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Pflege

Interview

Klie: Pflegeversicherung war von Anfang an nicht demografiefest




Thomas Klie
epd-bild/Institut AGP/Marc Doradzillo
Der Pflegeexperte Thomas Klie blickt zurück auf 30 Jahre gesetzliche Pflegeversicherung, benennt Schwächen und wirbt für eine Pflegereform. "Die Pflegeversicherung war von Anfang an nicht demografiefest konzipiert", kritisiert er.

Frankfurt a.M. (epd). „Die Koalitionsvereinbarung der Ampel in Sachen Pflege war vielversprechend, übriggeblieben ist allerdings nicht viel“, sagt der Freiburger Pflegeexperte Thomas Klie. Es gebe einen großen Reformstau, nicht nur in Sachen der Finanzierung der Pflegeleistungen. Doch selbst mit mehr Geld im System würden „die grundlegenden Herausforderungen nicht gemeistert“. Hier müsse man „viel grundsätzlicher an die Konzeptionen der Pflegesicherung herangehen“, sagt der Gründer des Freiburger Instituts AGP Sozialforschung im Interview. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Die soziale Pflegeversicherung gibt es seit fast 30 Jahren. Sie steht trotz ungezählter, meist kleiner Reformschritte permanent in der Kritik. Ist das gerechtfertigt, wo sie doch Millionen Pflegebedürftigen geholfen hat?

Thomas Klie: Die Pflegeversicherung war und ist eine Errungenschaft. So sieht das auch die Bevölkerung, für die die Pflegeversicherung eine Art Garantieversprechen des Staates ist: Für dich und euch wird einmal gesorgt sein. Auch wenn der Verabschiedung der Pflegeversicherung im April 1994 rund 20 Jahre Diskussion um den richtigen Weg vorausgingen, wurde sie dann doch im notwendigen Kompromiss zwischen CDU und FDP einerseits und den Bundesländern andererseits schnell und mit Fehlern gestrickt.

epd: Welche Fehler sind das?

Klie: Die Pflegeversicherung setzt auf der einen Seite auf die Pflegebereitschaft der Familien und stabilisiert diese durch ein Pflegegeld. Die Pflegebereitschaft ist zwar ungebrochen, nur kommt sie in Zeiten der schon damals absehbaren demografischen Transformation an ihre Grenzen. Auf der anderen Seite hat die Pflegeversicherung eine neoliberale DNA, nämlich da, wo es um den Pflegemarkt und die Verantwortung für die Infrastrukturentwicklung geht. Hier wurde der Staat entpflichtet und es wurde in beispielloser Weise der Grundsatz der Wettbewerbsneutralität ins Gesetz geschrieben. Die Folge ist eine ziemlich gigantische Qualitätssicherungsbürokratie, um den Markt, der ja nicht per se moralisch agiert, auf die Einhaltung von Qualitätsvorgaben zu verpflichten.

epd: Und was ist zur Grundkonstruktion zu sagen?

Klie: Die Pflegeversicherung ist als Teilleistungssystem konzipiert. Das macht vor allen Dingen diejenigen unzufrieden, die auf professionelle Dienste und Einrichtungen angewiesen sind. Das einst von Sozialminister Norbert Blüm (CDU) verkündete Versprechen, die Pflegeversicherung werde vor Sozialhilfeabhängigkeit schützen, konnte und kann bis heute nicht oder nur begrenzt eingelöst werden. Wir haben über 20 Reformgesetzchen zur Pflegeversicherung. Eine grundlegende Strukturreform steht aus, aber auch an. Auch weil die Pflegeversicherung von Anfang an nicht demografiefest konzipiert war. Diese Kritik muss man auch an die Väter der Pflegeversicherung richten - auch wenn sie nicht mehr leben.

epd: Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst bis 2050 massiv. Fachleute und Sozialverbände fordern seit Jahren eine Reform, um für die Zukunft besser aufgestellt zu sein. Doch die Bundesregierung tut in dieser Legislatur nichts mehr. Wie bewerten Sie diese Haltung?

Klie: Wir hatten gehofft, die aktuelle Legislatur würde eine Legislatur der häuslichen Pflege. Die Koalitionsvereinbarung der Ampel war vielversprechend, übriggeblieben ist allerdings nicht viel. Immerhin: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bringt ein Pflegekompetenzgesetz auf den Weg, das den notwendigen Weg, die Pflege in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen, einschlägt. Auch die Akademisierung der Pflege und die Finanzierung der akademischen Ausbildung wurden aufgegriffen. Die Minileistungsverbesserungen sind eher symbolischer Natur. Die vorgesehenen Flexibilisierungen für die Leistungen der Pflegeversicherungen, die zuletzt unter den Stichworten stambulant und ambulant betreute Wohngemeinschaften diskutiert wurden, sind zögerlich. Grundlegende Reformen stehen aus - und ich erwarte auch nicht, dass wir sie im Sinne einer besseren Finanzausstattung der Pflegeversicherung politisch durchsetzen können.

epd: Das klingt nicht optimistisch ...

Klie: Nein. Dazu kommt: Die wahrscheinlich in der nächsten Bundesregierung wieder dominante CDU hat ein Sozialabbauprogramm auf den Weg gebracht, mit der FDP ist eine Ausweitung der Sozialleistungen, sei es steuerfinanziert oder über Beitragssatzanhebungen, nicht zu machen. Die auf den Weg gebrachten Personalbemessungsverfahren, sowohl für den klinischen als auch für den Langzeitpflegesektor, drohen an dem mindestens so bedeutsamen demografischen Effekt zu scheitern: der Berufsdemografie. Wir werden, das ist die sichere Aussicht, mit weniger Pflegefachpersonal mehr auf Pflege angewiesene Menschen in der Zukunft zu begleiten und zu versorgen haben.

epd: Als ein gravierendes Manko der Pflegeversicherung werden die steigenden Eigenanteile von Heimbewohnern genannt. Reformkonzepte im Sinne einer „Vollkaskoversicherung“ liegen schon lange auf dem Tisch. Sind die Kostenbelastungen in der Heimpflege wirklich das zentrale Problem der Pflegeversicherung oder müsste man nicht eher oder auch die Finanzierungsrundlage etwa im Zuge einer Bürgerversicherung lösen?

Klie: Die Eigenanteile, die auf Pflege angewiesene Menschen zahlen müssen, stellen in der Tat ein Problem dar. Nur darf man nicht nur die Eigenanteile in den Heimen in den Fokus rücken. Sie sind in demokratiegefährdender Weise insbesondere in ostdeutschen Bundesländern gestiegen: Hier wirkt der Bruch des Versprechens „Du wirst nicht sozialhilfeabhängig, wenn du pflegebedürftig wirst“ nach den biografisch häufig disruptiven Erfahrungen in der Nachwendezeit besonders stark. 200 Prozent Steigerung der pflegebedingten Kosten: Das hat das Zeug, den Protest von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen zu provozieren.

epd: Was muss man noch in den Blick nehmen für weitere Reformen?

Klie: Gesellschaftspolitisch mindestens so wichtig ist die „Kostenbelastung“, die durch die häusliche Pflege verursacht wird. Unternehmen sind schon heute in Sorge, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wegen häuslicher Pflegeaufgaben ausfallen, der Arbeitsmarkt nicht ausgeschöpft werden kann. Auch die etwa 850.000 osteuropäischen Haushaltshilfen, ohne die das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen würde, sind nicht frei von ausbeutungsähnlichen Phänomenen. Hier liegen zentrale Herausforderungen einer zukunftsfesten und demokratiestabilisierenden Pflegepolitik, die immer auch Familienpolitik ist.

epd: Reden wir über die Finanzierung, die ja so nicht bleiben kann ...

Klie: Man kann die Finanzierungsgrundlage der Pflegeversicherung auf etwas bessere Beine stellen. Die grundlegenden Herausforderungen werden dadurch allerdings nicht gemeistert. Hier wird man viel grundsätzlicher an die Konzeptionen der Pflegeversicherung herangehen müssen.

epd: Wie sollte das geschehen?

Klie: Ohne eine neue Verantwortungsrolle der Kommunen, die die Pflege wieder als Aufgabe der Daseinsvorsorge mitgestalten, wird es nicht gehen. Sektorenübergreifende Versorgungskonzepte werden gefragt sein: Die Versorgung einer Region gilt es in den Mittelpunkt zu rücken, nicht allein die Versorgung in einer Institution. Auch mit der im Ausland üblichen einkommensabhängigen Finanzierung von Pflege- und Gesundheitsleistungen wird man sich in Deutschland anfreunden müssen. Immerhin sagt die Bevölkerungsumfrage von Allensbach im Rahmen des DAK-Pflegereports 2024, dass eine Mehrheit der Bevölkerung dafür plädiert, Leistungen der Pflegeversicherung stärker einkommensabhängig auszugestalten. Im Kern bleibt die Sicherstellung der Pflege eine gesellschaftliche Aufgabe. Das Dienstleistungsparadigma trägt nicht mehr. „Caring Society“ heißt das Leitbild.



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