sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

die Kritik ist deutlich: Die vom Bundestag beschlossene Pflegereform wird die Lage der Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen und professionellen Pflegerinnen kaum verbessern. Darin sind sich Selbsthilfeorganisationen und Fachverbände einig. Nur mit einer grundlegenden Reform sei eine verlässliche Pflege zu erreichen. Dazu müssten auch die Kommunen stärker in die Sicherstellung der Versorgung eingebunden werden.

Die Tat löste bundesweit Entsetzen aus: Ein 14-Jähriger aus Wunstorf hat gestanden, im Januar einen gleichaltrigen Mitschüler getötet zu haben. Im epd-Interview spricht Schulleiterin Elke Helma Rothämel erstmals über das Verbrechen. Nach ihrer Ansicht können Gewaltdarstellungen im Internet dazu beitragen, dass die Hemmschwellen für solche Taten sinken. „Für mich liegt tatsächlich die These nahe, dass Kinder heute nicht mehr so wie wir früher Kinder sein können“, sagt sie.

Die Pläne zur Einführung der Kindergrundsicherung sind ins Stocken geraten. Nun fordert ein Bündnis von 28 Organisationen von Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) einen Vorstoß. Er solle die im Koalitionsvertrag vereinbarte Neudefinition des Existenzminimums für Kinder angehen und damit den Weg frei machen für eine Leistung, die effektiv vor Armut schützt.

Auch Menschen, die unter Betreuung stehen, haben ein Recht auf möglichst viel Selbstbestimmung. Deswegen dürfen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs rechtliche Betreuer nur Aufgaben übernehmen, für die ihr Klient wirklich Hilfe benötigt. Es müsse ein konkreter Bedarf für die Anordnung eines bestimmten Aufgabenbereichs bestehen, erklärte der BGH.

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Ihr Markus Jantzer




sozial-Politik

Pflege

Seniorenverband fordert "Neukonzeption des Pflegesystems"




Protest gegen Pflegenotstand
epd-bild/Jürgen Blume
Der Unmut über die vom Bundestag beschlossene Reform ist gewaltig. Verbände und Oppositionspolitiker sprechen abschätzig von einem "Reförmchen". Die Novelle werde dem Ernst der Lage nicht gerecht. Das Pflegesystem müsse neu konzipiert werden.

Bonn, Berlin (epd). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso) fordert eine grundlegende Neukonzeption des Pflegesystems. Knapp drei Jahrzehnte nach Einführung der Pflegeversicherung stehe das „bestehende System der Pflege am Scheideweg“, erklärte der Dachverband am 30. Mai in Bonn. „Kleinteilige Reformen“ wie das am 26. Mai beschlossene Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz lösten die wesentlichen Probleme in der Pflege nicht. Die Diakonie sprach von „Flickschusterei“.

„Leistungsverbesserungen nicht ausreichend“

Die Opposition im Bundestag kritisierte die mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen beschlossenen Leistungsverbesserungen als nicht ausreichend. Auch Vertreterinnen der Ampel räumten ein, sie hätten sich mehr gewünscht. Die Linke kritisierte, die Anhebung des Pflegegeldes um fünf Prozent sei angesichts der hohen Inflation real eine Kürzung. Das Pflegegeld war zuletzt 2017 erhöht worden.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) verteidigte in der Debatte seine Reform. Für pflegende Angehörige gebe es deutliche Verbesserungen, sagte er und hob deren Engagement hervor. Die Gesellschaft könne sich glücklich schätzen, dass sich so viele Angehörige der Pflege widmeten. Fast vier Fünftel der rund fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause versorgt.

In ihrem Positionspapier „Sorge und Pflege: Neue Strukturen in kommunaler Verantwortung“ spricht sich die Bagso dafür aus, den Kommunen die Verantwortung für die Versorgung von Hilfs- und Pflegebedürftigen zu übergeben. Nach Ansicht der Bagso muss es Aufgabe der Kommunen sein, bedarfsgerechte Angebote für Sorge und Pflege sicherzustellen und Akteure zu vernetzen.

Kommunen sollen Pflegebedarfsplanungen machen

Der Dachverband verlangt zudem die verpflichtende Einführung eines Case- und Care-Managements, das die Unterstützungsbedarfe älterer Menschen ermittelt und individuelle Hilfepläne entwickelt. Kommunen sollten überdies verpflichtet werden, Pflegebedarfsplanungen zu erstellen.

„Die Bagso appelliert an die Politik, endlich mit dem Flickwerk an der Pflege aufzuhören. Pflegebedürftige brauchen jetzt und in Zukunft eine verlässliche Versorgung“, sagte die Verbandsvorsitzende und frühere CDU-Sozialministerin im Saarland, Regina Görner. Die Versorgung könne nur vor Ort, in den Kommunen, bedarfsgerecht organisiert werden. „Kommunen brauchen dafür einen gesetzlichen Auftrag und eine angemessene Finanzierung“, betonte sie.

In ihrem Positionspapier legt die Bundesarbeitsgemeinschaft zudem Vorschläge vor, wie die professionelle Pflege gestärkt und pflegende Angehörige besser entlastet werden können. Sie fordert, Pflege dauerhaft bezahlbar zu machen und soziale Ungleichheit abzubauen. Gute Rahmenbedingungen für ein gesundes Altern seien wichtig, um Krankheit und Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich zu vermeiden.

„Pflegende Angehörige stehen im Regen“

Der Bundesverband der Diakonie forderte „statt Flickschusterei einen Masterplan für eine grundlegende Reform der Pflege“. Die Vorständin Sozialpolitik, Maria Loheide, kritisierte scharf: „Dieses Gesetz ist eine Enttäuschung für alle Pflegebedürftigen, Pflegenden und Angehörigen. Es lässt vor allem pflegende Angehörige im Regen stehen.“

Wenn nicht bald eine grundlegende Pflegereform komme, „riskieren wir, dass Pflegebedürftige nicht mehr professionell versorgt werden können und pflegende Angehörige erschöpft aufgeben müssen. Das wäre eine Katastrophe!“

Die Kritik der Interessenvertretung und Selbsthilfeorganisation für pflegende Angehörige, wir pflegen e.V., erkennt in dem Gesetz „erste zaghafte Schritte zur Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger“. Allerdings lasse sich „das Ziel, die häusliche Pflege zu stärken und pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen und Pflegepersonen nachhaltig zu entlasten, über die viel zu kurz gegriffenen Maßnahmen des Gesetzes nicht erreichen“. Das beurteilt die Organisation angesichts der steigenden Zahl pflegebedürftiger Menschen als „fatal“.

Markus Jantzer, Holger Spierig


Pflege

Hintergrund

Das ändert sich durch die Pflegereform



Berlin (epd). Der Bundestag hat am 26. Mai in Berlin eine weitere Pflegereform beschlossen. Um die Finanzen der Pflegeversicherung zu stabilisieren, steigen ab Juli die Beiträge. Außerdem muss ein Verfassungsgerichtsurteil fristgerecht umgesetzt werden. Anfang 2024 werden die Leistungen in der ambulanten Pflege angehoben und Heimbewohnerinnen und -bewohner stärker entlastet. Die wichtigsten Punkte aus dem „Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz“:

BEITRÄGE

Zum Juli dieses Jahres werden die Beiträge angehoben. Damit werden die Einnahmen der Pflegeversicherung um 6,6 Milliarden Euro pro Jahr steigen, in diesem Jahr also noch um die Hälfte. Zum anderen muss die Regierung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April 2022 zur gesetzlichen Pflegeversicherung umsetzen, wonach Eltern für ihren Erziehungsaufwand bei den Beiträgen entlastet werden müssen.

Der allgemeine Beitragssatz steigt von 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens auf 3,4 Prozent. Kinderlose zahlen dann vier Prozent Pflegebeitrag, bisher sind es 3,4 Prozent. Für Eltern wird der Pflegebeitrag vom zweiten Kind an bis zum 25. Lebensjahr eines Kindes um jeweils 0,25 Beitragssatzpunkte verringert. Er beträgt also mit zwei Kindern 3,15 Prozent, mit drei Kindern 2,9 Prozent, mit vier Kindern 2,65 Prozent und mit fünf und mehr Kindern 2,4 Prozent.

Die Bundesregierung wird ermächtigt, unter bestimmten Voraussetzungen künftig die Beiträge durch Rechtsverordnung erhöhen zu können, um kurzfristig auf Finanznöte der Pflegeversicherung reagieren zu können. Bisher ist dafür ein Bundestagsbeschluss notwendig. Der Bundestag soll aber auch künftig beteiligt werden, indem er die Verordnung ändern oder ablehnen kann.

PFLEGE ZU HAUSE

Die Leistungen aus der Pflegeversicherung für Angehörige, die die Versorgung allein oder mithilfe von Pflegediensten zu Hause übernehmen, werden Anfang 2024 um fünf Prozent erhöht. Das Pflegegeld beträgt heute zwischen 316 und 901 Euro im Monat, die Sachleistungen für Pflegedienst-Einsätze liegen zwischen 724 und 2.095 Euro. 2025 sollen die Leistungen um weitere 4,5 Prozent angehoben werden. Knapp vier Fünftel der rund fünf Millionen Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt.

ENTLASTUNGSBUDGET

Bislang können pflegende Angehörige bis zu 1.612 Euro für eine Verhinderungspflege oder 1.774 Euro für eine Kurzzeitpflege bekommen. Künftig sollen diese Leistungen in einem sogenannten Entlastungsbudget in Höhe von 3.539 Euro zusammengefasst werden, um sie flexibler nutzen zu können. Eltern mit Kindern mit einem hohen Pflegegrad bekommen dieses Budget ab 2014, für alle pflegenden Angehörigen soll es ab Juli 2025 zur Verfügung stehen.

BEZAHLTE PFLEGETAGE

Bisher können berufstätige Angehörige für jeden Pflegefall in der Familie einmalig zehn Tage bezahlt freinehmen. Von 2024 an haben sie Anspruch auf zehn solcher bezahlten Pflegetage pro Jahr.

PFLEGE IM HEIM

Heimbewohnerinnen und -bewohner erhalten Zuschüsse zu den Zahlungen, die sie selbst leisten müssen (Eigenanteil). Sie richten sich danach, wie lange sie schon im Heim leben. Anfang 2024 soll dieser Zuschuss erhöht werden, für das erste Jahr des Heimaufenthalts um zehn Prozentpunkte auf 15 Prozent, für die folgenden beiden Jahre auf 30 beziehungsweise 50 Prozent - und für das vierte und alle weiteren Jahre auf 75 Prozent. Der Eigenanteil liegt inzwischen im Durchschnitt bei mehr als 2.400 Euro pro Heimplatz und Monat.

FINANZEN DER PFLEGEVERSICHERUNG

Die Leistungsverbesserungen kosten die Pflegeversicherung laut Gesetz rund zwei Milliarden Euro jährlich. Fast fünf Millionen Menschen beziehen Leistungen aus der Pflegeversicherung, rund vier Millionen von ihnen werden zu Hause versorgt. Die Ausgaben der Pflegeversicherung steigen stark und lagen nach Angaben des GKV-Spitzenverbands für 2022 bei 60,03 Milliarden Euro und damit über den Einnahmen in Höhe von 57,78 Milliarden Euro. Die Pflegeversicherung muss außerdem ein Darlehen in Höhe von einer Milliarde Euro an den Bund zurückzahlen. Dem Gesetzentwurf zufolge soll dies in zwei Schritten - bis Ende 2023 und bis Ende 2028 - erfolgen.

Bettina Markmeyer


Kriminalität

Interview

Tötung eines Schülers: "An Unfassbarkeit nicht zu übertreffen"




Trauer um getöteten Schüler in Wunstorf
epd-bild/Nancy Heusel
Die Tat schockierte Deutschland: Ein 14-Jähriger aus Wunstorf hat gestanden, im Januar einen gleichaltrigen Mitschüler getötet zu haben. Im epd-Interview spricht nun erstmals Schulleiterin Elke Helma Rothämel über das Verbrechen.

Wunstorf (epd). Das Tötungsdelikt ist noch immer schwer zu begreifen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Täter sein Opfer gefesselt und mit Steinen erschlagen haben. Elke Helma Rothämel leitet die Evangelische IGS Wunstorf, eine Integrierte Gesamtschule in landeskirchlicher Trägerschaft. Sie sucht weiter nach Erklärungen: „Bis jetzt ist die Frage nach dem Warum für mich und uns als Schulgemeinschaft offen, können wir uns überhaupt nicht vorstellen, weshalb der mutmaßliche Täter so einen Entschluss gefasst hat.“ Mit ihr sprach Michael Grau.

epd sozial: Frau Rothämel, ein 14-jähriger Schüler Ihrer Schule ist von einem gleichaltrigen Mitschüler getötet worden. Ist das der Super-GAU für eine Schule?

Elke Helma Rothämel: Es ist jedenfalls für die gesamte Schulgemeinschaft an Unfassbarkeit nicht zu übertreffen. Es waren beides Schüler, die wir an unserer Schule fast vier Jahre lang im Ganztag intensiv erlebt haben. Wir haben auch mit deren Eltern intensiv zusammengearbeitet. Das hat beides jäh ein Ende gefunden. Insbesondere die beiden Klassenlehrertandems, die die Schüler seit Klasse fünf begleitet haben, nimmt dies sehr mit. Und genauso natürlich die Mitschülerinnen und Mitschüler.

epd: Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie erstmals von der Gewalttat erfahren haben?

Rothämel: Daran werde ich mich wohl mein ganzes Leben erinnern. Wir haben schon sehr früh mitbekommen, dass ein Schüler vermisst wird. Wir hatten hier einen Gala-Abend mit Facharbeitspräsentationen, da stand auf einmal die Polizei in der Tür und fragte, ob der vermisste Schüler sich vielleicht in den Räumen der Schule aufhält. Dann haben wir parallel zur Festveranstaltung die ganze Schule abgesucht. Trotzdem war da gleich die Ahnung, ob etwas Schlimmes passiert sein könnte, weil der Junge sehr zuverlässig war. Als ich dann gehört habe, dass ein Schüler unserer Schule ihn getötet haben sollte, war meine erste Assoziation „Kain und Abel“.

epd: Die beiden Brüder aus der biblischen Geschichte, in der einer den anderen erschlug.

Rothämel: Ja. Denn die Jungen kannten sich schon seit Kindergarten-Zeiten. Sie waren in Parallelklassen, aber sie haben sich auch außerhalb der Schule verabredet.

epd: Hatten Sie an der Schule Hinweise auf Mobbing?

Rothämel: Wir haben uns das sehr intensiv gefragt. Natürlich ist Mobbing in unterschiedlichsten Formen etwas, worauf wir genau schauen. Aber: Nein. Zwischen diesen beiden gab es kein für uns wahrnehmbares Mobbing. Bis jetzt ist die Frage nach dem Warum für mich und uns als Schulgemeinschaft offen, können wir uns überhaupt nicht vorstellen, weshalb der mutmaßliche Täter so einen Entschluss gefasst hat.

epd: Durch die Anklage wurde auch bekannt, dass der mutmaßliche Täter schon vorher bei Nachbarn Erpresserbriefe in die Briefkästen geworfen hat. Darin hat er den Empfängern gedroht, ihnen etwas anzutun, wenn sie kein Geld für ihn deponieren. Wusste die Schule davon?

Rothämel: Nein, in keiner Weise. Weder durch die Polizei noch durch die Eltern. Erst einige Wochen nach der Tat hat es erste Gerüchte diesbezüglich gegeben. Ich habe dann natürlich nachgefragt. Aber bis jetzt hat es keinerlei offizielle Mitteilung der Polizei an uns gegeben.

epd: Hätten Sie sich gewünscht, dass Sie schon viel früher von diesen Drohbriefen erfahren hätten?

Rothämel: Aus heutiger Sicht natürlich ja. Gedanklich wünschte man sich, es hätte ein Stoppzeichen gegeben, das sich auf den Umgang zwischen den beiden Jungs ausgewirkt hätte, sodass das Opfer möglicherweise besser hätte geschützt werden können.

epd: Glauben Sie, dass Sie dann pädagogisch auf den mutmaßlichen Täter hätten einwirken können?

Rothämel: Das ist schwer zu beantworten. Ich weiß nur eines: Wenn wir von etwas Kenntnis haben, und sei es weniger gravierend, dann schauen wir nicht weg, sondern dann sind wir diejenigen, die konsequent und pädagogisch zum Schutz und zum Wohle aller zu agieren versuchen.

epd: Was war der mutmaßliche Täter für ein Schüler?

Rothämel: Er war immer sehr in sich zurückgezogen. Aber er hatte auch Ideen, er war einfallsreich. Er war ein kluger Schüler. In der letzten Zeit ist er zunehmend unordentlich geworden, aber es gab für uns keine Hinweise, die auch nur annähernd auf das hingedeutet hätten, was er dann mutmaßlich getan hat. Hinterher haben wir erfahren, dass er außerhalb der Schule oft ganz anders war und viel mehr geredet hat.

epd: Der Junge sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Hat die Schule weiterhin Kontakt zu ihm?

Rothämel: Nein. Wir haben Kontakt zu den Eltern. Aber wir respektieren auch, dass sie momentan einen gewissen Abstand brauchen. Sie werden seelsorgerlich begleitet. Denn auch sie haben ihren Sohn verloren, wie sie ihn vorher kannten.

epd: Was war das Opfer für ein Mensch?

Rothämel: Er war ganz engagiert in der katholischen Kirchengemeinde. Er war Messdiener und bei den Pfadfindern. Wenn ihm etwas Unangenehmes widerfahren war und er sich zurückgesetzt gefühlt hat, konnte er vergeben und am nächsten Tag wieder freudig und offen auf die anderen Menschen zugehen. An unserer Schule erinnern einige Orte der Stille an ihn. An seinem Lieblingsort in der Bibliothek steht ein Tisch mit seinem Bild. Dort kann jeder hingehen und ihm in Gedanken besonders nah sein.

epd: Haben Sie weiter Kontakt zu den Eltern des Opfers?

Rothämel: Ja. Sie fühlen sich immer noch im Würgegriff der Trauer. Sie wollen verstehen, ohne dass sie es verstehen können. Und andererseits sind sie in der Lage zu vergeben. Weil sie sagen: Unser Sohn hätte es auch getan. Und: Sie machen sichtbar deutlich, dass sie die Eltern nicht verurteilen. Das ist ein ganz großartiges Zeichen. Denn in unserer Stadt gab es unschöne Kampagnen und unfreundliche Briefe, auch an mich.

epd: Haben Sie als erfahrene Pädagogin eine Erklärung, wo dieses jugendliche Aggressionspotenzial herkommen kann?

Rothämel: Als die Tat geschehen war, sprachen Experten von einer singulären Tat. Aber leider sind inzwischen weitere brutale Morde von Kindern an Kindern geschehen, die teils sogar noch jünger sind als unsere Schüler. Für mich liegt tatsächlich die These nahe, dass Kinder heute nicht mehr so wie wir früher Kinder sein können. Dass sie ungefiltert mit so vielen Bildern von Brutalität in den Medien konfrontiert sind, dass sich die Ungeheuerlichkeit eines solchen Tuns relativiert. In Videospielen oder im Internet ist diese Brutalität zugänglich durch ein paar Klicks. Wir müssen lernen, zum Schutz aller noch einmal aufmerksamer und im Gespräch zu sein.



Asyl

Vor zehn Jahren kämpften Flüchtlinge in Hamburg für ihr Bleiberecht




Flüchtling aus Ghana auf dem Gelände der St. Pauli-Kirche in Hamburg (Archivbild)
epd-bild/Julia Reiß
Vor zehn Jahren gelangten mehrere hundert Flüchtlinge aus Afrika über die italienische Insel Lampedusa nach Hamburg. Viele von ihnen fanden Unterschlupf in der St.-Pauli-Kirche und kämpften von dort für eine Aufenthaltserlaubnis.

Hamburg (epd). „Hallo, guten Abend!“ Haruna Mutari hält einem Paar, das abgehetzt zu spät zur Vorstellung kommt, die schwere Eingangstür des Hamburger Thalia Theaters auf und bittet sie freundlich herein. An ein paar Abenden in der Woche arbeitet der 44-Jährige Mann aus Ghana am Einlass des Theaters und begrüßt dort die Besucher. Als er 2012 nach Deutschland kam, war niemand da, der ihn begrüßt hätte.

In Schlauchbooten über das Mittelmeer

Doch dann wurde Mutari Teil einer Gruppe von afrikanischen Flüchtlingen, die unter dem Namen „Lampedusa in Hamburg“ bundesweit Aufmerksamkeit bekam für ihren Kampf um ein Bleiberecht in Deutschland. Heute hat sich dieser Wunsch für Haruna Mutari und viele andere erfüllt.

Die Lampedusa-Flüchtlinge stammten aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern und hatten alle in Libyen gearbeitet. Als dort 2011 ein Krieg begann, mussten sie in Schlauchbooten über das Mittelmeer fliehen und landeten auf der italienischen Insel Lampedusa. Die dortigen Behörden schickten sie rasch weiter Richtung Norden.

Mutari war einer von ihnen. In Hamburg angekommen, lernte er im Winternotprogramm der Stadt weitere Männer kennen, die denselben Weg hinter sich hatten. Sie taten sich zusammen und machten auf sich aufmerksam. „Wir wollten zeigen, dass wir viele sind“, erzählt er.

Mutari, der gelernter Tischler ist, wollte gerne in Hamburg zur Schule gehen. Doch als das Winternotprogramm im April 2013 endete, hatten die etwa 300 bis 400 Lampedusa-Flüchtlinge nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen. Am 2. Juni öffnete ihnen der Pastor der St.-Pauli-Kirche, Sieghard Wilm, die Türen seines Gotteshauses. „Ich habe nicht geahnt, was ich damit auslöse. Ich dachte, es ginge um ein oder zwei Nächte, dann würde sich die Stadt schon melden“, erzählt Wilm.

Welle der Solidarität

Doch die Stadt versuchte zunächst, die Sache auszusitzen. Mehrere Monate schliefen Mutari und etwa 80 weitere Männer in der Kirche. Der sie umgebende Garten wurde zu einem Ort, an dem die Flüchtlinge ihre Forderungen sichtbar machen und mit der Nachbarschaft ins Gespräch kommen konnten. „Es gab eine unglaubliche Welle der Solidarität in der ganzen Stadt“, erinnert sich Wilm.

Nach zähen Verhandlungen zwischen der Nordkirche und dem Senat machte die Stadt den Männern Ende Oktober das Angebot, ihre Fälle einzeln zu prüfen. Bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Aufenthaltserlaubnis durften sie in Hamburg bleiben. „Dieses Angebot war viel substanzieller, als es vielleicht auf den ersten Blick gewirkt hat“, sagt Uwe Giffei, Rechtsberater bei der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt. „Bischöfin Kirsten Fehrs hat damals das Maximale rausgeholt, was rauszuholen war.“

Das Hamburger Angebot habe den Menschen eine wirkliche Perspektive auf einen legalen Aufenthaltsstatus geboten - nach Ansicht von Giffei war das deutschlandweit einzigartig. Trotzdem waren viele Flüchtlinge skeptisch, weil sie sich für eine Aufenthaltserlaubnis für die gesamte Gruppe eingesetzt hatten. Noch heute gibt es Flüchtlinge und Unterstützergruppen, die unter dem Namen „Lampedusa in Hamburg“ für eine gerechtere Flüchtlingspolitik kämpfen.

Flüchtling Mutari hilft Obdachlosen

Etwa 120 Menschen ließen sich auf die Einzelfallprüfung ein. Währenddessen besuchten sie Deutschkurse und fingen an zu arbeiten - weiterhin mit großer Unterstützung aus der Stadtgesellschaft. 100 von ihnen erhielten schließlich einen sicheren Aufenthaltsstatus.

Auch Haruna Mutari gehört dazu. Heute hat er zwei Kinder, lebt im Osten der Stadt und arbeitet in einem Saatengroßhandel im Hafen. Mit anderen Männern aus der Lampedusa-Gruppe habe er nicht mehr viel zu tun, erzählt er. Doch den Kontakt zum Thalia-Theater, das sich damals sehr engagiert hat, hält er durch seinen Minijob am Einlass ebenso aufrecht wie zur St.-Pauli-Kirche, bei der er ab und zu als Küster aushilft.

Am Ende seiner Wünsche ist er aber noch lange nicht. Sein Traum ist es, wieder als Tischler zu arbeiten und selbst noch mehr Menschen in Not helfen zu können. In seinem Heimatland Ghana unterstützt er Bedürftige mit Spenden. Und wenn es in Hamburg kalt wird, kauft Mutari Decken und Schlafsäcke und verteilt sie an Obdachlose.

Imke Plesch


Migration

Interview

Flüchtlingspolitik: Forscher fordert Abkehr vom Notfallmodus




Jochen Oltmer
epd-bild/Michael Gründel/NOZ
Migrationsforscher Jochen Oltmer hält nichts von wiederkehrenden Flüchtlingsgipfeln. Es brauche einen ständigen Kommunikationskanal auf allen politischen Ebenen, sagt der Experte. Worauf es außerdem ankommt, auch auf EU-Ebene, verrät der Professor im Interview.

Osnabrück (epd). Der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer sieht viele Versäumnisse in der deutschen und europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik. Aktuelle Vorschläge wie etwa zu beschleunigten Abschiebungen seien ebenso alt wie unrealistisch, sagte der Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück dem Evangelischen Pressedienst. Er fordert eine Migrationsunion und eine Abkehr vom Dublin-System. Mit ihm sprach Martina Schwager.

epd sozial: Wie können Bund, Länder und Kommunen es schaffen, die erneut steigende Zahl von Geflüchteten angemessen zu versorgen?

Jochen Oltmer: Das regelmäßige Zusammenkommen in sogenannten Gipfelgesprächen zu dieser Frage ist aus meiner Sicht problematisch. Wir reden über sehr viele Jahre hinweg von Flucht, Asyl und der Aufnahme von Schutzsuchenden. Wir haben die Erfahrung von 2015 gemacht. Und immer noch braucht es solche Gipfelveranstaltungen? Es müsste stattdessen einen steten Kommunikationskanal zwischen Bund, Ländern und Kommunen geben, um abzustimmen, wie mit den Schutzsuchenden umgegangen werden soll. Notwendig wären reguläre, vielfältig abgestimmte Finanzierungswege, statt immer wieder über Notfallhilfen zu verhandeln. Dann könnten die Kommunen auch mehr Kapazitäten für die Unterbringung vorhalten.

epd: Wie müsste eine funktionierende Flüchtlings- und Asylpolitik innerhalb der Europäischen Union aussehen?

Oltmer: Die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik befindet sich seit Jahren in einer Sackgasse. Diskussionen, wie sie aktuell geführt werden, etwa über die Verlagerung von Asylverfahren an die europäischen Außengrenzen oder über beschleunigte Abschiebungen, sind mindestens 20 Jahre alt. Bei denen ist schon von Beginn an klar, dass sie sich nicht umsetzen lassen. Das ist gewissermaßen eine Simulation von Politik. Abschiebungen sind ausgesprochen schwierig, weil viele Länder die Menschen nicht zurücknehmen, die Betroffenen keine Papiere haben oder die Lage in den Herkunftsländern aktuell zu gefährlich ist. Abschiebungen in der Zahl, wie sie hierzulande für nötig angesehen werden, sind nicht realisierbar. Es wäre an der Zeit, das auch öffentlich zu sagen.

epd: Wie könnten die Staaten zu einer funktionierenden Verteilung für Flüchtlinge kommen?

Oltmer: Dafür gilt dasselbe wie für Abschiebungen. Der sogenannte Solidaritätsmechanismus ist seit 30 Jahren Thema. Aber alle Beteiligten wissen, dass es Solidarität in diesem Bereich nicht geben wird. Trotzdem betont jede Bundesregierung immer wieder, dass sie dafür sorgen will, dass es in diesem Feld vorangeht. Es braucht offensichtlich andere Strategien. Das gesamte Dublin-System, wonach die Menschen dort einen Asylantrag stellen müssen, wo sie erstmals europäischen Boden betreten und registriert werden, muss infrage gestellt werden.

epd: Was kann Deutschland bewirken, wenn es eine Einigung auf europäischer Ebene nicht gibt?

Oltmer: Weil man sich auf EU-Ebene aus guten Gründen auf das Schengen-Abkommen mit offenen Binnengrenzen und einer gemeinsamen Außengrenze geeinigt hat, brauchen wir ein gemeinsames europäisches Flüchtlings- und Asylsystem. In vielen Politikbereichen hat die Europäisierung große Fortschritte gemacht. Man denke etwa an die Währungsunion, die ja gar nicht mehr hinterfragt wird. Analog brauchen wir eine Migrationsunion.

epd: Sehen Sie denn eine Chance, dass die Staaten sich vom Dublin-System abwenden?

Oltmer: Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Viele Staaten, wie die Mittelmeer-Anrainer sind unzufrieden mit dem System. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen, die es abschaffen wollen. Allerdings hat die Bundesrepublik als sehr mächtiger Akteur lange auf dem Dublin-System bestanden und als mitten in Europa liegender Staat davon profitiert.

epd: Was halten Sie von dem Vorschlag, die Entscheidung über Asylverfahren an die Außengrenzen zu verlegen?

Oltmer: Ich halte ihn für unrealistisch. Zunächst ist die Einrichtung extraterritorialer Gebiete auf europäischem Boden rechtlich höchst umstritten. Zudem würden dort wahrscheinlich ähnlich wie in den Lagern auf den griechischen Inseln miserable humanitäre Bedingungen herrschen. Länder wie Italien oder Griechenland werden nicht zustimmen, dass die Asylverfahren auf ihrem Territorium durchgeführt werden. Zumindest nicht, solange es keinen festgelegten Verteilungsmodus für Asylberechtigte gibt und solange nicht geklärt ist, was mit denjenigen passiert, die kein Asyl bekommen. Auch ist nicht klar, vor welchen Gerichten abgelehnte Asylbewerber gegen die Entscheidung klagen können.

epd: Was sollte denn ihrer Ansicht nach mit denen passieren, deren Asylantrag abgelehnt wird, die aber nicht abgeschoben werden können?

Oltmer: In der Tat kehren Jahr um Jahr Tausende abgelehnte Asylbewerber freiwillig in ihre Heimatländer zurück. Es gibt also Bewegung in diesem Feld. Es bedarf aber auch der Einsicht, dass es für einige Menschen, die in die Bundesrepublik gekommen sind, keine Perspektive gibt, sie wieder in die jeweiligen Herkunftsländer zurückzuschicken. Man sollte darüber diskutieren, sie mit einem Aufenthaltstitel auszustatten. Zudem müsste die Diskussion um den Spurwechsel vom Asyl- in das Einwanderungssystem wieder aufgenommen werden - auch mit Blick auf den Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland.

epd: Ist es denn aber nicht auch richtig, über eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen in irgendeiner Form zu sprechen, um die deutsche Gesellschaft nicht zu überfordern?

Oltmer: Natürlich ist es richtig, darüber zu diskutieren. Aber wir sollten nicht immer wieder diesen Gipfel- und Notfallmodus betonen. Damit wird suggeriert, die zunehmende Zahl der Schutzsuchenden stelle uns vor nicht zu stemmende Herausforderungen. Das trägt dazu bei, dass viele Menschen in der Bundesrepublik zu der Auffassung gelangen, das seien jetzt zu viele Flüchtlinge. Wir müssen anerkennen, dass Flucht in Deutschland ein Dauerthema bleiben wird. Ich halte es für problematisch, dass jetzt immer öfter von illegalen Migranten anstatt von Schutzsuchenden gesprochen wird. Beim Asyl handelt es sich um ein international anerkanntes Recht. Es wäre nach Innen wie nach Außen wichtig, dass die Bedingungen, unter denen Menschen dieses Recht in Anspruch nehmen können, transparent sind. Das ist aber nicht der Fall. Die Anerkennungsraten der Asylsuchenden sind in den europäischen Ländern zum Beispiel sehr unterschiedlich.



Asyl

Flüchtlingsverein: "Wir drehen uns im Kreis"



Immer wieder berichten Asylbewerber, dass sie in südosteuropäischen Ländern bei ihrer Ankunft geschlagen wurden. Damit sie nicht nach Bulgarien oder Rumänien zurückmüssen, bitten sie oft um Kirchenasyl.

München (epd). 45 Menschen leben zurzeit in Bayern im Kirchenasyl in evangelischen Kirchengemeinden. Die meisten von ihnen sind über Bulgarien in die EU eingereist. Dahin müssten sie nach den gültigen EU-Regeln eigentlich für ihr Asylverfahren zurück. Aber bei der Registrierung dort und in Flüchtlingslagern hätten viele von ihnen Gewalt erlebt, sagt der Kirchenasylkoordinator der bayerischen Landeskirche, David Geitner. Er wisse von Fällen, in denen sogar Kinder in Gefängnisse gesteckt worden seien.

Mit Knüppeln geschlagen

Der Vorsitzende des Flüchtlingshilfevereins „Matteo - Kirche und Asyl“, Stephan Reichel, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), er habe 150 Berichte von Geflüchteten aus dem Irak, Syrien und Afghanistan gesammelt, die über Bulgarien kamen: „Jeder ist schrecklich.“ So zitiert Reichel einen 21-jährigen Syrier, der inzwischen in Neumarkt im Kirchenasyl ist. Bei seiner Verhaftung in Sofia sei er mit Knüppeln geschlagen und mit Stiefeln getreten worden. Auf der Polizeistation habe er sich nackt ausziehen müssen. In einer Gefängniszelle seien 35 Menschen untergebracht gewesen, die sich zehn Betten teilen mussten. Der junge Mann habe dort Wanzenstiche und Krätze bekommen.

Eine syrische Familie berichtet, ihrem 14-jährigen Sohn sei gegen den Kopf getreten worden. Ein junger Afghane, der inzwischen in Schwaben lebt, habe gesehen, wie bulgarische Polizisten Hunde auf Geflüchtete hetzten. In einem Offenen Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat Reichel geschrieben: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Misshandlung, oft Folter, von Geflüchteten systematisch betrieben und von den bulgarischen Behörden und der Regierung geduldet wird“.

„Mangelhaftigkeit des Gesamtsystems“

Beschreibungen von Qualen der Geflüchteten in Bulgarien machten in den Asylverfahren auf die Sachbearbeiter im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wenig Eindruck, stellt Kirchenasylkoordinator Geitner fest. Mit immer den gleichen Textbausteinen würden die Anträge abgelehnt. Bulgarien sei ein „sicherer Drittstaat“, heiße es etwa. „Auch wenn in bestimmten Bereichen noch Schwächen vorhanden sind und die Lebensbedingungen in Bulgarien für Asylbewerbende schwieriger sind als in Deutschland, führen diese Umstände nicht zur Mangelhaftigkeit des Gesamtsystems“, werde erklärt.

Das Bundesamt teilte dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit, dem Bundesinnenministerium und dem Bamf seien „keine systemischen Mängel im bulgarischen Asylsystem bekannt“. Für einen Abschiebestopp sehe man keinen Grund, denn „die EU-Mitgliedstaaten dürfen dabei darauf vertrauen, dass die Behandlung Schutzsuchender in jedem Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Grundrechtscharta entspricht“. Der Europäischen Kommission obliege es, „die Einhaltung der Verträge zu überwachen“.

Abschiebungen nach Bulgarien gestoppt

Bei solcher Argumentation „drehen wir uns im Kreis“, sagt Geitner. Auch die Befürchtungen von Geflohenen, sie könnten in Bulgarien obdachlos werden, werde in den Ablehnungen abgetan: „Mit gebotener eigener Anstrengung und dem Willen zur Integration kann Herr A. eine Obdachlosigkeit in Bulgarien auch im Fall seiner Anerkennung vermeiden.“ Das Verwaltungsgericht Ansbach habe vereinzelt Eilanträgen stattgegeben und Abschiebungen nach Bulgarien gestoppt, sagt Geitner: „Da wird dann deutlich, dass die Zustände nichts sind, was sich die Kirchen ausdenken.“

Kirchenasyl gewähren auch katholische Gemeinden und Klöster. Die dafür zuständige Juristin im Katholischen Büro Bayern, Bettina Nickel, hat nicht nur mit Menschen zu tun, die über Bulgarien oder Litauen in die EU gekommen sind, sondern auch mit Fällen, in denen Männer in Rumänien brutal behandelt wurden oder Menschen aus der queeren Szene nicht nach Polen zurückgeführt werden wollten, weil sie dort Schikanen erwarten.

Jutta Olschewski


Inflation

Ökonom sieht in starkem Preisanstieg "ein großes soziales Problem"




Sebastian Dullien
epd-bild/Peter Himsel

Düsseldorf (epd). Die hohe Inflation von aktuell 6,1 Prozent ist nach der Auffassung des Wirtschaftsforschers Sebastian Dullien „ein großes soziales Problem“. Sie sei auch deshalb problematisch, weil sie ärmere Haushalte besonders stark treffe. Der wissenschaftliche Direktor bei der Hans-Böckler-Stiftung geht aber davon aus, „dass die Preisschocks der letzten Zeit langsam abklingen. Wenn sich der Ukraine-Krieg nicht weiter zuspitzt, wird die Inflationsrate 2024 zwar noch über zwei Prozent liegen, aber nicht mehr sehr weit“, sagte der Ökonom dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Energie und Lebensmittel

Die seit einem Jahr sehr hohe Inflation habe die Kaufkraft aller Privathaushalte in Deutschland geschwächt. Menschen mit niedrigeren bis mittleren Einkommen müssten dabei höhere Teuerungsraten schultern als Wohlhabende. „Das liegt daran, dass die größten Preistreiber Haushaltsenergie und Lebensmittel in ihren Warenkörben ein besonders hohes Gewicht haben“, sagte Dullien.

Verbraucherinnen und Verbraucher haben oft das Gefühl, dass die Teuerung deutlich größer ist, als sie von staatlichen Behörden angegeben wird. Die „gefühlte Inflation“ weiche von der offiziellen Statistik ab, wenn Güter, die häufig gekauft werden, stärker teurer werden als Güter, die seltener gekauft werden, erklärt Dullien. Die gefühlte Inflation sei allerdings durch die besonders stark wahrgenommenen Preissteigerungen verzerrt.

„Sehr ausgewogene Tarifabschlüsse“

Laut Dullien ist es „sehr wichtig“, die Inflationsrate wieder in die Nähe von zwei Prozent zu bringen. Die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bundesregierung hätten Maßnahmen ergriffen, die wirkten: „Die Zinserhöhungen bremsen die Inflation ebenso wie beispielsweise die Energiepreisbremsen, und dieser Effekt wird in den kommenden Monaten noch zunehmen“, betonte Dullien.

Der Direktor der Hans-Böckler-Stiftung lobte die Ampel-Koalition und die Gewerkschaften. „Die Kombination aus den staatlichen Maßnahmen der vergangenen 18 Monate mit den sehr ausgewogenen jüngsten Tarifabschlüssen hilft eindeutig, die Kaufkraft zu stabilisieren.“ Es sei aber klar, dass der „brutale Anstieg der Energiepreise“ Deutschland ärmer gemacht habe. „Ein solcher Schock ist kurzfristig nicht vollständig auszugleichen.“

Dullien sieht die Preise nicht nur durch höhere Kosten getrieben. Vielmehr sprächen „einige Indizien dafür, dass steigende Gewinnmargen mancher Unternehmen aktuell signifikant zur Teuerung beitragen“. Seine Empfehlung: „Gegebenenfalls sollte die Politik über das Kartellrecht oder Übergewinnsteuern verhindern, dass sich eine Gewinn-Inflation verfestigt.“

Markus Jantzer



sozial-Branche

Armut

Verbände dringen auf Neuberechnung des Existenzminimums von Kindern




Die Kindergrundsicherung lässt auf sich warten. (Themenfoto)
epd-bild/Detlef Heese
Die Ungeduld von Familien- und Sozialverbänden über den "Stillstand" bei der Kindergrundsicherung wächst. Ein Bündnis von 28 Organisationen fordert Sozialminister Heil auf, den Weg frei zu machen für eine Kindergrundsicherung, die vor Armut schützt.

Berlin, Potsdam (epd). In der Debatte um die geplante Kindergrundsicherung fordert ein Bündnis von 28 zivilgesellschaftlichen Organisationen Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarte Neudefinition des Existenzminimums für Kinder anzugehen. So könne der Weg frei gemacht werden für eine Kindergrundsicherung, die vor Armut schützt, heißt es in einem 31. Mai veröffentlichten gemeinsamen Aufruf. Die neue Sozialleistung werde sich daran messen lassen müssen, ob sie die soziokulturellen Grundbedürfnisse von Kindern tatsächlich abdecke.

„Keinerlei Bemühungen des Sozialministeriums“

Mit Ausnahme einiger „deskriptiv-unverbindlicher Papiere“ seien bislang aber keinerlei Bemühungen des Bundessozialministeriums erkennbar, das Existenzminimum für Kinder neu zu definieren, kritisierten die Organisationen, darunter Deutsches Kinderhilfswerk, Diakonie und Paritätischer Gesamtverband: „Es wäre nicht hinnehmbar, wenn die für die Kindergrundsicherung entscheidende Frage des 'Was und wie viel braucht ein Kind' auf die lange Bank geschoben und das Projekt damit zum Scheitern gebracht würde.“

Nach den Plänen der Ampel-Koalition soll die Kindergrundsicherung ab 2025 ausgezahlt werden und bisherige Familienleistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag und Unterstützungen für Bildung und Teilhabe bündeln. Zugleich sollen Zugangshürden für Familien abgebaut werden.

Die Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder beschloss auf ihrer Frühjahrstagung am 26. Mai in Potsdam mit 15 von 16 Stimmen, Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) bei der Einführung der geplanten Kindergrundsicherung zu unterstützen. Die Bundesministerin wertete den gefassten Beschluss als ein „starkes Signal“. Die Vorsitzende der Konferenz, Brandenburgs Familienministerin Ursula Nonnemacher (Grüne), sagte, die Kindergrundsicherung sei ein „ganz fundamentales sozialpolitisches Projekt“, das zügig umgesetzt werden müsse.

21,6 Prozent der Kinder von Armut bedroht

Umstritten ist in der Ampel-Koalition von SPD, Grünen und FDP, ob mit der Kindergrundsicherung auch eine Erhöhung der Leistungen einhergehen soll. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt das mit Verweis auf eine angespannte Haushaltslage und andere Prioritätensetzungen ab.

Diakonie-Vorständin Maria Loheide erklärte am 31. Mai in Berlin, es reiche nicht aus, Leistungen schlanker und unbürokratischer zu gewähren, so wichtig das auch sei. Das Existenzminimum selbst müsse sauber und realistisch ermittelt werden. So reichten die bisherigen Ansätze bei der Ernährung nicht einmal aus, um den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu folgen.

Das Armutsrisiko für Kinder und Alleinerziehende ist im vergangenen Jahr weiter gestiegen. Der Anteil der von Armut bedrohten Kinder und Jugendlichen lag laut Statistischem Bundesamt bei 21,6 Prozent und damit um 0,3 Prozentpunkte höher als 2021. Dies geht aus einer Datenabfrage der Linksfraktion des Bundestags bei der Behörde hervor, die dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.

Stefan Fuhr, Markus Jantzer


Organspende

Mit Herz und Lunge eines Verstorbenen weitermachen




Maik Müller hat eine Herz-Lungen-Transplantation hinter sich.
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Dass bei einem Menschen Herz und Lungenflügel transplantiert werden, ist sehr selten. 2021 wurde dieser Eingriff nur bei zwei Patienten in Deutschland vorgenommen. Einer von ihnen ist Maik Müller. Ohne diese komplizierte Operation würde er wohl nicht mehr leben.

Leipzig (epd). Beim Staubsaugen trage er eine Maske, erzählt Maik Müller. Salami esse er leider nicht mehr. Er wechsele täglich die Handtücher. Der 58-Jährige nimmt viele Medikamente, fährt regelmäßig zu Nachsorge-Untersuchungen. Als Bühnenbauer kann er nicht mehr arbeiten. Und dennoch: „Ich fühle mich wie neugeboren. Vor dem Eingriff hing ich nur noch am Sauerstoff, konnte mich wegen des Hustens und der Luftnot nicht einmal unterhalten.“

Im März 2021 hat Müller Herz und Lungen eines verstorbenen Menschen erhalten. Und nun hofft er, dass diese Organe ihn - vor allem für seine drei Töchter - noch lange weiterleben lassen. Dafür hält Müller sich an viele Regeln, die sein Infektionsrisiko und damit eine Abstoßung der Organe verringern sollen.

Immer auf Hygiene achten

Herz-Lungen-Transplantierte müssten im besonderen Maß auf Hygiene achten, erklärt Burkhard Tapp vom Bundesverband der Organtransplantierten. „Speisen wie Sushi, Mett oder Tiramisu sind für alle Organtransplantierten wegen Salmonellengefahr tabu.“ Walnüsse oder Pistazien seien aufgrund der häufigen Belastung mit Schimmelpilzen gefährlich.

Wenn Herz und Lunge so weit geschädigt sind, dass keine Aussicht auf Heilung besteht, kommen Patienten grundsätzlich als Organempfänger infrage. Voraussetzungen sind umfangreiche Untersuchungen, die zum Beispiel sicherstellen, dass Niere und Leber möglichst einwandfrei funktionieren.

Dass sowohl Herz als auch Lungenflügel transplantiert werden, ist sehr selten. 2022 gab es in Deutschland fünf solcher Eingriffe, 2021 zwei - einer davon wurde bei Müller vorgenommen. „Vielen Patienten können wir stattdessen mit einer Lungentransplantation helfen“, erläutert René Schramm von der Klinik für Thorax- und Kardiovaskularchirurgie am Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen der Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum.

Entscheidend ist der erwartbare Transplantationsvorteil

Der Professor transplantiert regelmäßig Organe. „Am anspruchsvollsten für uns Chirurgen ist die kombinierte Herz-Lungen-Transplantation, wenn der Patient vorher eine Überbrückung wie ein Kunstherz brauchte. Er ist mindestens einmal operiert und es kann Verwachsungen geben.“

Allerdings seien die möglichen Empfänger so gut untersucht, dass die Ärzte genau sagen könnten, wie es im Brustkorb der Patienten aussehe - „weil wir verpflichtet sind, nach dem erwartbaren Transplantationsvorteil zu entscheiden.“ Das bedeutet, dass die Organspende das Leben des Empfängers verlängern und verbessern muss.

Tim Sandhaus vom Universitätsklinikum Jena war einer der Ärzte, die Maik Müller operiert haben. Die Operation habe mehr als fünf Stunden gedauert. „Hauptursächlich für die kombinierte Herz-Lungen-Transplantation war das nicht mehr funktionstüchtige Herz.“ Seine Lunge sei wie versteinert gewesen, sagt Müller. Schon als Kind habe er Atemprobleme gehabt, im Alter von 40 Jahren einen Herzinfarkt.

Eurotransplant vermittelt grenzüberschreitend Organe

Der erste Schritt im gesamten Organspende-Prozess ist, einen geeigneten Spender oder eine Spenderin zu finden. Die Stiftung Eurotransplant vermittelt in acht europäischen Ländern Spenderorgane und arbeitet dazu eng mit Krankenhäusern zusammen. Das heißt, dass bei Eurotransplant Menschen auf einer Liste stehen, die dringend Organe benötigen, und Krankenhäuser Eurotransplant informieren, wenn Organe gespendet werden könnten. Müller stand ein halbes Jahr lang auf der Liste. „Ich hatte Todesangst, auch vor dem Eingriff“, sagt er.

Auf Seiten der Spender und Spenderinnen gilt, dass deren Gehirnfunktionen unumkehrbar erloschen sein müssen. „Irreversibler Hirnfunktionsausfall“, sagen Mediziner dazu. Und die Patienten oder deren Angehörige müssen ihr Einverständnis zur Spende gegeben haben. All das regeln neben dem Transplantationsgesetz etliche Rechtsverordnungen und Richtlinien.

Mögliche Organentnahme dokumentieren

Ob in Deutschland jemand Organe spenden möchte oder nicht, kann mit einem Organspendeausweis oder in einer Patientenverfügung festgehalten werden. Liegt weder das eine noch das andere vor, müssen aufgrund der geltenden Entscheidungslösung im Ernstfall die Angehörigen die Wahl treffen. Und sie entscheiden sich laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation aus Unsicherheit oft dagegen.

Laut einer Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2022 haben 44 Prozent der Befragten ihren Entschluss in einem Organspendeausweis, einer Patientenverfügung oder in beidem dokumentiert. Müller erzählt von sich: „Wenn mich meine Hausärztin vor über 20 Jahren nicht darauf angesprochen hätte, hätte ich den Ausweis nicht ausgefüllt.“

Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse (TK) besitzt derzeit fast jeder zweite Erwachsene in Deutschland einen Organspendeausweis (49 Prozent). Damit stieg deren Zahl gegenüber 2021 (41 Prozent) deutlich an, wie die Krankenkasse am 1. Juni zum Tag der Organspende am 3. Juni in Hamburg mitteilte. Von den befragten Personen mit ausgefülltem Ausweis gaben 92 Prozent an, nach ihrem Tod Organe spenden zu wollen (2021: 94 Prozent).

Insa van den Berg


Kleinwüchsigkeit

Allein im Reich der "Riesen"




Petra Krammel in ihrer Küche
epd-bild/Pat Christ
Unterwegs Händewaschen, die Nudeln im obersten Regal beim Einkauf, der Bürojob mit Aktenschränken: Unsere Lebenswelt ist fast überall auf "normal große" Erwachsene eingestellt. Für kleinwüchsige Menschen ist das ein Problem, sagt Petra Krammel.

Volkach (epd). Ist Petra Krammel unterwegs, hat sie immer ein Desinfektionsmittel in der Tasche. Nicht erst seit Corona. Und nicht wegen Corona. „Ich muss immer damit rechnen, dass ich mir auf einer öffentlichen Toilette nicht die Hände waschen kann“, sagt die 57-Jährige aus dem unterfränkischen Volkach. Das liegt an ihrer Größe. Petra Krammel ist kleinwüchsig, sie ist 1,22 Meter groß. Nun ist die Welt allerdings auf große Menschen ausgelegt. Die Armaturen vieler Waschbecken sind für sie unerreichbar.

Beleidigungen und dumme Sprüche

Auf liebenswürdige Art macht Krammel immer wieder darauf aufmerksam, dass man bitte auch für kleine Menschen mitdenkt. Dabei geht es ihr nicht nur um die rund 100.000 Männer und Frauen, die in Deutschland als Kleinwüchsige leben. Jeder Erwachsene war schließlich einmal klein. Wäre die Welt nicht nur für „Riesen“ gestaltet, wäre sie kinderfreundlicher. Erst neulich beobachtete Petra Krammel wieder, wie eine Mutter auf einer öffentlichen Toilette ihr Kind hochhievte, damit es sich die Hände waschen konnte.

Dass kleinwüchsige Menschen nicht mitgedacht werden, liegt laut Krammel mit daran, dass man sie kaum sieht. Das sei früher noch extremer gewesen: „Als ich geboren wurde, hat man Kleinwüchsige oft versteckt.“ Ihrer Mutter ist sie dankbar, dass sie sich anders verhalten hat: „Sie hat mich überallhin mitgenommen.“ Und sie habe immer versucht, das Selbstbewusstsein der Tochter zu stärken. Als kleiner Mensch musste Krammel oftmals Beleidigungen, dumme Sprüche oder handfeste Diskriminierungen ertragen.

„Ich fand es immer schlimm, wenn andere Kinder in der Schule 'Zwerg' oder 'Liliputaner' zu mir gesagt haben“, bekennt sie und schluckt: „Sagen wir Kleinwüchsige denn ‚Riesen‘ zu den Großen?“ Lernte sie neue Kinder kennen, dauerte es immer eine ganze Weile, bis die sich an sie gewöhnt hatten: „Der Wechsel von einer Klasse in die andere war für mich jedes Mal schrecklich, dann kamen wieder neue Kinder und die brauchten wieder eine ganze Weile, bis sie festgestellt hatten, dass ich ein ganz normaler Mensch bin.“

„Ich bin wirklich glücklich“

Wer Krammel trifft, ist fasziniert von ihrer positiven Ausstrahlung. Durch unzählige Kämpfe hindurch fand sie zu einer Lebenseinstellung, die sie heute sagen lässt: „Ich mag mein Leben und bin wirklich glücklich.“ Die Kämpfe allerdings waren hart. Mehrmals zog Krammel vor das Sozialgericht, um etwas durchzusetzen, was ihr zunächst verwehrt wurde. Dadurch hat sie inzwischen etwa das Recht auf eine Begleitperson. Das ist auch notwendig, da Petra Krammel in der Welt der Großen allein oft nicht weiterkommt.

Bestes Beispiel sind Parkautomaten: „Der Einwurf ist immer so weit oben, dass ich ihn nicht erreichen kann.“ Im Schwimmbad kann sie die Schließfächer nicht allein bedienen. Auch haben Garderoben in Restaurants, in Kinos und Theatern meist Haken, an die nur große Leute herankommen, um Jacken und Mäntel aufzuhängen: „Deswegen muss ich meine Jacke immer mit mir herumschleppen.“ Auch das Einkaufen ist kompliziert. Waren im oberen Regal sind für sie unerreichbar. Einkaufswägen kann sie auch nicht benutzen.

Umzug in eine barrierefreie Wohnung

Steinig war auch Krammels beruflicher Weg. Viele Arbeitsfelder fielen für sie als kleinwüchsige Person von vornherein weg. Sie beschloss, Bürokauffrau zu werden; doch auch das war mit Schwierigkeiten verbunden: „Wir mussten noch oft an Aktenschränke, und die waren sehr hoch.“ An einer Arbeitsstelle sei sie regelrecht gemobbt worden. Durch einen Glücksfall fand sie einen Job bei den US-Streitkräften: „Das war eine echt tolle Erfahrung, man hat mich dort ganz anders behandelt als bei allen anderen Arbeitgebern davor.“

Seit Kurzem ist Krammel aus gesundheitlichen Gründen Erwerbsminderungsrentnerin. Auch dafür musste sie kämpfen. Überhaupt waren die letzten zwei Jahre anstrengend: Beide Eltern starben kurz hintereinander. Nach deren Tod zog sie aus dem Elternhaus bei Würzburg nach Volkach in eine barrierefreie Wohnung. Dass sie die Wohnung gefunden hat, sei wie ein Geschenk: Und dann gibt es noch ihren Hund, Kira, den sie über alles liebt. „In letzter Zeit habe ich viel Glück erfahren“, sagt sie: „Mein Leben ist nun wirklich richtig schön.“

Pat Christ


Sozialwirtschaft

Diakoniepräsidentin: "Die Lage der Einrichtungen ist todernst"




Eine aus Spanien abgeworbene Erzieherin in einer Bremer Kita
epd-bild/Dieter Sell
Die Diakonie in Bayern befürchtet: Der Fachpersonalmangel in sozialen Einrichtungen wird früher oder später alle Menschen betreffen. Wer ein behindertes Kind hat oder pflegender Angehöriger ist, merkt es zuerst.

Nürnberg (epd). „Die Auswirkungen betreffen die ganze Gesellschaft“, sagt Bertram Neumann. Der Leiter des Seniorenzentrums Martha-Maria in Nürnberg erhält täglich 10 bis 15 Anfragen, ob ein Pflegeplatz in seiner Einrichtung frei ist, berichtet er bei einer Pressekonferenz der Diakonie am 30. Mai in Nürnberg. Nur ein- bis zweimal pro Woche kann er ein Anmeldeformular verschicken - weil ihm das Personal fehlt, die neue Kunden betreuen könnten. Wegen der hohen Arbeitsbelastung gehen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Heims in Teilzeit. Aber auf Zeitarbeit möchte sich Neumann nicht einlassen, weil ihm die zu teuer kommt. „Die Situation geht an denen raus, die keinen Platz bekommen“, stellt er fest.

Ohne Leiharbeit geht es nicht mehr

Auch die Jugendhilfe fehlen Fachkräfte, beschreibt der Leiter des Martin-Luther-Hauses in Nürnberg, Christian Debebe, die Lage. „Das Problem hat uns überrannt“, stellt er fest. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kündigten wegen der hohen Belastung, viele erreichten in den kommenden Jahren das Rentenalter, es komme zu wenig Nachwuchs nach. Ohne Fachkräfte von Zeitarbeitsfirmen kann Debebe den Normalbetrieb in den Wohngruppen nicht mehr aufrecht erhalten, sagt er. Diese vermittelten Arbeitnehmer würden ihn aber das 1,8-fache des Stammpersonals kosten.

Die Diakonie Bayern prognostiziert, dass soziale Einrichtungen in Bayern schließen müssen. Wenn nicht mehr Fachpersonal gefunden werde, seien davon der Pflegebereich, die Kinder- und Jugendfürsorge und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung betroffen, warnte die Präsidentin der Diakonie Bayern, Sabine Weingärtner: „Die Lage ist im wahrsten Wortsinn todernst.“ Es gehe nicht mehr darum, wie gut die Versorgung ist, sondern darum, „ob es diese Einrichtungen morgen noch geben wird“.

Den Personalmangel spürten alle Anbieter sozialer Dienste, sagte sie. So habe etwa eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung der AWO in Ochsenfurt im September 2022 schließen müssen. Das Katharina-von Bora-Altenheim in Michelau machte ebenfalls zu, weil dort nicht mehr genügend Betten belegt werden konnten.

„Chronisch unterfinanziert“

Gravierend sei das Problem auch in den Erziehungsberatungen, die „nur mit größten Mühen“ von den Trägern aufrechterhalten werden könnten, sagte Weingärtner. Diese Angebote seien „chronisch unterfinanziert“, würden nach Corona aber mehr denn je gebraucht. Daher würden die Träger Eigenmittel aufbringen und so Kosten übernehmen, „die eigentlich der Staat bezahlen sollte“.

„Ein Weiter so wird den Kollaps bedeuten“, schilderte die für das Fachgebiet Altenhilfe zuständige Diakonie-Vorständin Sandra Schuhmann die Situation. Der Personalmangel sorge in Senioreneinrichtungen für leerstehende Betten. Somit würden den Trägern Einnahmen fehlen. Einen der Gründe für wirtschaftliche Schieflagen macht auch Schuhmann bei der Leiharbeit aus. Preiswucher von Vermittlungsunternehmen müssten Grenzen gesetzt werden, forderte sie.

Laut Schuhmann begreift die Politik allmählich „den Ernst der Lage“. Getroffene Maßnahmen würden aber zu spät kommen oder seien „unterdimensioniert“, weil die steigenden Energiekosten und die Inflation die Einrichtungen zusätzlich bedrohten.

Jutta Olschewski


Senioren

Neue Wege der Seelsorge für Menschen mit Demenz




Uli Zeller
epd-bild/Uli Fricker
Der Altenpfleger und Theologe Uli Zeller geht unkonventionelle Wege in der Betreuung von Senioren. "Auch bei dementen Menschen ist der Sinn fürs Religiöse noch da", sagt er.

Konstanz, Singen (epd). Über Demenz sind schon viele Bücher geschrieben worden, darunter kluge und weniger kluge, weitsichtige und kurzsichtige. Auch Uli Zeller schreibt über diese Krankheit, die sich im allmählichen Schwinden des Gedächtnisses und dem Schwinden der geistigen Fähigkeiten zeigt. Der gelernte Krankenpfleger aus Tengen im Kreis Konstanz schreibt nicht über demente Menschen, sondern für sie.

Demenz und Seelsorge

Der evangelische Christ arbeitet in einem AWO-Altenheim in Singen am Hohentwiel. Früher arbeitete er als Pfleger. Dann bildete sich der heute 46-Jährige weiter, studierte Theologie und erwarb einen akademischen Abschluss. Der Titel seiner Masterarbeit: „Demenz und Seelsorge“. Nun wirkt er als Seelsorger und Betreuer im AWO-Altenheim. Zeller sagt: „Pflege ist sehr anstrengend, vor allem zwischen 6 und 9 Uhr morgens. Da sollte alles auf einmal erledigt werden.“

Demenz und Seelsorge - das könnte als Motto über seinem Alltag stehen. Es dürfte wenige Menschen geben, die diese Grauzone so tief ausloten. Zeller taucht mit seinen Gedanken und Kurzgeschichten regelmäßig im Heim auf. Er sieht sich dadurch auch persönlich bereichert und sagt: „Seelsorge bei Senioren ist auch immer Versöhnung mit der eigenen Biografie.“

Als praktischer Theologe geht er der Frage nach: Wo bleibt Gott, wenn die geistigen Kräfte eines Menschen schwinden? Wenn sogar die Namen der eigenen Kinder zum Rätsel werden? „Der Sinn für Religiöses ist nach wie vor da“, ist sich Zeller sicher. „Ich weiß nicht, wie viel bei meinem Gegenüber noch ankommt, aber etwas ist noch da.“

Geduld ist das größte Kapital

Der Umgang mit dementen Menschen ist anstrengend. Für die Angehörigen, aber auch für die Pflegekräfte. Geduld ist deren größtes Kapital. Der Seelsorger Zeller sagt: „Es betrübt mich nicht, wenn Menschen etwas vergessen haben, was ich ihnen erst gestern vorgelesen habe.“

Zeller liest den Seniorinnen und Senioren einfache Geschichten vor. Es sind meist humorvolle Kurzgeschichten, die er selbst verfasst hat. Schon deren Titel regen zum Schmunzeln an: „Frau Krause macht Pause“ oder „Applaus für Doktor Klaus“.

Das Schreiben, sagt Zeller, falle ihm leicht. Er hat eine Schreibschule absolviert, nachdem er bereits als Schüler erste Satiren angefertigt hatte. Inzwischen ist Uli Zeller ein höchst produktiver Autor, der sein Thema gefunden hat: Leichte Kost, einfache Sprache, Alltägliches. Auch für die heimische Zeitung „Südkurier“ schreibt er regelmäßig Kolumnen, in denen er augenzwinkernd Rat erteilt.

Uli Fricker


Gesundheit

Ärztin hilft traumatisierten Kindern in der Ukraine




Sabine Schönwälder
epd-bild/Gabriele Ingenthron
Der russische Angriffskrieg führt bei ukrainischen Kindern und Jugendlichen zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Regensburger Ärztin Sabine Schönwälder bildet deshalb Traumatherapeuten in der ukrainischen Stadt Uzhgorod aus.

Regensburg/Uzhgorod (epd). Es sind die Gewalterfahrungen, die ukrainische Kinder und Jugendliche seit Kriegsausbruch im Februar 2022 nahezu täglich machen. Sie müssen in Luftschutzkeller flüchten, erleben Todesängste, sehen kaputte Häuser, Wohnungen, manchmal sogar Tote. „Es ist traumatisierend, wenn Kinder in den beschossenen Kriegsgebieten leben, extrem traumatisierend, wenn Kinder erfahren müssen, dass Familienangehörige durch den Krieg umkommen, wenn sie Zeuge werden von blutigen Ereignissen“, sagt Sabine Schönwälder, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie aus Regensburg.

Am 27. Mai fuhr sie mit einem Team in die westukrainische Stadt Uzhgorod, um dort Traumatherapeuten für Kinder und Jugendliche auszubilden. Schönwälder reist nicht zum ersten Mal in die Ukraine, um ehrenamtlich Therapeutinnen und Therapeuten auszubilden. 2013 begann ihre Mission bei der Diakonie-Station der evangelischen Kirche St. Paul in Odessa, der Partnerstadt von Regensburg. Dort gab sie bisher ihre professionelle Erfahrung an die Kollegen in der Ukraine weiter. Doch Odessa ist derzeit nicht sicher genug.

Erstmals Unterstützung für Kinder

Bisher galt die therapeutische Unterstützung immer den Erwachsenen. Nun sind es zum ersten Mal Kinder mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die die Expertin in den Blick nimmt. „Der Bedarf ist immens“, sagt Schönwälder. Ihre Informationen bekommt sie unter anderem von der ukrainischen Stiftung Hope, die Therapiezentren für die „Children of War“ errichtet, damit sie den Weg zurück ins Leben und in die Zukunft finden.

Der Krieg sei ein „Konglomerat von massiven Faktoren, die für sich allein schon eine Traumatisierung hervorrufen können“. Kinder könnten zwar relativ viele schlimme Ereignisse aushalten, „wenn die Eltern gut an ihrer Seite bleiben und das abfangen durch Bindungssicherheit. Aber das ist ja momentan nicht gegeben, weil diese selbst traumatisiert sind“, sagt Schönwälder.

Für die engagierte Ärztin sei Traumatherapie eine Form der Friedensarbeit. Kinder zu behandeln, ist nach ihren Worten von besonderer Relevanz, weil es um die nächste Generation geht. „Wenn Traumatisierte im Opferstatus bleiben - und traumatisierte Menschen sind immer im Opferstatus -, werden sie zu Tätern, wenn sie mächtig werden. Kann sein, dass man Macht als Eltern hat oder man hat institutionelle Macht. Das ist ein transgenerationaler psychologischer Mechanismus, den man durch Traumatherapie unterbrechen kann“, sagt Schönwälder.

Eklatanter Mangel an Traumatherapeuten

In der Ukraine gibt es nach ihren Angaben einen eklatanten Mangel an zertifizierten Traumatherapeuten, die eine spezielle Ausbildung für Kinder und Jugendliche haben. Deshalb wollen die Trainer die Seminare in der Ukraine in Präsenz abhalten, weil so auch die männlichen Kollegen teilnehmen können, die derzeit das Land nicht verlassen dürfen. Gerade sie seien essenziell für die traumatherapeutische Versorgung der ukrainischen Kriegskinder. „Die Väter sind nicht da, viele kommen nicht zurück, weil sie gefallen sind. Da sind männliche Bezugspersonen umso wichtiger.“

Für das Projekt „Kindercurriculum“ haben sich 24 ukrainische Therapeuten angemeldet. Die Seminarreihe wird unter anderem von der Diakonie Bayern, dem Martin-Luther-Verein, der Stadt Regensburg und privaten Geldgebern finanziert.

Gabriele Ingenthron


Familie

Gastbeitrag

"Freie Adoptionsvermittlungsstellen sind in ihrer Existenz gefährdet"




Claudia Brinken
epd-bild/Diözesan-Caritasverband Köln
Um Paare nach einer Adoption besser beraten und begleiten zu können, braucht es nach der Auffassung von Claudia Brinken mehr Personal. Die Caritas-Expertin analysiert im Gastbeitrag die Lage der freien Träger und skizziert Auswege aus der Finanznot.

Für viele kinderlose Paare stellt die Adoption die einzige Möglichkeit dar, ein Kind zu bekommen. Dabei steht das Kindeswohl immer an erster Stelle. Das Adoptionshilfe-Gesetz vom 1. April 2021 untersagt nicht nur Auslandsadoptionen ohne Begleitung einer Adoptionsvermittlungsstelle, sondern beinhaltet auch mehr Rechte für Adoptierte und eine bessere Begleitung für Familien vor, während und nach einer Adoption.

Praktisch bedeutet das für alle Adoptionsvermittlungsstellen eine erhebliche Erweiterung ihres Aufgabenkatalogs. Das betrifft die kommunalen Jugendämter genauso wie die Vermittlungsstellen freier Träger etwa von Caritas und Diakonie. Allerdings hat es der Gesetzgeber verpasst, diese finanziell abzusichern. Einige freie Anbieter sind daher in ihrer Existenz bedroht.

Appelle an die Politik verpuffen

Ein ans Land Nordrhein-Westfalen gerichteter Appell von Caritas, dem Evangelischen Verein für Adoption und Pflegekinderhilfe (EVAP), Diakonie sowie dem SkF Gesamtverband, eine anteilige Refinanzierung zu ermöglichen, blieb bislang erfolglos. Deshalb sind drei andere Lösungswege sinnvoll, auf die ich näher eingehen möchte.

Schon seit Jahren ist bundesweit ein Sterben der freien Adoptionsvermittlungsstellen zu beobachten. Fast immer geht es dabei um Finanzierungsprobleme. Aktuell gibt es in Deutschland 31 Stellen in katholischer Trägerschaft. Auf Landesebene sind oft die katholischen Dienste die einzigen freien Träger. Allein in Nordrhein-Westfalen arbeiten 14 von insgesamt 20 freien Adoptionsvermittlungsstellen in Trägerschaft der Caritas und ihrer Fachverbände. Welche von ihnen 2024 weiter am Start sind, ist derzeit nicht absehbar.

Anders als die kommunalen Jugendämter erhalten freie Adoptionsvermittlungsstellen keinerlei öffentliche Mittel für die Übernahme staatlicher Aufgaben. 2021 hatte der Gesetzgeber zwar die Möglichkeit, mit der Reform des Adoptionshilfe-Gesetzes dieses Ungleichgewicht durch eine gesicherte Refinanzierung wieder auszugleichen, nutzte sie jedoch nicht. Stattdessen erweiterte der Gesetzgeber den Aufgabenkatalog und verschärfte die Anforderungen an die Qualität der Vermittlung.

Mehr Pflichten, höhere Ansprüche und viel Papierkram

Damit gehen zusätzliche Beratungspflichten, Rechtsansprüche oder auch neue Dokumentationsaufgaben einher, die laut LVR-Landesjugendamt Rheinland einem personellen Mehrbedarf von bis zu 25 Prozent je Adoptionsdienstleister entsprechen. Von den Diensten in der Freien Wohlfahrtspflege ist das nicht mehr aus Eigenmitteln zu stemmen. In der Folge fehlt es in vielen Bundesländern an einer nichtbehördlichen Adresse für die Adoptionsvermittlung, obwohl der Gesetzgeber eine Trägervielfalt ausdrücklich begrüßt.

Entsprechend schnell müssen das Land und die Kommunen jetzt gegensteuern. Freie Träger brauchen für ihre Arbeit mehr Rückenwind. Es darf nicht so weit kommen, dass Mütter, die ihre Kinder nach der Geburt abgeben und bereits negative Erfahrungen mit Ämtern gemacht haben, in ihrer Notlage keine Anlaufstelle finden, an die sie sich vertrauensvoll wenden können. Häufig begleiten die Beratungsstellen der Caritas und ihrer Fachdienste Frauen und Männer lange vor der Geburt ihres Kindes. So entstehen intensive Kontakte, die die wenigsten kommunalen Adoptionsdienste in dieser Form bieten können.

Kooperationsverbünde mit Jugendämtern könnten Stärken zum Vorteil aller an einer Adoption Beteiligten bündeln. Im Sinne des Subsidaritätsprinzips würden Kooperationen auch zu den erforderlichen Kostenvereinbarungen zugunsten freier Träger führen. Leider bestehen diese in Nordrhein-Westfalen bisher nur an zwei Standorten, weil sich viele Jugendämter - durch ihren Sicherstellungsauftrag hoheitlicher Aufgaben - daran gehindert sehen, zumindest Teile ihrer Aufgaben auszulagern.

Kirchen sichern Übergangsfinanzierung

Ein weiterer Lösungsweg, den die Caritas bereits aktiv angeht, stellt die Übergangsfinanzierung über kirchliche und andere Stiftungsmittel dar. Auch die Kirchen müssen an diesem Handlungsfeld festhalten. Adoptionsvermittlung ist ein wichtiger Baustein in dem komplexen Hilfsangebot rund um die Geburt.

Beratungsgebühren zu erheben, kommt für die Caritas und ihre Fachverbände hier nicht in Frage, weil sie mit dem Schicksal kinderloser Paare kein Geld verdienen möchten - auch wenn das das Überleben der nicht refinanzierten Stellen sichern könnte. Bei anderen gewerblichen Trägern sieht das ganz anders aus. Daran darf auch künftig nicht gerüttelt werden. Adoption darf keinesfalls nur noch für reiche Familien möglich sein.

Als existenzsichernd für die Adoptionsvermittlung der freien Träger betrachten wir als Caritas darüber hinaus die Öffnung bestehender Landes- und kommunaler Finanztöpfe. Seit Jahrzehnten stehen die freien Adoptionsvermittlungsstellen für breit aufgestellte Dienste sozialer Arbeit in der Freien Wohlfahrt, deren Expertise und Aufgaben weit über die reine Adoptionsvermittlung hinausgehen. Dazu gehört die psychosoziale und fachliche Beratung der Adoptivbewerbenden in ihrer Vielfalt (unerfüllter Kinderwunsch, gleichgeschlechtliche Paare, Einzelpersonen, Stieffamilien) genauso wie die Zusammenarbeit mit anderen sozialen Diensten aus der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, Familiengerichten und anderen Behörden sowie die wichtige „Wurzelsuche“ Adoptierter.

Gerade das Wissen um die persönliche Vorgeschichte des Adoptivkindes ist eine Voraussetzung für das Gelingen einer Adoption. Die freien Träger unterstützen und beraten dabei Adoptierte bei der Suche nach der Herkunftsfamilie. Die Diakonie in Niedersachen beispielsweise kann das bereits nicht mehr leisten. Sie stellte ihr Angebot zur Wurzelsuche ein und überführte die Akten in die Gemeinsame Zentrale Adoptionsstelle für Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Claudia Brinken ist Referentin für Adoptions- und Pflegekinderdienste und Frühe Hilfen beim Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln.


Pflege

Studie: Heim-Leitungen berichten von häufiger Gewalt in Einrichtungen



Berlin (epd). Leitungen von Pflegeheimen sehen sich einer Umfrage zufolge häufig mit Gewalt durch und gegen die Heimbewohner konfrontiert. 69 Prozent der über 1.000 Befragten gaben an, mindestens einen Vorfall von Gewalt gegen Bewohner in ihrer Einrichtung im Jahr 2022 im Gedächtnis zu haben, wie die Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) am 31. Mai in Berlin mitteilte. Mit Abstand am häufigsten wurde von Gewaltverhalten innerhalb der Gruppe der Bewohnerinnen und Bewohner berichtet (63 Prozent). Zudem gab knapp ein Fünftel (19 Prozent) Gewalthandlungen von Angestellten gegenüber Bewohnern an.

Gewalt in der Pflege ist kein neues Phänomen, doch die jetzige Untersuchung des ZQP nimmt beide Pole in den Blick: Pychische und physische Gewalt kann pflegebedürftige Menschen demnach durch übergriffiges Personal treffen. Aber auch alle an der Versorgung beteiligten Fachkräfte erlebten nicht selten Attacken der Heimbewohner. „Die Studie unterstreicht, dass es sich bei Gewaltvorkommnissen nicht um Einzelfälle handelt“, betonen die Autoren.

„Eine große Herausforderung“

Der ZQP-Vorstandsvorsitzende Ralf Suhr erklärte: „Die Zahlen führen vor Augen, wie wichtig eine höhere gesellschaftliche Sensibilität für das Thema ist und wie nötig zusätzliche politische Impulse sind, um Gewaltprävention in Pflegeorganisationen stärker zu fördern. Wir haben es mit einer großen Herausforderung zu tun.“

Zur Umsetzung von gewaltpräventiven Konzepten vor Ort müssten sich die Einrichtungen auf genügend qualifiziertes, kompetentes und motiviertes Personal stützen können, hieß es. Doch hier liegt den Angaben nach ein weiteres Problem: Fachkräfte seien schwer zu finden und ließen sich oft auch nicht lange in einer Einrichtung halten. Das gaben knapp drei Viertel (73 Prozent) der Leitungspersonen in der Umfrage an. 59 Prozent beklagten einen Mangel an geeigneten Bewerbungen von Pflegefachpersonen. 39 Prozent der Befragten berichteten von fehlenden Pflegehilfskräften.

Ziel sollte „gewaltsensitive Sicherheitskultur“ sein

Für Suhr sind die Themen Gewaltprävention und Mitarbeiterzufriedenheit eng miteinander verbunden. Eine „gewaltsensitive Sicherheitskultur“ ziele darauf ab, die verletzlichen Bewohner besser zu schützen sowie zur Arbeitssicherheit des Personals beizutragen. Beides fördere attraktive Arbeitsbedingungen und könne die Mitarbeiterzufriedenheit deutlich erhöhen.

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, sagte, zur besseren Gewaltprävention müsse auf allen Ebenen - auch bei der privaten Pflege - eine Kultur des Hinschauens etabliert werden. Dieses Prinzip helfe auch bei der Aufdeckung von Übergriffen unter Pflegebedürftigen. „Jede Pflegeeinrichtung sollte eine unabhängige und externe Anlaufstelle für anonyme Hinweisgeber haben. Das darf nicht die Hausleitung sein, sondern beispielsweise ein Anwalt oder Seelsorger. So wird die ohnehin schon hohe Hemmschwelle gesenkt, um verdächtige Vorkommnisse zu melden“, sagte Brysch.

Dirk Baas


Pflege

Fachverband mahnt Integration von Pflegekräften aus dem Ausland an



Berlin (epd). Der Bundesverband Pflegemanagement hat den Bundesministern Annalena Baerbock (Grüne) und Hubertus Heil (SPD) einen Offenen Brief geschrieben, in dem er die Versäumnisse bei der Berufsanerkennung von ausländischen Fachkräften in der Pflege benennt. Nicht das Anwerben im Ausland sei das Problem, heißt es in dem am 30. Mai veröffentlichen Schreiben: „Die Lösungen zur Verbesserung der Arbeitskräftesituation im Pflegebereich liegen hier in Deutschland.“

„Was wir benötigen, ist eine schnelle und unkomplizierte Integration der internationalen Kolleginnen und Kollegen. 16 Bundesländer mit ihren Verwaltungen bedeuten mindestens 16 verschiedene Verfahren der Anerkennung“, beklagt der Verband. Hinzu kämen die individuellen Auslegungen der einzelnen Bearbeitenden.

Erfahrungen der Unternehmen nicht genutzt

Und weiter: „Die Situation ist in manchen Bundesländern verheerend. In Berlin sorgen aktuell die Ausländerämter selbst für teilweise menschenunwürdige und bürokratisch aufgeladene Prozesse. So müssen beispielsweise Pflegefachkräfte bis zu einem Jahr auf einen Termin bei der Ausländerbehörde warten. Wo bleibt der Pragmatismus, den es an vielen Stellen so dringend braucht?“ Der Verband fordert ein bundesweit einheitliches Anerkennungsverfahren.

Die Verfasser des Briefes verweisen darauf, dass Arbeitgeber, bei denen bereits Fachkräfte aus dem Ausland arbeiten, über viel Erfahrungen verfügen, die genutzt werden müssten. „Sie können ihre Kenntnisse in den Integrationsprozess einbringen und dazu beitragen, eine effektive und pragmatische Lösung zu finden. Aktuell haben sie kaum Einfluss auf den Prozess.“

Der Verband hofft, dass die zuständigen Behörden die Dringlichkeit der Problematik erkennen und Maßnahmen ergreifen, um die behördlichen Herausforderungen für Fachkräfte aus dem Ausland in Deutschland zu reduzieren.

Einsatz von Integrationsbeauftragten

Den Ministern empfiehlt der Verband, sich umgehend in den Bundesländern vor Ort zu informieren: „Sie werden langwierige unterschiedliche Anerkennungsverfahren statt einheitlicher Standards erleben.“

„Ein weiter wichtiger Punkt ist die Implementierung und Refinanzierung von Integrationsbeauftragten in den Behörden. Diese sollen gezielt die neuen ausländischen Kolleginnen und Kollegen in das Arbeitsfeld, aber auch in das soziale Umfeld des neuen Lebensraums einführen.“




sozial-Recht

Bundesgerichtshof

Für eine Betreuung muss ein konkreter Bedarf bestehen




Schild des Bundesgerichtshofs
epd-bild/Uli Deck
Für die gerichtliche Bestellung eines Betreuers muss für jeden einzelnen Aufgabenbereich auch wirklich ein Betreuungsbedarf bestehen. Es ist nicht zulässig, allein wegen einer schweren psychischen Erkrankung eine umfassende Betreuung anzuordnen.

Karlsruhe (epd). Unter Betreuung stehenden Menschen muss ein möglichst hohes Maß an Selbstbestimmung über ihr Leben belassen werden. Soll eine Betreuung angeordnet oder verlängert werden, muss deshalb für jeden Aufgabenbereich geprüft werden, ob dafür auch tatsächlich ein Betreuer erforderlich ist, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 24. Mai veröffentlichten Beschluss. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, müsse anhand der konkreten, aktuellen Lebenssituation des Betroffenen beurteilt und dürfe nicht pauschal bestimmt werden.

Unveränderter Aufgabenkreis

Das Landgericht Duisburg muss damit erneut über die Verlängerung der Betreuung für eine an einer Schizophrenie erkrankten Frau entscheiden. Die Frau aus dem Raum Dinslaken steht seit vielen Jahren unter Betreuung. Zuletzt war ihr Betreuer für den Aufgabenbereich Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge mit Sozialhilfe- und Unterhaltsangelegenheiten, Vertretung bei Behörden und Ämtern, Gesundheitssorge, Regelung des Postverkehrs sowie Wohnungsangelegenheiten zuständig.

Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen verlängerte das Amtsgericht Dinslaken die Betreuung mit unverändertem Aufgabenkreis bis zum 29. Mai 2029. Das Landgericht hatte diese Entscheidung bestätigt.

Der BGH hielt dies für fehlerhaft. Zwar habe der Sachverständige festgestellt, dass die Betroffene weiterhin betreuungsbedürftig sei, da ihr Denken, Handeln und Planen von dem „psychotischen Erleben“ bestimmt werde. Das Landgericht habe aber nicht geprüft, ob tatsächlich für jeden Aufgabenbereich eine Betreuung erforderlich ist. Ein Gericht müsse nicht nur prüfen, ob eine Betreuerbestellung grundsätzlich erforderlich ist und eine Vorsorgevollmacht oder andere Hilfen dem entgegenstehen. „Hinzutreten muss ein konkreter Bedarf für die Anordnung eines bestimmten Aufgabenbereichs“, forderte der BGH.

Hier habe der Gutachter die generelle Betreuungsbedürftigkeit mit der psychischen Erkrankung begründet, nicht aber, warum die Betroffene in ihrer derzeitigen konkreten Lebenssituation in jedem einzelnen Aufgabenbereich der Unterstützung durch einen Betreuer bedürfe. Insbesondere sei unklar, warum eine Betreuung für private Postangelegenheiten erforderlich sei. Das Landgericht müsse daher erneut über die Betreuung entscheiden.

Persönliche Anhörung

In einem weiteren, am 17. Mai veröffentlichten Beschluss, hat der BGH bekräftigt, dass im Betreuungsverfahren die Betroffenen nach jedem eingeholten Gutachten erneut wegen der Bestellung eines Betreuers angehört werden müssen. Auch nahe Angehörige, die laut Vorsorgevollmacht die Betreuung übernehmen sollen, aber wegen des Vorwurfs mangelnder Eignung übergangen wurden, müssten hierzu persönlich angehört werden.

Konkret ging es um eine schwer demenzkranke alte Frau aus dem Landkreis Biberach, die in einer Vorsorgevollmacht ihre Tochter zur Wahrnehmung ihrer rechtlichen Angelegenheiten bestimmt hatte. Das Amtsgericht Riedlingen hatte im Wege einer einstweiligen Anordnung eine Berufsbetreuerin bestellt. Diese widerrief die von der alten Frau erteilte Vorsorgevollmacht. Die Tochter sei ungeeignet. So habe sie sich mangelhaft um ihre Mutter gekümmert. Die alte Frau sei einmal in nahezu verwahrlostem Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert worden.

Das Landgericht hörte die Betreuerin, die Tochter und eine Verfahrenspflegerin persönlich zur Betreuerbestellung an. Zu den gemachten Vorwürfen wurde die Tochter nicht befragt. Danach wurde ein ärztliches Gutachten eingeholt und eine neue Berufsbetreuerin bestellt.

Vorrang vor Berufsbetreuer

Der BGH hat das Verfahren wegen mehrerer Rechtsfehler zur erneuten Prüfung zurückverwiesen. Nahe Angehörige, hier die Tochter, hätten grundsätzlich Vorrang vor der Bestellung eines Berufsbetreuers. Dies gelte erst recht, wenn die Betroffene dies wünsche oder dies sogar in einer Vorsorgevollmacht bestimmt hat. Nur bei einer mangelnden Eignung und Redlichkeit des Angehörigen habe ein Berufsbetreuer Vorrang.

Hier habe es aber nur Vorwürfe Dritter gegen die Tochter gegeben. Das Gericht hätte selbst prüfen müssen, ob die Tochter zur Betreuung geeignet sei. Eine persönliche Anhörung der Tochter hinsichtlich der mangelnden Eignung wäre daher Pflicht gewesen.

Auch die Betroffene selbst hätte zur Betreuerbestellung persönlich angehört werden müssen - und zwar erst nach und nicht vor dem neu eingeholten Sachverständigengutachten. Denn nur so könne sich das Gericht ein eigenes Bild über die gutachterlichen Feststellungen machen.

Az.: XII ZB 462/22 (BGH, Aufgabenbereich)

Az.: XII ZB 285/22 (BGH, Anhörung)

Frank Leth


Bundessozialgericht

Ausschreibung von Leistungen für Integrationshelfer unzulässig



Kassel (epd). Kommunen dürfen beim Einsatz von Integrationshelferinnen und -helfern nicht nur auf die billigsten Anbieter zurückgreifen. Vielmehr müssen die Träger der Eingliederungshilfe beim Einsatz von Schulbegleitern für behinderte Kinder das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten berücksichtigen und eine entsprechende Pluralität der Leistungserbringer sicherstellen, urteilte das Bundessozialgericht am 17. Mai. Die Kasseler Richter erklärten damit das Vergabeverfahren der Stadt Düsseldorf für den Einsatz von Integrationshelfern an Schulen für behinderte Kinder für unzulässig.

Die Stadt hatte ein Pool-Modell entwickelt, mit dem rund 380 Integrationshelfer an rund 85 Schulen möglichst kostengünstig Kinder mit Behinderungen betreuen sollten. In einem Vergabeverfahren erhielten zwei Anbieter für mehrere Schuljahre den Zuschlag. Über das Pool-Modell wurden die meisten Schülerinnen und Schüler betreut.

Am Vergabeverfahren nicht beteiligt

Die Diakonie Kaiserswerth und der Caritasverband Düsseldorf hatten sich an dem Vergabeverfahren nicht beteiligt. Sie klagten mit Unterstützung der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege NRW auf Unterlassung des Vergabeverfahrens. Maßgeblich müssten allein die vertraglichen Vereinbarungen sein. Kaiserswerth und Caritas bieten auf der Grundlage von Verträgen mit der Stadt entsprechende Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen an.

Die Stadt meinte, dass sich Diakonie und Caritas durchaus an dem Vergabeverfahren hätten beteiligen können. Nach EU-Recht habe sie die Leistungen ausschreiben müssen.

Doch das BSG gab den Klägern recht. Der Grundsatz, dass öffentliche Aufträge und Konzessionen im Wettbewerb und in transparenten Verfahren zu vergeben sind, finde auf einfache Zulassungssysteme wie hier keine Anwendung.

„Sieg für die Trägervielfalt“

Die Träger der Eingliederungshilfe seien verpflichtet, „den Leistungsanspruch der Berechtigten durch Abschluss vertraglicher Vereinbarungen“ und nicht durch ein Vergabesystem sicherzustellen - „und zwar im Sinne einer dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten entsprechenden Pluralität der Leistungserbringer“, urteilte das BSG.

Christian Woltering, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege NRW zeigte sich erleichtert und wertete das Urteil als „Sieg für die Trägervielfalt“. „Aggressiven Dumping-Angeboten“ fragwürdiger Anbieter sei nun höchstrichterlich ein Riegel vorgeschoben worden.

Az.: B 8 SO 12/22 R



Kirchengerichtshof

Wahl zur Schwerbehindertenvertretung trotz ruhender Beschäftigung möglich



Hannover (epd). Schwerbehinderte Beschäftigte eines evangelischen Arbeitgebers können sich auch bei einem Arbeitsverhältnis, das aufgrund einer befristeten vollen Erwerbsminderungsrente ruht, zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung stellen. Ruht das Arbeitsverhältnis jedoch länger als sechs Monate, sind sie nicht mehr wählbar, entschied der Kirchengerichtshof (KGH) der Evangelischen Kirche in Deutschland in einem am 25. Mai veröffentlichten Beschluss. Denn wer gewählt ist, soll sein Amt auch aktiv wahrnehmen können, erklärten die Hannoveraner Richter.

Mitarbeiter riefen die Schlichtungsstelle an

Im konkreten Fall ging es in einer Stiftung im Bereich der Evangelischen Kirche von Westfalen um die Wirksamkeit einer Wahl der Schwerbehindertenvertretung. Eine schwerbehinderte Beschäftigte übte das Amt als Vertrauensperson bereits seit vielen Jahren aus. Vom 18. August 2020 bis 31. März 2021 erhielt sie eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Befristung wurde später bis zum 31. Mai 2025 verlängert. Das Arbeitsverhältnis ruhte in dieser Zeit.

Trotz ihrer „Beurlaubung“ aufgrund der befristeten vollen Erwerbsminderung wollte sie sich dennoch zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung aufstellen lassen. Dies lehnte der Wahlvorstand ab. Daraufhin wurden andere schwerbehinderten Personen gewählt.

Die betroffene Beschäftigte sowie weitere Mitarbeiter riefen die Schlichtungsstelle an, um die Wahl für unwirksam erklären zu lassen. Die Wählerliste sei falsch gewesen. Die Schlichtungsstelle entschied, dass die Frau nicht gewählt werden konnte, da ihr Arbeitsverhältnis ruhte.

Aktive Wahrnehmung des Amtes

Der KGH entschied nun, dass schwerbehinderte Menschen auch bei einem befristet ruhenden Arbeitsverhältnis in die Schwerbehindertenvertretung gewählt werden können. Denn es sei nicht ausgeschlossen, dass das Arbeitsverhältnis wieder aufgenommen werde. „Ein bloß vorübergehendes Ruhen des Arbeitsverhältnisses führt nicht zum Verlust des aktiven Wahlrechts.“

Anders verhalte es sich, wenn Betroffene am Wahltag noch für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten „beurlaubt“ sind. Denn die Schwerbehindertenvertretung müsse auch arbeitsfähig sein. Dies sei bei einem ruhenden Arbeitsverhältnis über einen längeren Zeitraum nicht gewährleistet. Dann könnten gewählte Beschäftigte weder an Sitzungen der Mitarbeitervertretung noch an Einstellungsinterviews teilnehmen. „Wer gewählt ist, soll das Amt aktiv wahrnehmen können“, betonte der KGH. Da im Streitfall das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate geruht habe, sei die Schlichtungsstelle zu Recht von der Wirksamkeit der Wahl ausgegangen.

Az.: II-0124/18-2022



Oberverwaltungsgericht

Familienflüchtlingsschutz für Zweitehefrau abgelehnt



Berlin (epd). Die Zweitehefrau eines anerkannten Flüchtlings kann keinen Familienflüchtlingsschutz erhalten. Bei einer polygamen Ehe stehe der Familienflüchtlingsschutz nur einer Ehefrau zu, nicht aber den anderen, entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg in einem am 19. Mai bekanntgegebenen Urteil. Die anderen Ehefrauen hätten lediglich Anspruch darauf, dass ihr eigener Asylantrag individuell geprüft werde, erklärten die Berliner Richter, die wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zuließen.

Im konkreten Fall lebte ein anerkannter Flüchtling in einer polygamen Ehe. Wegen seiner Flüchtlingsanerkennung gewährte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nur einer Ehefrau Familienflüchtlingsschutz. Der zweiten Ehefrau wurde dieser verweigert.

Dies sei nicht zu beanstanden, urteilte das OVG. Habe ein anerkannter Flüchtling in seinem Herkunftsstaat mehrere Frauen geheiratet, könne nur eine der Ehefrauen den vom Ehemann abgeleiteten Familienflüchtlingsschutz erhalten. Dies ergebe sich aus dem deutschen und europäischen Recht. Der zweiten Ehefrau wurde der eingeschränkte subsidiäre Flüchtlingsschutz zuerkannt.

Az.: OVG 3 B 24/22



Europäischer Gerichtshof

Asylbewerber können nach Abschiebung keinen neuen Antrag stellen



Luxemburg (epd). Ein abgelehnter Asylbewerber darf nach erneuter Einreise nur bei verschlechterter Lage in seinem Heimatland einen neuen Antrag stellen. Wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 25. Mai in Luxemburg entschied, kann ein Kläger, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dessen Antrag abgelehnt wurde, nur dann erneut Asyl beantragen, wenn sich die Gefahrenlage in seinem Herkunftsland geändert hat. Selbst wenn die Person abgeschoben worden sei, könne der Antrag als Folgeantrag eingestuft und damit als unzulässig abgelehnt werden.

Hinter dem Urteil steht der Fall zweier Libanesen. Einer der beiden Kläger reiste im Jahr 2000 nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Er wurde daraufhin in den Libanon abgeschoben. 2010 reiste der Mann erneut, dieses Mal zusammen mit dem zweiten Kläger, nach Deutschland ein. Beide stellten Asylanträge. Diese wurden ebenfalls abgelehnt, woraufhin beide in den Libanon zurückkehrten.

2021 stellten die Kläger erneut Asylanträge mit der Begründung, dass sich die Situation innerhalb der letzten zehn Jahre im Libanon geändert habe und sie in Gefahr seien. Die zuständige Behörde wertete den Antrag trotz der Rückkehr in das Heimatland und dem Verstreichen von zehn Jahren als Folgeantrag, lehnte ihn als „unzulässig“ ab und drohte mit Abschiebung.

Az.: C‑364/22




sozial-Köpfe

Gesundheit

Nicole Ruprecht bei SRH zum Chief Digital Officer Healthcare benannt




Nicole Ruprecht, Chief Digital Officer Healthcare (CDO)
epd-bild/Borchard/Angelika Löffler
Nicole Ruprecht übernimmt beim Heidelberger Gesundheits- und Bildungsunternehmen SRH die neue Funktion des Chief Digital Officers Healthcare (CDO). Sie soll die digitale Transformation und digitale Lösungen im Gesundheitsbereich vorantreiben.

Heidelberg (epd). Der Gesundheitsbereich des gemeinnützigen Gesundheits- und Bildungsunternehmens SRH hat Nicole Ruprecht zum Chief Digital Officer Healthcare (CDO) ernannt. In dieser neu geschaffenen Position wird sie digitale Gesundheitsleistungen und digitale Lösungen vorantreiben, die in der Gesundheitswirtschaft erhebliche Potenziale heben können. Dies betrifft sowohl die qualitative Verbesserung der Patientenversorgung als auch die Effizienzsteigerung durch Optimierung verschiedenster Prozesse und Strukturen sowie die digitale intersektorale Vernetzung.

„Die Zukunft einer erfolgreichen Digitalisierung im Gesundheitswesen liegt in der Patientenzentrierung“, sagte Nicole Ruprecht. „Als SRH wollen und werden wir gemeinsam mit unseren Innovationspartnern kluge, digitale Gesundheitsleistungen anbieten.“ Christof Hettich, Vorstandsvorsitzender der SRH, sagte, er sehe den digitalen Wandel als treibende Kraft, insbesondere in der sektorenübergreifenden Vernetzung und der Interaktion zwischen uns und unseren Kunden.

Nicole Ruprecht verfügt über 25 Jahre Erfahrung im Gesundheitswesen. Im Oktober 2021 kam sie zur SRH und leitet seitdem den Bereich „Digitale Transformation“ bei der Gesundheitssparte des Gesundheits- und Bildungsunternehmens. Diese Funktion wird sie auch weiterhin wahrnehmen.

Von 2017 bis 2021 war sie am Universitätsklinikum Heidelberg tätig und entwickelte dort unter anderem eine Innovationskooperation und leitete das Großprojekt „Neubau eines Herzzentrums und Informatics for Life“. Darüber hinaus hatte sie dort die Gesamtleitung für Medizintechnik inne.

Davor war sie Geschäftsführerin von emtec, einem Berliner Institut für Beratung, Fortbildung und Technologien im Gesundheitswesen. Dort hatte sie innovative IT-Applikationen etwa für die Charité oder das UKE Hamburg Eppendorf entwickelt.



Weitere Personalien



Helmut Fries scheidet nach rund 19 Jahren im Dienst der Würzburger Bahnhofsmission als Vorsitzender des Fördervereins aus dem Vorstand aus. Als die Bahnhofsmission 2005 vor großen finanziellen und Ausstattungs-Problemen stand, regte Fries die Gründung eines Fördervereins an und war durchgehend dessen Vorsitzender. Seither sammelte der Verein durch verschiedene Aktionen rund eine Million Euro an Spenden, mit der die Arbeit der Sozialeinrichtung unterstützt wurde. Mit Fries scheiden auch die zweite Vorsitzende Martina Fritze und Schriftführerin Christa Rüger aus dem Vereinsvorstand aus. In den Vorstand wurden nun Helmut Lang, Kilian Bundschuh, Andreas Müller, Johannes Hasler und Lilian Stumpf gewählt. Die Würzburger Bahnhofsmission ist neben der Münchner die einzige in Bayern, die rund um die Uhr als Anlaufstelle für Notsuchende geöffnet hat. Getragen wird die Bahnhofsmission von der ökumenischen Christophorus-Gesellschaft.

Rüdiger Klapdor (35) tritt am 15. August die Nachfolge von Enikö Berkes als neuer Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe im Hamburger Albertinen Krankenhaus an. Berkes hat sich aus privaten Gründen dazu entschieden, in Süddeutschland eine neue Herausforderung als Chefärztin anzunehmen. Klapdor ist Oberarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe und Inhaber einer Professur für translationale gynäkologische Onkologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Er ist Experte für minimalinvasive Verfahren einschließlich der roboterassistierten Chirurgie. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Oberarzt des Kreißsaals in der MHH verfügt Klapdor auch als Geburtshelfer über viel Erfahrung.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juni



Juni

14.-16.6. Hofgeismar:

Trainingsprogramm „Rückfallprävention bei Suchterkrankung und Substanzmissbrauch“

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

15.6. Heidelberg:

Seminar „Arbeitsrecht für Leitungskräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-10

19.-23.6. Freiburg:

Fortbildung „Klar kommunizieren, auch wenn's eng wird“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

20.6. Berlin:

Seminar „Chancen- und Risikomanagement in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - vom Umgang mit rechtlichen und wirtschaftlichen Risiken“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/98817-159

21.6. Heidelberg:

Seminar „Compliance - Grundlagen für gGmbHs, Vereine und Stiftungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

22.6. Freiburg:

Seminar „Steuer-Update für Non-Profit-Organisationen“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0761/79186-39

22.6. Berlin:

Seminar „Ausgliederungen in gGmbHs und alle anderen Strukturänderungen auf ein Blick - Umsetzung rechtssicher gestalten“

der BFS-Service GmbH

Tel.: 0221/98817-159

22.6.:

Online-Kurs „Resilienz - Training für Führungskräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711/286976-16

28.6. München:

Seminar „ABC des Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrechts“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 0761/79186-39

29.6.:

Online Barcamp „Alles anders? Alles neu? Veränderung gestalten in und mit Kirche, Diakonie und Sozialwirtschaft“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837478