sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

vor 30 Jahren entschieden sich Bundestag und Bundesrat dazu, eine fünfte Säule der sozialen Sicherung zu schaffen: Sie verabschiedeten das Pflege-Versicherungsgesetz. Es gilt zu Recht als Jahrhundertwerk, auch wenn trotz vieler Reformen in den vergangenen drei Jahrzehnten seine Geburtsfehler bis heute nicht behoben sind. Der Sozialexperte Thomas Klie beurteilt im Interview die gesetzliche Pflegeversicherung als „Errungenschaft“ - allerdings mit einer „gigantischen Qualitätssicherungsbürokratie“.

In der ambulanten Pflege werden zunehmend Versorgungsverträge gekündigt und Leistungen kurzfristig eingestellt - auch, weil das Personal fehlt. Eine dramatische Situation für viele Senioren, insbesondere für Menschen mit Pflegegrad 5. Einer von ihnen ist der Bremer Wolfgang Behrens (Name geändert). Der Schwerstpflegebedürftige hat Angst, dass sein ambulanter Dienst aufgrund des wirtschaftlichen Drucks den Pflegevertrag beendet.

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen den sogenannten Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland bis 2030. Sie vermissen aber in dem Plan konkrete Schritte. Der Geschäftsführer des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt, Jörn Sturm, urteilt scharf: „Für die Menschen auf der Straße bringt der Plan gar nichts.“

Rollstuhlfahrer müssen für Alltagsgeschäfte auch größere Strecken mit dem Rollstuhl zurücklegen können. Dazu muss ihnen die gesetzliche Krankenkasse motorunterstützte Hilfsmittel gewähren, entschied das Bundessozialgericht in drei Urteilen. Die Kasseler Richter änderten damit ihre bisherige Rechtsprechung, wonach Rollstuhlfahrer nur auf Hilfsmittel Anspruch hatten, mit denen sie fußläufige Entfernungen im Nahbereich ihrer Wohnung bewältigen konnten.

Lesen Sie täglich auf dem epd-sozial-Account des Internetdienstes X Nachrichten aus der Sozialpolitik und der Sozialbranche. Auf dem Kanal können Sie mitreden, Ihren Kommentar abgeben und auf neue Entwicklungen hinweisen. Gern antworte ich auch auf Ihre

Ihr Markus Jantzer




sozial-Thema

Pflege

Hintergrund

Kurze Geschichte der gesetzlichen Pflegeversicherung




Mitarbeiterin eines ambulanten Pflegedienstes (Archivfoto)
epd-bild/Werner Krüper
Das vor 30 Jahren verabschiedete "Pflege-Versicherungsgesetz" gilt als Jahrhundertgesetz. Auch wenn es bis heute nicht behobene Geburtsfehler hat: Millionen Pflegebedürftige waren und sind Nutznießer - ein kurzer Rückblick.

Frankfurt a. M. (epd). Es waren überaus zähe und nicht selten hitzige Debatten, die am 29. April 1994 schließlich nach zwei Sitzungen des Vermittlungsausschusses des Bundestags und des Bundesrats durch einen einstimmigen Beschluss in das „Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG)“ mündeten: Deutschland bekam eine fünfte Säule der sozialen Sicherung - ergänzend zur Kranken-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung.

Hauptgrund dieser lange diskutierten Neuerung: Für die teure Unterbringung in einem Pflegeheim reichte selbst eine hohe Rente oftmals nicht aus. Die Sozialhilfe musste vielfach einspringen, und das drohte die Kommunen finanziell zu überfordern. Zudem lagen valide Berechnungen zur künftig höheren Lebenserwartung vor, die die Zahl der Pflegebedürftigen langfristig würde ansteigen lassen.

Finanzierung als Zankapfel

Anfangs heftig umstritten war vor allem die Finanzierung dieses Mammutprojektes. Um die Arbeitgeber bei der paritätischen Beitragsfinanzierung des neuen Systems zu entlasten, wurde ein gesetzlicher Feiertag gestrichen - in den meisten Bundesländern war das der Buß- und Bettag.

Dass es nach 20 Jahren politischen Zauderns zu einer sozialen Pflegeversicherung kam, die im Umlageverfahren finanziert wurde, war lange Zeit keinesfalls sicher. Denn im Raum stand auch das konkurrierende Modell einer privatwirtschaftlichen Versicherungslösung, dem seit jeher die Liberalen zuneigten.

Schließlich setzte sich Norbert Blüm, Bundessozialminister unter Kanzler Helmut Kohl (beide CDU), mit seinem Ansatz jedoch weitgehend durch. Seit dem 1. Januar 1995 ist das Risiko der Pflegebedürftigkeit teilweise abgesichert durch eine Pflichtversicherung für alle Arbeitnehmer, die paritätisch von Beschäftigten und Arbeitgebern finanziert wird.

Start in zwei Schritten

Weil die neue Versicherung mit ihrer Gründung noch nicht über finanzielle Mittel verfügte, startete sie in zwei Schritten. Ab dem 1. Januar 1995 wurden zwar Beiträge eingezogen, doch es konnten noch keine Zahlungen beantragt werden. Das war erst drei Monate später möglich, wenn auch nur für Leistungen der ambulanten Pflege. Im Rahmen der zweiten Stufe bestand ab dem 1. Juli 1996 dann auch ein Anspruch auf stationäre Pflegeleistungen.

Die neue Versicherung hatte von Anbeginn einige Konstruktionsmängel. Das wusste auch Minister Blüm: „Eine Pflegeversicherung ist nie fertig.“ Und da ging es keineswegs nur um Fragen des Geldes, also letztlich der Höhe der zu zahlenden Beiträge.

Einstufung der Pflegebedürftigkeit umstritten

Problematisch zum Start war auch die Frage, wie Pflegebedürftigkeit - und damit der Anspruch auf Leistungen - definiert wurde. Zunächst blickten die Expertinnen und Experten vor allem auf körperliche Einschränkungen der Seniorinnen und Senioren. Gerontopsychiatrische und psychische Beeinträchtigungen wurden kaum berücksichtigt. So fiel Demenz zunächst nicht unter die Einschränkungen, die zu Hilfen berechtigten.

Das Gesetz wurde stetig reformiert: 2013 wurde das „Pflege-Neuausrichtungsgesetz“ verabschiedet, das zu höheren Beiträgen und zu einem höheren Pflegegeld führte. Neue Regelungen gab es auch zur Entlastung der Angehörigen, der besseren Beratung der Pflegebedürftigen sowie zur Betreuung der Pflegebedürftigen in Wohngruppen.

Ganz grundlegend fiel eine weitere Reform 2017 aus, als aus drei Pflegestufen fünf Pflegegrade wurden. Entscheidend für die Höhe der Leistungen ist seither der Grad der Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen, ermittelt durch ein komplexes Punktesystem.

Die stetig wachsende Zahl der Pflegebedürftigen hält den Reformdruck hoch. Nicht zuletzt sorgt der seit Jahren immer höher werdende Eigenanteil der Pflegeheimbewohner für Forderungen nach einem radikalen Systemwechsel - weg vom Prinzip der Teilleistungsversicherung hin zu einer Art Vollkaskoversicherung.

Dirk Baas


Pflege

Hintergrund

Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung



Frankfurt a. M. (epd). Die gesetzliche Pflegeversicherung nahm mit dem Beschluss des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat am 29. April 1994, also vor genau 30 Jahren, die letzte gesetzgeberische Hürde. In die Kasse zahlten laut Bundesgesundheitsministerium am 1. Dezember 2023 rund 74,3 Millionen Versicherte ein. Die private Pflegeversicherung meldete etwa 9,1 Millionen Beitragszahler. Ein Jahr zuvor, im Dezember 2022, gab es rund 4,8 Millionen Leistungsbezieher in der gesetzlichen Pflegeversicherung und 311.000 in der Privatversicherung.

Der ganz überwiegende Teil der Pflegebedürftigen erhielt 2022 Leistungen in der ambulanten Pflege (beide Versicherungen zusammen: rund 4,3 Millionen), in den Heimen wurden zusammen etwa 887.000 Personen finanziell unterstützt.

Höchsten Pflegegrad haben 2,8 Prozent der Hilfebezieher

Blickt man auf die Verteilung der Betroffenen auf die verschiedenen Pflegegrade, dann zeigt sich, dass über 71 Prozent der vom Medizinischen Dienst untersuchten Personen den Pflegegraden 2 und 3 zugeordnet sind. Pflegegrad 4 haben 8,5 Prozent der Leistungsbezieher, 2,8 Prozent haben den höchsten Grad 5. Ähnlich ist die Verteilung in der privaten Versicherung.

Die Zahl der Pflegebedürftigen ist seit der Gründung der Pflegeversicherung stetig gestiegen. Waren es 1996 noch rund 1,5 Millionen, so lag deren Zahl am Jahresende 2022 schon bei 4,8 Millionen. Folglich ist auch der Anstieg der Hilfekosten keine Überraschung. Lagen die Ausgaben der gesetzlichen Versicherung 2003 noch bei 16,6 Milliarden Euro, so stieg der Wert bis 2022 auf 56,2 Milliarden Euro an. Das bedeutet, dass sich die Kosten im ambulanten Bereich innerhalb von knapp 20 Jahren fast verfünffacht haben, im stationären Sektor immerhin deutlich mehr als verdoppelt.

Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland wird nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes durch die zunehmende Alterung bis 2055 um 37 Prozent steigen. Laut den Ergebnissen der Pflegevorausberechnung wird ihre Zahl von rund 5,0 Millionen (Ende 2021) auf etwa 6,8 Millionen im Jahr 2055 ansteigen. 2035 wird demnach die Zahl von 5,6 Millionen (plus 14 Prozent) erreicht.



Pflege

Interview

Klie: Pflegeversicherung war von Anfang an nicht demografiefest




Thomas Klie
epd-bild/Institut AGP/Marc Doradzillo
Der Pflegeexperte Thomas Klie blickt zurück auf 30 Jahre gesetzliche Pflegeversicherung, benennt Schwächen und wirbt für eine Pflegereform. "Die Pflegeversicherung war von Anfang an nicht demografiefest konzipiert", kritisiert er.

Frankfurt a.M. (epd). „Die Koalitionsvereinbarung der Ampel in Sachen Pflege war vielversprechend, übriggeblieben ist allerdings nicht viel“, sagt der Freiburger Pflegeexperte Thomas Klie. Es gebe einen großen Reformstau, nicht nur in Sachen der Finanzierung der Pflegeleistungen. Doch selbst mit mehr Geld im System würden „die grundlegenden Herausforderungen nicht gemeistert“. Hier müsse man „viel grundsätzlicher an die Konzeptionen der Pflegesicherung herangehen“, sagt der Gründer des Freiburger Instituts AGP Sozialforschung im Interview. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die soziale Pflegeversicherung gibt es seit fast 30 Jahren. Sie steht trotz ungezählter, meist kleiner Reformschritte permanent in der Kritik. Ist das gerechtfertigt, wo sie doch Millionen Pflegebedürftigen geholfen hat?

Thomas Klie: Die Pflegeversicherung war und ist eine Errungenschaft. So sieht das auch die Bevölkerung, für die die Pflegeversicherung eine Art Garantieversprechen des Staates ist: Für dich und euch wird einmal gesorgt sein. Auch wenn der Verabschiedung der Pflegeversicherung im April 1994 rund 20 Jahre Diskussion um den richtigen Weg vorausgingen, wurde sie dann doch im notwendigen Kompromiss zwischen CDU und FDP einerseits und den Bundesländern andererseits schnell und mit Fehlern gestrickt.

epd: Welche Fehler sind das?

Klie: Die Pflegeversicherung setzt auf der einen Seite auf die Pflegebereitschaft der Familien und stabilisiert diese durch ein Pflegegeld. Die Pflegebereitschaft ist zwar ungebrochen, nur kommt sie in Zeiten der schon damals absehbaren demografischen Transformation an ihre Grenzen. Auf der anderen Seite hat die Pflegeversicherung eine neoliberale DNA, nämlich da, wo es um den Pflegemarkt und die Verantwortung für die Infrastrukturentwicklung geht. Hier wurde der Staat entpflichtet und es wurde in beispielloser Weise der Grundsatz der Wettbewerbsneutralität ins Gesetz geschrieben. Die Folge ist eine ziemlich gigantische Qualitätssicherungsbürokratie, um den Markt, der ja nicht per se moralisch agiert, auf die Einhaltung von Qualitätsvorgaben zu verpflichten.

epd: Und was ist zur Grundkonstruktion zu sagen?

Klie: Die Pflegeversicherung ist als Teilleistungssystem konzipiert. Das macht vor allen Dingen diejenigen unzufrieden, die auf professionelle Dienste und Einrichtungen angewiesen sind. Das einst von Sozialminister Norbert Blüm (CDU) verkündete Versprechen, die Pflegeversicherung werde vor Sozialhilfeabhängigkeit schützen, konnte und kann bis heute nicht oder nur begrenzt eingelöst werden. Wir haben über 20 Reformgesetzchen zur Pflegeversicherung. Eine grundlegende Strukturreform steht aus, aber auch an. Auch weil die Pflegeversicherung von Anfang an nicht demografiefest konzipiert war. Diese Kritik muss man auch an die Väter der Pflegeversicherung richten - auch wenn sie nicht mehr leben.

epd: Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst bis 2050 massiv. Fachleute und Sozialverbände fordern seit Jahren eine Reform, um für die Zukunft besser aufgestellt zu sein. Doch die Bundesregierung tut in dieser Legislatur nichts mehr. Wie bewerten Sie diese Haltung?

Klie: Wir hatten gehofft, die aktuelle Legislatur würde eine Legislatur der häuslichen Pflege. Die Koalitionsvereinbarung der Ampel war vielversprechend, übriggeblieben ist allerdings nicht viel. Immerhin: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bringt ein Pflegekompetenzgesetz auf den Weg, das den notwendigen Weg, die Pflege in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen, einschlägt. Auch die Akademisierung der Pflege und die Finanzierung der akademischen Ausbildung wurden aufgegriffen. Die Minileistungsverbesserungen sind eher symbolischer Natur. Die vorgesehenen Flexibilisierungen für die Leistungen der Pflegeversicherungen, die zuletzt unter den Stichworten stambulant und ambulant betreute Wohngemeinschaften diskutiert wurden, sind zögerlich. Grundlegende Reformen stehen aus - und ich erwarte auch nicht, dass wir sie im Sinne einer besseren Finanzausstattung der Pflegeversicherung politisch durchsetzen können.

epd: Das klingt nicht optimistisch ...

Klie: Nein. Dazu kommt: Die wahrscheinlich in der nächsten Bundesregierung wieder dominante CDU hat ein Sozialabbauprogramm auf den Weg gebracht, mit der FDP ist eine Ausweitung der Sozialleistungen, sei es steuerfinanziert oder über Beitragssatzanhebungen, nicht zu machen. Die auf den Weg gebrachten Personalbemessungsverfahren, sowohl für den klinischen als auch für den Langzeitpflegesektor, drohen an dem mindestens so bedeutsamen demografischen Effekt zu scheitern: der Berufsdemografie. Wir werden, das ist die sichere Aussicht, mit weniger Pflegefachpersonal mehr auf Pflege angewiesene Menschen in der Zukunft zu begleiten und zu versorgen haben.

epd: Als ein gravierendes Manko der Pflegeversicherung werden die steigenden Eigenanteile von Heimbewohnern genannt. Reformkonzepte im Sinne einer „Vollkaskoversicherung“ liegen schon lange auf dem Tisch. Sind die Kostenbelastungen in der Heimpflege wirklich das zentrale Problem der Pflegeversicherung oder müsste man nicht eher oder auch die Finanzierungsrundlage etwa im Zuge einer Bürgerversicherung lösen?

Klie: Die Eigenanteile, die auf Pflege angewiesene Menschen zahlen müssen, stellen in der Tat ein Problem dar. Nur darf man nicht nur die Eigenanteile in den Heimen in den Fokus rücken. Sie sind in demokratiegefährdender Weise insbesondere in ostdeutschen Bundesländern gestiegen: Hier wirkt der Bruch des Versprechens „Du wirst nicht sozialhilfeabhängig, wenn du pflegebedürftig wirst“ nach den biografisch häufig disruptiven Erfahrungen in der Nachwendezeit besonders stark. 200 Prozent Steigerung der pflegebedingten Kosten: Das hat das Zeug, den Protest von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zu provozieren.

epd: Was muss man noch in den Blick nehmen für weitere Reformen?

Klie: Gesellschaftspolitisch mindestens so wichtig ist die „Kostenbelastung“, die durch die häusliche Pflege verursacht wird. Unternehmen sind schon heute in Sorge, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wegen häuslicher Pflegeaufgaben ausfallen, der Arbeitsmarkt nicht ausgeschöpft werden kann. Auch die etwa 850.000 osteuropäischen Haushaltshilfen, ohne die das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen würde, sind nicht frei von ausbeutungsähnlichen Phänomenen. Hier liegen zentrale Herausforderungen einer zukunftsfesten und demokratiestabilisierenden Pflegepolitik, die immer auch Familienpolitik ist.

epd: Reden wir über die Finanzierung, die ja so nicht bleiben kann ...

Klie: Man kann die Finanzierungsgrundlage der Pflegeversicherung auf etwas bessere Beine stellen. Die grundlegenden Herausforderungen werden dadurch allerdings nicht gemeistert. Hier wird man viel grundsätzlicher an die Konzeptionen der Pflegeversicherung herangehen müssen.

epd: Wie sollte das geschehen?

Klie: Ohne eine neue Verantwortungsrolle der Kommunen, die die Pflege wieder als Aufgabe der Daseinsvorsorge mitgestalten, wird es nicht gehen. Sektorenübergreifende Versorgungskonzepte werden gefragt sein: Die Versorgung einer Region gilt es in den Mittelpunkt zu rücken, nicht allein die Versorgung in einer Institution. Auch mit der im Ausland üblichen einkommensabhängigen Finanzierung von Pflege- und Gesundheitsleistungen wird man sich in Deutschland anfreunden müssen. Immerhin sagt die Bevölkerungsumfrage von Allensbach im Rahmen des DAK-Pflegereports 2024, dass eine Mehrheit der Bevölkerung dafür plädiert, Leistungen der Pflegeversicherung stärker einkommensabhängig auszugestalten. Im Kern bleibt die Sicherstellung der Pflege eine gesellschaftliche Aufgabe. Das Dienstleistungsparadigma trägt nicht mehr. „Caring Society“ heißt das Leitbild.




sozial-Politik

Pflege

"Ich will leben"




Wolfgang Behrens (Name geändert, von hinten) im Gespräch mit Reinhard Leopold, seinem Berater vom BIVA-Pflegeschutzbund
epd-bild/Dieter Sell
Die ambulante Pflege steht bundesweit unter Druck, zunehmend werden Versorgungsverträge gekündigt und Leistungen kurzfristig eingestellt - auch, weil das Personal fehlt. Eine dramatische Situation für Menschen mit besonders hohem Pflegebedarf.

Bremen (epd). Die Krankheitsgeschichte von Wolfgang Behrens (Name geändert) begann schon vor Jahrzehnten. Als er acht Jahre alt war, stellten die Ärzte Blut in seinem Stuhl fest. Die Probleme nahmen zu, schaukelten sich kaskadenartig auf. Mittlerweile ist der heute 52-jährige Bremer schwerstpflegebedürftig. Er hat einen künstlichen Darmausgang, Lunge, Herz und Nieren sind angeschlagen, die Knochen porös und instabil. Doch er lebt weitgehend selbstständig in einer rollstuhlgerechten Wohnung. Täglich kommt ein ambulanter Pflegedienst, um ihn zu versorgen.

Trotz aller gesundheitlichen Probleme sagt Behrens mit fester Stimme: „Ich will leben.“ Er tut selbst viel dafür, damit er durch den Tag kommt. Wichtige Dinge hat er in Griffweite um sein Bett postiert. Außerdem hat er ein Netzwerk von Unterstützenden geknüpft, das ihm hilft. Dazu gehören ein Berater des Pflegestützpunktes im Land Bremen, seine Ärztin, ein guter Sanitätsdienst und Reinhard Leopold vom BIVA-Pflegeschutzbund, einer bundesweit organisierten Interessenvertretung für pflegebedürftige Menschen.

Lange Suche nach passender Versorgung

Auf der anderen Seite machen ihm unter anderem die Krise der ambulanten Pflege sowie Finanzierungsprobleme mit der Pflegekasse und der Sozialbehörde das Leben zusätzlich und unnötig schwer. So war es nicht einfach, für seine Bedürfnisse mit dem höchsten Pflegegrad 5 überhaupt eine ambulante Versorgung zu finden. „Diese Komplexität meiner Erkrankungen - das wollen viele gar nicht hören“, berichtet Behrens, der auch Angst hat, dass ihm der Pflegevertrag gekündigt wird.

Damit ist er nicht alleine. „Krankenkassen und Pflegedienste in Deutschland sind nicht gesetzlich verpflichtet, notleidende Menschen zu versorgen“, sagt die Sprecherin des Angehörigen-Bundesverbandes „wir pflegen“, Edeltraut Hütte-Schmitz. „Das erlaubt immer mehr Pflegediensten, nur noch Anfragen von Menschen in niedrigen Pflegegraden anzunehmen, die schnell und einfach erledigt und abgerechnet werden können.“

Dienste entscheiden zunehmend nach wirtschaftlichen Kriterien

Allgemein gilt: Weil Personal und die Refinanzierung der Kassen fehlen, entscheiden Leistungsanbieter zunehmend nach marktwirtschaftlichen Kriterien, wen sie versorgen können und wen nicht. David Kröll vom BIVA-Pflegeschutzbund bilanziert: „Seit Beginn des Jahres hören wir vermehrt und ganz massiv, dass ambulante Pflegedienste den Pflegevertrag kündigen und die Versorgung kurzfristig einstellen. Hier müsste der Verbraucher stärker geschützt werden.“

Dazu kommen weitere Faktoren, grundlegende Probleme, die die Lage von Menschen wie Wolfgang Behrens zuspitzen. Der Bremer Pflegeökonom Heinz Rothgang sieht eine ganze Reihe von Ursachen, insbesondere den Personalmangel in der ambulanten Pflege, eine schlechte Zahlungsmoral der Kostenträger und unzureichende Honorare für ambulante Leistungen.

Besonders dramatisch ist das bei Wolfgang Behrens: Weil sein Pflegeaufwand nicht mit den üblicherweise zur Verfügung stehenden Mitteln abgedeckt werden kann, hat der Pflegestützpunkt für ihn ergänzende „Hilfe zur Pflege“ beantragt. Das Schriftstück blieb aber über Monate bei der zuständigen Sozialbehörde liegen, unbearbeitet.

Finanzierungsloch von 2.000 Euro im Monat

Die Folge: Ein Finanzierungsloch von monatlich etwa 2.000 Euro. Glück im Unglück, dass der Pflegedienst bisher bei der Stange geblieben ist. „So treiben Behörden Anbieter sehenden Auges in die Insolvenz“, kritisiert Reinhard Leopold, der Behrens seit Jahren als ehrenamtlicher Interessenvertreter begleitet.

Besonders schwierig ist die Situation auf dem Land, wo Pflegedienste mit längeren Anfahrtswegen umgehen müssen. „Die Wegepauschalen sind aber wie in der Stadt“, verdeutlicht Anja Ahlers, Geschäftsführerin der Diakonie-Sozialstation Tarmstedt bei Bremen, die aufgrund der schwierigen finanziellen Bedingungen gerade ein Insolvenzverfahren in Eigenregie durchläuft.

Ambulante Pflege unter Kostendruck

Das, was der Dienst für seine Arbeit bekomme, sei völlig unzureichend, sagt Ahlers und gibt Beispiele: „Für eine Grundpflege haben wir 17 Minuten und bekommen 17,12 Euro. Stützstrümpfe sollen wir in vier Minuten anziehen und erhalten dafür 4,80 Euro. Ich habe das selbst probiert, ich habe über zwölf Minuten gebraucht. Das ist wirklich nicht einfach, wenn ein Patient mit Schmerzen und empfindlicher Haut diese Strümpfe angezogen bekommt.“

Wie sehr die ambulante Pflege unter Druck steht, hat 2023 eine Umfrage unter bundesweit 526 diakonischen Diensten gezeigt. Demzufolge sind mehr als die Hälfte von ihnen im vergangenen Jahr in die roten Zahlen gerutscht. Maria Loheide, Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, mahnt: „Wenn die wirtschaftliche Sicherung misslingt, bekommt Deutschland ein massives Problem bei der Versorgung der pflegebedürftigen Menschen.“

Das Pflegesystem müsse tiefgreifend verändert werden, fordert deshalb nicht nur BIVA-Sprecher David Kröll. „Ein Aspekt ist die Finanzierung und Reform der Pflegeversicherung, um Pflege für die Betroffenen bezahlbar zu halten und den Pflegekräften gute Arbeitsbedingungen zu bieten.“

Das ist auch für Wolfgang Behrens wichtig, der seinen Alltag weiterhin möglichst selbstbestimmt organisieren will. Für ihn steht trotz aller gesundheitlichen Einschränkungen und trotz der Probleme mit Pflegekasse und Sozialamt fest: „So, wie ich hier in meiner Wohnung aufgehoben bin, lebe ich noch am längsten und bin auch zufrieden.“

Dieter Sell


Pflege

Rothgang warnt vor Engpässen in der ambulanten Pflege




Heinz Rothgang
epd-bild/David Ausserhofer

Bremen (epd). In der ambulanten Pflege gibt es nach Expertenangaben zunehmend Versorgungsengpässe. Ein Hauptgrund sei der Mangel an Fachkräften, sagte der Bremer Pflegeökonom Heinz Rothgang dem Evangelischen Pressedienst (epd). Weil häufig für Leistungen Fachkräfte gefordert seien, gebe es wenige Möglichkeiten, die Situation durch den verstärkten Einsatz von Assistenzkräften zu entlasten, erläuterte Rothgang. „Objektiv begrenzt das die Zahl der Leistungen, die ein ambulanter Dienst erbringen kann.“

Allerdings gebe es noch weitere Faktoren und komplexe Zusammenhänge, die dazu führten, dass sich die Situation insgesamt zuspitze. So würden die ambulanten Leistungen oft schlicht nicht ausreichend honoriert: „Die Verhandlungen mit den Kostenträgern sind sehr zäh und die Ergebnisse teilweise unzureichend.“

Kritik an Zahlungsmoral der Kostenträger

Anpassungen etwa an die Inflation gebe es nur mit zeitlichem Verzug, was zu finanziellen Defiziten führe. Rothgang: „Wenn das Geld nicht reicht, nehmen Einrichtungen nur noch Klientinnen und Klienten an, bei denen Leistungen überdurchschnittlich schnell erledigt werden können. Das führt zu Versorgungsproblemen bei den Pflegebedürftigen, für die mehr Zeit benötigt wird.“

Überdies kritisierte der Pflegeökonom die Zahlungsmoral der Kostenträger. „Wenn insbesondere Sozialhilfeträger ihre Rechnungen nicht zeitnah zahlen, kann das für Dienste mit geringen finanziellen Rücklagen schnell existenzgefährdend werden.“ Insgesamt seien die Personalkosten durch die Lohnsteigerungen in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Das treffe auch auf die Sachkosten zu. „Die Vergütungsverhandlungen haben das nicht immer angemessen nachvollzogen.“

Dieter Sell


Digitalisierung

Bürgergeld per App und Informationen per Video-Beratung




Jobcenter Berlin-Neukölln
epd-bild/Jürgen Blume
Bundesarbeitsminister Heil will die Arbeits- und Sozialbehörden schneller und bürgerfreundlicher machen. Dabei setzt er auf digitale Abläufe, Apps und elektronische Beratungsangebote für die Bürgerinnen und Bürger.

Berlin (epd). Bürgergeld soll in Zukunft auch per App vom Handy aus beantragt werden können. Das Bundesarbeitsministerium veröffentlichte am 22. April in Berlin seine Digitalisierungsstrategie für die Arbeits- und Sozialverwaltung. Danach sollen bis 2030 neue, einfache und digitale Zugänge für die Bürgerinnen und Bürger entstehen und die internen Abläufe digitalisiert werden. Eines der Ziele ist, den Austausch von Daten zwischen verschiedenen Behörden zu vereinfachen.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) erklärte, man wolle den Menschen den Umgang mit den Behörden erleichtern: „Mit der Digitalisierungsstrategie geben wir der Arbeits- und Sozialverwaltung bis zum Jahr 2030 einen klaren Kurs.“ Der E-Antrag auf Bürgergeld soll zunächst ausgewählten Jobcentern erprobt werden. Geplant ist auch der Ausbau von Online- und Video-Beratungen durch die Behörden.

Vertrauen in den Sozialstaat

Wie aus dem Strategiepapier weiter hervorgeht, soll die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte zum deutschen Arbeitsmarkt durch digitale Zusammenarbeit der Bundesarbeitsagentur mit den Auslandsvertretungen und den Ausländerbehörden beschleunigt werden. Das Gleiche gilt für die Prüfung und Anerkennung ausländischer Abschlüsse.

Dem Medienhaus Table.Media, das zuerst über die Digitalisierungsvorhaben berichtet hatte, sagte Heil, sein Ministerium wolle interne Prozesse vereinfachen und die Potenziale von Künstlicher Intelligenz (KI) nutzen. Ein Ziel der Digitalisierung behördlicher Abläufe sei es, die Beschäftigten der Behörden zu entlasten, um ihnen mehr direkte Kontakte zu Bürgern zu ermöglichen. „Das ist ein wichtiger Beitrag, das Vertrauen der Menschen in den Sozialstaat zu stärken“, sagte der SPD-Politiker.

Zur Arbeits- und Sozialverwaltung gehören beispielsweise die Renten- und die Arbeitslosenversicherung. Die Rentenversicherung zahlt rund 21 Millionen Renten aus, Arbeitslosengeld bekommen laut Arbeitsministerium derzeit rund 800.000 Frauen und Männer, die von den Arbeitsagenturen betreut werden. In den Jobcentern werden rund vier Millionen erwerbsfähige Menschen betreut und weitere 1,5 Millionen nicht erwerbsfähige, darunter auch die Kinder der Bürgergeld-Empfängerinnen und Empfänger. An der Erarbeitung der Digitalstrategie waren neben dem Ministerium sieben Behörden beteiligt.

Bettina Markmeyer


Abtreibung

Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gestiegen




Schwangerschaftstest
epd-bild/Heike Lyding
Die Zahl der Abtreibungen in Deutschland ist 2023 gestiegen. Das Statistische Bundesamt kann keine klaren Ursachen dafür erkennen. Fachleute sehen mögliche Gründe in zunehmenden sozialen und finanziellen Nöten, vor denen viele Familien stünden.

Wiesbaden (epd). Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist 2023 das zweite Jahr infolge wieder gestiegen. Bundesweit wurden rund 106.000 Abtreibungen vorgenommen, wie das Statistische Bundesamt am 24. April in Wiesbaden mitteilte. Das entspricht einem Anstieg um rund 2,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Soziale und finanzielle Nöte

Von 2021 zu 2022 hatte sich die Zahl der Abtreibungen bereits um 9,9 Prozent auf etwa 104.000 erhöht. Anhand der vorliegenden Daten lasse sich keine klare Ursache für die weitere Zunahme im Jahr 2023 erkennen, erklärte das Bundesamt.

Gründe für den Schwangerschaftsabbruch sehen Expertinnen und Experten in den gesellschaftlichen Umständen in den vergangenen Jahren. Bei der Beratungsorganisation donum vitae hieß es auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd): „Unsere Beraterinnen nehmen seit längerer Zeit verstärkt wahr, vor welchen sozialen und finanziellen Nöten und Belastungen die Klientinnen und ihre Familien stehen. Fehlender Wohnraum und keine ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten sind zum Beispiel Thema in der Beratung.“ Gefühle der Überforderung und Überlastung würden vermehrt erwähnt, besonders seit der Pandemie, sagte eine Sprecherin.

Sieben von zehn Frauen, die im vergangenen Jahr einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen, waren zwischen 18 und 34 Jahren alt. 19 Prozent waren im Alter zwischen 35 und 39 Jahren. Acht Prozent der Frauen waren 40 Jahre und älter, drei Prozent jünger als 18 Jahre. 42 Prozent der Frauen hatten laut Bundesamt vor dem Schwangerschaftsabbruch noch kein Kind zur Welt gebracht.

Grundsätzlich rechtswidrig

Für die Statistiker auffällig ist ein Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche in den jüngeren Jahrgängen im Zehnjahresvergleich. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche je 10.000 Frauen ging bei den 15- bis 17-jährigen Frauen von 28 im Jahr 2013 auf 23 im Jahr 2023 zurück, bei den 20- bis 24-Jährigen von 102 auf 93. Bei den 30- bis 34-jährigen Frauen stieg diese Quote hingegen von 87 im Jahr 2013 auf 92 im Jahr 2023, bei den 35- bis 39-Jährigen von 66 auf 76.

Seit der letzten Änderung des Abtreibungsparagrafen 218 im Strafgesetzbuch 1996 sinken die Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland auf lange Sicht betrachtet. 1997 gab es rund 130.900 Abtreibungen, das entsprach einer Quote von 66 je 10.000 Frauen im gebärfähigen Alter. 2001 gab es einen zwischenzeitlichen Anstieg der Abbrüche auf 135.000, die Quote je 10.000 Frauen im gebärfähigen Alter lag damals bei 68. Im Jahr 2023 betrug diese Quote 63.

Derzeit sind Abtreibungen in Deutschland grundsätzlich rechtswidrig, innerhalb einer bestimmten Frist und nach einer Beratung aber straffrei. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission hatte am 15. April eine Reform des Abtreibungsrechts empfohlen. Das Gremium rät, Abtreibungen im frühen Stadium der Schwangerschaft zu erlauben und nicht mehr im Strafrecht zu regulieren.

Die Bundesregierung ließ offen, ob sie noch in der laufenden Legislaturperiode eine Gesetzesänderung in Angriff nimmt. Sie strebt einen breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen Konsens an.

Dirk Baas, Franziska Hein


Gesundheit

Bundestag berät Monitoring vorgeburtlicher Bluttests auf Down-Syndrom



Seit knapp zwei Jahren werden die vorgeburtlichen Bluttests auf ein Down-Syndrom des Kindes von der Kasse gezahlt. Der Einsatz der ethisch umstrittenen Tests ist seitdem gestiegen. Der Bundestag hat sich des Themas nun erneut angenommen.

Berlin (epd). Die Nutzung vorgeburtlicher Bluttests auf das Down-Syndrom könnte künftig verstärkt auf den Prüfstand kommen. Der Bundestag beriet am 24. April einen Antrag von mehr als 100 Abgeordneten, der ein Monitoring der Tests einfordert. Dabei soll unter anderem erhoben werden, wie oft die Tests in Anspruch genommen werden und sich die Geburtenrate von Kindern mit Down-Syndrom entwickelt, um gegebenenfalls gesetzlich nachzusteuern.

Risiko für Fehlgeburten

Zudem fordert der Antrag, der zunächst zur weiteren Beratung in die Ausschüsse verwiesen wurde, ein Gremium, das die rechtlichen, ethischen und gesundheitspolitischen Grundlagen der Kassenzulassung für die Tests prüft. Seit Juli 2022 werden die Kosten für die Bluttests von der Kasse erstattet. Der Test erkennt am Blut der Schwangeren mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, ob das Kind eine bestimmte Form der Trisomie, etwa das Down-Syndrom hat. Bis zur Zulassung der Tests im Jahr 2012 war das nur über eine Fruchtwasser- oder Plazentauntersuchung möglich, die jeweils ein hohes Risiko für Fehlgeburten bergen.

Die Kostenübernahme der Kassen für die nicht-invasiven Pränataltests wurde schon damals von Abgeordneten im Bundestag kritisch gesehen. Festgelegt wurde damals, dass die Tests keine Routineuntersuchung werden sollen. Nach Angaben der fraktionsübergreifenden Gruppe von Abgeordneten werden sie aber inzwischen bei mehr als einem Drittel der Schwangerschaften eingesetzt.

Dies sei ein Hinweis darauf, dass die Tests nicht nur in begründeten Einzelfällen zur Anwendung kommen. Man habe es im Prinzip bereits mit einer Routineuntersuchung zu tun, sagte die Grünen-Abgeordnete Corinna Rüffer, die zu den Initiatorinnen des Antrags gehört.

Der Gruppe gehören Abgeordnete aus SPD, Union, Grünen, FDP und der Gruppe der Linken an. 121 Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben den Antrag auf eine Überprüfung der Kassenzulassung bislang unterzeichnet. Der Antrag ist eine wortgleiche Übernahme einer im vergangenen Jahr vom Bundesrat beschlossenen Entschließung. Weil auch in der Länderkammer parteiübergreifend Konsens für ein Monitoring erzielt wurde, ist die Gruppe von Bundestagsabgeordneten optimistisch, auch im Bundestag eine Mehrheit hinter dem Antrag zu versammeln. Final abgestimmt wird über den Antrag zu einem späteren Zeitpunkt.

Kind mit einer Trisomie

Im Parlament gibt es aber auch Kritik am Antrag. Die SPD-Abgeordnete Tina Rudolph sagte in der Debatte, man müsse aufpassen, nicht in eine „Gesinnungsprüfung“ zu verfallen. Eltern, die sich für ein Kind mit einer Trisomie entschieden, müssten bestmögliche Unterstützung erhalten. Ebenso müsse es aber auch möglich sein, die Entscheidung zu treffen, die Schwangerschaft nicht fortzusetzen. Beides müsse akzeptiert werden. Auch die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr argumentierte gegen den Antrag. Er arbeite mit „unbelegten Befürchtungen“, sagte sie.

In der Gruppe, die den Antrag gestellt hat, gibt es derweil verschiedene Auffassungen darüber, ob die Kostenübernahme durch die Krankenkassen wieder rückgängig gemacht werden sollte. Der FDP-Abgeordnete Jens Beeck lehnte das eher ab. Es dürfe nicht vom Geldbeutel abhängig sein, ob der Test genutzt werde oder nicht, sagte er.

Der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe hält die Kassenzulassung dagegen weiter für einen Fehler. Das Gendiagnostikgesetz schreibe einen therapeutischen Nutzen solcher Tests vor, sagte er. Die habe der Test aber nicht. „Es gibt keine Therapie, es gibt nur Selektion“, sagte Hüppe mit Anspielung darauf, dass ein positives Testergebnis oftmals einen Schwangerschaftsabbruch zur Folge hat. Die Grünen-Abgeordnete Rüffer sagte, dass es mit dem Antrag zunächst darum gehe, eine solide Grundlage an Daten und Fakten zu bekommen, um dann eine richtige und angemessene Entscheidung zu treffen.

Corinna Buschow


Ruhestand

Bundesregierung beschließt Rentenerhöhung um fast 4,6 Prozent




Weg zur Rente
epd-bild/Heike Lyding
Die Lohnentwicklung sorgt für eine deutliche Anhebung der Renten. In diesem Jahr liegt die Erhöhung der Altersbezüge über der zu erwartenden Inflation. In den beiden vergangenen Jahren war das nicht so.

Berlin (epd). Die Renten steigen in diesem Jahr um 4,57 Prozent. Das Bundeskabinett beschloss am 24. April in Berlin die Erhöhung der Altersbezüge für rund 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner zum 1. Juli. Die Anhebung liegt im dritten Jahr in Folge oberhalb von vier Prozent. Am 1. Juli treten auch Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten in Kraft. Der Bundesrat muss der Rentenerhöhung noch zustimmen.

Rentenanpassung in ganz Deutschland gleich

Die Rentenanpassung richtet sich nach der Lohnentwicklung. Der starke Arbeitsmarkt und gute Lohnabschlüsse seien deshalb auch eine gute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner, erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD): „Die Rentenanpassung liegt deutlich über der Inflationsrate und fällt in diesem Jahr erstmalig in ganz Deutschland gleich aus.“ 34 Jahre nach der Vereinigung sei das „ein Meilenstein für unser Land“.

Anders als im vergangenen Jahr steigen die Renten stärker als die Inflation. Die Bundesregierung erwartet gemäß Jahreswirtschaftsbericht 2024 einen Anstieg der Verbraucherpreise um 2,8 Prozent. Die Inflationsrate hatte wegen der hohen Energiepreise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 ihren Höchststand erreicht und lag 2023 immer noch bei knapp sechs Prozent.

Erstmalig seit der Wiedervereinigung werden die Renten in Ost- und Westdeutschland dieses Jahr in gleichem Umfang erhöht. Wegen der höheren Lohnsteigerungen in Ostdeutschland waren die Ost-Renten in den vergangenen Jahren stärker gestiegen als im Westen und sind seit dem vorigen Jahr angeglichen.

Rentenwert steigt von 37,60 Euro auf 39,32 Euro

Der Rentenwert steigt deshalb einheitlich von 37,60 Euro auf 39,32 Euro. Für eine Standardrente bei durchschnittlichem Verdienst und 45 Beitragsjahren bedeutet das eine Anhebung der Altersbezüge um 77,40 Euro im Monat. Eine Rente von 1.000 Euro steigt auf 1.045,70 Euro.

Mit dem aktuell festgesetzten Rentenwert wird das gesetzlich garantierte Mindestrentenniveau von 48 Prozent erreicht. Rein rechnerisch hätte es minimal unter 48 Prozent gelegen. Das Rentenniveau gibt das Verhältnis zwischen einem Durchschnittseinkommen und der durchschnittlichen gesetzlichen Rente an. Es bezieht sich auf die Höhe der Rente nach Abzug der Sozialbeiträge vor Steuern. Wenn das Rentenniveau sinkt, steigen die Renten nicht so stark wie die Erwerbseinkommen.

Die Rentenanpassung richtet sich neben der Lohnentwicklung auch nach dem Verhältnis von Beitragszahlenden zur Zahl der Rentnerinnen und Rentner. Steigt die Zahl der Rentenbeziehenden stärker als die der Beitragszahlerinnen und -zahler, dämpft das die Rentenerhöhung. Wegen der Alterung der Gesellschaft wirkt sich der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor leicht dämpfend auf die Rentenanpassung aus.

Zum 1. Juli treten auch die Verbesserungen für rund drei Millionen Menschen in Kraft, die aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig in Rente gehen mussten. Es werden zunächst pauschale Zuschläge gezahlt zu den besonders niedrigen Erwerbsminderungsrenten, die zwischen 2001 und 2018 bewilligt wurden. Von Ende 2025 an erhält diese Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner dann einen individuell errechneten Zuschlag. So soll ausgeglichen werden, dass diese Gruppe nicht oder nur teilweise von den Verbesserungen für neue Erwerbsminderungsrentner und -rentnerinnen ab 2014 profitiert hat.

Bettina Markmeyer


Jugend

Studie: Junge Menschen sind unzufrieden und pessimistisch



Sorgen wegen Inflation, teurem Wohnraum, Altersarmut oder mangelnder Digitalisierung treiben offenbar viele junge Menschen um. Psychische Belastungen erreichten ein hohes Ausmaß, heißt es in einer neuen Studie.

Berlin (epd). Junge Menschen in Deutschland sind einer neuen Jugendstudie zufolge so pessimistisch wie noch nie. Sorgen um die Sicherung des Wohlstands führten zu hoher politischer Unsicherheit und damit zu einem deutlichen Rechtsruck, heißt es in der Untersuchung „Jugend in Deutschland 2024“, die am 23. April in Berlin vorgestellt wurde. Erarbeitet haben sie der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sowie die Jugendforscher Kilian Hampel und Simon Schnetzer.

Die drei Forscher forderten mehr Möglichkeiten für junge Menschen, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Hurrelmann sagte, junge Menschen seien bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie hätten aber den Eindruck, dass der Staat sich nicht um sie kümmere. Er ergänzte, während die Parteien der Ampel-Koalition in der Gunst immer weiter absänken, habe die AfD besonders großen Zulauf.

Potenzial für rechtspopulistische Einstellungen

Sorgen machen sich junge Menschen laut der Studie aufgrund von Inflation (65 Prozent), teurem Wohnraum (54 Prozent), Altersarmut (48 Prozent), der Spaltung der Gesellschaft (49 Prozent) und der Zunahme von Flüchtlingsströmen (41 Prozent). Als Resultat daraus gibt es demnach eine hohe Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen. Das Potenzial für rechtspopulistische Einstellungen verstärkte sich demnach im Vergleich zu früheren Studien.

Co-Autor Schnetzer sagte, der vielfach gemachte Vorwurf, junge Menschen seien faul, treffe nicht zu. Allerdings forderten sie verstärkt ein Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben sowie die Anerkennung von Leistung in Form von bezahlten Überstunden.

Im Vergleich zu früheren Studien scheine die Stimmung der jungen Generation zu kippen, hieß es. Das zeige sich in einem hohen Ausmaß von psychischen Belastungen wie Stress und Erschöpfung. Diese seien in den zurückliegenden drei Jahren trotz des Abflauens der Corona-Pandemie weiter angestiegen. Co-Autor Hampel sagte, die psychische Belastung sei für junge Menschen so hoch wie nie. Er wies in diesem Zusammenhang auf die Rolle von Smartphones hin. Mehr als die Hälfte der Befragten habe angegeben, diese übermäßig zu nutzen.

Handlungsbedarf im Bildungsbereich

Die Studienergebnisse zeigen laut Hampel dringenden Handlungsbedarf im Bildungsbereich. Die jungen Menschen kritisierten einen starken Mangel an Digitalisierung an Schulen und in der Wirtschaft. Außerdem beklagten sie, dass die schulische Ausbildung zu wenig auf das Leben und die Arbeitswelt vorbereitet.

Bei der Einstellung der jungen Generation in Bezug auf Umweltschutz und Nachhaltigkeit ergab die Studie, dass sich knapp die Hälfte der Befragten Sorgen über den Klimawandel macht. Nach Ansicht von 45 Prozent der Studienteilnehmer wird nicht genügend für den Umweltschutz getan. Gleichzeitig sind den Angaben zufolge diejenigen in der Minderheit, die bereit sind, für Nachhaltigkeit Verzicht zu üben. Die junge Generation erwarte von Politik und Wirtschaft kollektive Ansätze und strukturelle Veränderungen, weil sie darin den wirkungsvollsten Hebel zu Veränderung sieht, hieß es.

Für die siebte Trendstudie „Jugend in Deutschland“ wurden zwischen dem 8. Januar und dem 12. Februar dieses Jahres 2.042 Personen im Alter von 14 bis 29 Jahren online befragt.

Bettina Gabbe


Bundesregierung

Ataman fordert mehr Hilfe bei Diskriminierung im Gesundheitswesen




Ferda Ataman
epd-bild/Christian Ditsch

Berlin (epd). Die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, fordert mehr Hilfe bei Fällen von Diskriminierung im Gesundheitswesen. Das Thema sei viel zu lange übersehen worden, sagte sie am 22. April in Berlin. „Wenn sich Menschen gegen Diskriminierung wehren wollen, finden sie oft keine Ansprechperson und bekommen keine Hilfe“, beklagte Ataman.

Gemeinsam mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nahm Ataman den Bericht „Diagnose Diskriminierung“ entgegen, für den die Autorin Iris an der Heiden die Beratungs- und Beschwerdestellen im Gesundheitssystem untersucht hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten oftmals nicht auf das Thema Diskriminierung spezialisiert sind. Die Studie empfiehlt unter anderem, die Stellen mit mehr Informationen darüber auszustatten, sie zu professionalisieren und Betroffenen von Diskriminierung mehr Rechte zu geben, um sich zu wehren.

Besonders verletzend

Lauterbach sagte, Diskriminierung werde gerade in Situationen von Krankheit und Schwäche als besonders verletzend erlebt. „Das können wir nicht hinnehmen. Hier müssen auch im Konfliktfall vor Ort kompetente Beraterinnen und Berater helfen“, sagte er.

Nicht erhoben hat die Studie das Ausmaß von Diskriminierung im Gesundheitswesen. Erkenntnisse dazu lieferte im vergangenen Jahr der von der Bundesregierung beauftragte Rassismusmonitor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung. Demnach haben schwarze, muslimische und asiatische Menschen häufiger als weiße Menschen das Gefühl, dass ihre Leiden nicht ernst genommen werden. Ein für diese Studie vorgenommenes Feldexperiment kam zu dem Ergebnis, dass Menschen mit einem in Deutschland verbreiteten Namen häufiger an einen Arzttermin kommen als Menschen mit einem in der Türkei oder Nigeria verbreiteten Namen.




sozial-Branche

Armut

Verbände fordern konkrete Schritte gegen Wohnungslosigkeit




Schlafbereich einer Einrichtung für Wohnungslose
epd-bild/Christian Ditsch
Die Verbände der Freien Wohlfahrt begrüßen den Plan der Bundesregierung, gemeinsam mit Ländern und Kommunen bis 2030 die Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland zu überwinden. Sie dringen aber auf konkrete Schritte.

Berlin (epd). Die Bundesregierung hat erstmals ein Gesamtkonzept gegen Wohnungslosigkeit beschlossen. Das Kabinett billigte am 24. April in Berlin einen Nationalen Aktionsplan. Ziel ist es, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, nannte den Aktionsplan „ein starkes Signal, dass die Bundespolitik die örtlichen Akteure bei der Bekämpfung der Wohnungslosigkeit nicht länger allein lässt“.

Große Zahl von Räumungsklagen

Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) sprach von einer „Mammutaufgabe“. Kernpunkt für die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit seien mehr bezahlbare Wohnungen.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), der Deutsche Städtetag und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) begrüßten, dass mit dem Aktionsplan erstmals ein Leitbild vorliege, um die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden, wie es auch die EU anstrebt. Die Verbände forderten in einer gemeinsamen Erklärung schnell konkrete Maßnahmen.

Die Vorsitzende der BAG W, Susanne Hahmann, nannte als Hauptgründe für die hohe Zahl von Wohnungslosen: steigende Mieten, fehlende Sozialwohnungen und die große Zahl von Räumungsklagen. Die BAG W bemängelt, dass die von der Ampel-Koalition angekündigten Gesetzesänderungen zum Schutz vor Wohnungsverlust im Aktionsplan nicht vorgesehen sind. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisierte, die Schonfristregelung - also die Möglichkeit, dass eine Kündigung unwirksam ist, wenn die Mietschulden nachgezahlt werden - müsse dringend auf die ordentliche Kündigung ausgeweitet werden. Bisher gilt sie nur für die außerordentliche Kündigung.

Der Geschäftsführer des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt, Jörn Sturm, bemängelte, der Aktionsplan enthalte keine konkreten Hilfen. „Für die Menschen auf der Straße bringt der Plan gar nichts“, kritisierte er scharf. Es würden lediglich bekannte Probleme aufgelistet, aber keine messbaren Ziele festgelegt.

„Housing First“ soll Schwerpunkt werden

Geywitz zufolge ist der Handlungsleitfaden für Bund, Länder und Kommunen gemeinsam mit Verbänden und den Praktikerinnen und Praktikern erarbeitet worden, die sich um wohnungslose Menschen kümmern. Ein Schwerpunkt soll auf „Housing First“-Programmen liegen. Es sollen Standards für die Hilfsangebote an wohnungslose Menschen entwickelt werden. So soll beispielsweise die getrennte Unterbringung von Frauen und Männern in Notunterkünften ermöglicht und der Zugang zu einer Krankenversicherung erleichtert werden.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), machte auf den hohen Anteil ausländischer Wohnungsloser von 80 Prozent aufmerksam. Es dürfe nicht sein, dass anerkannte Flüchtlinge oder Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine manchmal erst nach Jahren die Erstaufnahmeeinrichtungen oder Notunterkünfte verlassen könnten. Wohnungslosigkeit sei ein massives Integrationshindernis, sagte Alabali-Radovan.

447.000 Menschen ohne eigene Wohnung

Nach Angaben der Bundesregierung waren Anfang 2022 rund 178.000 Menschen in Unterkünften untergebracht, darunter rund 47.000 Kinder. Auf der Straße lebten zum selben Zeitpunkt Schätzungen zufolge knapp 87.000 Menschen. Neue Zahlen werden Ende dieses Jahres veröffentlicht.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht nach ihren Hochrechnungen davon aus, dass Mitte 2022 rund 447.000 Menschen ohne eigene Wohnung waren und von diesen 50.000 auf der Straße lebten. In die Hochrechnungen der Wohnungslosenhilfe werden Geflüchtete ohne eigene Wohnung einbezogen sowie Menschen, die vorübergehend bei Bekannten oder Freunden unterkommen.

Bettina Markmeyer, Markus Jantzer


Armut

"Mittwochstisch" der Kirche bietet Kindern eine warme Mahlzeit




Ein Mädchen malt beim "Mittwochstisch".
epd-bild/Susanne Lohse
Die evangelische Kirche in Mannheim bietet Kindern im Stadtteil Waldhof einmal pro Woche ein warmes Mittagessen. Der "Mittwochstisch" ist ein ganzjähriges, kostenfreies Angebot. Danach werden die Kinder betreut und haben Gelegenheit zu freiem Spiel.

Mannheim (epd). Immer wieder mittwochs ist die evangelische Pauluskirche im Mannheimer Stadtteil Waldhof Treffpunkt für Kinder. Die Sechs- bis Zehnjährigen kommen aus der benachbarten Waldhofschule und der Johannes-Gutenberg-Schule, einer Grund- und einer Förderschule,- zum „Mittwochstisch“. Ähnlich wie bei der Kindervesperkirche im Dezember erhalten benachteiligte Kinder hier ein warmes Mittagessen und Spielangebote. Allerdings nicht nur für zwei Wochen, sondern ganzjährig - bis auf die Schulferien.

Das nachhaltige Angebot in der Jugendkirche sei für viele Kinder zu einer Art „Heimat“ geworden, sagt Svenja Hauseur. Die Stadtjugendreferentin und Leiterin des „Mittwochstisches“ freut sich, wenn „ihre Mittwochstischkinder“ nach Jahren als hochgeschossene Jugendliche wieder vorbeischauen. „Es ist ein Stadtviertel, in dem viele Kinder nichts Warmes zum Mittagessen bekommen“, weiß sie.

Gesund und nährstoffreich

Heute warten 60 dampfende Portionen Kartoffeln, Spinat und Omelett, das so groß ist wie ein Pfannkuchen, auf die hungrigen Esser. Dazu gibt es Gurkenhäppchen als Vor- und Äpfel zur Nachspeise. Dass das „Essen gesund ist und nährstoffreich“, darauf legt Hauseur Wert.

Eine Neunjährige kommt als Erste zur Essensausgabe. Die ehrenamtlichen Küchenhelferinnen Robinah Fulst und Iris Schäfer kennen sie. Von Beginn an, seit 2008, unterstützen die beiden Frauen den „Mittwochstisch“. Die Kinder heute trauten sich mehr, seien weniger zurückhaltend als früher und es kämen mehr Migrantenkinder, beobachten sie. Die Essensausgabe übernehmen Fulst und Schäfer gerne. „Das Team passt. Wir tun etwas gegen Kinderarmut“, sind sie sich einig. Man merke, wer zu Hause wenig zu essen bekommt, sagen die Helferinnen. „Sie essen, ohne zu fragen, was es gibt“, ist ihre Erfahrung.

Außer dem Küchenteam unterstützen ehrenamtliche Seniorinnen und ein Freiwilligendienstleister (FSJ) den „Mittwochstisch“. Sie betreuen die Kinder bei den Hausaufgaben, spielen oder unterhalten sich mit ihnen. „Das kommt nämlich meistens zu kurz und ist sehr wertvoll“, betont Hauseur. Alle zwei Wochen kommt eine Kunstpädagogin. Es gibt Spielmöglichkeiten im Innen- und im Außenbereich. Besonders beliebt ist der Spielteppich mit unzähligen Legosteinen, wo nach Herzenslust gebaut werden kann.

„Die Kinder sind total gerne hier“

Mittlerweile ist die Neunjährige fertig mit Essen. Zielstrebig geht sie zum Maltisch. Dort hat die Kunstpädagogin Susanne Bullacher Farben, Papier und Beispielbilder vorbereitet. „Nass in nass“ ist die Technik, die gerade angesagt ist. Anders als beim Zeichnen mit Kreide seien exakte Formen bei der Aquarellmalerei nicht möglich, erklärt Bullacher. Mit geschultem Blick begleitet sie die Kinder beim Malen. „Malen soll Freude machen“, sagt die Kunstpädagogin und fragt: „Was hat gerade dieses Bild Schönes?“ Am Tisch haben sich inzwischen weitere Kinder niedergelassen. Sie malen einen Regenbogen, eine Wiese, was immer ihre Fantasie ihnen eingibt. „Ich habe schon auf dem Kunstmarkt gemalt“, sagt die begeisterte neunjährige Künstlerin und trägt mit sicherem Pinselstrich gelbe, orange, blaue und lila Farbe auf das Blatt Papier auf.

Der „Mittwochtisch“ ist ein offenes, kostenloses Angebot. Wer angemeldet wurde, darf kommen. „Die Kinder sind total gerne hier“, sagt Hauseur. Sie schätzten das gemeinsame Mittagessen, die Zuwendung und die Freundschaften, die über die Grundschulzeit entstanden sind. Die Kinder aus dem Stadtteil Waldhof hätten viele Schicksale und zeigten teilweise auch besonderes Verhalten, berichtet Hauseur. Sie betrachte es als ihre Aufgabe, die Kinder „beim groß werden“ zu begleiten, sagt die Stadtjugendreferentin und ergänzt: „Man muss sie einfach lieben.“

Susanne Lohse


Familie

Großeltern zum Ausleihen




Die vierjährige Frida spielt mit ihrem Wunsch-Opa Rolf-Uwe Engel.
epd-bild/Jens Schulze
Wenn Oma und Opa weit weg wohnen, können in vielen Orten Ehrenamtliche einspringen: Das Konzept der Wunschgroßeltern ist inzwischen sehr verbreitet. Für die Kinder kann eine wertvolle Beziehung entstehen.

Hannover, Frankfurt a. M. (epd). Die vierjährige Frida ist aufgeregt. Einmal in der Woche ist „Regina-Tag“. Dann holt Wunsch-Oma Regina Ragoschat sie vom Kindergarten in Hannover ab und verbringt den Nachmittag mit ihr. Die 74-Jährige, die selbst keine Kinder hat, ist schon seit vielen Jahren Wunsch-Oma. Bundesweit gibt es zahlreiche derartige Initiativen, die sogenannte Leihomas und Leihopas vermitteln. Die Nachfrage nach ihnen ist meist groß.

Medizin für das Kuscheltier

Frida ist das vierte Wunsch-Enkelkind von Ragoschat. Das Mädchen mit dem blonden Zopf wuselt durch das Wohnzimmer des Reihenhauses und holt einen Stoffbären aus einer Kiste: Er ist krank und muss untersucht werden. Die frühere Intensivkrankenschwester Ragoschat reicht Frida noch ein Stethoskop. „Teddy hat Husten“, verkündet die Vierjährige. Ragoschats Mann, seit seinem Ruhestand Wunsch-Opa, überlegt mit ihr gemeinsam, wie das Kuscheltier wieder gesund werden könnte. Frida möchte schließlich eine Schüssel „Salat-Suppe“ kochen.

Laut der Frankfurter Soziologin Birgit Blättel-Mink haben die meisten Leihgroßeltern keine eigenen Enkel oder ihre Enkelkinder wohnen weit entfernt. Daher suchten sie oft nach dieser ehrenamtlichen Aufgabe, sagt die emeritierte Professorin, die das Thema der Leihgroßeltern in einer Studie 2016 untersucht hat.

Leihgroßeltern werden häufig von Wohlfahrtsverbänden oder auch Agenturen vermittelt. In Hannover bringt das Diakonische Werk Wunschgroßeltern und Familien zusammen und achtet auf die Rahmenbedingungen. 64 solcher ehrenamtlichen Großmütter und -väter betreuten regelmäßig Wunsch-Enkelkinder, es gebe eine Warteliste, sagt Koordinatorin Denise Rose. Wer über 50 Jahre alt sei und sich den Kontakt zu jüngeren Menschen wünsche, Lebenserfahrung weitergeben und mobil bleiben möchte, könne sich für das Ehrenamt melden.

„Ganz und gar im Mittelpunkt“

Aus Sicht von Blättel-Mink profitieren Kinder häufig von der Bindung zu Menschen der älteren Generation. Diese Beziehung sei nicht durch das Verhältnis zu Eltern oder Erziehern zu ersetzen und berge ganz eigene Qualitäten. So erlebten die Kinder im Kontakt mit den Großeltern Freiräume, die sie an anderen Orten nicht erfahren könnten. Sie könnten über Dinge sprechen, die sie nicht mit ihren Eltern thematisierten. „Bei den Großeltern stehen sie ganz und gar im Mittelpunkt“, sagt Blättel-Mink.

Auch Frida genießt an diesem Nachmittag sichtlich die alleinige Aufmerksamkeit von gleich zwei Erwachsenen. Die vielen Mitbringsel von Fernreisen des Ehepaars - Musikinstrumente beispielsweise - sind für Frida besonders spannend, und so probiert sie gleich eine große Trommel lautstark aus. Als die Vierjährige müder wird, liest Wunsch-Oma Regina auf dem Sofa aus einem Buch vor. An manchen Nachmittagen machen sie Ausflüge in den Zoo oder ins Museum.

Gegenseitige Hilfe

Fridas Mutter ist dankbar für die Beziehung zu den Wunschgroßeltern. Ihre eigenen Eltern wohnten mehr als 150 Kilometer weit weg und seien zudem noch berufstätig, erzählt sie. Zunächst seien Fridas „echte“ Großeltern nicht sonderlich begeistert über die zusätzliche Oma und den zusätzlichen Opa gewesen. „Für uns sind die beiden aber eine unheimliche Entlastung“, sagt Fridas Mutter. Im Gegenzug könne sie dem Ehepaar mitunter bei kleineren Alltagsdingen helfen, etwa wenn „der Fernseher mal verstellt ist“.

So sehr das Modell „Wunschgroßeltern“ auf den ersten Blick nach einer Win-win-Situation aussieht: Soziologin Blättel-Mink gibt zu bedenken, dass es durchaus auch Spannungen in einer solchen Konstellation geben kann. Einerseits falle es vielen Wunschgroßeltern leichter als leiblichen Großeltern, sich von den Familien abzugrenzen. Andererseits falle es ihnen mitunter aber nicht ganz so leicht, sich beispielsweise in Erziehungsfragen nicht einzumischen. „Es entsteht eben eine sehr enge Bindung“, unterstreicht Blättel-Mink. Kommunikation und Verständigung seien in diesem Konstrukt oft noch wichtiger als in der eigenen Familie.

Charlotte Morgenthal


Pflege

Interview

Pflegerats-Chefin Vogler: "Es müsste alles schneller gehen"




Christine Vogler
epd-bild/Reiner Freese/X21.de
Pflegekräfte schwanken zwischen Tatkraft und Frustration, sagt die Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler. Im Interview schildert Vogler, wie groß die Herausforderungen sind und warum sie dennoch optimistisch für die Zukunft ist.

Berlin (epd). Christine Voglers Zwischenbilanz der Ampel-Pflegepolitik fällt durchwachsen aus: „Wir hätten uns mehr erwartet, und es müsste schneller gehen.“ Aber es gebe auch gute erste Reformschritte, etwa das Gesetz zur Ausweitung der Kompetenzen für Pflegekräfte und die künftig bundeseinheitliche Pflegeassistenzausbildung. Dass die Heime wegen Personalnot ihre Kapazitäten reduzierten, sei indes eine „Riesenproblematik“, um die sich die Politik dringend kümmern müsse. Mit ihr sprach Bettina Markmeyer.

epd sozial: Frau Vogler, wie geht es der Pflege?

Christine Vogler: Durchwachsen, würde ich sagen. Die Pflegekräfte schwanken zwischen der Überzeugung, dass ihr Beruf der richtige ist, und großer Frustration. Ihre Arbeitssituation ändert sich nur langsam. Andererseits verändern sich die Dinge zumindest im Rahmen der Gesetzgebung positiv.

epd: Welche Veränderungen meinen Sie?

Vogler: Das Gesetz zur Ausweitung der Kompetenzen für Pflegekräfte wird gerade erarbeitet, daran sind wir als Deutscher Pflegerat beteiligt. Bald soll die bundeseinheitliche Pflegeassistenzausbildung kommen. Gut ausgebildete Assistenzkräfte entlasten Fachkräfte und verbessern die Personalsituation. Das Pflegestudium soll mehr Gewicht bekommen, wir haben die Debatte über die Aufteilung der Aufgaben im Gesundheitswesen. Die Tariftreueregelung wirkt. Außerdem ist die Pflege als Berufsgruppe besser vertreten: Seit 2022 gibt es finanzielle Zuwendungen des Ministeriums an den Pflegerat. Das sind Signale, die wir vorher nicht erfahren haben.

epd: Auch nicht vom vorigen Bundesgesundheitsminister Spahn (CDU) mit dessen diversen Pflegegesetzen?

Vogler: Nicht in dieser Form. Jens Spahn hat allerdings die tarifliche Bezahlung gesetzlich verankert. Das war sehr wichtig.

epd: Verdienen Pflegekräfte heute besser?

Vogler: Ja, die vorige Regierung hat die Tariftreueregelung in Gang gebracht, und die heutige Bundesregierung sorgt dafür, dass sie nicht unterlaufen wird. Wir haben in den zurückliegenden zwei Jahren sehr viel bessere Löhne erreicht. Aber wir dürfen zwei Dinge nicht vergessen: 60 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Teilzeit. Und: Nach dem Comparable Worth-Index war die Pflege vom Verantwortungs- und Belastungsgrad bereits vor einigen Jahren bei einem Einstiegsgehalt von 4.000 Euro angesiedelt.

epd: Mit dem Index wird die Leistung in typischen Frauen- und Männerberufen vergleichbar gemacht und daraus die eigentlich notwendige Bezahlung in den Frauenberufen abgeleitet.

Vogler: Und da sind wir noch nicht. Das muss man wissen, wenn wir von einer guten Bezahlung der Pflegefachpersonen reden.

epd: Im Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP rund 15 Verbesserungsvorhaben für die Pflege vereinbart, vieles ist noch nicht erledigt. Was muss noch kommen?

Vogler: Für besonders wichtig halte ich die Kompetenzerweiterung für Pflegekräfte, die in eine neue Verteilung der Aufgaben der Gesundheitsberufe münden sollte. Dabei geht es nicht darum, dass wir ärztliche Aufgaben übernehmen. Es geht darum, dass wir das tun können, was zu einem Pflegeprozess gehört und auch die Verantwortung dafür übernehmen. Wenn zum Beispiel ein Mensch mit einer Venenerkrankung chronische Wunden entwickelt, dann sollte ich als Pflegekraft handeln und die Wunden versorgen können - ohne Rückgriff auf einen Arzt - und meine Arbeit auch abrechnen können.

epd: Wie ist Ihre Zwischenbilanz der Ampel-Pflegepolitik?

Vogler: Wir hätten uns mehr erwartet, und es müsste schneller gehen. Aber es steht uns auch der Föderalismus im Weg. Wir haben in Deutschland zu viele Regionalstrukturen: Darunter leidet die Pflege, aber auch die Gesundheitsversorgung. Es ist ein kostspieliges System, das sich selbst erhält. Wir bräuchten das Geld aber woanders.

epd: Wo denn?

Vogler: Für die pflegenden Angehörigen zum Beispiel. Wir aus der Pflege wissen, was drei Millionen pflegende Angehörige jeden Tag wegstemmen. Wir wissen, dass viele die ihnen zustehenden Hilfen nicht abrufen, weil das zu kompliziert ist, weil es zu bürokratisch ist und weil es zu lange dauert. Das darf nicht sein! Die Angehörigen sichern die pflegerische Versorgung ab.

epd: Die Ampel-Koalition hat das Pflegegeld um fünf Prozent erhöht, künftig soll es alle drei Jahre angepasst werden.

Vogler: Ja, aber das ist zu wenig. Wir müssen an die Frage, wie die Pflege künftig organisiert werden kann, grundsätzlicher herangehen: Welche Rolle spielen Angehörige und Ehrenamtliche, was leistet die professionelle Pflege? Die Kosten der Pflege explodieren ja schon heute. Es ist egal, wie herum wir es drehen: Entweder wird es in meinem Portemonnaie explodieren, weil ich mehr Sozialabgaben zahlen muss - oder es wird in meinem Portemonnaie explodieren, weil ich jemanden zu Hause oder im Heim habe, den ich unterstützen muss. Wir müssen uns ehrlich machen: Was kommt auf uns zu?

epd: Vor 30 Jahren haben Bundestag und Bundesrat die Pflegeversicherung beschlossen, um die Kosten der Altenpflege auf alle Bürgerinnen und Bürger umzulegen. Nun gibt es wieder düstere Szenarien: Stichworte sind Fachkräftemangel und Alterung der Gesellschaft. Wie gehen Sie damit um?

Vogler: Zunächst einmal nehme ich wahr, was gegenwärtig passiert: Heime reduzieren ihre Kapazitäten. Sie nehmen nicht mehr 100 Menschen auf, sondern haben plötzlich nur noch 80 Plätze. Wenn das alle machen, würde das Leistungsangebot um 20 Prozent reduziert. Das hat natürlich massive Auswirkungen. Krankenhäuser können Patienten nicht mehr in ein Heim entlassen, weil keine Plätze frei sind. Sie können sie auch nicht nach Hause entlassen, weil keine ambulanten Dienste da sind. Das ist eine Riesenproblematik. Wie wird das weitergehen? Wie bringen wir solche Dinge, die viele von uns erleben, in die Politik ein? Was erwarten wir von der Politik? Parallel sehe ich in der Gesellschaft neue, tolle Ideen. Ich habe neulich mit Menschen gesprochen, die haben - so wie man in den 1970er Jahren Kinderläden gründete - gemeinsam eine Tagespflege für ihre Angehörigen gegründet. Es gibt auch bei den Pflegefachpersonen einen starken Willen zu Verbesserungen: Jede einzelne Pflegekraft hat gute Ideen. Ich bin optimistisch und werde mich weiter engagieren.

epd: Sie engagieren sich seit Jahrzehnten für die Pflege. Wann haben Sie diese Entscheidung getroffen?

Vogler: Ich glaube, das war gar keine bewusste Entscheidung. Ich komme aus der evangelischen Jugendarbeit und bin der festen Überzeugung, dass die Gesellschaft, in der wir leben, nicht ohne Engagement jedes Einzelnen existieren kann. Als ich den Pflegeberuf erlernt habe, merkte ich sofort: Hier ist etwas eklatant nicht in Ordnung. Also habe ich mich engagiert. Bevor ich Präsidentin des Pflegerats wurde, habe ich in Berlin zwölf Jahre lang Landespflegeratsvertretung gemacht und war im Bundesverband für die Lehrenden. Eine Gesellschaft, die die Solidarität mit denen aufgibt, die pflegebedürftig sind, ist keine Gesellschaft, in der ich leben möchte.

epd: Erleben Sie unter den Pflegekräften, die ja schon lange unter Bedingungen arbeiten, die „nicht in Ordnung sind“, eine stärkere Hinwendung zu rechtspopulistischen Politikern?

Vogler: Es gibt bei den Pflegenden dieselben Tendenzen wie in der Bevölkerung auch. Auch Pflegende finden keinen Kitaplatz, müssen überhöhte Mieten zahlen, finden kein Gehör für ihre Anliegen. Darauf reagieren die Menschen - manchmal auch mit ihrer Wahlentscheidung. Wir haben darüber natürlich keine Zahlen.

epd: Sie haben mehrfach erklärt, das Ethos der Pflege lasse sich mit einer rechtsradikalen Einstellung nicht vereinbaren. Werden Sie dafür angefeindet?

Vogler: Nein. Aus den eigenen Reihen, den Pflegeverbänden, haben wir große Unterstützung. Anders ist es allerdings in den sozialen Medien.

epd: Wie begründen Sie die Unvereinbarkeit?

Vogler: Wir sind ein Berufsstand, der sich Menschen zuwendet, egal welcher Herkunft, Kultur, sozialen Stellung oder geschlechtlichen Orientierung. Das ist unser Berufsethos - es bildet ein Gegengewicht zu Abwertung und Ausgrenzung. In der Pflege arbeiten bis zu 1,7 Millionen Menschen. Ich glaube, dass unsere Berufsgruppe eine große Kraft hätte, für die Demokratie zu wirken - eben aus diesem Bewusstsein heraus, dass die Menschen gleich sind. Das sehen wir im täglichen Umgang mit den uns anvertrauten Menschen und mit unseren Kolleginnen und Kollegen.



Pflegeausbildung

Interview

Caritas-Vorständin: Generalistik nicht schuld am Fachkräftemangel




Stefanie Krones
epd-bild/Caritasverband Westerwald-Rhein-Lahn/Jennifer Köhler
An der generalistischen Pflegeausbildung scheiden sich die Geister. 2020 gestartet, kommen nun die ersten umfassend ausgebildeten Nachwuchskräfte im Job an. Stefanie Krones, Vorständin im Caritasverband Westerwald-Rhein-Lahn, zieht eine Zwischenbilanz.

Montabaur (epd). Stefanie Krones ist Vorständin im Caritasverband Westerwald-Rhein-Lahn und sitzt im Vorstand des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland. Sie sieht die Generalistik als großen Fortschritt - für die Beschäftigten wie für die Träger. Die Volljuristin sieht aber noch viele „Stellschrauben, an denen wir drehen können, um die Ausbildung noch erfolgreicher und effizienter gestalten zu können“. Das betreffe etwa die Vernetzung zwischen der Pflegeschule, den Trägern der praktischen Ausbildung und den anderen Einrichtungen, in denen externe Praxiseinsätze absolviert werden. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Jüngst fand ein Expertentreffen auf Einladung katholischer Fachverbände zum Thema generalistische Pflegeausbildung in Frankfurt am Main statt. Warum dieses Treffen, was wurde dort diskutiert und wie fällt die Zwischenbilanz der Ausbildungsreform zur Generalistik aus?

Stefanie Krones: Derzeit schließen die ersten Generalistinnen und Generalisten ihre Ausbildung ab. Die verpflichtenden Praxiseinsätze innerhalb der Ausbildung finden sowohl in der Altenpflege als auch in der Krankenpflege statt. Daher war es uns, den katholischen Krankenhäusern und dem Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland, ein Anliegen, gemeinsam zu schauen, wie die Träger für diese Generation attraktive Ausbildungsbetriebe sein können. Die Zwischenbilanz der rund 80 Teilnehmenden zur Generalistik fiel einheitlich erfreulich positiv aus.

epd: Im Januar 2020 startete die Ausbildungsreform. Welche Erfahrungen haben Sie unterdessen gemacht und was ist nun die Aufgabe der Ausbildungsträger, etwa beim Nachjustieren an den bestehenden Ausbildungskonzepten?

Krones: Trotz einer positiven Zwischenbilanz schauen wir, an welchen Stellschrauben wir drehen können, um die Ausbildung noch erfolgreicher und effizienter gestalten zu können. Die Vernetzung zwischen der Pflegeschule, den Trägern der praktischen Ausbildung und den anderen beteiligten Einrichtungen, in denen externe Praxiseinsätze absolviert werden, ist hier der Schlüssel. Beispielhaft nenne ich die Kooperationsverträge zwischen den genannten Akteuren, die Verantwortlichkeiten und Erwartungen aller beteiligten Parteien klar definieren. Ein kontinuierlicher Austausch trägt dazu bei, potenzielle Probleme frühzeitig zu erkennen.

epd: Führt die Reform wirklich dazu, dass in allen Pflegesektoren genügend Personal ankommt? Verbände wie der bpa bestreiten das seit Jahren und würden die Generalistik eher heute als morgen wieder abschaffen, weil in der Altenpflege nach seinen Angaben die Auszubildendenzahlen um bis zu zehn Prozent zurückgegangen seien.

Krones: Neue Fachkräfte fehlen, während andere in den Ruhestand gehen. Das zeigt der aktuelle DAK-Pflegereport sehr deutlich. Diese Entwicklung ist jedoch demografischer Art und hat Auswirkungen auf alle Branchen, nicht nur auf die Pflege. Die Generalistik für den Fachkräftemangel verantwortlich zu machen, halte ich für falsch. Um auf allen Seiten für ausreichend Nachwuchs zu sorgen müssen die Ausbildungsanstrengungen und -zahlen erhöht werden. Auch nehmen wir eine andere Sichtweise ein, nämlich die der jungen Generation, die wir für ein zukünftiges langjähriges Berufsleben ausbilden und denen wir die für die künftigen Herausforderungen die erforderlichen Fertigkeiten mit auf den Weg geben möchten. Um auf allen Seiten für ausreichend Nachwuchs zu sorgen, müssen die Ausbildungsanstrengungen und -zahlen erhöht werden.

epd: Sie und Ihr Verband sehen in der Generalistik ein wichtiges Instrument im Kampf gegen den Fachkräftemangel in der Pflege. Um hier zu bestehen, braucht es noch mehr Azubis. Ist dieses Ziel mit der Reform erreicht?

Krones: Der DAK-Bericht zeigt, dass die Ausbildungszahlen insgesamt gestiegen sind. Die generalistische Ausbildung ist aus unserer Sicht ein Modell mit Zukunft, denn sie ist europaweit anerkannt und durchlässig über die gesamte Berufsbiografie hinweg. Für die Generation Z, der die meisten unserer Azubis angehören, ist diese Flexibilität wesentlich wichtiger, als das noch die vorherige Generation eingeschätzt hat. Die Ausbildung allein ist aber noch kein Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel. Es gilt gleichzeitig, sich für moderne Konzepte, Digitalisierung und gut Arbeitsbedingungen einzusetzen.

epd: Immer öfter machten in der Vergangenheit auch Meldungen die Runde, die Abbrecherquote in der Generalistik seien hoch. Stimmt das im Vergleich zu vor 2020 und was sind die Gründe, die abgestellt gehören?

Krones: Wenn Sie die Abbruchquoten aller Ausbildungsberufe vergleichen, ist festzustellen, dass diese branchenübergreifend in etwa gleich sind. Selbstverständlich stellen wir uns der Frage, wie wir Ausbildungsabbrüche vermeiden können. In der Ausbildung geht es für die Verantwortlichen nicht nur um reine Wissensvermittlung, sondern auch um soziale und psychosoziale Unterstützung. Bei internationalen Auszubildenden ist außerdem die Unterstützung bei der Integration und dem Spracherwerb sowie bei bürokratischen Anliegen wichtig. Daher fordern wir, die Schulsozialarbeit zu stärken. Das Personal dafür muss über den Ausbildungsfonds refinanziert werden.

epd: Einer soeben veröffentlichten Umfrage der Pflegekammer Rheinland-Pfalz überlegen 34 Prozent der Fachkräfte häufiger, wegen Stress und hoher Arbeitsbelastung den Job zu wechseln. Kann die Generalistik überhaupt einen Beitrag zum Gegensteuern leisten oder kommt es doch eher auf andere Parameter im Berufsumfeld an?

Krones: Wie gesagt, die Ausbildung ist nicht das alleinige Mittel gegen den Fachkräftemangel. Es braucht Reformen an vielen Stellen. Das Berufsbild hat mehr Anerkennung verdient. Da erwarten wir vom geplanten Pflegekompetenzgesetz wichtige Maßnahmen. Auch muss dringend weiter entbürokratisiert und in Digitalisierung investiert werden. Viele setzen auch auf Springerpools, um personelle Engpässe abfedern zu können, ohne auf extrem teure Leiharbeitsfirmen zurückgreifen zu müssen. Wichtig ist zukünftig insbesondere, dass Träger dabei unterstützt werden, internationale Auszubildende und Fachkräfte gut zu begleiten und zu unterstützen. Unsere Azubis kommen auch aus Marokko, Indien, Kamerun, Syrien und der Ukraine. Das sorgt für neue Herausforderungen.

epd: Die vormals schlechte Bezahlung in der Pflege scheint nach hohen Tarifsteigerungen überwunden zu sein. Am Geld kann es also nicht liegen, dass das Image der Pflege noch immer nicht wirklich gut ist ...

Krones: Die Caritas ist zusammen mit der Diakonie Spitzenreiterin bei den Gehältern in der Pflege, das zeigen aktuelle Zahlen. Am Geld liegt es demnach nicht unbedingt. Die Mitarbeitenden in unseren Einrichtungen und Diensten identifizieren sich sehr mit ihrem Beruf und sind in ihrem Umfeld gute Botschafter:innen für die Pflege. Dieses Bild muss sich gesamtgesellschaftlich etablieren. Wir als Trägerverantwortliche müssen das unsere dafür tun, dass der Beruf attraktiv und ist und eigene Karrierewege ermöglicht. Gerade in der modernen Gesundheitsversorgung muss interdisziplinär und sektorenübergreifend agiert werden. Menschen mit einer generalistischen Pflegeausbildung können eine selbstbewusstere Rolle übernehmen und interdisziplinär und sektorenübergreifend arbeiten.




sozial-Recht

Bundessozialgericht

Rollstuhlfahrern werden Alltagsbesorgungen erleichtert




Abgestellte Rollstühle
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Die Krankenkassen müssen Rollstuhlfahrern für ihre Alltagsgeschäfte mehr Mobilität ermöglichen. So können sie mit Hilfsmitteln versorgt werden, die ihnen ermöglichen, auch größere Entfernungen zurückzulegen, urteilte das Bundessozialgericht.

Kassel (epd). Die gesetzlichen Krankenkassen müssen Rollstuhlfahrern mehr Mobilität zur Erledigung ihrer Alltagsgeschäfte zugestehen. So haben gehbeeinträchtigte Menschen Anspruch auf Hilfsmittel, die ihnen eine Fortbewegung nicht nur im „fußläufigen“ Nahbereich ihrer Wohnung ermöglichen, sondern auch darüber hinaus, urteilte am 18. April das Bundessozialgericht (BSG). Die Kasseler Richter änderten damit ihre bisherige Rechtsprechung und entschieden, dass - je nach örtlichen Gegebenheiten - die Krankenkasse Versicherte auch mit Hilfsmitteln versorgen muss, mit denen sie größere Entfernungen zurücklegen können.

Arthrose im Daumensattelgelenk

Im vom BSG entschiedenen Leitfall ging es um einen querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer. Dieser wohnt am Ortsrand einer Kleinstadt im Weserbergland. Mit seinem Rollstuhl hatte er wegen einer Arthrose im Daumensattelgelenk infolge des ständigen Greifens am Greifreifen des Rollstuhls zunehmend Probleme, sich im bergigen Umfeld seiner Wohnung fortbewegen zu können. Der gesetzlich Versicherte beantragte bei seiner Krankenkasse ebenso wie der Kläger im vergleichbaren zweiten Verfahren die Versorgung mit einem motorunterstützten Handkurbel-Rollstuhlzuggerät zum Preis von rund 6.500 Euro.

Der Kläger verwies zunächst auf seinen Wunsch, sich gesundheitsförderlich bewegen zu wollen. Mit dem gewünschten Hilfsmittel könne er kleinere Einkäufe und Fahrradtouren mit Freunden machen. Im zweiten Verfahren verwies der querschnittsgelähmte Kläger darauf, dass er mit dem Rollstuhlzuggerät Einkäufe in der sechs Kilometer weit entfernten Kreisstadt im Westerwald oder Apothekenbesuche erledigen könne. Im dritten Verfahren hatte die an einer multiplen Sklerose erkrankte Klägerin die Kostenerstattung für ein Erwachsenendreirad mit Motorunterstützung beantragt, um ihre Mobilität im Nahbereich ihrer Wohnung zu verbessern.

In allen Verfahren wiesen die Krankenkassen die Kläger ab. Sie seien zwar zum mittelbaren Behinderungsausgleich verpflichtet. Dazu gehöre, dass eine gehbeeinträchtigte Person in die Lage versetzt werde, im Nahbereich der Wohnung die üblichen Alltagsverrichtungen selbst zu erledigen. Nach der Rechtsprechung des BSG seien aber nur solche Hilfsmittel zu gewähren, mit denen gehbehinderte Menschen fußläufige Entfernungen bewältigen können.

Anspruch auf mittelbaren Behinderungsausgleich

Hier würden die Rollstuhlzuggeräte und das Therapiedreirad mit Motorunterstützung „das Maß des Notwendigen“ überschreiten. Es bestehe kein Grundbedürfnis, sich den Nahbereich um die Wohnung schneller als mit durchschnittlicher Schrittgeschwindigkeit zu erschließen. So könne mit dem Rollstuhlzuggerät sogar eine Geschwindigkeit von bis zu 25 Stundenkilometer erreicht werden. Im ersten Verfahren verwies die Krankenkasse den Kläger auf einen günstigeren „restkraftunterstützenden Aktivrollstuhl“.

Das BSG sprach in allen drei Fällen den Klägern das gewünschte Hilfsmittel zu. Allerdings könnten sie das Hilfsmittel nicht verlangen, um den Erfolg ihrer Krankenbehandlung zu sichern oder einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Hierfür fehle es bereits an einer entsprechenden Behandlungsempfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der Richtlinien zu neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erlässt.

Mit Blick auf die UN-Behindertenrechtskonvention hätten die Kläger aber Anspruch auf mittelbaren Behinderungsausgleich und das Recht auf „persönliche Mobilität“. Um ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, müssten sie trotz ihrer Mobilitätseinschränkungen „die für die üblichen Alltagsgeschäfte maßgeblichen Orte“ erreichen können. Dazu gehörten der Einkauf und der Apothekenbesuch. Ob auch der Arztbesuch dazu zählt, ließ das BSG offen.

Bereits am 7. Mai 2020 hatte das BSG bekräftigt, dass gehbehinderte Menschen ein Recht auf Mobilität haben und sich den Nahbereich ihrer Wohnung „zumutbar und in angemessener Weise“ erschließen können. Gehbehinderte Menschen dürften daher von den Krankenkassen nicht nur auf eine Minimalversorgung mit Hilfsmitteln - wie etwa einen Schieberollstuhl - verwiesen werden. Sie hätten ein Wahlrecht, welches Hilfsmittel sie nutzen wollen, vorausgesetzt, dieses biete wesentliche Vorteile bei der Mobilität.

Az.: B 3 KR 13/22 R, B 3 KR 14/23 R und B 3 KR 7/23 R (BSG, Handkurbelrollstuhlzuggerät)

Az.: B 3 KR 7/19 R (BSG, Recht auf Mobilität)

Frank Leth


Bundessozialgericht

Leichtere Brillengläser auf Kassenkosten für schielende Kinder



Kassel (epd). Schielende Kinder mit einer starken Sehschwäche müssen nicht unbedingt eine Brille mit schweren Brillengläsern tragen. Die Krankenkasse kann zur Versorgung mit teureren, leichteren Brillengläsern mit hoher Brechkraft verpflichtet sein, wenn auf diese Weise das Verrutschen der Brille verhindert und das Schielen behandelt werden soll, urteilte das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am 18. April.

Geklagt hatte ein im Streitjahr 2018 sechsjähriger Junge. Als er in die Grundschule kam, schielte er stark und hatte eine Sehschwäche von rund plus acht Dioptrien. Sein Augenarzt verordnete ihm für Nah- und Fernsicht geteilte Kunststoffgläser mit hohem Brechungsindex und einem bis zur Pupillenmitte hochgezogenen Nahteil.

Brille sitzt nicht richtig

Bei Kindern und Jugendlichen kommen die Krankenkassen, anders als bei Erwachsenen, unter bestimmten Voraussetzungen für die Brillengläser auf. Das Brillengestell ist jedoch keine Kassenleistung. Hier wollte die Krankenkasse den Grundschüler mit zwei regulären Kunststoffgläsern versorgen.

Eltern und Augenarzt lehnten dies ab. Wegen der starken Sehschwäche seien die von der Krankenkasse zugesagten Brillengläser viel zu dick und damit zu schwer. Das Gewicht führe dazu, dass die Brille auch mit Sportgestell verrutsche und dann nicht mehr richtig sitze, um das Schielen zu vermeiden.

Die Eltern beschafften selbst die ärztlich verordnete Brille mit hoher Brechkraft. Neben den Mehrkosten für Gestell, Härtung und Entspiegelung zahlten sie hierfür weitere 116 Euro aus eigener Tasche. Dafür wollte die Krankenkasse nicht aufkommen.

Das BSG sprach dem Jungen jedoch die 116 Euro zu. Mit den verschriebenen Brillengläsern mit hoher Brechkraft habe die therapeutische Versorgung des Schielens im Vordergrund gestanden. In solch einem Fall reichten die Leistungspflichten der Krankenkassen weiter als beim Anspruch auf Behinderungsausgleich hinsichtlich der Sehkraft. Die anzuwendende Hilfsmittelrichtlinie sehe bei schielenden Kindern und Jugendlichen keine Beschränkung bezüglich der Brechkraft der Gläser vor. Hier seien die Gläser auch zur Behandlung des Schielens erforderlich gewesen.

Az.: B 3 KR 16/22 R



Bundessozialgericht

Benachteiligung von Vätern bei der Rente gebilligt



Kassel (epd). Väter dürfen bei der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten für die Rente gegenüber Müttern benachteiligt werden. Es stellt keine Diskriminierung wegen des Geschlechts dar, dass rentenerhöhende Kindererziehungszeiten der Mutter zugeschlagen werden, wenn nicht klar ist, welcher Elternteil sich um das Kind überwiegend gekümmert hat, urteilte am 18. April das Bundessozialgericht in Kassel.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen kann der Elternteil, der vorwiegend für die Erziehung zuständig ist, für jedes ab 1992 geborene Kind sich drei Jahre und für vor 1992 geborene Kinder sich zweieinhalb Jahre Kindererziehungszeiten anrechnen lassen. Pro Jahr und Kind gibt es dann 37,60 Euro mehr Monatsrente. Erziehen beide Elternteile das Kind gemeinsam, hat die Mutter Anspruch auf die Kindererziehungszeit, außer sie erklären gemeinsam, dass der Vater diese bekommen solle.

Vorteile für erziehenden Elternteil

Zusätzlich erhält der erziehende Elternteil bis zu zehn Jahre Kinderberücksichtigungszeiten angerechnet. Diese kann sich auf die Mindestversicherungszeit und bei geringen Einkünften die Rente erhöhen.

Im konkreten Fall lebte der Kläger mit seiner früheren Partnerin und der 2002 geborenen Tochter zusammen. Beide hatten das Kind erzogen. Als die Mutter im November 2008 auszog, blieb die Tochter beim Vater. Der Aufenthaltsort der Mutter ist unbekannt.

Die Deutsche Rentenversicherung Hessen lehnte rentenerhöhende Kindererziehungszeiten für den Vater ab. Da nicht klar sei, wer das Kind überwiegend erzogen habe, stünden der Mutter die Kindererziehungszeiten und bis zu ihrem Auszug die Berücksichtigungszeiten für Kindererziehung zu. Eine gemeinsame Erklärung, dass der Vater diese erhalten solle, gebe es nicht. Der Vater hielt dies für verfassungswidrig. Er werde hier wegen seines Geschlechts diskriminiert.

Das BSG urteilte, dass der Vater zwar benachteiligt werde. Die Regelung, nach der die Mutter die Kindererziehungszeiten gutgeschrieben bekomme, wenn nicht klar sei, wer das Kind überwiegend erzogen habe, sei aber gerechtfertigt. Mütter seien nach der Geburt ihres Kindes wegen der Erziehung des Kindes deutlich weniger erwerbstätig. Der Gesetzgeber habe deshalb vorgesehen, dass die Frauen bei der Rente in Form der Kindererziehungszeiten einen Ausgleich erhalten.

Az.: B 5 R 10/23 R



Bundesarbeitsgericht

Betriebsrat darf auch kleiner sein



Erfurt (epd). Bei zu wenigen Bewerberinnen und Bewerbern für die Wahl eines Betriebsrats kann das Gremium auch mit einer kleineren Zahl von Mitgliedern gebildet werden. Gebe es mehr vorgesehene Betriebsratssitze als Bewerber, mache dies eine Betriebsratswahl nicht unwirksam, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am 24. April verkündeten Beschluss. Ein Betriebsrat, der kleiner sei als gesetzlich vorgesehen, müsse aber aus einer ungeraden Anzahl an Mitgliedern bestehen. Ob dann auch ein einziges Betriebsratsmitglied ausreicht, ließ das BAG offen.

Zur Wahl stellten sich nur drei Bewerber

Im konkreten Rechtsstreit ging es um die Betriebsratswahl an einem Hamburger Klinikum im Frühjahr 2022. Das Betriebsverfassungsgesetz macht die Zahl der Betriebsratsmitglieder von der Größe des Betriebes abhängig. So sind beispielsweise bei 21 bis 50 wahlberechtigten Arbeitnehmern drei Personen für den Betriebsrat vorgesehen, bei 51 bis 100 Arbeitnehmern fünf und bei 101 bis 200 Arbeitnehmern sieben Mitglieder.

In dem Klinikum mit 170 beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern würde demnach der Betriebsrat aus sieben Mitgliedern bestehen. Zur Wahl hatten sich jedoch nur drei Bewerber gestellt, die dann auch den Betriebsrat gebildet hatten. Der Arbeitgeber hielt die Betriebsratswahl wegen der zu geringen Zahl von Mitgliedern für nichtig.

Das BAG hatte jedoch keine Bedenken und entschied, dass bei zu wenigen Bewerbern auch ein kleinerer Betriebsrat gewählt werden könne. Die zu besetzenden Betriebsratssitze müssten dann auf die im Gesetz aufgeführte nächstniedrigere Stufe so lange zurückgehen, „bis die Zahl von Bewerbern für die Errichtung eines Gremiums mit einer ungeraden Anzahl an Mitgliedern ausreicht“.

Az.: 7 ABR 26/23



Verwaltungsgericht

Ambulante Senioren-WG geht nur mit Selbstbestimmung



Karlsruhe (epd). In ambulant betreuten Senioren-Wohngemeinschaften müssen die Bewohnerinnen und Bewohner zumindest teilweise selbstverantwortlich leben können. So müssen sie Anbieter sowie die Art und den Umfang der Pflegeleistungen frei wählen und ihre Alltagsgestaltung selbstbestimmt wahrnehmen können, entschied das Verwaltungsgericht Karlsruhe in einem am 18. April bekanntgegebenen Beschluss.

Die Verwaltungsrichter bestätigten damit eine sofort vollziehbare Verfügung der Stadt Pforzheim, den Betrieb von zwei Senioren-Wohngemeinschaften einzustellen. Diese hatte eine GmbH unterhalten, die zudem einen ambulanten Pflegedienst, eine Tagespflegeeinrichtung und einen Dienst für „Essen auf Rädern“ betrieb.

Keine freie Wahl

Die Stadt meinte, dass es sich bei den Senioren-WGs um stationäre Einrichtungen handele, für die strengere Anforderungen an den Betrieb gelte. Es wurde nicht nur ein Aufnahmestopp für neue Bewohner verfügt, die GmbH sollte auch unter Fristsetzung den Betrieb der WGs abwickeln.

Der dagegen gerichtete Eilantrag hatte vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Das Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz verlange für ambulant betreute Wohngemeinschaften, dass die Bewohner und ihre Vertreter ein Gremium wählen können, das die Selbstverantwortung der dort lebenden Menschen sicherstellt. Solch ein Gremium sei hier nicht vorhanden.

Die Bewohner könnten auch nicht die Art und den Umfang der Pflegeleistungen frei wählen. Zwar habe der Einrichtungsbetreiber die für ambulante Wohnformen vorgeschriebene Präsenzkraft gestellt, die für die allgemeine Versorgungssicherheit und das Wohlbefinden der Bewohner zuständig ist. Diese sei aber hierfür nicht entsprechend qualifiziert. Sie sei vielmehr entgegen den gesetzlichen Vorgaben in größerem Umfang für die Pflege zuständig.

Schließlich sei die Versorgung in den WGs auf „erheblich kognitiv und körperlich beeinträchtigte Personen mit Pflegebedürftigkeit“ ausgerichtet. Dies entspreche aber nicht der Vorstellung des Gesetzgebers von ambulant betreuten Wohngemeinschaften.

Az.: 2 K 411/24




sozial-Köpfe

Kirchen

Sebastian Gunst in den Vorstand der Kaiserswerther Diakonie berufen




Sebastian Gunst
epd-bild/Kaiserswerther Diakonie/C.Tautenhahn
Das Kuratorium der Kaiserswerther Diakonie hat Sebastian Gunst in den Vorstand berufen. Das Gremium soll perspektivisch aus drei Personen bestehen. Die Position des Theologischen Vorstands wird ausgeschrieben.

Düsseldorf (epd). Nach dem Ausscheiden der Theologischen Vorständin Ute Schneider-Smietana hat das Kuratorium der Kaiserswerther Diakonie beschlossen, den Vorstandszuschnitt an die gestiegenen Herausforderungen und die verschärften Rahmenbedingungen im Gesundheits- und Sozialwesen anzupassen. Zukünftig wird der Vorstand der Kaiserswerther Diakonie - wie bereits bis 2014 praktiziert - aus drei Personen bestehen.

Im ersten Schritt ernannte das Kuratorium Sebastian Gunst zum Vorstand der Kaiserswerther Diakonie. Er verantwortet die operativen Bereiche Altenhilfe, Beruf und Bildung und Soziale Dienste. Zudem übernimmt er die Geschäftsbetriebe der Kaiserswerther Buchhandlung und das Hotel Mutterhaus und ist innerhalb des Vorstands für die Fliedner Fachhochschule Düsseldorf zuständig.

Sebastian Gunst ist seit 2013 als Leiter der IT sowie Leiter der Strategischen Unternehmensentwicklung für die Kaiserswerther Diakonie tätig. Berufsbegleitend hat der 42-Jährige Wirtschaftsinformatiker den Masterstudiengang Diakoniemanagement in Bethel absolviert.

Bereits seit 2010 ist Holger Stiller Finanzvorstand der Kaiserswerther Diakonie und Krankenhausdirektor des Florence-Nightingale-Krankenhauses. Bis zur Besetzung der Position des Theologischen Vorstands verantwortet er interimistisch zusätzlich insbesondere den Bereich Personal sowie die Fliedner Kulturstiftung.

„Wir freuen uns sehr, dass wir Sebastian Gunst für die vakante Vorstandsposition gewinnen konnten. Er verfügt über profunde Managementkenntnisse und ist zudem ein exzellenter Kenner der Kaiserswerther Diakonie. Er wird gemeinsam mit Holger Stiller die Geschicke der Kaiserswerther Diakonie in schwierigen Zeiten lenken. Wir werden nunmehr nach einem geeigneten Kandidaten für die vakante Position des Theologischen Vorstands suchen, der den zukünftig dreiköpfigen Vorstand komplettieren wird“, erklärte Kuratoriumsvorsitzender Georg Kulenkampff.



Weitere Personalien



Diana Gonzalez Olivo (43), Sozialwissenschaftlerin aus Mexiko, wird ab Mai Brandenburgs neue Landesintegrationsbeauftragte. Sie soll sich als Nachfolgerin von Doris Lemmermeier um die Belange der Menschen mit Migrationsgeschichte kümmern. Diese bräuchten eine starke Stimme, die ihre Interessen und Rechte vertritt. Gonzalez Olivo, die seit 2016 deutsche Staatsbürgerin ist, engagiert sich seit vielen Jahren für die Teilhabe von Zugewanderten. Lemmermeier geht nach elf Jahren im Amt Ende April in den Ruhestand. Diana Gonzalez Olivo hat in Mexiko Germanistik studiert und später in Cottbus ein Masterstudium absolviert. Sie lebt seit 2008 in Brandenburg und arbeitet seit 2013 an der Universität Potsdam. Dort ist sie seit 2019 Mitarbeiterin im Refugee Teachers Programm, das geflüchtete Lehrerinnen und Lehrer für das deutsche Bildungssystem weiterqualifizieren soll. Von 2019 bis 2023 gehörte sie dem RBB-Rundfunkrat an.

Beate Evers (66) ist nach 33 Jahren bei der Caritas für das Bistum Münster in den Ruhestand gegangen. Mehr als drei Jahrzehnte steuerte die Bereichsleiterin für Verbandspolitik und Kommunikation die politische und kommunikative Ausrichtung des Verbandes entscheidend mit. „Sie konnten die Komplexität der Themen und Akteure zusammenbinden und so fokussieren, dass Entwicklung und Kommunikation zielgerichtet möglich wurde“, unterstrich Diözesan-Caritasdirektor Christian Schmitt bei der Abschiedsfeier und dankte der Sozialpädagogin für ihr herausragendes Engagement. Als Anerkennung erhielt sie das Goldene Ehrenzeichen des Deutschen Caritasverbandes. Mit Beate Evers verlasse „der Brockhaus der Caritas“ den Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege.

Hendrik Maler ist neuer Leiter der Regionalstelle Oberbayern der Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) in München. Er tritt die Nachfolge von Abteilungsdirektor Helmut Krauß an, der gleichzeitig verabschiedet wurde. Zuletzt war Maler beim Technischen Hilfswerk Bayern als Referatsleiter unter anderem Inklusionsbeauftragter und hatte bereits fachliche Anknüpfungspunkte zum ZBFS. In der Regionalstelle Oberbayern sind 278 Angestellte beschäftigt. Sie bearbeiten unter anderem Anträge auf Familienleistungen, Schwerbehindertenfeststellungsverfahren, Inklusions- und Opferentschädigungsleistungen. Zudem ist die Kriegsversehrtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz in München zentralisiert.

Reiner Schübel, früherer Rektor der Rummelsberger Diakonie, ist nicht mehr Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Erwachsenenbildung (AEEB) in Bayern. Die Aufgabe übernimmt ab 1. Juni die Diakonin und Sozialpädagogin Ramona Leibinger (31) zusammen mit Vera Lohel (45), die schon bisher als Geschäftsführerin mit pädagogischem Auftrag im AEEB-Vorstand war. Schübel verließ die AEEB nach einem knappen Jahr „auf eigenen Wunsch“, wie es heißt. Die 31-jährige Leibinger ist am Religionspädagogischen Institut in Heilsbronn tätig und studiert bis August berufsbegleitend „Coaching, Organisationsberatung, Supervision“ an der Universität Kassel. Die Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Erwachsenenbildung in Bayern ist ein rechtlich selbstständiges Werk der Landeskirche. Sie ist Dachorganisation von etwa 80 Mitgliedseinrichtungen.

Volker Biewald ist nach neunjähriger Amtszeit als Geschäftsführer der Deutsches Taubblindenwerk gGmbH und nach rund 50 Jahren im Berufsleben in den Ruhestand verabschiedet worden. Mit Melissa Glomb steht nun eine Frau an der Spitze der Facheinrichtung für Menschen mit Taubblindheit/Hörsehbehinderung. Hans-Werner Lange, Präsident des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes und Gesellschafter des Deutschen Taubblindenwerks sagte, Biewald habe das Werk mit unermüdlichem Einsatz, strategischer Weitsicht und kaufmännischem Geschick entscheidend geprägt. Unter seiner Führung habe es sich zur größten Bildungs- und Fördereinrichtung für taubblinde Menschen in Europa entwickelt.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Juni



Mai

2.5.:

Webinar (mehrteilig) „Nachhaltigkeit in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft“

der SozialFactoring GmbH

Tel.: 0221/98817-0

6.-8.5. Freiburg:

Fortbildung „Fach- und Führungskräfte als Vermittelnde bei Konflikt und Mobbing“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

8.5.:

Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Kinder- und Jugendhilfe“

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/2758282-27

14.-15.5. Fulda:

Seminar „Arbeitszeit, Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

22.-24.5. Frankfurt a. M.:

Fortbildung „Aufsuchen anstatt Abwarten - Grundlagen Streetwork“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

28.5.:

Online-Kurs: „Vielfaltsfähig führen - Einführung“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3154935

Juni

3.6.:

Online-Fachtag „Verhalten, das uns herausfordert ... aber wozu eigentlich? Systemische Ansätze aus Wissenschaft und Praxis“

der Stiftung Liebenau

Tel.: 0 7542/10-5300

12.-13.6. Weimar:

Tagung „Läuft’s im Betreuungsrecht?“

des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-419