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Corona

Armuts-Aktivisten und Diakonie ziehen bittere Pandemie-Zwischenbilanz




Die Bahnhofsmission kümmert sich in der Corona-Pandemie um Bedürftige.
epd-bild/Rudolf Stumberger
Ein Raum, ein Computer, eine Internetverbindung: Menschen, die in Armut leben, fehlt oft die Mindestausstattung. Die Corona-Pandemie und der Digitalisierungsschub haben ihre Probleme noch verschärft. Jetzt melden sie sich selbst zu Wort.

Berlin (epd). Ihr Smartphone sei ein Geschenk und ihr Laptop eine Leihgabe aus der Verwandtschaft, berichtet die Frankfurterin Helga Röller, die sich seit zehn Jahren in Erwerbslosen-Initiativen engagiert. Ohne den Computer hätte sie an der virtuellen, von der Diakonie veranstalteten Pressekonferenz am 9. Juni in Berlin nicht teilnehmen können, auf der Armuts-Aktivisten über ihre Erfahrungen in der Corona-Krise berichten.

Michael Stiefel, Vorstandsmitglied im Armutsnetzwerk und ehemals selbst ein Wohnungsloser, fasst zusammen, was es mindestens braucht, um heutzutage gehört zu werden: einen Raum, einen Computer, eine stabile Internetverbindung und vorher eine Dusche. Die infrastrukturelle Unterstützung verarmter Menschen zu verbessern, haben sich Stiefel, Röller und ihre Mitstreiter zum Ziel gesetzt. Die Diakonie Deutschland unterstützt ihre Arbeitsgruppe für „Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung“ und will ihren Forderungen Gehör verschaffen.

Probleme Bedürftiger verschärfen sich

Denn die Corona-Pandemie und der mit ihr verbundene Digitalisierungsschub drohen die Probleme armer Bevölkerungsgruppen noch zu verschärfen. Diakonie-Vorstandsmitglied Maria Loheide warnt: „Menschen mit Armutserfahrung erleben, dass sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden.“ Man müsse den Betroffenen endlich zuhören, um zu verstehen, mit welchen Belastungen sie kämpfen. Von der nächsten Bundesregierung erwarte die Diakonie, dass sie die Teilhabe von armutsbetroffenen Menschen in ihr Regierungsprogramm aufnimmt, sagt Loheide: Die Diakonie wolle „einen Anstoß geben zu einer öffentlichen politischen Diskussion darüber, was jetzt nötig ist, um eine weitere Verschärfung der sozialen Lage zu verhindern.“

In der Behindertenpolitik ist das seit vielen Jahren der Fall. Beim Wirtschaftsminister verschaffen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften regelmäßig Gehör. Aber diejenigen, die am Rand des Existenzminimums zurechtkommen müssen, reden in der Politik nicht mit. In der Corona-Pandemie mit ihren Abstandsregeln und neuen digitalen Formaten drohten sie sogar „digital unsichtbar“ zu werden, sagen die Betroffenenvertreter. Computer, Headset, Kamera oder ein Drucker seien aus den Hartz-IV-Regelsätzen nicht zu finanzieren. Die „digitale Hilflosigkeit“ verstärke die Existenzängste und die Einsamkeit, da zudem die Treffpunkte und Hilfsangebote komplett wegfielen oder stark eingeschränkt waren und sind.

„Der soziale Notstand ist da“

Von der Politik verlangen die Armuts-Aktivisten Maßnahmen gegen die Ausgrenzung, darunter Technik und Know-how, um digitale Anbindung und Mitsprache zu gewährleisten, sowie eine Erhöhung der Sozialleistungen. „Der soziale Notstand ist da“, heißt es in einem Fünf-Punkte-Forderungskatalog, den die Arbeitsgemeinschaft gemeinsam mit der Diakonie-Spitze vorlegte. Wo Corona-Maßnahmen zu zusätzlicher Benachteiligung führten, müsse gegengesteuert werden.

An einem Rechenbeispiel macht der Armuts-Experte der Diakonie, Michael David, deutlich, wie es eine Familie im Hartz-IV-Bezug trifft, allein wenn im Lockdown das kostenlose Schulessen wegfällt. 70 Euro pro Kind und Monat ist das wert. Stattdessen muss die Familie das Essen selbst kaufen und für alle laufenden Kosten aufkommen, die zu Hause entstehen: mehr Stromverbrauch, höhere Wasserkosten, Kopien, Ausdrucke, Materialien, die sonst in der Schule gestellt werden. Das werde durch den Kinderbonus von 300 Euro im vorigen und 150 Euro in diesem Jahr nicht aufgewogen, sagt der Armutsexperte.

Bei den Erwachsenen sei es nicht besser: Ihre Ausgaben steigen, die Tafeln hatten zu, die Kleiderkammern auch. Der Corona-Bonus von 150 Euro sei da bestenfalls eine symbolische Zahlung, sagt David.

Im Regelsatz fehlen mindestens 180 Euro

Michael Stiefel weiß aus eigener Erfahrung, dass jede Stromnachzahlung, jede Reparatur und jede Zusatzausgabe existenzbedrohlich werden können: „Das ist im Regelsatz nicht drin.“ Es sind 446 Euro monatlich für einen Erwachsenen - etwa 180 Euro mehr müssten es sein, sagt die Diakonie. Die Pandemie treffe die Menschen „besonders hart, die schon vorher zu kämpfen hatten“, bilanziert Stiefel.

„Kleine Beträge haben eine große Bedeutung“, meint auch Helga Röller. Für sie war der Kauf guter Masken „ein großer Posten“ in ihrem Etat. Sie schäme sich nicht, das zu sagen, betont sie - und die Masken braucht sie: allein schon um sich mit anderen Armuts-Aktivisten öffentlich zu Wort zu melden.

Bettina Markmeyer