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Kinder

Psychologinnen befürchten für kleine Kinder Schäden aus der Pandemie




Özlem Sensoy (li.), Julia Dillmann
epd-bild/Sebastian Schmidt; Robin Dillmann
Die Corona-Pandemie wirkt sich negativ auf die Entwicklung von Kleinkindern aus. Allerdings können sie verpasste Schritte wieder aufholen, sagen zwei Entwicklungspsychologinnen im Interview.

Gießen (epd). Durch den eingeschränkten oder fehlenden Kontakt zu anderen Kindern haben manche Kinder in der Pandemie laut Expertinnen wichtige Entwicklungsschritte verpasst. Die Entwicklung könne sich aber wieder normalisieren, sobald der Alltag wieder eintritt, sagen die Entwicklungspsychologinnen Julia Dillmann und Özlem Sensoy von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Psychologinnen wollen in einer noch laufenden Studie Näheres herausfinden. Mit ihnen sprach Lynn Osselmann.

epd sozial: Sie untersuchen gerade in einer Studie die Auswirkungen der Pandemie auf die frühkindliche Entwicklung. Wie ist das Design der Untersuchung?

Özlem Sensoy: Die Studie läuft seit Ende April letzten Jahres. Zum einen gibt es einen Fragebogen zur elterlichen Belastung, zum anderen zur sozial-emotionalen Entwicklung der Kinder. Der Fragebogen für Kinder fragt etwa Meilensteine ab, die Kinder in einem bestimmten Alter erreichen, wie zum Beispiel das Rollenspiel bei Dreijährigen. An unserer Studie nehmen Kinder zwischen drei Monaten und dreieinhalb Jahren teil.

Julia Dillmann: Es handelt sich um eine fortlaufende Längsschnittstudie, bei der die Eltern zu verschiedenen Zeitpunkten befragt werden. Derzeit haben wir die Daten aus dem ersten Lockdown ausgewertet.

epd: Was sind die ersten Ergebnisse?

Sensoy: Die Daten aus dem ersten Lockdown haben ergeben, dass die elterliche Belastung verglichen zur Normstichprobe gestiegen ist. Die Belastung war noch nicht in einem klinisch-kritischen Bereich, aber schon recht erhöht. Ähnlich sah es bei der sozial-emotionalen Entwicklung aus. Bei Säuglingen bis zwölf Monate fanden sich keine Unterschiede. Ab etwa zwei Jahren fanden sich niedrigere Werte bei der sozial-emotionalen Entwicklung im Vergleich zur Normstichprobe. Auch hier lagen die Ergebnisse nicht im kritischen Bereich. Manche Kinder hatten bestimmte Meilensteine nicht erreicht, zum Beispiel durch den eingeschränkten oder fehlenden Kontakt zu anderen Kindern.

Dillmann: Insgesamt fanden wir höhere Belastungen bei Eltern von Kleinkindern. Das heißt, Eltern von Säuglingen hatten ein geringeres Stressempfinden als Eltern von ein- bis dreijährigen Kindern. Je älter die Kinder waren, desto eher hatten sie niedrigere Werte bei der sozial-emotionalen Entwicklung. Eine Erklärung könnte sein, dass Eltern von Kleinkindern eher eine Doppelbelastung durch ihren eigenen Job und die Betreuung haben. Bei kleineren Kindern ist etwa durch die Elternzeit meist ohnehin jemand zuhause. Es gab auch signifikante Zusammenhänge zwischen dem Stresserleben und der sozial-emotionalen Entwicklung, insbesondere bei den Zwei- bis Dreijährigen. Je höher das elterliche Stressempfinden war, desto geringer waren die Werte in der sozial-emotionalen Entwicklung.

epd: Was könnte sich in Pandemie-Zeiten negativ auf die frühkindliche Entwicklung auswirken?

Dillmann: Wir möchten uns zum Beispiel anschauen, wie sich das Tragen von Masken auf die frühkindliche Entwicklung auswirkt. Kinder lesen sehr viel aus Gesichtern und spezialisieren sich relativ früh auf Gesichter der eigenen Ethnie. Sie müssen eine gewisse Anzahl an Gesichtern kennenlernen, um Informationen entnehmen zu können. Kleinkinder haben während der Pandemie eine viel geringere Anzahl an Gesichtern ohne Maske kennengelernt als normalerweise. Es fehlt im Prinzip an unterschiedlichen Gesichtern, die es früher zum Beispiel durch mehr Besuch oder Spielgruppen gab."

epd: Wirkt sich die Pandemie unterschiedlich auf Kinder aus?

Dillmann: Je nachdem, was für Netzwerke oder Bewältigungsstrategien die Eltern und Kinder haben, gehen sie auch anders mit den Belastungen um. Hat das Kind mehrere Geschwister oder wohnt es beispielsweise in einem Haus mit Cousins und Cousinen, hat die Corona-Zeit vielleicht andere Auswirkungen als auf ein Einzelkind, das weniger Kontakte hatte.

Sensoy: Bei unserer Studie nahmen bislang vor allem Familien mit höherem Bildungsstand teil, deren berufliche Situation während der Pandemie etwas entspannter war. Trotzdem zeigten die Eltern ein erhöhtes Stressempfinden. Wir könnten uns vorstellen, dass sich die Pandemie auf Familien ganz anders auswirken kann, bei denen die berufliche Situation schwieriger ist oder auch die Möglichkeit zum Homeoffice kaum oder gar nicht besteht.

epd: Könnte die Corona-Pandemie längerfristig einen negativen Einfluss auf die Entwicklung haben?

Sensoy: Es gibt Befunde von anderen Forschern, die zeigen, dass die Eltern mit guten Ressourcen sehr viel von den negativen Auswirkungen auf die Kinder abfangen können. Längerer Stress ohne schlechte Ressourcen können allgemein einen negativen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern haben, unabhängig von den Gegebenheiten während der Corona-Pandemie.

Insgesamt kann es sehr gut sein, dass sich die frühkindliche Entwicklung wieder normalisiert, wenn der normale Alltag wieder eintritt. Es gibt zwar Meilensteine, die innerhalb eines bestimmten Alters erreicht werden, diese sind aber bei der sozial-emotionalen Entwicklung nicht so streng abzugrenzen wie beispielsweise die sogenannte sensible Phase beim Spracherwerb. Kinder können Meilensteine wie das Rollenspiel wahrscheinlich trotz allem ganz normal erreichen, auch wenn es vielleicht ein bisschen später ist.

Dillmann: Die Follow-Up-Daten zu unserer Studie kommen erst noch. Es kann sein, dass sich die Ergebnisse vom vergangenen Jahr zugespitzt haben, es kann aber auch genau andersherum sein. Während die Pandemie letztes Jahr ganz plötzlich kam, haben wir alle in der Zwischenzeit viel mehr Wissen erlangt und Familien könnten so Strategien entwickelt haben, um mit den Beschränkungen umzugehen. So könnten sich auch das Stressempfinden und die sozial-emotionale Entwicklung wieder verbessert haben. Insgesamt hatten Kinder zwar reduzierte Kontakte, aber es waren Kontakte da. Kleinkinder sind sehr anpassungsfähig. Es kann sein, dass sich Fähigkeiten wie die Gesichtswahrnehmung verzögert entwickeln, aber dann einfach zeitversetzt erlernt werden.

epd: Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf Kleinkinder im Vergleich zu anderen Altersgruppen?

Sensoy: Die Auswirkungen hängen sehr mit dem familiären Umfeld zusammen. Positiv ist für Kleinkinder, dass die Eltern als wichtigste Bezugspersonen während der Pandemie immer noch da waren. Eltern können also eine wichtige stabile Größe sein und sehr viele Belastungen auffangen. Für das ein oder andere Kleinkind kann die Corona-Zeit vielleicht sogar ganz schön gewesen sein, weil die Eltern als Bezugspersonen immer da waren.

Bei Jugendlichen sind eher andere Jugendliche wichtige Bezugspersonen, weshalb sie der fehlende Kontakt vermutlich mehr belastet hat. Auch bei Schulkindern bemerkt man die Auswirkungen wahrscheinlich stärker, weil sich der ganze Alltag verändert hat. Zum Beispiel fehlt das Lernen in der Schule, das Kind kommt vielleicht im Online-Unterricht nicht mit, gleichzeitig sind aber auch hier die Eltern als wichtige Bezugspersonen noch da.