sozial-Branche

Behinderung

Interview

Starnitzke: "Selbstverständlich tragen wir die Verantwortung"




Dierk Starnitzke
epd-bild/Anja Kruse
Die Diakonische Stiftung Wittekindshof strukturiert nach Vorwürfen der Freiheitsberaubung die Behinderteneinrichtung um. Staatsanwälte ermitteln derzeit gegen 145 Beschäftigte. Die Betreuung von Menschen mit herausforderndem Verhalten werde neu konzipiert, erläutert der Vorstand im Interview.

Bad Oeynhausen (epd). Die Diakonische Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen hat auf die Vorwürfe von Freiheitsberaubungen nach Worten des Vorstands Dierk Starnitzke mit umfangreichen Strukturmaßnahmen und personellen Konsequenzen reagiert. Neben Gewaltprävention, kleineren Einheiten und mehr Kontrollen werde jetzt ein individuellere Begleitung umgesetzt, sagte der Theologische Vorstand dem Evangelischen Pressedienst (epd). Statt einer Zuordnung in bestimmte Gruppen sollen allein die Bedürfnisse der Bewohner in Mittelpunkt stehen, kündigte Starnitzke an. In der diakonischen Stiftung ermittelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen 145 Beschuldigte, wie Anfang des Jahres bekannt wurde. Die Fragen stellte Holger Spierig.

epd sozial: Wie reagiert der Wittekindshof auf die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft wegen Freiheitsberaubung?

Dierk Starnitzke: Die Stiftung hat von Beginn an die Ermittlungen der Behörden vorbehaltlos unterstützt. Sollte es zu Unregelmäßigkeiten im Umgang mit unseren Klientinnen und Klienten gekommen sein, distanzieren wir uns davon klar und deutlich. Wir untersuchen derzeit sehr sorgsam und gewissenhaft, ob es zu schwerwiegenden Versäumnissen gekommen ist. An Stellen, wo dies deutlich wird, ergreifen wir auch personelle Maßnahmen. Diese reichen von Versetzungen in andere Arbeitsbereiche über Abmahnungen bis hin zur Beendigung von Dienstverhältnissen.

epd: Was bedeutet das für den betroffenen Bereich?

Starnitzke: Wir haben gleich nach Bekanntwerden der Vorwürfe umfangreiche Maßnahmen in diesem sehr anspruchsvollen Arbeitsbereich angeschoben: Der Geschäftsbereich 4 wurde aufgelöst. Die Konzentration der spezialisierten Wohnangebote für Menschen mit stark herausforderndem Verhalten auf einen Geschäftsbereich wurde somit aufgehoben. Die Konzeption zur Unterstützung dieser Menschen wurde auf den Prüfstand gestellt und auf höchstem Niveau aktualisiert. Alle Mitarbeitenden in diesen Arbeitsbereichen wurden darin geschult.

epd: Gibt es weitere Maßnahmen?

Starnitzke: Außerdem haben wir einen zusätzlichen Fachdienst eingerichtet. Das Team von Psychologinnen und Psychologen ist zuständig für die Belange von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und kontrolliert die Einhaltung fachlicher Standards in der Wohn- und Betreuungsqualität sowie der rechtlichen Vorgaben. Punktuelle und radarmäßige Kontrollen sowie Berichte an die Ressortleitungen und den Vorstand gehören ebenfalls zu ihren Aufgaben.

epd: Wie werden freiheitsentziehende Maßnahmen gehandhabt?

Starnitzke: Neu aufgestellte Gewaltpräventionsteams prüfen, wie Krisen vermieden oder umgelenkt werden können, so dass freiheitsentziehende Maßnahmen gar nicht zum Einsatz kommen müssen. Stufenreaktionspläne sollen eine Deeskalation in Krisen bewirken. Wenn es aber keine Alternative gibt, arbeiten wir mit dem Vier-Augen-Prinzip: Eine Person führt die Maßnahme durch, eine andere überwacht den Vorgang. Jede Maßnahme wird dokumentiert und täglich von der Bereichsleitung und zudem wöchentlich von der übergeordneten Geschäftsbereichsleitung kontrolliert.

epd: Wie ändert sich damit die Betreuung von Menschen mit Behinderungen?

Starnitzke: Wir sind dabei, die bisherige Betreuung in Heilpädagogischen Intensivbereichen gemäß den neuesten Vorgaben des Bundesteilhabegesetzes grundlegend neu aufzustellen. Wir gestalten sie zu einer personenzentrierten Intensivbetreuung um. Unser Ziel ist, dem einzelnen Menschen passende fachliche Angebote für seine individuelle Unterstützung zu unterbreiten, anstatt ihn in vorhandene Strukturen einzupassen. Die Begleitung der Menschen mit herausforderndem Verhalten soll in möglichst kleinen Einheiten organisiert werden. Wir haben das Kontrollsystem des Qualitätsmanagements weiterentwickelt. Die Einhaltung unserer anspruchsvollen Regelwerke und fachlichen Konzepte wird nun von geschulten Experten vor Ort geprüft und begleitet. Außerdem arbeiten wir sehr eng mit den zuständigen Aufsichtsbehörden zusammen.

epd: Was sind in diesem Bereich die besonderen Herausforderungen für die Mitarbeiter?

Starnitzke: Bei etlichen Klientinnen und Klienten sind Selbstgefährdungen und auch Fremdgefährdungen an der Tagesordnung. Gefährdungen und sogar Verletzungen von Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen sind nicht selten. Im Wittekindshof kann man jeden Tag aufs Neue erleben, welche ungeheuren Herausforderungen die tägliche Arbeit an die Mitarbeitenden stellen. Sie müssen in schweren Krisen unter sehr hoher emotionaler Belastung besonnen unterstützen.

epd: Wie sieht die Betreuung in diesem Bereich jetzt aus?

Starnitzke: Im ehemaligen Geschäftsbereich 4 lebte ein relativ großer Teil der erwachsenen Menschen mit Behinderung, die aufgrund ihres sehr besonderen Verhaltens und psychischer Beeinträchtigung auf umfassende Unterstützung und besonders enge Begleitung angewiesen sind, konzentriert in eigens dafür spezialisierten Bereichen. Bislang wurden sie in der Eingliederungshilfe generell je nach Förderbedarf verschiedenen Gruppen zugeordnet. Wir erhoffen uns durch die strukturellen und konzeptionellen Veränderungen eine noch individuellere Unterstützung und Förderung. In Zukunft sollen alleine die Bedarfe des Bewohners entscheidend sein, wie er lebt oder wie er vom Wittekindshof unterstützt wird.

epd: Haben die Reformen auch Auswirkungen auf weitere Bereiche des Wittekindshofs?

Starnitzke: Ja, denn wir sind entschlossen, die Lebenssituation aller Klientinnen und Klienten grundlegend zu verändern. Dazu folgen wir dem personenzentrierten Ansatz, in den wir in einem zweiten Schritt alle anderen Menschen, die wir unterstützen, einbeziehen wollen. Der individuelle Unterstützungsbedarf für die verschiedenen Lebensbereiche wird ermittelt und das dazu passende Gesamtangebot geschaffen. Dabei werden sowohl die Menschen mit Behinderung als auch ihre rechtliche Betreuung federführend eingebunden.

epd: Wie wirken sich die Ermittlungen auf den Alltag in der diakonischen Stiftung aus?

Starnitzke: Wir befassen uns auf Vorstands- und höchster Leitungsebene intensiv mit den Veränderungen und tragen dafür Sorge, dass der Alltag unserer Klientinnen und Klienten sowie unserer Mitarbeitenden so störungsfrei wie nur möglich ablaufen kann. Leider fühlen sich viele unserer gut 3.500 Mitarbeitenden dem öffentlichen Druck des Ermittlungsverfahrens ausgesetzt, obwohl sie selbst gar nicht beteiligt sind. Solch ein Generalverdacht führt zu großen Belastungen in der täglichen Arbeit. Wir versuchen, unsere Mitarbeiter zu stärken, die jeden Tag mit diesen Vorwürfen umgehen müssen, damit sie weiterhin professionell ihrer Arbeit nachgehen können.

epd: Sehen Sie in der Leitung der Diakonischen Stiftung im Rückblick Versäumnisse?

Starnitzke: Selbstverständlich tragen wir als Vorstand die Verantwortung für alle Abläufe im Wittekindshof. Im Moment prüfen wir alle vergangenen und aktuellen Vorgänge, die unsere Klientinnen und Klienten betreffen, sehr genau und selbstkritisch. Dazu fühlen wir uns auch durch unsere Geschichte verpflichtet. In den 1950er und 1960er Jahren ist es zu bedauerlichen Vorfällen gekommen: Klientinnen und Klienten wurden gegen ihren Willen festgehalten und misshandelt. Wir haben diese Vorfälle lückenlos aufgearbeitet und hatten den Mut, uns auch den Schattenseiten unserer Vergangenheit zu stellen. Diese Verpflichtung aus der Geschichte nehmen wir sehr ernst und gehen mit dieser Haltung auch die Frage nach Versäumnissen in der Gegenwart an.