgehöhlt sein könnte: „Gegenwärtig erhöhen die Banken auch die Gebühren für gewöhnliche Girokonten. Ohne Deckelung der Entgelte für Basiskonten durch den Gesetzgeber oder die BaFin gibt es keine Lösung.“

Was Geldinstitute für die Führung eines Basiskontos verlangen, hat die Stiftung Warentest im Februar 2021 bei 203 Modellen von 128 Banken bundesweit untersucht. Ihr Fazit: „Wer arm ist und kein regelmäßiges Einkommen hat, zahlt für ein Girokonto meist viel mehr als Gehalts- und Rentenempfänger.“



Armut

Gastbeitrag

Gebührenexzesse beim Basiskonto stoppen




Michael Findeisen (li.), Julian Merzbacher
epd-bild/Finanzwende-Recherche
Hohe Gebühren der Banken führen dazu, dass viele Bürger kein Basiskonto nutzen. Wie und warum das geändert werden muss, erläutern Michael Findeisen und Julian Merzbacher von der Organisation Finanzwende in ihrem Gastbeitrag für epd sozial.

Berlin (epd). Das Basiskonto ist eine Erfolgsgeschichte. Eigentlich. Seit rund fünf Jahren haben viele Menschen mit wenig Geld Zugang zu einem Zahlungskonto. Zuvor konnten diese leicht von den Banken abgewiesen werden. Mitte 2020 vermeldete die Finanzaufsicht BaFin, dass 761.500 Basiskonten seit Einführung eröffnet wurden. Eine beachtliche Zahl - und damit ein Erfolg. Ein Konto ist für viele Alltagsgeschäfte vom Gehaltseingang bis zur Mietüberweisung notwendig. Insofern beugt das Basiskonto auch sozialer Ausgrenzung vor.

Doch der in Deutschland erreichte Erfolg mit der Schaffung eines subjektiven Rechts auf ein Basiskonto ohne Einschränkungen wird aufs Spiel gesetzt, wenn sich wegen Gebührenerhöhungen viele Menschen ein Basiskonto gar nicht mehr leisten könnten. Dieses Problem war schon vor fünf Jahren vorhersehbar, dagegen unternommen wurde indes seither nichts. Dabei gäbe es sogar zwei Instrumente zur Beseitigung des Missstands: eine Überarbeitung der Entgeltregelung im Gesetz und eine aktivere Finanzaufsicht.

Ansatz 1: Eine klarere Formulierung im Gesetz

Im Zahlungskontengesetz fehlt eine klare Definition, wie hoch ein Entgelt für Basiskonten sein darf. Es regelt nur, dass das Entgelt „angemessen“ sein soll. Was das konkret für den Einzelfall bedeutet, bleibt im Dunkeln. So kommt es, dass einzelne Banken über 200 Euro für die normale Nutzung eines Basiskontos verlangen, wie die Stiftung Warentest im November 2020 ermittelte. Immer weniger Banken bieten das Basiskonto für weniger als 100 Euro im Jahr an. So zahlt, wer arm ist und kein regelmäßiges Einkommen hat, für ein Girokonto oft mehr als Gehalts- und Rentenempfänger.

Aktuell können Menschen mit viel Glück noch auf Banken mit geringeren Entgelten ausweichen, doch angesichts der branchenweit zu beobachten Trends hin zu höheren Kontogebühren auch für gewöhnliche Girokonten, steht diese Option in der Zukunft in Frage. Innerhalb der letzten fünf Jahre sind die Entgelte für Girokonten durchschnittlich um 40 Prozent gestiegen, wodurch die Gebühren für Basiskonten mit in die Höhe gezogen werden. Das Drehen an der Gebührenschraube wird weitergehen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gebühren von den Banken noch häufiger als schon bislang als Abwehrmechanismus gegen das Basiskonto eingesetzt werden und sich dadurch der alte Rechtszustand vor Inkrafttreten des Gesetzes durch die Hintertür durchsetzen lässt.

Aus diesem Grund müsste vom Deutschen Bundestag endlich der Begriff der Angemessenheit im Gesetz klar definiert werden. Dazu müsste man sich jedoch von der Quadratur des Kreises verabschieden, die bisher mit der Entgeltregelung verfolgt wurde. Es kann nur schieflaufen, wenn man bei einem solchen Thema dem sozialpolitischen Ziel gerecht werden und zugleich den Interessen der Kreditwirtschaft entsprechen will. Den Banken einen angemessenen Gewinn bei Basiskonten zuzubilligen und den sozialen Aspekten genügen zu wollen, ist unter den aktuellen Marktbedingungen ein Ding der Unmöglichkeit.

Dass es durchaus anders geht, zeigen andere EU-Länder. Während es in Deutschland keine Höchstgrenze für die Gebühren gibt, sind andere Staaten einen verbraucherfreundlicheren und praktikableren Weg bei der Umsetzung der Zahlungskontenrichtlinie gegangen. Frankreich und das frühere EU-Mitglied Großbritannien bieten Basiskonten entgeltfrei an. In Österreich sind die Entgelte auf niedrigem Niveau gedeckelt.

Eine aktivere Finanzaufsicht ist nötig

Doch nicht nur durch eine Neufassung der Gebührenregelung könnte man den Problemen beim Basiskonto entgegenwirken, sondern auch durch eine aktivere Finanzaufsicht durch die BaFin. Die BaFin müsste aktiv werden, da auf dem Rechtsweg keine schnelle und umfassende Klärung erreicht werden kann. In der Vergangenheit gab es zwar Urteile zu Gebührenregelungen für das Basiskonto, die gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen verstoßen haben. Im Jahr 2020 sogar vom Bundesgerichtshof gegen die Deutsche Bank. Aber solche Urteile können den verbreiteten Missstand überhöhter Gebühren nicht flächendeckend beenden, weil sie nur im Einzelfall Bindungswirkung haben. An dieser Stelle muss die Finanzaufsicht tätig werden und ihrem Verbraucherschutzmandat gerecht werden.

Die Behörde besitzt die nötigen Instrumente, gegen eine nicht gesetzeskonforme Praxis beim Entgelt vorzugehen. Mit verschiedenen Maßnahmen aus der sogenannten Missstandsaufsicht beziehungsweise dem kollektiven Verbraucherschutz kann die BaFin gegensteuern - wenn sie wollte.

Missstände müssen behoben werden

Sollten Entgelte aus Sicht der BaFin unangemessen sein, kann die Finanzaufsicht Institute über den Einzelfall hinaus anweisen, diese anzupassen. In einem Artikel vom 15. Dezember 2017 hatte die BaFin selbst verdeutlicht, dass der Zugang zu einem Zahlungskonto für alle Berechtigten nur dann gewährleistet ist, wenn die Höhe der Entgelte den sozialpolitischen Zweck der Basiskonten nicht zunichtemacht. Damals zeigte sich die BaFin noch bereit, im Zweifel einzugreifen.

Doch von dieser Haltung hat sich die Behörde mittlerweile leider verabschiedet. Dabei wäre sie heute angesichts der weiter steigenden Kontogebühren notwendiger denn je. Die Finanzaufsicht hat die Hürden für ihr Eingreifen mittlerweile durch eine fragwürdige Rechtsauffassung unnötigerweise hochgeschraubt. Sie spricht davon, dass es erst „ultima ratio“ wäre, Anordnungen an Institute zu senden, um Verstöße wie zu hohe Gebühren für das Basiskonto zu ahnden. Das ist falsch. Bei einem solchen Missstand kann und müsste die BaFin früher stärker agieren - und zwar unabhängig von den Zivilgerichten und institutsübergreifend. Es reicht nicht, als Behörde Missstände zu erkennen, sondern die Missstände müssen auch behoben werden - gerade wenn es um den Zugang zu einem Konto geht.

So ist die eigentliche Erfolgsbilanz des Basiskontos eingetrübt. Rund fünf Jahre nach dem Start des Basiskontos müssen Politik oder die Finanzaufsicht endlich aktiv werden. Sonst droht der Glanz der damaligen Neuregelung endgültig zu verblassen.

Michael Findeisen war viele Jahre Referatsleiter im Bereich Geldwäsche und Zahlungsverkehr im Bundesfinanzministerium und ist heute ehrenamtlicher Fellow beim Verein Finanzwende. Julian Merzbache ist bei Finanzwende für Verbraucherschutzthemen zuständig.


Kinder

Psychologinnen befürchten für kleine Kinder Schäden aus der Pandemie




Özlem Sensoy (li.), Julia Dillmann
epd-bild/Sebastian Schmidt; Robin Dillmann
Die Corona-Pandemie wirkt sich negativ auf die Entwicklung von Kleinkindern aus. Allerdings können sie verpasste Schritte wieder aufholen, sagen zwei Entwicklungspsychologinnen im Interview.

Gießen (epd). Durch den eingeschränkten oder fehlenden Kontakt zu anderen Kindern haben manche Kinder in der Pandemie laut Expertinnen wichtige Entwicklungsschritte verpasst. Die Entwicklung könne sich aber wieder normalisieren, sobald der Alltag wieder eintritt, sagen die Entwicklungspsychologinnen Julia Dillmann und Özlem Sensoy von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Psychologinnen wollen in einer noch laufenden Studie Näheres herausfinden. Mit ihnen sprach Lynn Osselmann.

epd sozial: Sie untersuchen gerade in einer Studie die Auswirkungen der Pandemie auf die frühkindliche Entwicklung. Wie ist das Design der Untersuchung?

Özlem Sensoy: Die Studie läuft seit Ende April letzten Jahres. Zum einen gibt es einen Fragebogen zur elterlichen Belastung, zum anderen zur sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder. Der Fragebogen für Kinder fragt etwa Meilensteine ab, die Kinder in einem bestimmten Alter erreichen, wie zum Beispiel das Rollenspiel bei Dreijährigen. An unserer Studie nehmen Kinder zwischen drei Monaten und dreieinhalb Jahren teil.

Julia Dillmann: Es handelt sich um eine fortlaufende Längsschnittstudie, bei der die Eltern zu verschiedenen Zeitpunkten befragt werden. Derzeit haben wir die Daten aus dem ersten Lockdown ausgewertet.

epd: Was sind die ersten Ergebnisse?

Sensoy: Die Daten aus dem ersten Lockdown haben ergeben, dass die elterliche Belastung verglichen zur Normstichprobe gestiegen ist. Die Belastung war noch nicht in einem klinisch-kritischen Bereich, aber schon recht erhöht. Ähnlich sah es bei der sozial-emotionalen Entwicklung aus. Bei Säuglingen bis zwölf Monate fanden sich keine Unterschiede. Ab etwa zwei Jahren fanden sich niedrigere Werte bei der sozial-emotionalen Entwicklung im Vergleich zur Normstichprobe. Auch hier lagen die Ergebnisse nicht im kritischen Bereich. Manche Kinder hatten bestimmte Meilensteine nicht erreicht, zum Beispiel durch den eingeschränkten oder fehlenden Kontakt zu anderen Kindern.

Dillmann: Insgesamt fanden wir höhere Belastungen bei Eltern von Kleinkindern. Das heißt, Eltern von Säuglingen hatten ein geringeres Stressempfinden als Eltern von ein- bis dreijährigen Kindern. Je älter die Kinder waren, desto eher hatten sie niedrigere Werte bei der sozial-emotionalen Entwicklung. Eine Erklärung könnte sein, dass Eltern von Kleinkindern eher eine Doppelbelastung durch ihren eigenen Job und die Betreuung haben. Bei kleineren Kindern ist etwa durch die Elternzeit meist ohnehin jemand zuhause. Es gab auch signifikante Zusammenhänge zwischen dem Stresserleben und der sozial-emotionalen Entwicklung, insbesondere bei den Zwei- bis Dreijährigen. Je höher das elterliche Stressempfinden war, desto geringer waren die Werte in der sozial-emotionalen Entwicklung.

epd: Was könnte sich in Pandemie-Zeiten negativ auf die frühkindliche Entwicklung auswirken?

Dillmann: Wir möchten uns zum Beispiel anschauen, wie sich das Tragen von Masken auf die frühkindliche Entwicklung auswirkt. Kinder lesen sehr viel aus Gesichtern und spezialisieren sich relativ früh auf Gesichter der eigenen Ethnie. Sie müssen eine gewisse Anzahl an Gesichtern kennenlernen, um Informationen entnehmen zu können. Kleinkinder haben während der Pandemie eine viel geringere Anzahl an Gesichtern ohne Maske kennengelernt als normalerweise. Es fehlt im Prinzip an unterschiedlichen Gesichtern, die es früher zum Beispiel durch mehr Besuch oder Spielgruppen gab."

epd: Wirkt sich die Pandemie unterschiedlich auf Kinder aus?

Dillmann: Je nachdem, was für Netzwerke oder Bewältigungsstrategien die Eltern und Kinder haben, gehen sie auch anders mit den Belastungen um. Hat das Kind mehrere Geschwister oder wohnt es beispielsweise in einem Haus mit Cousins und Cousinen, hat die Corona-Zeit vielleicht andere Auswirkungen als auf ein Einzelkind, das weniger Kontakte hatte.

Sensoy: Bei unserer Studie nahmen bislang vor allem Familien mit höherem Bildungsstand teil, deren berufliche Situation während der Pandemie etwas entspannter war. Trotzdem zeigten die Eltern ein erhöhtes Stressempfinden. Wir könnten uns vorstellen, dass sich die Pandemie auf Familien ganz anders auswirken kann, bei denen die berufliche Situation schwieriger ist oder auch die Möglichkeit zum Homeoffice kaum oder gar nicht besteht.

epd: Könnte die Corona-Pandemie längerfristig einen negativen Einfluss auf die Entwicklung haben?

Sensoy: Es gibt Befunde von anderen Forschern, die zeigen, dass die Eltern mit guten Ressourcen sehr viel von den negativen Auswirkungen auf die Kinder abfangen können. Längerer Stress ohne schlechte Ressourcen können allgemein einen negativen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben, unabhängig von den Gegebenheiten während der Corona-Pandemie.

Insgesamt kann es sehr gut sein, dass sich die frühkindliche Entwicklung wieder normalisiert, wenn der normale Alltag wieder eintritt. Es gibt zwar Meilensteine, die innerhalb eines bestimmten Alters erreicht werden, diese sind aber bei der sozial-emotionalen Entwicklung nicht so streng abzugrenzen wie beispielsweise die sogenannte sensible Phase beim Spracherwerb. Kinder können Meilensteine wie das Rollenspiel wahrscheinlich trotz allem ganz normal erreichen, auch wenn es vielleicht ein bisschen später ist.

Dillmann: Die Follow-Up-Daten zu unserer Studie kommen erst noch. Es kann sein, dass sich die Ergebnisse vom vergangenen Jahr zugespitzt haben, es kann aber auch genau andersherum sein. Während die Pandemie letztes Jahr ganz plötzlich kam, haben wir alle in der Zwischenzeit viel mehr Wissen erlangt und Familien könnten so Strategien entwickelt haben, um mit den Beschränkungen umzugehen. So könnten sich auch das Stressempfinden und die sozial-emotionale Entwicklung wieder verbessert haben. Insgesamt hatten Kinder zwar reduzierte Kontakte, aber es waren Kontakte da. Kleinkinder sind sehr anpassungsfähig. Es kann sein, dass sich Fähigkeiten wie die Gesichtswahrnehmung verzögert entwickeln, aber dann einfach zeitversetzt erlernt werden.

epd: Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf Kleinkinder im Vergleich zu anderen Altersgruppen?

Sensoy: Die Auswirkungen hängen sehr mit dem familiären Umfeld zusammen. Positiv ist für Kleinkinder, dass die Eltern als wichtigste Bezugspersonen während der Pandemie immer noch da waren. Eltern können also eine wichtige stabile Größe sein und sehr viele Belastungen auffangen. Für das ein oder andere Kleinkind kann die Corona-Zeit vielleicht sogar ganz schön gewesen sein, weil die Eltern als Bezugspersonen immer da waren.

Bei Jugendlichen sind eher andere Jugendliche wichtige Bezugspersonen, weshalb sie der fehlende Kontakt vermutlich mehr belastet hat. Auch bei Schulkindern bemerkt man die Auswirkungen wahrscheinlich stärker, weil sich der ganze Alltag verändert hat. Zum Beispiel fehlt das Lernen in der Schule, das Kind kommt vielleicht im Online-Unterricht nicht mit, gleichzeitig sind aber auch hier die Eltern als wichtige Bezugspersonen noch da.



Familie

Wissenschaftler fordern Senkung des Kinderfreibetrags




Kinder auf einer Schaukel
epd-bild/Thomas Lohnes
Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird der Kinderfreibetrag als sozial ungerecht kritisiert, da er Besserverdiener begünstige. Nun fordern Forscher, ihn drastisch zu senken und außerdem einkommensschwache Familien finanziell mehr zu unterstützen.

Berlin (epd). Die steuerliche Behandlung von Familien mit Kindern durch Kindergeld und Kinderfreibeträge begünstigt nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Haushalte mit hohen Einkommen. Die Forscher fordern deshalb, den Kinderfreibetrag deutlich zu senken. Die dadurch entstehenden Mehreinnahmen des Staates von bis zu 3,5 Milliarden Euro sollten für die Bildungsinfrastruktur und für einkommensschwache Haushalte eingesetzt werden. „Jedes vierte bis fünfte Kind in Deutschland lebt in relativer Armut. Bedürftige Familien mit Kindern sollten höhere Geldleistungen vom Staat bekommen“, sagte DIW-Forscher Stefan Bach dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Armutsquote seit Jahren konstant bei 20 Prozent

Rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind nach Schätzungen armutsgefährdet - und damit häufig auch bildungsbenachteiligt. Der Anteil armutsgefährdeter Kinder hält sich laut DIW zwar seit Jahren relativ konstant bei etwas über 20 Prozent. Doch die Tatsache, dass diese Quote trotz der wirtschaftlich starken Jahre vor der Corona-Pandemie gleich geblieben ist und gerade Kinder aus einkommensschwachen Familien in der Pandemie durch die Schulschließungen negativ betroffen waren, mache dieses Thema „politisch brisant“, sagte Bach.

In einigen Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 2021 wird gefordert, das Kindergeld zu erhöhen und eine Kindergrundsicherung einzuführen, die das Existenzminimum von Kindern effektiver sichern soll. Die SPD schlägt vor, das Kindergeld von derzeit 219 Euro auf einheitlich 250 Euro im Monat zu erhöhen. Die Grünen wollen das Kindergeld auf einheitlich 290 Euro pro Kind anheben. Die Linke will das Kindergeld auf 328 Euro erhöhen.

Forscher: Kinderfreibetrag von rund 6.000 Euro genügt

Die Forscher des Berliner Instituts favorisieren eine andere Lösung: „Der Kinderfreibetrag könnte von derzeit 8.388 Euro deutlich reduziert werden“, sagte Bach dem epd. Denn beim Kinderfreibetrag entfielen nur 5.460 Euro auf das „sächliche Existenzminimum“ der Kinder, also auf die notwendigen Lebenshaltungskosten für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit. Zusätzlich würden 2.928 Euro für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf eines Kindes berücksichtigt - unabhängig davon, ob die Aufwendungen in dieser Höhe in den Familien auch tatsächlich anfallen. „Bei den meisten Steuerpflichtigen dürften sie in dieser Höhe nicht vorliegen“, sagte Bach.

Diese Summe sei „nicht nachvollziehbar“. Daher sollte eine deutlich niedrigere Pauschale für den Aufwand für Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf reichen. Bach hält statt knapp 3.000 Euro lediglich 600 Euro im Jahr für angemessen.

Allerdings sollten tatsächlich entstehende höhere Beträge bei entsprechenden Nachweisen von der Steuer abgezogen werden dürfen, gegebenenfalls bis zu bestimmten Höchstgrenzen für einzelne Ausgabenarten. „Mit dieser Reform könnte der Kinderfreibetrag auf 6.060 Euro sinken“, empfehlen die DIW-Autoren in ihrer Studie.

Die Senkung des Kinderfreibetrags würde für Mehreinnahmen von rund 3,5 Milliarden Euro im Jahr bewirken. Belastet wären nach DIW-Angaben die Familien im oberen Fünftel der Einkommensverteilung, an erster Stelle die oberen zehn Prozent.

„Die zusätzlichen staatlichen Finanzmittel könnten gezielt für das Kindeswohl und die Senkung von Kinderarmut verwendet werden“, schlägt Bach vor. Zum einen könnten dadurch Betreuungs-Infrastruktur und Bildungsangebote für Kinder verbessert werden. Zum anderen könnten die Mittel verwendet werden, um gezielt arme Familien finanziell zu unterstützen und außerdem für alle das Kindergeld zu erhöhen, so das DIW.



Bundestag

Einigung über Kinderrechte im Grundgesetz gescheitert



"Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern." So stand es im Koalitionsvertrag von Union und SPD - und kommt nun doch nicht. Lange Verhandlungen zwischen den Koalitionspartnern und mit der Opposition brachten kein Ergebnis.

Berlin (epd). Die von der großen Koalition geplante Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz kommt in dieser Wahlperiode nach Angaben von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) nicht mehr. Wie Lambrecht am 7. Juni mitteilte, sind die Verhandlungen darüber zwischen den Koalitionsfraktionen und mit der Opposition gescheitert. Als Ministerin „und auch persönlich bin ich zutiefst enttäuscht darüber“, erklärte Lambrecht. Auch Kinderrechtsorganisationen äußerten sich enttäuscht.

Ringen um Formulierungen

Die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz wurde im Koalitionsvertrag vereinbart. Lambrecht wollte in Artikel 6 der Verfassung unter anderem ergänzen, dass das Kindeswohl bei Entscheidungen künftig angemessen berücksichtigt wird. Ein von ihr vorgelegter Entwurf kam auch durchs Bundeskabinett. Über die konkreten Formulierungen wurde aber weiter gerungen. Kinderrechtsorganisationen und Grüne forderten, das Kindeswohl nicht nur „angemessen“, sondern „vorrangig“ zu berücksichtigen. Die Union fürchtete demgegenüber eine Beschneidung von Elternrechten bei einer weitgehenden Formulierung.

Für eine Grundgesetzänderung wäre eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich gewesen. Die Koalition wäre also auf Stimmen der Opposition angewiesen gewesen. Die erforderliche Mehrheit sei nur erreichbar, wenn es eine Bereitschaft zum Kompromiss in der Sache gebe, sagte Lambrecht. Daran habe es gefehlt, erklärte Lambrecht, die seit dem Ausscheiden von Franziska Giffey (SPD) aus der Bundesregierung auch Bundesfamilienministerin ist. „Unsere Kinder hätten es verdient gehabt, dass sich alle zusammenraufen und im Sinne der Sache zu einer Lösung kommen“, sagte sie.

Die an den Verhandlungen Beteiligten übten sich am 8. Juni in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Lambrecht machte Union und die Oppositionsparteien für das Scheitern verantwortlich. Die Union wiederum gab Grünen und SPD die Schuld. Überlegungen, zusätzlich zu Kinderrechten noch ein weiteres Staatsziel zu verankern, hätten den Bogen überspannt, erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Thorsten Frei (CDU).

Aktionsbündnis Kinderrechte enttäuscht

Die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Katja Suding sprach von „Blockaden insbesondere von CDU und Grünen“. Die Grünen-Co-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warf bei Twitter der Union vor, eine Lösung blockiert zu haben. Die Linken waren nach eigenen Angaben von den Verhandlungen ausgeschlossen worden. Die AfD hatte die Gesetzespläne ohnehin abgelehnt.

Vom Ergebnis enttäuscht äußerte sich das Aktionsbündnis Kinderrechte, dem unter anderem das Deutsche Kinderhilfswerk, der Kinderschutzbund und Unicef Deutschland angehören. „Die Corona-Pandemie hat deutlich gezeigt, dass Kinderrechte bisher zu häufig übergangen werden“, erklärte das Bündnis. „Kinder und ihre Familien hätten mehr Kompromissbereitschaft und Rückhalt über alle Parteien hinweg verdient.“

Corinna Buschow


Kriminalität

Steinmeier: Ein Leben nach der Gewalt aufbauen



Es war "ein besonderer Besuch" für Bundespräsident Steinmeier: Das Staatsoberhaupt sprach mit Menschen, die als Kinder Opfer sexueller Gewalt geworden sind und Fachberaterinnen und -beratern, die ihnen helfen können. Davon gibt es zu wenige.

Berlin (epd). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 4. Juni in Berlin Fachberatungsstellen gegen sexuelle Gewalt an Kindern besucht und dabei auch mit Betroffenen gesprochen. Die Opfer müssten im Mittelpunkt stehen, sagte das Staatsoberhaupt und zeigte sich berührt und beeindruckt von den Begegnungen: „Es war ein besonderer Besuch“, bilanzierte er. Steinmeier rief dazu auf, im Kampf gegen sexuellen Missbrauch an Kindern die Präventionsarbeit auszubauen. In Kitas, in Schulen, überall wo Kinder und Jugendliche betreut werden, müssten die Verantwortlich sensibilisiert werden, Hinweise aufzugreifen und Verdachtsmomenten nachzugehen.

Wo Kinder Gewalt ausgesetzt seien, müsse entschlossen eingegriffen werden, sagte Steinmeier. Beratungsstellen spielten eine wichtige Rolle dabei, zerstörtes Vertrauen wiederzuerlangen und bestärkten junge Menschen darin, sich „ein Leben nach der Gewalt aufzubauen“, sagte Steinmeier nach einem knapp einstündigen Gespräch mit Fachberaterinnen und -beratern von „Wildwasser“, „Hilfe-für-Jungs“ und der Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF).

Beratungsstellen hoffen auf Signalwirkung

Katrin Schwedes von der BKSF sagte, es sei ein wichtiges Signal, wenn sich das Staatsoberhaupt mit den Erfahrungen und Perspektiven von Betroffenen auseinandersetze. Signalwirkung erhofften sich die Beratungsstellen von Steinmeiers Besuch auch in Hinblick auf ihre Finanzierung durch Länder und Kommunen. Besonders auf dem Land fehlen spezialisierte Beratungs- und Hilfsangebote. Missbrauch sei zwar spätestens seit der Aufdeckung der Skandale in der katholischen Kirche 2010 kein gesellschaftlich tabuisiertes Thema mehr. Doch stünden Aufklärung und Präventionsarbeit in der Praxis wegen mangelnder Mittel und Fachkräfte noch immer am Anfang, bilanzierte Schwedes.

Bundesweit gibt es 350 Fachberatungsstellen, davon sind 13 auf Jungen und Männer spezialisiert. Ein Großteil arbeitet nach Angaben der BKSF ohne ausreichende und kontinuierliche Finanzierung. Der von Feministinnen gegründete Verein „Wildwasser“, der Anfang der 1980er Jahre in Berlin die erste Beratungsstelle zur Unterstützung sexuell missbrauchter Mädchen und Frauen eröffnete, leistete Pionierarbeit auf diesem Gebiet. Irina Stolz von „Wildwasser“ betonte im Gespräch mit dem Bundespräsidenten die große Stärke vieler Mädchen und Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten haben. Viele seien „Kämpferinnen“, sagte sie und schafften es, sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Steinmeier bleibt dran am Thema

Der Besuch Steinmeiers bei den Fachberatungsstellen ist nicht sein erster Austausch mit Betroffenen und Experten. Der Bundespräsident hat den Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen wiederholt zum Thema gemacht. Zuletzt sprach er im Mai auf dem 3. Ökumenischen Kirchentag die „quälend langsame Aufdeckung und Aufarbeitung“ der Missbrauchs-Verbrechen durch die Kirchen an.

Im April dieses Jahres zeichnete Steinmeier den Jesuitenpater Klaus Mertes und den Aktivisten Matthias Katsch für ihren Einsatz gegen die Vertuschung der Skandale in der katholischen Kirche mit dem Bundesverdienstkreuz aus. Ende Juni ist ein Empfang der Mitglieder des Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen beim Bundespräsidenten geplant.

Bettina Markmeyer


Kriminalität

Hintergrund

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche



Berlin (epd). Laut Polizeilicher Kriminalstatistik wurden 2020 mehr als 14.500 Fälle von Kindesmissbrauch erfasst - ein weiterer Anstieg gegenüber den Vorjahren. Das Dunkelfeld ist weit größer. Rechnet man die Annahmen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf Deutschland herunter, sitzen statistisch gesehen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder mit Missbrauchserfahrungen. In einer repräsentativen Studie von 2017 gab jeder achte Erwachsene an, als Kind mit sexueller Gewalt konfrontiert gewesen zu sein. Mädchen sind zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Jungen. Die meisten Taten finden im sozialen Nahraum statt, häufig in der Familie.

Bundesweit gibt es 350 Fachberatungsstellen, davon sind 13 auf Jungen und Männer spezialisiert. Rechnerisch kommen laut der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF) auf jede Beratungsstelle 28.000 Betroffene. Der Bedarf an spezialisierter Beratung steigt auch deshalb , weil das Thema sexualisierte Gewalt weniger tabuisiert ist als früher. Die erste Beratungsstelle eröffnete der aus einer Selbsthilfegruppe heraus entstandene Verein „Wildwasser, Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen“ Anfang der 1980er Jahre in Berlin.



Corona

135.000 Kurzarbeiter stockten Einkünfte mit Hartz IV auf



Trotz der massenhaften Zahlung von Kurzarbeitergeld gab es in der Grundsicherung einen deutlichen Corona-Effekt. Bei etwa 135.000 Kurzarbeitern reichten die Einkünfte nicht mehr aus, so dass sie Unterstützung durch das Jobcenter benötigten.

Berlin (epd). In der Corona-Pandemie haben zwischen April 2020 und April 2021 etwa 135.000 Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter ihre Einkünfte mit Hartz-IV-Leistungen aufgestockt. Insbesondere im April und Mai 2020 kam es zu einem sprunghaften Anstieg, wie die Bundesagentur auf Anfrage der Linken-Abgeordneten Sabine Zimmermann mitteilte. Zimmermann sagte am 8. Juni in Berlin, die Zahlen zeigten sehr deutlich, dass das Kurzarbeitergeld für viele Menschen zu niedrig sei, besonders in den ersten Monaten. Das treffe vor allem Beschäftigte mit kleinem Einkommen.

Ersparnisse aufgebraucht

Zimmermann erklärte, die Zahl der Anspruchsberechtigten auf aufstockendes Hartz IV dürfte sogar noch weitaus größer sein, da viele den Gang zum Jobcenter scheuten und stattdessen ihre Ersparnisse aufbrauchten. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag kritisierte, die Bundesregierung lasse Geringverdienende beim Kurzarbeitergeld im Stich. Nötig sei ein Kurzarbeitergeld von 90 Prozent vom letzten Netto vom ersten Tag.

Geringverdienende bräuchten außerdem ein Mindestkurzarbeitergeld von 1.200 Euro, wie es auch die Gewerkschaften fordern, betonte Zimmermann. Das entspreche für Mindestlohnbeschäftigte 100 Prozent vom letzten Netto. „Nur so lässt sich verhindern, dass Kurzarbeitende in Armut geraten“, sagte sie.

Aktuell erhalten Beschäftigte 60 Prozent des letzten Nettoentgelts als Kurzarbeitergeld (Beschäftigte mit mindestens einem Kind: 67 Prozent). Ab dem vierten Bezugsmonat kann das Kurzarbeitergeld unter bestimmten Voraussetzungen auf 70 beziehungsweise 77 Prozent erhöht werden, vom achten Bezugsmonat an sind Zahlungen von 80 beziehungsweise 87 Prozent möglich.

Die Zahl der Kurzarbeitenden belief sich laut Bundesagentur für Arbeit zuletzt (im März 2021) auf 2,61 Millionen. Auf dem bisherigen Höchststand im April 2020 waren es knapp sechs Millionen.



Alterssicherung

Viel Widerspruch gegen Rente mit 68




Rentenausweis
epd-bild/Heike Lyding
Drei Monate vor der Bundestagswahl macht ein Beraterpapier die Runde, das viel Widerspruch auslöst: Experten für das Bundeswirtschaftsministerium schlugen vor, das Renteneintrittsalter auf 68 Jahre zu erhöhen.

Der Wissenschaftliche Beirat im Ministerium von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sieht in einem am 7. Juni veröffentlichten Gutachten ab 2025 einen „Finanzierungsschock“ auf die staatliche Rentenkasse zukommen. Deshalb plädiert er für ein reguläres Renteneintrittsalter von 68 Jahren. Damit, das war abzusehen, ist das Thema in den Wahlkampf hineingerückt und löste scharfe Reaktionen von SPD, Linkspartei und Grünen aus. Nach geltender Rechtslage wird die Altersgrenze für die Rente ohne Abschläge bis 2029 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben.

Die Berater betonen, das Renteneintrittsalter könne nicht langfristig von der Entwicklung der Lebenserwartung abgekoppelt werden. „Stattdessen müssen die zusätzlichen Lebensjahre nach einer klaren Regel zwischen mehr arbeiten und länger Rente beziehen aufgeteilt werden.“ Dafür solle es eine „dynamische Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung“ geben. Die Expertinnen und Experten betonen, dass das Verhältnis der in Arbeit und in Rente verbrachten Lebenszeit konstant bleiben soll.

Zielmarke: Rente mit 68 ab 2042

Gemäß den derzeitigen Prognosen der Lebenserwartung würde mit einer solchen Regel das Rentenalter im Jahr 2042 mit 68 Jahren erreicht, sagte der Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, Axel Börsch-Supan, bei dem die Federführung des Gutachtens lag. Der Beirat betonte in seiner Mitteilung: „Sollte die Lebenserwartung abnehmen, kann auch das Rentenalter sinken.“ Fakt ist aber auch: Jeder Fünfte stirbt vor dem 69. Lebensjahr.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, er halte eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters für den falschen Weg. „Auch eine Absenkung des Rentenniveaus wäre nicht richtig, weil sich sonst die Löhne und Gehälter von der Rentenentwicklung abkoppeln würden. Heil: “Je mehr Menschen in den nächsten Jahren in Arbeit sind und je besser die Lohn- und Gehaltsentwicklung ist, desto stabiler ist auch die gesetzliche Rente. Das ist der Weg, auf den ich setze."

Seine Parteifreundin Katja Mast sekundierte: „Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist nichts anderes als eine kräftige Rentenkürzung, die wir nicht mitmachen.“ Dass diese sozialen Fragen keine Rolle in der Debatte des Beirats spielten, sei beschämend.

Linke: Rückkehr zur Rente mit 65 ist möglich

„Die Drohszenarien, dass die Rente langfristig nicht finanzierbar sei, sind komplett unseriös“, sagte Matthias W. Birkwald, der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion. Seine Partei lehne deshalb eine Anhebung der Regelaltersgrenze ab. „Die Rückkehr zur Rente ab 65 wäre nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung mit einer moderaten Beitragssatzerhöhung von 0,5 Prozentpunkten finanzierbar“, so Birkwald. Der steuerfinanzierte Bundeszuschuss müsste dazu um gut eine Milliarde Euro steigen.

Johannes Vogel, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sagte, das Gutachten stelle der Rentenpolitik der großen Koalition ein vernichtendes Urteil aus. „Dringendst notwendige Reformen wurden sehenden Auges nicht angegangen und der demografische Wandel aktiv verschlafen. Stattdessen wurde der Druck auf den Rentenkessel durch weitere Rentenpakete immer weiter erhöht.“

Der Präsident des Sozialverbandes SoVD, Adolf Bauer, sagte, die Anhebung des Renteneintrittsalters bedeute nichts anderes als eine Rentenkürzung. „Ein derartiges Vorhaben ist schlichtweg nicht hinnehmbar.“ Statt eine derart unnütze Debatte zu führen, solle sich die Politik lieber auf das Notwendige zu konzentrieren. „Was wir dringend brauchen, sind Maßnahmen, die es den Menschen erlauben, bis zum derzeitigen regulären Renteneintritt gesund zu arbeiten“, so Bauer. Zu diesen Maßnahmen zählen unter anderem eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung, regelmäßige Gesundheits-Check-Ups und gute Arbeitsbedingungen.

Des Weiteren gilt es laut Bauer die gesetzliche Rente zu stärken, indem das Rentenniveau auf mindestens 50, perspektivisch 53 Prozent angehoben wird und die gesetzliche Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung für alle weiterentwickelt wird.

Dirk Baas



sozial-Branche

Corona

Armuts-Aktivisten und Diakonie ziehen bittere Pandemie-Zwischenbilanz




Die Bahnhofsmission kümmert sich in der Corona-Pandemie um Bedürftige.
epd-bild/Rudolf Stumberger
Ein Raum, ein Computer, eine Internetverbindung: Menschen, die in Armut leben, fehlt oft die Mindestausstattung. Die Corona-Pandemie und der Digitalisierungsschub haben ihre Probleme noch verschärft. Jetzt melden sie sich selbst zu Wort.

Berlin (epd). Ihr Smartphone sei ein Geschenk und ihr Laptop eine Leihgabe aus der Verwandtschaft, berichtet die Frankfurterin Helga Röller, die sich seit zehn Jahren in Erwerbslosen-Initiativen engagiert. Ohne den Computer hätte sie an der virtuellen, von der Diakonie veranstalteten Pressekonferenz am 9. Juni in Berlin nicht teilnehmen können, auf der Armuts-Aktivisten über ihre Erfahrungen in der Corona-Krise berichten.

Michael Stiefel, Vorstandsmitglied im Armutsnetzwerk und ehemals selbst ein Wohnungsloser, fasst zusammen, was es mindestens braucht, um heutzutage gehört zu werden: einen Raum, einen Computer, eine stabile Internetverbindung und vorher eine Dusche. Die infrastrukturelle Unterstützung verarmter Menschen zu verbessern, haben sich Stiefel, Röller und ihre Mitstreiter zum Ziel gesetzt. Die Diakonie Deutschland unterstützt ihre Arbeitsgruppe für „Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung“ und will ihren Forderungen Gehör verschaffen.

Probleme Bedürftiger verschärfen sich

Denn die Corona-Pandemie und der mit ihr verbundene Digitalisierungsschub drohen die Probleme armer Bevölkerungsgruppen noch zu verschärfen. Diakonie-Vorstandsmitglied Maria Loheide warnt: „Menschen mit Armutserfahrung erleben, dass sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden.“ Man müsse den Betroffenen endlich zuhören, um zu verstehen, mit welchen Belastungen sie kämpfen. Von der nächsten Bundesregierung erwarte die Diakonie, dass sie die Teilhabe von armutsbetroffenen Menschen in ihr Regierungsprogramm aufnimmt, sagt Loheide: Die Diakonie wolle „einen Anstoß geben zu einer öffentlichen politischen Diskussion darüber, was jetzt nötig ist, um eine weitere Verschärfung der sozialen Lage zu verhindern.“

In der Behindertenpolitik ist das seit vielen Jahren der Fall. Beim Wirtschaftsminister verschaffen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften regelmäßig Gehör. Aber diejenigen, die am Rand des Existenzminimums zurechtkommen müssen, reden in der Politik nicht mit. In der Corona-Pandemie mit ihren Abstandsregeln und neuen digitalen Formaten drohten sie sogar „digital unsichtbar“ zu werden, sagen die Betroffenenvertreter. Computer, Headset, Kamera oder ein Drucker seien aus den Hartz-IV-Regelsätzen nicht zu finanzieren. Die „digitale Hilflosigkeit“ verstärke die Existenzängste und die Einsamkeit, da zudem die Treffpunkte und Hilfsangebote komplett wegfielen oder stark eingeschränkt waren und sind.

„Der soziale Notstand ist da“

Von der Politik verlangen die Armuts-Aktivisten Maßnahmen gegen die Ausgrenzung, darunter Technik und Know-how, um digitale Anbindung und Mitsprache zu gewährleisten, sowie eine Erhöhung der Sozialleistungen. „Der soziale Notstand ist da“, heißt es in einem Fünf-Punkte-Forderungskatalog, den die Arbeitsgemeinschaft gemeinsam mit der Diakonie-Spitze vorlegte. Wo Corona-Maßnahmen zu zusätzlicher Benachteiligung führten, müsse gegengesteuert werden.

An einem Rechenbeispiel macht der Armuts-Experte der Diakonie, Michael David, deutlich, wie es eine Familie im Hartz-IV-Bezug trifft, allein wenn im Lockdown das kostenlose Schulessen wegfällt. 70 Euro pro Kind und Monat ist das wert. Stattdessen muss die Familie das Essen selbst kaufen und für alle laufenden Kosten aufkommen, die zu Hause entstehen: mehr Stromverbrauch, höhere Wasserkosten, Kopien, Ausdrucke, Materialien, die sonst in der Schule gestellt werden. Das werde durch den Kinderbonus von 300 Euro im vorigen und 150 Euro in diesem Jahr nicht aufgewogen, sagt der Armutsexperte.

Bei den Erwachsenen sei es nicht besser: Ihre Ausgaben steigen, die Tafeln hatten zu, die Kleiderkammern auch. Der Corona-Bonus von 150 Euro sei da bestenfalls eine symbolische Zahlung, sagt David.

Im Regelsatz fehlen mindestens 180 Euro

Michael Stiefel weiß aus eigener Erfahrung, dass jede Stromnachzahlung, jede Reparatur und jede Zusatzausgabe existenzbedrohlich werden können: „Das ist im Regelsatz nicht drin.“ Es sind 446 Euro monatlich für einen Erwachsenen - etwa 180 Euro mehr müssten es sein, sagt die Diakonie. Die Pandemie treffe die Menschen „besonders hart, die schon vorher zu kämpfen hatten“, bilanziert Stiefel.

„Kleine Beträge haben eine große Bedeutung“, meint auch Helga Röller. Für sie war der Kauf guter Masken „ein großer Posten“ in ihrem Etat. Sie schäme sich nicht, das zu sagen, betont sie - und die Masken braucht sie: allein schon um sich mit anderen Armuts-Aktivisten öffentlich zu Wort zu melden.

Bettina Markmeyer


Armut

Mehr Gesundheit für Bedürftige




Betteln auf der Straße
epd-bild/Udo Gottschalk
Armen Menschen und Migranten fehlt häufig der Zugang zum Gesundheitssystem. Mit Zeit und persönlicher Begleitung wollen die Mitarbeiterinnen des Hamburger "Gesundheitskiosks" helfen. Ihr Konzept hat Erfolg.

Hamburg (epd). Im großen Gruppenraum des Hamburger „Gesundheitskiosks“ sitzt Lita Baumeister am Ende eines langen Tisches hinter einer Plexiglasscheibe. Gerade hat sie eine bulgarische Mutter mit ihrem fünfeinhalbjährigen Sohn verabschiedet. „Die Kinderärztin des Jungen hat Sprachverzögerungen und Entwicklungsstörungen bei ihm festgestellt und ihn zu uns in den Gesundheitskiosk geschickt, damit wir die Familie unterstützen und seine Entwicklung mit beurteilen können.“

Baumeister ist eine von acht Gesundheitsberaterinnen in der Billstedter Einrichtung. Die praxisähnlichen Räume liegen im Erdgeschoss eines Ladengebäudes mitten in der Fußgängerzone. Der Hamburger Stadtteil ist ein sozialer Brennpunkt, es gibt viele Menschen mit Migrationshintergrund und wenig Geld.

Projekt ging 2017 an den Start

2017 wurde der „Gesundheitskiosk“ vom Ärztenetzwerk Billstedt-Horn ins Leben gerufen. Die Idee: Eine niedrigschwellige Anlaufstelle zu schaffen, in der Patienten mit mehr Zeit und in mehreren Sprachen beraten werden können. „Wir haben festgestellt, dass viele Menschen immer wieder mit denselben Fragen zu uns kamen“, berichtet Gerd Fass, Chirurg und Orthopäde sowie Vorstandsvorsitzender des Ärztenetzwerkes. Die Ärzte - ohnehin deutlich weniger als in bessergestellten Stadtteilen - konnten oft nicht ausreichend auf die einzelnen Patienten eingehen.

„Kommunikation ist alles“, sagt Gesundheitsberaterin Olga Schenk im zweiten Beratungsraum des Billstedter Kiosks. „Oft kommen die Menschen zu uns und sagen: 'Der Arzt hat mir irgendwas gesagt, aber ich hab’s nicht richtig verstanden.' Dann gehen wir in Ruhe die Befunde nochmal durch.“ Die gelernte Krankenschwester hat auch Pflegeentwicklung und Management studiert. Als gebürtige Russin kann sie den Menschen außerdem in ihrer Muttersprache helfen. Gerade wartet sie auf eine Frau aus einem afrikanischen Land, die die Diagnose Diabetes erhalten hat, um mit ihr über die notwendige Ernährungsumstellung zu sprechen.

Ernährung oft ein wichtiges Thema

Ernährung ist auch ein häufiges Thema bei Lita Baumeister, die sich vor allem um Familien kümmert. Die gelernte Krankenschwester spricht Arabisch und Tschetschenisch und studiert berufsbegleitend Interdisziplinäre Gesundheitsversorgung und Management. Sie versucht Eltern an eine gesunde Ernährung heranzuführen. Sie erklärt ihnen, dass Kinder mittags eine richtige Mahlzeit brauchen und nicht nur ein Croissant. Auch der bulgarischen Mutter hat sie bunte Zettel mit Schaubildern zu Nährstoffen und Beispielgerichten mitgegeben. „Dann habe ich ihr noch von einer heilpädagogischen Einrichtung im Viertel erzählt, wo Kinder sprachlich und motorisch gefördert und auch die Eltern mit einbezogen werden. Sie war interessiert und möchte dort einen Termin vereinbaren.“

Etwa 60 Prozent der Besucher werden von ihrem Arzt an den „Gesundheitskiosk“ überwiesen, etwa 20 Prozent von anderen sozialen Einrichtungen und weitere 20 Prozent kommen von alleine, erzählt Gerd Fass. Mehr als die Hälfte der Ärzte aus dem Viertel beteiligt sich an dem Projekt, das mittlerweile von fünf Krankenkassen regelfinanziert wird. Die Gesundheitsberaterinnen gehen regelmäßig in die Praxen, um mit den Ärzten die einzelnen Fälle zu besprechen und Rückmeldung zu geben, beispielsweise ob ein Patient seine Ernährung umstellen konnte.

Eine wissenschaftliche Studie der Uni Hamburg hat kürzlich ergeben, dass der Kiosk die medizinische Versorgung im Stadtteil nachweislich verbessert hat. „Ich hoffe, wir können dazu beitragen, dass die Menschen hier auf lange Sicht eine höhere Lebenserwartung und eine bessere Lebensqualität haben“, sagt Gerd Fass. Gerade ist er dabei, mit Kollegen und den Gesundheitsberaterinnen Corona-Impfungen im „Gesundheitskiosk“ zu organisieren.

Imke Plesch


Pflege

Kammern: "Zu spät und falsch gestartet"




Experten beklagen eine geringe Neigung bei den Pflegefachkräften, sich berufsständisch zu organisieren.
epd-bild/Klaus Honigschnabel
Auf Augenhöhe mit Ärzten und anderen Interessensgruppen über die Zukunft des Gesundheitswesens zu verhandeln - das war die Idee bei der Einrichtung von Pflegekammern. Bundesweit konnte sich die Idee bislang nicht durchsetzen.

Mainz, Kiel (epd). Über die schlechten Nachrichten aus Norddeutschland wundert Markus Mai sich nicht. Dem Präsidenten der rheinland-pfälzischen Landespflegekammer kommen in Kürze die Partner in Niedersachsen und Schleswig-Holstein abhanden. Beide Länder lösen nach Befragungen unter den Beschäftigten ihre Kammern wieder auf. „Die Pflege hat noch kein berufsständisches Selbstbewusstsein“, sagt Mai.

Rheinland-Pfalz war nach einem Landtagsbeschluss von 2014 das erste Bundesland, das den Aufbau einer Berufskammer für Pflegefachkräfte beschlossen hatte. Nun drohe es erneut zu einem einsamen „gallischem Dorf“ zu werden, glaubt der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Er sieht die Idee der Berufskammern in einem „Sterbeprozess“. Eine Hauptursache der aktuellen Misere liege darin, dass die „nachholende Verkammerung“ der Pflege nicht in allen Bundesländern gleichzeitig angestoßen wurde: „Der Prozess ist zu spät und falsch gestartet.“

Mächtige Gegenspieler in der Pflegeszene

In der Bundesrepublik sind insbesondere Vertreter freier Berufe wie Ärzte, Anwälte oder Psychotherapeuten in Kammern organisiert. Die Berufsvertretungen sind nicht nur eine selbstbewusste Lobby für die Interessen ihrer Mitglieder, sondern übernehmen auch staatliche Aufgaben wie die Festlegung und Überprüfung von Qualitäts- und Ausbildungsstandards. Doch im Fall der Pflege gab es von Anfang an mächtige Gegenspieler. Arbeitgeber und die Gewerkschaft ver.di waren sich einig in ihrer Ablehnung. Viele Beschäftigte sahen die Zwangsmitgliedschaft kritisch.

„Die Pflegekräfte sind nicht sehr gut darüber informiert worden, was auf sie zukommt“, sagt Katja Rathje-Hoffmann, sozialpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Kieler Landtag. Schon bei der ersten Umfrage in Schleswig-Holstein zur Einrichtung der Pflegekammer sei die Zustimmung mit 51 Prozent denkbar knapp ausgefallen. Nach der Gründung der Kammer habe sie immer wieder von Kritikern gehört, es handele sich lediglich um einen „Club, der sich mit sich selbst beschäftigt“. Für die entscheidenden Fragen wie Arbeitsbedingungen und eine auskömmliche Entlohnung der Pflegekräfte seien die Kammern nie zuständig gewesen.

Viele gegen Pflichtmitgliedschaft

Im Frühjahr sprachen sich dann bei einer neuen Befragung über 90 Prozent der schleswig-holsteinischen Pflegekräfte für eine Auflösung der Kammer aus. Vor allem die verpflichtende Mitgliedschaft und die dafür fälligen Monatsbeiträge waren vielen ein Dorn im Auge. In Niedersachsen hatten zuvor mehr als 70 Prozent für die Abwicklung der Kammer gestimmt. „Das ganze ist eine richtig teure Tasse Tee geworden“, seufzt Rathje-Hoffmann. Allein in Schleswig-Holstein kämen zu einer Anschubfinanzierung in Höhe von drei Millionen Euro nun noch einmal Kosten von fünf Millionen für die Auflösung.

Der rheinland-pfälzische Kammerpräsident Markus Mai sieht trotz der jüngsten Rückschläge in Berufskammern den einzigen Weg, damit die Pflege als Verhandlungspartner auf Augenhöhe akzeptiert wird: „Pflegeleute sind nicht wie Autobauer und Metaller, die sich hinstellen und streiken.“ Das sieht auch Stefan Sell ähnlich. Die Pflege werde von niemandem ernstgenommen, solange weniger als zehn Prozent der Fachkräfte gewerkschaftlich organisiert seien: „Bis heute warten ganz viele Pflegekräfte auf den weißen Ritter aus der Politik, der ihre Probleme löst.“

Wie es nun in der Bundesrepublik weiter gehen soll mit der Organisation der Pflegeberufe, ist unklar. Denn während Niedersachsen und Schleswig-Holstein ihre Kammern abwickeln, steckt Nordrhein-Westfalen gerade mitten im Aufbau. In Rheinland-Pfalz gibt es weiter politischen Rückhalt. „Die der Einführung der Landespflegekammer zugrunde liegenden Argumente gelten heute aus Sicht der Landesregierung Rheinland-Pfalz unverändert fort“, teilt das Mainzer Gesundheitsministerium auf Nachfrage mit. „Rheinland-pfälzische Bestrebungen, die hiesige Landespflegekammer aufzulösen, gibt es nicht.“

Karsten Packeiser


Asyl

Studie: Afghanistan-Rückkehrern droht Gewalt und Verelendung



Afghanistan-Rückkehrern droht Armut und Gewalt. So lautet das Ergebnis einer Studie im Auftrag von Diakonie und "Brot für die Welt". Viele Abgeschobene fliehen erneut, kommen auch zurück nach Europa. Die Bundesregierung hält an den Abschiebungen dennoch fest.

Berlin (epd). Abgeschobenen Afghanen drohen einer Studie zufolge Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung. Auch die Familien von Europa-Rückkehrern seien gefährdet, erklärten die Diakonie Deutschland, „Brot für die Welt“ und die Diakonie Hessen als Auftraggeber der Untersuchung am 4. Juni. Sie forderten einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan. Die Bundesregierung plant derweil jedoch keinen Stopp der Zwangsrückführungen. Das Bundesinnenministerium bestätigte derweil ein weiteres Ergebnis der Studie, wonach viele Abgeschobene nach Europa zurückkommen oder dies planen.

Rückkehrern werde wegen der Flucht nach Europa Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen, heißt es in der Studie der Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann. Sie dokumentiert darin die Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen. „Bis auf einen Betroffenen haben alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei von ihnen haben Suizid begangen“, teilten Diakonie und „Brot für die Welt“ mit.

27 Prozent der Abgeschobenen zurück in der EU

Der Studie zufolge sind 27 Prozent der Abgeschobenen wieder nach Europa zurückgekehrt, 41 Prozent sind in andere Länder wie den Iran, die Türkei, Indien oder Pakistan geflohen. Es sei bekannt, dass es Menschen mehrfach versuchen, in Deutschland Asyl zu beantragen, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. An der Lagebewertung für das Land ändere das aber nichts. Ein Abschiebestopp sei derzeit nicht geplant, sagte der Sprecher. Die Lage in dem Land werde sorgfältig beobachtet. Dazu gehöre auch eine mögliche Lageveränderung durch den Abzug der internationalen, darunter der deutschen Truppen aus Afghanistan.

Seit Ende 2016 schiebt Deutschland abgelehnte Asylbewerber oder andere Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus wieder nach Afghanistan ab. Zunächst wurden nur verurteilte Straftäter, sogenannte Gefährder und Menschen abgeschoben, die beim Asylantrag falsche Angaben gemacht haben. Inzwischen ist diese Beschränkung entfallen, viele Bundesländer praktizieren sie jedoch weiter. Laut Studie wurden bis heute 1.035 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.

Diakonie: Verstoß gegen EU-Menschrechtskonvention

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie erklärte: „Wir gefährden sehenden Auges das Leben dieser Menschen durch Abschiebungen nach Afghanistan und setzen sie der Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen und Verelendung aus.“ Dies sei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar. „Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Bundesländern einen generellen, bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan zu beschließen.“

Die Präsidentin des evangelischen Hilfswerks „Brot für die Welt“, Dagmar Pruin, mahnte: „Die Lage im kriegs- und krisengebeutelten Afghanistan ist seit Jahren dramatisch und hat sich pandemiebedingt noch weiter verschlechtert. Die eskalierende Dynamik der massiven Verelendung der Bevölkerung und die Sicherheitslage müssen zu einer Neubewertung auch des Auswärtigen Amts führen.“

Corinna Buschow


Behinderung

Interview

Starnitzke: "Selbstverständlich tragen wir die Verantwortung"




Dierk Starnitzke
epd-bild/Anja Kruse
Die Diakonische Stiftung Wittekindshof strukturiert nach Vorwürfen der Freiheitsberaubung die Behinderteneinrichtung um. Staatsanwälte ermitteln derzeit gegen 145 Beschäftigte. Die Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten werde neu konzipiert, erläutert der Vorstand im Interview.

Bad Oeynhausen (epd). Die Diakonische Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen hat auf die Vorwürfe von Freiheitsberaubungen nach Worten des Vorstands Dierk Starnitzke mit umfangreichen Strukturmaßnahmen und personellen Konsequenzen reagiert. Neben Gewaltprävention, kleineren Einheiten und mehr Kontrollen werde jetzt ein individuellere Begleitung umgesetzt, sagte der Theologische Vorstand dem Evangelischen Pressedienst (epd). Statt einer Zuordnung in bestimmte Gruppen sollen allein die Bedürfnisse der Bewohner in Mittelpunkt stehen, kündigte Starnitzke an. In der diakonischen Stiftung ermittelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen 145 Beschuldigte, wie Anfang des Jahres bekannt wurde. Die Fragen stellte Holger Spierig.

epd sozial: Wie reagiert der Wittekindshof auf die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft wegen Freiheitsberaubung?

Dierk Starnitzke: Die Stiftung hat von Beginn an die Ermittlungen der Behörden vorbehaltlos unterstützt. Sollte es zu Unregelmäßigkeiten im Umgang mit unseren Klientinnen und Klienten gekommen sein, distanzieren wir uns davon klar und deutlich. Wir untersuchen derzeit sehr sorgsam und gewissenhaft, ob es zu schwerwiegenden Versäumnissen gekommen ist. An Stellen, wo dies deutlich wird, ergreifen wir auch personelle Maßnahmen. Diese reichen von Versetzungen in andere Arbeitsbereiche über Abmahnungen bis hin zur Beendigung von Dienstverhältnissen.

epd: Was bedeutet das für den betroffenen Bereich?

Starnitzke: Wir haben gleich nach Bekanntwerden der Vorwürfe umfangreiche Maßnahmen in diesem sehr anspruchsvollen Arbeitsbereich angeschoben: Der Geschäftsbereich 4 wurde aufgelöst. Die Konzentration der spezialisierten Wohnangebote für Menschen mit stark herausforderndem Verhalten auf einen Geschäftsbereich wurde somit aufgehoben. Die Konzeption zur Unterstützung dieser Menschen wurde auf den Prüfstand gestellt und auf höchstem Niveau aktualisiert. Alle Mitarbeitenden in diesen Arbeitsbereichen wurden darin geschult.

epd: Gibt es weitere Maßnahmen?

Starnitzke: Außerdem haben wir einen zusätzlichen Fachdienst eingerichtet. Das Team von Psychologinnen und Psychologen ist zuständig für die Belange von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und kontrolliert die Einhaltung fachlicher Standards in der Wohn- und Betreuungsqualität sowie der rechtlichen Vorgaben. Punktuelle und radarmäßige Kontrollen sowie Berichte an die Ressortleitungen und den Vorstand gehören ebenfalls zu ihren Aufgaben.

epd: Wie werden freiheitsentziehende Maßnahmen gehandhabt?

Starnitzke: Neu aufgestellte Gewaltpräventionsteams prüfen, wie Krisen vermieden oder umgelenkt werden können, so dass freiheitsentziehende Maßnahmen gar nicht zum Einsatz kommen müssen. Stufenreaktionspläne sollen eine Deeskalation in Krisen bewirken. Wenn es aber keine Alternative gibt, arbeiten wir mit dem Vier-Augen-Prinzip: Eine Person führt die Maßnahme durch, eine andere überwacht den Vorgang. Jede Maßnahme wird dokumentiert und täglich von der Bereichsleitung und zudem wöchentlich von der übergeordneten Geschäftsbereichsleitung kontrolliert.

epd: Wie ändert sich damit die Betreuung von Menschen mit Behinderungen?

Starnitzke: Wir sind dabei, die bisherige Betreuung in Heilpädagogischen Intensivbereichen gemäß den neuesten Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes grundlegend neu aufzustellen. Wir gestalten sie zu einer personenzentrierten Intensivbetreuung um. Unser Ziel ist, dem einzelnen Menschen passende fachliche Angebote für seine individuelle Unterstützung zu unterbreiten, anstatt ihn in vorhandene Strukturen einzupassen. Die Begleitung der Menschen mit herausforderndem Verhalten soll in möglichst kleinen Einheiten organisiert werden. Wir haben das Kontrollsystem des Qualitätsmanagements weiterentwickelt. Die Einhaltung unserer anspruchsvollen Regelwerke und fachlichen Konzepte wird nun von geschulten Experten vor Ort geprüft und begleitet. Außerdem arbeiten wir sehr eng mit den zuständigen Aufsichtsbehörden zusammen.

epd: Was sind in diesem Bereich die besonderen Herausforderungen für die Mitarbeiter?

Starnitzke: Bei etlichen Klientinnen und Klienten sind Selbstgefährdungen und auch Fremdgefährdungen an der Tagesordnung. Gefährdungen und sogar Verletzungen von Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen sind nicht selten. Im Wittekindshof kann man jeden Tag aufs Neue erleben, welche ungeheuren Herausforderungen die tägliche Arbeit an die Mitarbeitenden stellen. Sie müssen in schweren Krisen unter sehr hoher emotionaler Belastung besonnen unterstützen.

epd: Wie sieht die Betreuung in diesem Bereich jetzt aus?

Starnitzke: Im ehemaligen Geschäftsbereich 4 lebte ein relativ großer Teil der erwachsenen Menschen mit Behinderung, die aufgrund ihres sehr besonderen Verhaltens und psychischer Beeinträchtigung auf umfassende Unterstützung und besonders enge Begleitung angewiesen sind, konzentriert in eigens dafür spezialisierten Bereichen. Bislang wurden sie in der Eingliederungshilfe generell je nach Förderbedarf verschiedenen Gruppen zugeordnet. Wir erhoffen uns durch die strukturellen und konzeptionellen Veränderungen eine noch individuellere Unterstützung und Förderung. In Zukunft sollen alleine die Bedarfe des Bewohners entscheidend sein, wie er lebt oder wie er vom Wittekindshof unterstützt wird.

epd: Haben die Reformen auch Auswirkungen auf weitere Bereiche des Wittekindshofs?

Starnitzke: Ja, denn wir sind entschlossen, die Lebenssituation aller Klientinnen und Klienten grundlegend zu verändern. Dazu folgen wir dem personenzentrierten Ansatz, in den wir in einem zweiten Schritt alle anderen Menschen, die wir unterstützen, einbeziehen wollen. Der individuelle Unterstützungsbedarf für die verschiedenen Lebensbereiche wird ermittelt und das dazu passende Gesamtangebot geschaffen. Dabei werden sowohl die Menschen mit Behinderung als auch ihre rechtliche Betreuung federführend eingebunden.

epd: Wie wirken sich die Ermittlungen auf den Alltag in der diakonischen Stiftung aus?

Starnitzke: Wir befassen uns auf Vorstands- und höchster Leitungsebene intensiv mit den Veränderungen und tragen dafür Sorge, dass der Alltag unserer Klientinnen und Klienten sowie unserer Mitarbeitenden so störungsfrei wie nur möglich ablaufen kann. Leider fühlen sich viele unserer gut 3.500 Mitarbeitenden dem öffentlichen Druck des Ermittlungsverfahrens ausgesetzt, obwohl sie selbst gar nicht beteiligt sind. Solch ein Generalverdacht führt zu großen Belastungen in der täglichen Arbeit. Wir versuchen, unsere Mitarbeiter zu stärken, die jeden Tag mit diesen Vorwürfen umgehen müssen, damit sie weiterhin professionell ihrer Arbeit nachgehen können.

epd: Sehen Sie in der Leitung der Diakonischen Stiftung im Rückblick Versäumnisse?

Starnitzke: Selbstverständlich tragen wir als Vorstand die Verantwortung für alle Abläufe im Wittekindshof. Im Moment prüfen wir alle vergangenen und aktuellen Vorgänge, die unsere Klientinnen und Klienten betreffen, sehr genau und selbstkritisch. Dazu fühlen wir uns auch durch unsere Geschichte verpflichtet. In den 1950er und 1960er Jahren ist es zu bedauerlichen Vorfällen gekommen: Klientinnen und Klienten wurden gegen ihren Willen festgehalten und misshandelt. Wir haben diese Vorfälle lückenlos aufgearbeitet und hatten den Mut, uns auch den Schattenseiten unserer Vergangenheit zu stellen. Diese Verpflichtung aus der Geschichte nehmen wir sehr ernst und gehen mit dieser Haltung auch die Frage nach Versäumnissen in der Gegenwart an.



Behinderung

Expertin: Frauen mit Handicap erleben mehrfache Diskriminierung




Sigrid Arnade
epd-bild/H.-Günter Heiden

Berlin (epd). Behinderte Frauen werden nach Angaben der Sozialexpertin Sigrid Arnade in fast allen Lebensbereichen sowohl wegen ihrer Behinderung als auch wegen ihres Geschlechts diskriminiert. „Das bedeutet, dass sie sowohl gegenüber behinderten Männern als auch gegenüber nicht behinderten Frauen benachteiligt sind“, sagte die ehemalige Geschäftsführerin der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland - ISL“ dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Konkret betrifft das zum Beispiel die Erwerbstätigkeit und die Einkommenssituation.“

Auf dem Arbeitsmarkt bildeten Frauen, die eine Behinderung haben, das Schlusslicht und hätten daher auch wenig Geld, sagte Arnade, ISL-Sprecherin für Gender und Diversity. So habe eine aktuelle Studie der Sozialorganisation Aktion Mensch ergeben, dass nur 39 Prozent der Frauen mit Schwerbehinderung erwerbstätig seien, bei den Männern dieser Gruppe seien es dagegen 48 Prozent.

Unterstützung für behinderte Mütter fehlt

Auch behinderte Mütter werden laut Arnade benachteiligt. Kindererziehung werde ihnen oftmals nicht zugetraut, gleichzeitig würden ihnen notwendige Hilfen verweigert. „Behinderten Frauen werden die Kinder manchmal sogar eher weggenommen, als dass sie die notwendige Unterstützung erhalten“, kritisierte die Aktivistin.

Auch Gewalt sei ein großes Problem. So erlebten behinderte Frauen zwei bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt als nicht behinderte Frauen. Den Frauen werde oftmals nicht geglaubt und sie erhielten nicht den notwendigen Schutz, weil die Thematik der mehrfachen Diskriminierung, wenn überhaupt, nur in Fachkreisen bekannt sei.

Von Benachteiligung geprägte Lebenssituation

Zwar sei mittlerweile eine Reihe von Gesetzen im Sinne behinderter Frauen verändert worden. Dennoch kritisierte Arnade: „Das ist nicht ausreichend, denn die reale Lebenssituation behinderter Frauen ist nach wie vor von Armut und Diskriminierungen geprägt.“ Um das zu ändern, seien einige grundsätzliche Maßnahmen notwendig. Zum Beispiel müssten alle Anbieter von Waren und Dienstleistungen schnellstmöglich zur Barrierefreiheit verpflichtet werden, damit Mädchen und Frauen überall in Deutschland Ärzte und Gynäkologen aufsuchen und im Notfall in ein Frauenhaus flüchten könnten.

Auch die Inklusion in Kita, Schule, Ausbildung und allen anderen gesellschaftlichen Bereichen hält Arnade für einen wichtigen Schritt. „Nur so lassen sich Vorteile und Berührungsängste abbauen, nur so lässt sich das Selbstbewusstsein von Mädchen und Frauen mit Behinderungen ganz selbstverständlich steigern.“

Lynn Osselmann


Ausbildung

Neuer Studiengang mit Schwerpunkt muslimische Wohlfahrtspflege



Osnabrück (epd). Die Universität Osnabrück bietet ab dem kommenden Wintersemester erstmals den Masterstudiengang „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft“ an. Der viersemestrige Studiengang am Institut für Islamische Theologie setze einen Schwerpunkt auf muslimische Wohlfahrtspflege und sei damit einzigartig in Deutschland, sagte Michael Kiefer am 7. Juni dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der bereits am Institut tätige Islamwissenschaftler wurde auf die neue geschaffene Professur berufen.

Derzeit entstünden in ganz Deutschland neue Strukturen im der Bereich der freien muslimischen Wohlfahrtspflege, wie etwa Kitas, Pflegedienste, Familienbildungszentren oder Sozialdienste muslimischer Frauen, erläuterte Kiefer. Aber auch in den Moscheegemeinden, in Ganztagsschulen oder etwa in der Arbeit mit Geflüchteten würden die künftigen Absolventen dringend gebraucht.

Das Besondere sei zudem die Kombination aus religionsspezifischen und interkulturellen Lehrinhalten, unterstrich der Professor. Dementsprechend setze sich das Studienprogramm aus Modulen der Fächer islamische Theologie, katholische und evangelische Theologie sowie den Erziehungs- und Sozialwissenschaften zusammen. Die Unterrichtssprache ist Deutsch.

Voraussetzung für das Masterstudium in Osnabrück ist den Angaben zufolge ein Bachelorabschluss in „Sozialer Arbeit“ oder ein gleichwertiger Abschluss mit sozialwissenschaftlichem, sozialpädagogischem oder theologischem Schwerpunkt.



Behinderung

20 Jahre integratives Radio "Antenne Bethel"



Bielefeld (epd). Der Radiosender der v. Bodelschwinghschen Stiftungen, die „Antenne Bethel“, besteht 20 Jahre. 45 Menschen mit und ohne Handicap machen täglich ein Programm für die Bielefelder Stadtteile Gadderbaum und Eckardsheim, wie Bethel-Chef Pastor Ulrich Pohl in der aktuellen Ausgabe der Monatszeitung der Stiftungen „Der Ring“ mitteilt. Zum Angebot gehörten mittlerweile auch ein Webradio und Podcasts. Bundesweit bis zu 15.000 Zuhörerinnen und Zuhörer erreiche der Radiosender durchschnittlich.

Die NRW-Landesanstalt für Medien hatte „Antenne Bethel“ zum Jahreswechsel 2000/2001 die Sendelizenz für ein Radioprogramm auf der UKW-Frequenz 94,3 MHz genehmigt. Getragen wird der Sender gemeinsam von den v. Bodelschwinghschen Stiftungen und dem Verein Klinikprogramme Bielefeld.

Täglich eine einstündige Sendung

Das ehrenamtliche „Antenne“-Team plant pro Tag ein einstündiges Magazin mit Reportagen und Interviews zu zwei Themen. Dazu gestellt werden Nachrichten, Wetter-Infos und Veranstaltungstipps. Ein selbst zusammengestelltes Musikprogramm rundet das Hörangebot ab. Einmal im Jahr überlässt das Team das Programm für eine Woche Nachwuchs-Radiomachern vom Westdeutschen Rundfunk. Die Kooperation mit dem WDR besteht seit 2002.

Bei „Antenne“-Hörerinnen und -Hörern sind laut Pohl die Übertragungen von Gottesdiensten und Konzerten aus der Bielefelder Zionskirche besonders beliebt. Er hoffe, dass bald wieder der Ü-Wagen in Bielefeld-Bethel unterwegs sei. „Mit sinkenden Corona-Fallzahlen und steigenden sommerlichen Temperaturen stehen die Chancen auf mehr Live-Übertragungen gut“, schreibt Pohl im „Ring“.




sozial-Recht

Landessozialgericht

Cannabis-Therapie muss alternativlos sein




Cannabis-Medikament aus der Apotheke
epd-bild/Jürgen Blume
Eine Cannabis-Therapie kann bei schweren Erkrankungen ein Rettungsanker sein - aber nur der letzte. Denn wurden nicht alle medizinischen Alternativen ausgeschöpft, muss die Krankenkasse nach einem Gerichtsurteil eine solche Therapie nicht bezahlen.

Stuttgart (epd). Für manche Patientinnen und Patienten ist es ein Allheilmittel gegen teils jahrelange Schmerzen: eine Cannabis-Therapie. Doch damit ausnahmsweise die Krankenkasse die ärztlich verordnete Behandlung mit dem sogenannten Medizinal-Hanf bezahlt, reicht allein ein chronisches Schmerzsyndrom ohne Ausschöpfung bestehender Behandlungsalternativen nicht aus, stellte das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in Stuttgart in einem am 5. Juni veröffentlichten Urteil klar. Der Gesetzgeber habe nur in „eng begrenzten Ausnahmefällen“ die Versorgung mit Cannabis-Arzneimitteln vorsehen wollen, erklärten die Stuttgarter Richter auch in einem weiteren Fall. Konkret wollte ein Versicherter wegen eines Reizdarmsyndroms Cannabisblüten auf Krankenkassenkosten erhalten.

Linderung für eine schwerwiegende Erkrankung

Seit März 2017 können Ärzte, das Suchtmittel auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen verordnen. Voraussetzung ist laut Gesetz, dass die Cannabis-Therapie zumindest Linderung für eine „schwerwiegende Erkrankung“ verspricht. Zudem darf es keine schulmedizinischen Alternativen geben oder diese dürfen dem Patienten nach Einschätzung des Arztes nicht zumutbar sein, etwa wegen starker Nebenwirkungen.

Doch mit diesen Voraussetzungen fangen die juristischen Probleme. Denn der Gesetzgeber hat nicht definiert, was denn überhaupt eine „schwerwiegende Erkrankung“ ist, stellte das LSG fest. Gerichte müssten daher in jedem Einzelfall klären, ob eine Cannabis-Verordnung medizinisch erforderlich sei. Bei der Versorgung mit Cannabis dürften auch nur medizinische Gründe eine Rolle spielen.

Lehne, wie im Streitfall, ein Versicherter schulmedizinische Behandlungen aus Angst vor beruflichen Nachteilen ab, könne dies keine Cannabis-Therapie begründen. Die Stuttgarter Richter wiesen damit den Anspruch des Klägers auf Versorgung mit Cannabisblüten und die Erstattung von 2.086 Euro für selbst beschaffte Cannabis-Arzneimittel auf Grundlage eines ärztlichen Privatrezeptes ab.

Cannabis verträglicher

Der Patient leidet infolge von Bandscheibenbeschwerden an einem chronischen Schmerzsyndrom. Er verlangte von seiner Krankenkasse, dass diese ihn zur Schmerzlinderung mit Cannabis-Blüten versorgt. Seine bisherigen Schmerzmittel hätten gravierende Nebenwirkungen wie Übelkeit, Bauchschmerzen oder Durchfälle. Sie würden zudem seine bestehende Neurodermitis verschlimmern. Cannabis sei dagegen viel verträglicher. Eine stationäre Schmerztherapie lehnte er ab, da er seine berufliche Stellung als leitender Security nicht gefährden wollte.

Doch der Kläger hat weder Anspruch auf Versorgung mit den Cannabis-Blüten noch auf Erstattung der bislang angefallenen Kosten, entschied das LSG. Ob das chronische Schmerzsyndrom als „schwerwiegende Erkrankung“ gilt, könne offenbleiben. Es bestehe schon deshalb kein Anspruch, weil der Kläger seine Behandlungsalternativen nicht ausgeschöpft habe. Ihm sei durchaus eine stationäre Schmerztherapie zuzumuten. Dass diese ihm aus zeitlichen und beruflichen Gründen nicht möglich gewesen sei, könne keine Versorgung mit Cannabis auf Krankenkassenkosten begründen.

Auch im zweiten Fall kann der an einem Reizdarmsyndrom leidende Kläger künftig keine Cannabis-Therapie auf Kosten der Krankenkasse verlangen. Denn hier handele es sich nicht um eine „schwerwiegende Erkrankung“, urteilte das LSG. Es müsse sich „um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt und die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“. Dies sei beim Kläger nicht der Fall.

Gewichtszunahme durch Cannabis-Behandlung

Das Bundesverfassungsgericht wies am 26. Juni 2018 den Eilantrag eines Kopfschmerz-Patienten zurück, der mit Medizinalcannabis seine Schmerzen behandeln wollte. Es sei nicht klar belegt, dass eine Cannabis-Therapie ausreichend gegen die beim Kläger auftretenden sogenannten Clusterkopfschmerzen wirke, entschieden die Verfassungsrichter.

Am 18. Juli 2019 sprach das Hessische LSG einem Versicherten mit massivem lebensbedrohlichen Untergewicht dagegen die Kostenübernahme für eine Cannabis-Behandlung zu. Bei solch einer Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit könne ausnahmsweise ein Anspruch bestehen, entschieden die Darmstädter Richter.

Hier habe der Mann einen Body-Mass-Index (BMI) von nur 13,6 gehabt. Normal sei ein BMI zwischen 20 und 25. Die bisher auf Privatrezept durchgeführte Cannabis-Behandlung habe zu einer Gewichtszunahme des Versicherten geführt. Daher sei ein Behandlungsversuch über einen längeren Zeitraum angebracht, um die Wirkung der Therapie besser beurteilen zu können, so das LSG.

Az.: L 11 KR 2148/20 (LSG Stuttgart, Rückenschmerzen)

Az.: L 11 KR 3455/20 (LSG Stuttgart, Reizdarmsyndrom)

Az.: 1 BvR 733/18 (Bundesverfassungsgericht)

Az.: L 1 KR 256/19 B ER (LSG Darmstadt, Untergewicht)

Frank Leth


Oberverwaltungsgericht

Zweifelhaftes Arztattest darf Masern-Impf-Pflicht nicht aushebeln



Bautzen (epd). Bei klaren Zweifeln an einer ärztlichen Bescheinigung über eine Masern-Impfunfähigkeit von Kindern darf der Kita- oder Hort-Betreiber nachhaken und konkrete Gründe für eine fehlende Impfung verlangen. Dies hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen in einem aktuell veröffentlichten Beschluss vom 5. Mai entschieden. Ohne entsprechende Nachweise einer Masernimpfunfähigkeit könne die Aufnahme in der Kita verweigert werden.

Im Streitfall ging es um eine 2014 geborene Grundschülerin aus dem Erzgebirge. Nach der Schule wollte sie einen von der Gemeinde angebotenen Hort besuchen. Das Infektionsschutzgesetz verlangt hierfür den Nachweis einer Masernimpfung oder einen Immunitätsnachweis. Alternativ ist auch ein ärztliches Attest möglich, das bei dem Kind eine Impfunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen bescheinigt.

Recht auf Überprüfung

Solch ein ärztliches Attest hatten die Eltern der Schülerin vorgelegt und meinten, dass der Hortbetreiber nicht das Recht habe, die Bescheinigung zu überprüfen. Dem widersprach jedoch das OVG.

Um das Betreuungsverbot für Kinder ohne Immunitätsnachweis durchzusetzen, seien die Einrichtungen nicht auf eine rein formelle Prüfung beschränkt. Die Bautzener Richter orientierten sich dabei an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Danach habe ein ärztliches Attest zwar einen hohen Beweiswert. Dieser könne jedoch erschüttert werden, etwa wenn ein krankgeschriebener Beschäftigter trotz Vorliegens einer ärztlichen Bescheinigung bei schweren Arbeiten an seinem Eigenheim erwischt werde.

Diese Grundsätze über den Beweiswert seien auf Impfunfähigkeitsbescheinigungen übertragbar. Hier deute das Verhalten der Eltern darauf hin, dass sie die Tochter und auch deren Bruder einfach nicht gegen Masern impfen lassen wollen. Die gesundheitlichen Gründe seien "quasi aus heiterem Himmel angeführt worden. Für den Bruder habe dieselbe Ärztin ebenfalls eine Impfunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt, damit dieser eine Kita ungeimpft besuchen könne.

Die Mutter hatte als medizinischen Grund angegeben, dass ihr Sohn schiele und väterlicherseits Krebserkrankungen gehäuft auftreten. Dies spreche jedoch nicht gegen eine Masern-Impfung, so das OVG. Auch sei es unwahrscheinlich, dass bei beiden Kindern gleichzeitig eine Masernimpfunfähigkeit bestehe.

Der Hort-Betreiber habe daher das ärztliche Attest über die Tochter in Zweifel ziehen und ihre Hort-Aufnahme ohne weitere Nachweise einer Impfunfähigkeit ablehnen dürfen.

Az.: 3 B 411/20



Oberverwaltungsgericht

Verbot von Bordellbetrieb rechtswidrig



Lüneburg (epd). Das vom Land Niedersachsen im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen verhängte Verbot zum Betrieb von Bordellen ist einem Gerichtsbeschluss zufolge rechtswidrig. Mit einem entsprechenden Urteil gab das Oberverwaltungsgericht (OVG) des Bundeslandes am 8. Juni dem Normenkontrolleilantrag eines Bordellbetreibers statt.

Der Antragsteller hatte sich gegen die in der niedersächsischen Corona-Verordnung festgeschriebene Untersagung des Betriebs von Prostitutionsstätten und entsprechender Dienstleistungen gewandt. Zur Begründung machte er geltend, ein vollständiges Verbot sei angesichts der Pandemielage keine notwendige Infektionsschutzmaßnahme mehr. Es liege zudem ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor.

Ausnahmsloses Verbot

Das OVG folgte der Argumentation. Unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens und der Relevanz der Prostitutionsausübung für das Infektionsgeschehen sei ein umfassendes und ausnahmsloses Verbot offensichtlich nicht mehr erforderlich, hieß es in der Urteilsbegründung. Für den Gesundheitsschutz seien auch mildere Beschränkungen möglich.

Darüber hinaus verletze das umfassende Verbot der Ausübung der Prostitution den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Mit Blick auf sonstige körpernahe Dienstleistungen, die laut Corona-Verordnung wieder möglich sind, gebe es keine nachvollziehbaren sachlichen Gründe, die eine weitere Aufrechterhaltung des Prostitutionsverbotes rechtfertigten. Das Urteil ist unanfechtbar.

Az.: 13 MN 298/21



Verwaltungsgericht

Bei Corona-Quarantäne greift Lohnfortzahlung des Arbeitgebers



Koblenz (epd). Bei einer zweiwöchigen Corona-Quarantäne ist der Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung verpflichtet. Staatliche Entschädigungszahlungen nach dem Infektionsschutzgesetz stehen dem Arbeitgeber dabei nicht zu, entschied das Verwaltungsgericht Koblenz in zwei am 1. Juni bekanntgegebenen Urteilen. Nur für Arbeitnehmer, die weniger als ein Jahr in dem Unternehmen beschäftigt sind, könne etwas anderes gelten.

Im konkreten Fall hatte das Gesundheitsamt zwei Mitarbeiterinnen einer Bäckereikette wegen Corona-Verdachts für 14 Tage in häusliche Quarantäne geschickt. Der Arbeitgeber leistete für sie Lohnfortzahlung und kam auch für die Sozialversicherungsbeiträge auf. Wegen der staatlicherseits angeordneten Quarantäne verlangte er wegen der damit verbundenen Ausgaben eine staatliche Entschädigung. Das Land kam jedoch nur ab dem siebten Tag für die angefallenen Ausgaben auf.

„Erhebliche Zeit“

Das Verwaltungsgericht urteilte, dass die Bäckereikette da noch Glück hatte. Denn ein Entschädigungsanspruch wegen einer zweiwöchigen Corona-Quarantäne bestehe meist nicht.

Laut Gesetz stehe Arbeitgebern eine Entschädigung nur zu, wenn Mitarbeiter keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung haben. Arbeitsrechtlich sei dies der Fall, wenn ein Arbeitnehmer für eine „nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert wird“. Was eine „erhebliche Zeit“ sei, hänge dabei von der bisherigen Beschäftigungsdauer ab.

Ab einer Beschäftigungsdauer von einem Jahr sei die Lohnfortzahlung für zwei Wochen vom Arbeitgeber zumutbar. Auch ein grippaler Infekt könne ähnlich lange dauern. Hier hätten die Arbeitsverhältnisse bereits weit länger als ein Jahr gedauert.

Arbeitgeber hätten aber die Möglichkeit, die Lohnfortzahlung im Fall einer behördlich angeordneten Quarantäne arbeitsvertraglich auszuschließen. Dann könne ein Entschädigungsanspruch bestehen. Dies sei hier aber nicht geschehen.

Die Berufung zum Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Az.: 3 K 107/21.KO und 3 K 108/21.KO



Arbeitsgericht

Oberlinhaus: Aussetzung von Kündigungsprozess vorgeschlagen



Potsdam (epd). Im Prozess um die Kündigung der Tatverdächtigen im Fall des Gewaltverbrechens im Oberlinhaus hat das Arbeitsgericht Potsdam eine Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung im Strafverfahren vorgeschlagen. Beide Parteien könnten dazu nun schriftlich Stellung nehmen, sagte Gerichtssprecher Robert Crumbach dem Evangelischen Pressedienst (epd) am 10. Juni nach der Güteverhandlung in Potsdam. Über die mögliche Aussetzung des Verfahrens werde in zwei bis drei Wochen entschieden.

Wann ein Strafprozess beginnen könnte, ist derzeit offen. Laut Staatsanwaltschaft Potsdam laufen die Ermittlungen weiter, die psychiatrische Begutachtung der 52-jährigen Tatverdächtigen habe inzwischen begonnen, hieß es.

Beide Parteien hätten vor dem Arbeitsgericht deutlich gemacht, dass sie mit dem Vorschlag zur Aussetzung des Verfahrens eher nicht einverstanden seien, sagte Crumbach. Von Seiten des Oberlinhauses sei im Anschluss klargestellt worden, dass in jedem Fall an der Kündigung festgehalten werden soll und der evangelische Sozialträger davon ausgehe, dass die Kündigung auch berechtigt gewesen sei. Der Anwalt der Frau, die noch in der Tatnacht am 28. April festgenommen und danach in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, habe betont, er strebe einen Vergleich mit dem Arbeitgeber an.

Die Tatverdächtige hat vor den Gewalttaten in einer Einrichtung für Schwerstbehinderte bereits seit rund 30 Jahren beim Oberlinhaus gearbeitet. Die Todesopfer waren zwei 31 und 42 Jahre alte Frauen und zwei 35 und 56 Jahre alte Männer. Eine weitere 43-jährige Frau überlebte schwer verletzt.




sozial-Köpfe

Verbände

Von Witten in Gottesdienst als Diakonie-Vorständin verpflichtet




Martina von Witten
epd-bild/Andreas Lander
Sie ist schon seit Februar zweites Vorstandsmitglied der Diakonie Mitteldeutschland. Nun wurde Martina von Witten in einem Gottesdienst feierlich in ihr Amt eingeführt.

Halle (epd). Martina von Witten ist am 9. Juni im Rahmen eines Gottesdienstes für ihren Dienst als Kaufmännische Vorständin der Diakonie Mitteldeutschland feierlich verpflichtet und gesegnet worden. Die Predigt hielt Joachim Liebig, der Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Die Gottesdienstliturgie leitete der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Friedrich Kramer.

Am Gottesdienst in der Bartholomäuskirche in Halle konnten entsprechend der aktuellen Infektionsschutzbestimmungen etwa 25 Personen teilnehmen. Er wurde aber wie auch die sich anschließenden Wortbeiträge auf YouTube live übertragen.

Ihr neues Amt hat von Witten bereits am 1. Februar angetreten. Sie folgte auf Wolfgang Teske, der mit dem Erreichen des Rentenalters in den Ruhestand gewechselt war. Im Zweier-Vorstand der Diakonie Mitteldeutschland unter der Leitung von Vorstandschef und Oberkirchenrat Christoph Stolte verantwortet sie den Haushalt und ist für juristische Angelegenheiten sowie die Organisation der Geschäftsstelle verantwortlich.

Von Witten, Jahrgang 1970, wuchs in Nordbayern auf. Nach Abitur und Banklehre studierte sie Betriebswirtschaftslehre in Bayreuth. Dem Abschluss als Diplom-Kauffrau folgten die wissenschaftliche Mitarbeit an der Technischen Universität Braunschweig und 2007 die Promotion. Sie ist beruflich und ehrenamtlich mit Diakonie und Kirche eng verbunden.

Die Diakonie Mitteldeutschland ist die Wohlfahrtsorganisation der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Evangelischen Landeskirche Anhalts. Sie umfasst weitgehend die Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt und Teile Brandenburgs und Sachsens. Mit 32.000 Mitarbeitenden und mehr als 1.900 Einrichtungen ist die Diakonie in der Region einer der größten Arbeitgeber.



Weitere Personalien



Dieter Kaufmann (66), ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes in Württemberg, ist neuer Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD). Er ist zudem Mitglied im Rat der EKD und im Kuratorium der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi). Zugleich bestimmten die Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedseinrichtungen auch die beiden neuen stellvertretenden Vorsitzenden der AMD: Pfarrer Hansjörg Kopp, Generalsekretär des CVJM-Gesamtverbands, und Pfarrerin Annegret Puttkammer, Direktorin des Neukirchener Erziehungsvereins.

Heike Vowinkel (50) hat am 1. Juni die Leitung der Abteilung Presse und Öffentlichkeitsarbeit in der Bundesgeschäftsstelle des Sozialverbandes VdK in Berlin übernommen. Die Journalistin war zuletzt Chefreporterin der „Welt“-Gruppe. Die gebürtige Westfälin hat zudem langjährige Führungserfahrung in dem multimedialen Konzern und war Leiterin verschiedener Ressorts der zu Axel Springer gehörenden „Welt“-Gruppe. Vowinkel hat in Hamburg, Leicester und Gießen Geschichte, Anglistik und Journalistik studiert.

Christian Drosten und Sandra Ciesek werden mit der Urania-Medaille ausgezeichnet. Der Festakt zur Preisverleihung findet am 3. September statt, die Laudatio wird der Journalist und Moderator Jan Böhmermann halten. Die Auszeichnung wird vom Wissenszentrum und Bürgerforum Urania Berlin für international herausragende Leistung bei der Vermittlung von Bildung und Aufklärung verliehen. Mit der Ehrung der beiden Virologen solle im zweiten Jahr der Corona-Pandemie „ein starkes Zeichen für gelungene Wissenschaftskommunikation“ gesetzt werden, heißt es zur Begründung. Mit dem Podcast „Das Coronavirus - Update“ informieren Ciesek und Drosten jede Woche ein Millionenpublikum über den neuesten Stand der Forschung zur Covid-19-Pandemie. Ciesek leitet das Institut für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Drosten ist an der Berline Charité als Leiter des Instituts für Virologie tätig.

Jens Scholz ist ab 1. Juli der neue erste Vorsitzende des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands. Der Professor für Anästhesiologie ist Vorstandsvorsitzender und Vorstand für Krankenversorgung des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH). Er löst Michael Albrecht ab, der neun Jahre an der Spitze des Verbandes stand. Der Medizinische Vorstand des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden hatte sich nicht erneut zur Wahl gestellt.

Sebastian Gutknecht ist in Berlin in das Amt des ersten Direktors der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) eingeführt worden. Mit dem am 1. Mai in Kraft getretenen Zweiten Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes ist die BzKJ aus der bisherigen Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) entstanden. Gutknecht war zuletzt Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen. Seit 2008 hat er die Obersten Landesjugendbehörden in der Kommission für Jugendmedienschutz vertreten. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Kinder- und Jugendmedienschutz und zum Jugendschutzrecht.

Jeanette Baudach hat die Geschäftsführung der DIPAT Die Patientenverfügung GmbH vom Gründer Paul Brandenburg übernommen. Baudach arbeitet seit 2017 bei DIPAT, zuletzt übernahm die Diplom-Betriebswirtin den Bereich Finanzen. Brandenburg ist nach den Angaben der Erfinder der digitalen Patientenverfügung. Der Mediziner hat außerdem den Branchenverband der deutschen E-Health-Unternehmen mitgegründet, in dem er bis heute als Vorstand fungiert.

Mats Hummels, Fußball-Nationalspieler, übernimmt die Schirmherrschaft für den „Förderpreis Seelische Gesundheit im Nachwuchsleistungssport“ der Robert-Enke-Stiftung. Die Stiftung fördert mit dem mit 17.500 Euro dotierten Preis Maßnahmen und Einrichtungen, die der Aufklärung über die Krankheit Depression und über Kinder-Herzkrankheiten sowie deren Erforschung oder Behandlung dienen. Sie ist nach dem Fußball-Nationaltorwart Robert Enke benannt, der über mehrere Jahre an Depressionen litt und sich im Jahr 2009 das Leben nahm.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juli



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

Juni

18.6.:

Online-Seminar „Die Leistungen der neuen Eingliederungshilfe“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828224

21.6.:

Online-Fortbildung „Wirksame Führung im 21. Jahrhundert“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0173/2637308

22.6.:

Online-Seminar „Krisenkommunikation“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-03

22.6. Berlin: Seminar „Die Stiftungsgeschäftsführung: Rechte, Pflichten und Gestaltungsspielräume“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

23.-24.6.:

Online-Fortbildung „Vertrauliche Geburt - eine besondere Aufgabe für Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

28.6.-2.7.:

Fortbildung „Moderations- und Leitungskompetenz für Konferenzen, Arbeitsteams und Projektgruppen“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700