die Bemühungen von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), mehr Pflegefachkräfte aus dem Ausland für Deutschland zu gewinnen, sind umstritten. Heil ist dafür mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) extra nach Brasilien gereist. Bisher arbeiten nach Heils Angaben nicht einmal 200 Pflegekräfte aus Brasilien in Deutschland. Sozialträger fordern für eine erfolgreiche Integration angeworbener Arbeitskräfte den „Aufbau professioneller und tragfähiger Unterstützungsstrukturen innerhalb und außerhalb der Einrichtungen und Dienste“.
Seit 2007 steigt die Zahl der Totgeburten in Deutschland. Im Jahr 2021 wurden bundesweit 3.420 Kinder tot geboren - 24 Prozent mehr als 14 Jahre vorher. Eine allgemein anerkannte Erklärung gibt es hierfür nicht. Die Eltern sind meist sehr verzweifelt. „Ich hatte sogar Selbstmordgedanken“, sagte eine Betroffene der epd-Reporterin Pat Christ.
In der Pflege existiert die - zumindest auf den ersten Blick - groteske Situation, dass sich Leiharbeiterinnen besser gestellt sehen als fest angestellte Pflegefachkräfte. So ist Eva Ohlerth, eine Altenpflegerin aus München, gerade dabei, sich Angebote von Zeitarbeitsfirmen einzuholen. Sie beschreibt die Vorteile einer Beschäftigung über eine Leihfirma so: „Ich kann selbst bestimmen, welche Schichten ich arbeiten will.“ Auch der Verdienst einer Leiharbeiterin sei besser.
Leiharbeiter dürfen nach Tarifvertrag schlechter bezahlt werden als vergleichbare Stammbeschäftigte im eingesetzten Betrieb. Das ist zulässig, wenn die Leiharbeitnehmer dafür andere ausgleichende Vorteile erhalten, wie etwa eine Lohnfortzahlung während der einsatzfreien Zeit, urteilte das Bundesarbeitsgericht. Ein Anspruch auf gleiche Bezahlung besteht auch für die Stammbelegschaft nicht.
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Ihr Markus Jantzer
Berlin, Dortmund (epd). Die Pläne von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), in Brasilien vermehrt Pflegefachkräfte anzuwerben, stoßen bei Experten auf Kritik. Der Ansatz verkenne die Realität, erklärte die Deutsche Stiftung Patientenschutz am 5. Juni. Mit der Anwerbung von Personal sei es nicht getan, auch die Integration der neuen Mitarbeitenden müsse besser gestaltet werden, bemängelte die Ruhrgebietskonferenz Pflege in Dortmund.
Heil war gemeinsam mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) nach Brasilien gereist, um die Partnerschaft zur Gewinnung von gut ausgebildeten Fachkräften auszubauen. Er unterzeichnete laut Ministerium mit seinem brasilianischen Amtskollegen Luiz Marinho eine gemeinsame Erklärung für „faire Einwanderung“. Derzeit würden in dem südamerikanischen Land vermehrt Möglichkeiten geschaffen, um zukünftige Pflegekräfte insbesondere für den deutschen Arbeitsmarkt auszubilden. Nun sollen die zuständigen Behörden ihre Zusammenarbeit intensivieren.
Aktuell arbeiten nach Heils Angaben weniger als 200 brasilianische Pflegekräfte in Deutschland. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hält laut einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Anwerbung von bis zu 700 Pflegekräften pro Jahr für möglich. In Brasilien gebe es insgesamt 2,5 Millionen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. Die Arbeitslosenquote in dem Sektor lag nach den Angaben 2021 bei mehr als zehn Prozent.
Heil betonte, die Probleme infolge des Fachkräftemangels ließen sich durch inländische Potenziale nicht beheben. Das gelte für Verbesserungen bei der Aus- und Weiterbildung genauso wie für die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren. Nach einer Schätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sinkt die Zahl der Menschen, die dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, bis 2060 voraussichtlich von 45,7 Millionen auf 40,4 Millionen.
In der Pflege sei der Bedarf an Fachkräften in Deutschland groß, während es in Brasilien einen Überhang an gut ausgebildeten Kräften gebe, sagte der Minister. Heil besuchte in der Hauptstadt Brasilia eine Ausbildungsstätte der Katholischen Universität.
Schon im Mai bei der Ankündigung der Reise hatte Heil gesagt, man werde „sehr sensibel vorgehen, damit wir keinem Land die Arbeitskräfte nehmen, die es selber braucht“. Und: „Wir profitieren, die Herkunftsländer profitieren, etwa indem wir uns in der Ausbildung vor Ort engagieren, und die Menschen, die zu uns kommen, profitieren: durch einen gut bezahlten Job für sie selbst und vielleicht auch durch die Möglichkeit, Familienangehörige in der Heimat finanziell zu unterstützen.“
Basis der nun ausgebauten Kooperation ist eine schon bestehende Vereinbarung der Bundesagentur für Arbeit (BA) mit der brasilianischen Pflegekammer Cofen aus dem Jahr 2018. Darin stehen Regeln zur Bewerberauswahl, zum Vermittlungsprozess, zum Spracherwerb und zur Anerkennung beruflicher Qualifikationen.
„Seit Jahrzehnten fliegen Bundesminister um die Welt und wecken überall große Erwartungen, die in der Realität platzen“, kritisierte Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz in Dortmund. „2022 konnten nur 656 Pflegekräfte außerhalb der EU gewonnen werden. Davon kamen 34 professionell Pflegende aus Brasilien.“ Diese Fakten seien sehr ernüchternd.
Das Dilemma der Personalnot müsse im Inland gelöst werden, erklärte Brysch. Die Planbarkeit der Arbeitszeiten sei weiterhin mangelhaft. Überstunden, spontane Freizeit- und Urlaubsunterbrechungen seien Alltag. Auch würden die beiden Minister die Herausforderungen für viele ausländische Pflegekräfte bei der Integration in den deutschen Arbeitsmarkt verkennen. Denn oft litten im Ausland angeworbene Mitarbeiter an drastisch eingeschränkten Kompetenzen des Berufsstandes im Vergleich zu ihrem Heimatland. „Auch hier ändert sich in Deutschland nichts“, rügte Brysch.
Die Ruhrgebietskonferenz Pflege stellte die Frage, wie es um die Erfolge solcher Initiativen im Ausland stehe. „Wir müssen uns ehrlich machen und eine offene Diskussion über die Grenzen und Hindernisse der Integration führen. Der Transfer ausländischer Arbeitskräfte wird den Personalmangel in der Langzeitpflege nicht alleine beheben. Er kann aber Teil der Lösung sein“, sagte Ulrich Christofczik, Vorstand vom Christophoruswerk und Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Duisburg.
Um auf Dauer einen fortlaufenden Zufluss von dringend benötigten Arbeitskräften aus dem Ausland zu gewährleisten, würden professionelle und tragfähige Unterstützungsstrukturen innerhalb und außerhalb der Einrichtungen und Dienste gebraucht.
Dem Trägerverbund zufolge könne sich nicht jedes Pflegeunternehmen den Aufbau eines eigenen Integrationsmanagements leisten. Krankenhäuser und große Verbünde hätten erhebliche Wettbewerbsvorteile. „Gerade kleine und mittlere Pflegeunternehmen laufen Gefahr, von dem Zufluss ausländischer Arbeitskräfte abgehängt zu werden.“
Frankfurt a.M. (epd). Im August hätte sie ihren 16. Geburtstag feiern können. 16 Jahre - was für ein aufregendes Alter! Vielleicht hätte sie schon ihren ersten Freund. Oder den ersten Liebeskummer. Doch all das durfte sie nicht erleben. Denn sie wurde tot geboren. „Drei Wochen vor dem Entbindungstermin merkte ich, dass es keine Herzschläge mehr gibt“, sagt Elisabeth Blecks aus dem thüringischen Rudolstadt. Aufgrund eines Gendefekts starb ihr „Sternenkind“ im Mutterleib: „Sie hatte Trisomie 18.“
Elisabeth Blecks teilt ihr Schicksal mit vielen Frauen: Tot- oder Fehlgeburten sind nicht selten. In den vergangenen Jahren stiegen die Zahlen der sogenannten Sternenkinder sogar deutlich an. Laut Statistischem Bundesamt gingen sie zwischen 2007 und 2021 um 24 Prozent in die Höhe. Insgesamt wurden 2021 bundesweit 3.420 Kinder tot geboren. Auf 1.000 lebendgeborene Kinder kommen demnach 4,3 Totgeburten. Dabei gilt als „Totgeburt“, wenn das Kind bei der Entbindung mindestens 500 Gramm wiegt oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht wurde.
Die Zahlen scheinen in allen Bundesländern zu steigen. Der Trend brach auch 2022 nicht ab, zeigen Daten jener Statistischen Landesämter, die bereits Auswertungen für das vergangene Jahr haben. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel wurden 2022 insgesamt 157 Kinder tot geboren. Das waren 4,3 Totgeburten auf 1.000 Lebendgeborene. 2021 lag das Verhältnis sogar bei 4,6 von 1.000. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 kamen lediglich 2,9 Totgeburten auf 1.000 Lebendgeborene.
Seit wenigen Tagen liegen auch die Zahlen für 2022 im Land Bremen vor. Dort wurden im vergangenen Jahr 53 Totgeburten registriert. Das war die höchste Zahl seit 2000. Der Tiefststand wurde 2009 mit 14 Totgeburten erreicht. Höher war die Zahl lediglich in den 1970er Jahren. 1971 wurden 96 Kinder im Land Bremen tot geboren. 8.501 Kinder kamen in jenem Jahr lebend zur Welt - viel mehr als 2022, wo nur 6.720 Kinder im Land Bremen lebend geboren wurden.
Frauen, die ein Kind tot zur Welt bringen, sind meist sehr verzweifelt. So war es auch bei Elisabeth Blecks. „Ich hatte zu jener Zeit manchmal sogar Selbstmordgedanken“, sagt die Hebamme aus Thüringen. Mütter mit demselben Schicksal, die sie in einer Selbsthilfegruppe traf, ließen sie wieder neue Hoffnung schöpfen. Seit der Tragödie vor 15 Jahren brachte Elisabeth Blecks denn auch drei gesunde Kinder zur Welt.
Zum Glück, sagt sie, gibt es ausreichend psychosoziale Unterstützung für Frauen, die eine Fehl- oder Totgeburt haben oder die ihr Kind abtreiben, etwa wenn es mit großer Wahrscheinlichkeit schwerstbehindert zur Welt käme. Selbst in kleineren Städten existieren heute Selbsthilfegruppen. „Außerdem können sich betroffene Frauen überall an eine Schwangerenberatungsstelle wenden“, sagt Birgit Wysocki vom Evangelischen Beratungszentrum Würzburg.
Nun ist es nicht so, dass jede Frau, die ihr Kind tot zur Welt bringt, in eine schwere psychische Krise gestürzt würde, erklärt Wysocki. Allerdings ist der Sozialpädagogin das, was Elisabeth Blecks schildert, bekannt. Quälend sei für viele Frauen vor allem die Frage, ob sie in der Schwangerschaft irgendetwas falsch gemacht hätten. Nicht selten komme es auch zu Konflikten in der Partnerschaft. Männer trauern anders, oft weniger „wortreich“ als Frauen. Frauen litten darunter, wenn ihr Partner nicht reden wolle: „Sie fühlen sich alleingelassen“, sagt die Würzburger Schwangerenberaterin Heike Link.
Im Vergleich zur regulären Schwangerschaftsberatung fällt die Unterstützung von Frauen mit Tot- oder Fehlgeburten quantitativ kaum ins Gewicht. Allerdings bemerken auch die Mitarbeiterinnen der Würzburger evangelischen Beratungsstelle, dass die Zahlen steigen. 2019 ließen sich sechs, im Jahr 2020 ließen sich fünf betroffene Frauen erstmals beraten. 2021 sowie 2022 hingegen kamen jeweils 17 „Sternenkinder-Mamas“ zur Erstberatung.
Warum die Zahlen steigen, dafür gibt es noch keine Erklärung. Auch Elisabeth Blecks, die als Hebamme im Frühjahr 2022 mit deutlich mehr Tot- und Fehlgeburten zu tun hatte als sonst, kennt nur Spekulationen: „Sowohl Corona als auch die Corona-Impfung stehen im Verdacht.“ Sie selbst denkt, dass die massiven psychischen Belastungen von Frauen in den aktuellen Krisenzeiten für den Anstieg an Tot- und Fehlgeburten mitverantwortlich sind.
Immerhin gibt es bundesweit inzwischen genug Anlaufstellen für „Sternenkindereltern“. Allerdings existieren noch nicht überall Gräberfelder für Sternenkinder auf Friedhöfen. Solche Gräberfelder werden von den Eltern als trostreich und stabilisierend erlebt.
Juliane Frey setzt sich im hessischen Niederdorfelden als Kommunalpolitikerin dafür ein, dass auf dem örtlichen Friedhof eine Grab- und Gedenkstätte für Sternenkinder eingerichtet wird. „In meinem persönlichen und familiären Umfeld gibt es etliche Familien, die Sternenkinder bekommen haben“, begründet die Sozialdemokratin ihr Engagement. Warum dies so ist, darauf weiß auch sie keine Antwort. „Es mag mit daran liegen, dass heutzutage eher über solche Erfahrungen gesprochen wird als früher“, meint sie. Sternenkinder hätten inzwischen einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft.
Dies bestätigt auch Elisabeth Blecks. Wie früher mit Frauen nach einer Totgeburt umgegangen wurde, empfindet sie als höchst brutal. Durch ihr Engagement in der Selbsthilfe weiß sie von Seniorinnen, die das, was ihnen vor 60 Jahren widerfahren ist, bis heute seelisch nicht verarbeitet haben. „Damals war es zum Beispiel üblich, dass die Mütter nicht einmal das Geschlecht ihres Sternenkindes erfahren durften“, sagt die Hebamme.
Auch wenn sich inzwischen viel verbessert hat, müsste nach Ansicht der Thüringerin noch mehr geschehen, um Eltern von Sternenkindern gerecht zu werden. Betroffene bräuchten sehr viel mehr Zeit, um mit ihrem Schicksal fertig zu werden: „Vor allem Väter gehen unter, sie müssen sofort wieder funktionieren.“ Erst vor kurzem hatte sie mit einem betroffenen „Sternenkind“-Paar zu tun: „Der Mann hat sich gerade mal eine Woche Urlaub nehmen können, um für seine Frau da zu sein.“
Herborn (epd). Eigentlich wusste Aaron bereits als Kind, was er später arbeiten wollte: „Man wird danach ja schon im Kindergarten gefragt, und für mich stand immer ein bisschen fest, dass ich Tierarzt werden will“, sagt der 20-Jährige. Trotzdem schwankte er am Ende der Schulzeit doch noch mal. Er legte ein „Gap Year“ ein, eine einjährige Auszeit, und machte Praktika auf einem Pferdehof, in einer Kleintierpraxis und auch in einem Krankenhaus. Erst dann war endgültig klar: Tiermedizin.
Ein Drittel der Abiturientinnen und Abiturienten plant nach Schulende ein solches „Gap Year“. Der Direktor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Bernd Fitzenberger, sieht das Lückenjahr als Ausdruck dafür, wie unsicher sich viele junge Leute bei der Berufswahl fühlen. „Für den einzelnen kann es eine wertvolle Erfahrung sein, aber es verzögert auch den Einstieg in den Arbeitsmarkt“, gibt er zu bedenken.
Das „Sich-nicht-festlegen-können“ betrifft nicht nur Abiturienten, sondern auch Real- und Hauptschüler. Das durchschnittliche Alter der jungen Menschen beim Einstieg in die duale Ausbildung - also Betrieb und Berufsschule - liege mittlerweile bei 20 Jahren, sagt Fitzenberger. Viele machten erstmal einen weiteren schulischen Abschluss, oft falle der Schritt „raus aus dem gewohnten Umfeld“ schwer.
Eine Befragung unter Jugendlichen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit vom Informationsangebot zur Berufswahl überfordert ist. „Die große Orientierungslosigkeit nach der Schule ist ein Massenphänomen“, schreibt die Autorin Ulrike Bartholomäus in ihrem Buch „Wozu nach den Sternen greifen, wenn man auch chillen kann?“.
Wobei auch klar ist: Lange Reisen, „Work and Travel“ in Australien, „Au-pair“-Einsatz in Kanada, mit Freiwilligendiensten nach Südafrika, in Spanien die Sprachkenntnisse aufbessern, ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten - eine solche Phase des Ausprobierens kann sich nicht jeder finanziell leisten.
Das kleine Team der Evangelischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Paare im hessischen Herborn trifft sich immer dienstags zu seinen Besprechungen. Auf dem Tisch stehen verschiedene Teesorten; die Atmosphäre ist entspannt. Viele Jugendliche suchen in der Einrichtung Hilfe und Orientierung. Ihnen stünden heutzutage tausend Wahlmöglichkeiten offen, sagt Pfarrer Jörg Moxter: „Die Freiheit wird als Segen verkauft, sie kann aber auch überfordern.“
Schon die Schulsituation habe sich in den vergangenen Jahren zugespitzt: Es gebe dort eine große Vielfalt aus Kursen und AGs, wenig Zeit für den Einzelnen, häufige Lehrerwechsel. Konflikte aus der Schule würden in die nächste Lebensphase weitergetragen, beobachtet die Sozialpädagogin Rebecca Mehl.
Gleichzeitig erleben die Berater eine Überbehütung durch die Eltern und Bequemlichkeit bei den Jugendlichen. Oft blieben sie auch während der Ausbildung und des Studiums zu Hause wohnen, und zwar nicht nur aus finanziellen Gründen. „Es ist aber wichtig, mit Anfang 20 das Leben selbst zu bewältigen“, sagt die Psychologin Katja Reintges.
Das Team versucht, gemeinsam mit den jungen Leuten zu erarbeiten, wo ihre Ressourcen liegen und wie sie sich stärken lassen. Als praktische Übung diene zum Beispiel ein Stuhlwechsel - man nimmt eine andere Perspektive ein. Oder sie arbeiten mit „inneren Anteilen“: Was steckt noch in mir und will entdeckt werden? „Zu sich selbst zu kommen, ist die erste Etappe“, sagt Moxter. Danach könne man überlegen: „Was willst du machen?“
„Als allererstes“, sagt der Youtuber „Lehrerschmidt“ seinen 1,6 Millionen Followern und Followerinnen in einem Video zur Berufswahl, „entspannen wir uns mal ein bisschen“. Es sei nicht mehr so, dass man sich für einen Beruf, eine Ausbildung oder ein Studium entscheide und das dann für den Rest seines Lebens mache. Interessen veränderten sich im Lauf der Jahre. Hinter dem Account steckt Kai Schmidt, Oberschulrektor im niedersächsischen Uelsen.
Arbeitsmarktforscher Fitzenberger bestätigt ihn: Viele glaubten, mit der Berufswahl eine Lebensentscheidung zu treffen, die sich nicht mehr rückgängig machen lasse. „Von dieser Mentalität müssten wir wegkommen.“ Er wünscht sich eine „höhere Akzeptanz“ für einen Neuanfang nach einem Misserfolg.
Erst einmal raus aus der Tatenlosigkeit sei jedenfalls ein gutes Rezept, sagt Autorin Bartholomäus. „Entscheidend ist, dass Bewegung in das Leben des Heranwachsenden kommt.“ Die meisten fänden ihren Weg: „Die Phase des Chillens, des Nicht-Wissens-was-kommt und des unmotivierten Stocherns in Berufswegen geht vorbei, sobald der Funke überspringt und sie etwas für sich gefunden haben, das passt.“ Youtuber „Lehrerschmidt“ rät zu vielen, vielen Praktika: „Schaue dich um, rede mit Leuten aus dem Bereich, der dich interessiert.“
Tiermedizinstudent Aaron hat dafür das „Gap Year“ zwischen Schule und Uni genutzt, hat Kontakte geknüpft, Dinge ausprobiert. Er ist glücklich mit seiner Wahl. Spannend werde es nochmal zum Ende der Studienzeit, „weil sich da ein super breites Berufsfeld auftut.“
Wiesbaden, Berlin (epd). Knapp die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland sind in einem tarifgebundenen Betrieb beschäftigt. Wie das Statistische Bundesamt am 2. Juni in Wiesbaden mitteilte, arbeiteten im vergangenen Jahr rund 49 Prozent der Arbeitnehmer in einem Betrieb mit Tarifbindung. Dabei bestehen deutliche Unterschiede zwischen den Branchen.Als tarifgebunden wird ein Betrieb dann bezeichnet, wenn ein Branchen- oder Firmentarifvertrag Anwendung findet.
Die höchste Tarifbindung gibt es demnach im Bereich Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung mit 100 Prozent. Es folgen Energieversorgung (85 Prozent), Erziehung und Unterricht (82 Prozent) und Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (75 Prozent). Die Wirtschaftsbereiche mit der geringsten Tarifbindung im Jahr 2022 waren Land- und Forstwirtschaft, Fischerei (11 Prozent), Gastgewerbe (20 Prozent), Kunst, Unterhaltung und Erholung (21 Prozent) sowie Grundstücks- und Wohnungswesen (22 Prozent).
Die Bundesregierung hat eine verbesserte Tarifbindung im Handwerk als Ziel im Koalitionsvertrag festgehalten. Rund 42 Prozent aller Beschäftigten im Handwerk waren den Angaben zufolge 2022 in einem tarifgebundenen Betrieb beschäftigt. Dabei gibt es Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland: Während die Tarifbindung in Ostdeutschland nur 32 Prozent betrug, lag sie in Westdeutschland bei 43 Prozent.
Die niedrigsten Tarifbindungen insgesamt wiesen Berlin und Sachsen mit jeweils 43 Prozent auf sowie Thüringen mit 45 Prozent. Die höchsten Tarifbindungen waren in Bremen (56 Prozent) und im Saarland (53 Prozent) zu verzeichnen.
„Rund 20 Millionen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland sind tarifvertraglich geregelt. Bezieht man die Unternehmen mit ein, die sich an Tarifverträgen orientieren, sind es sogar 75 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter. Die neuen Daten seien Ausdruck gelebter Sozialpartnerschaft, „die wir stärken und für die Zukunft weiter ausbauen wollen“.
Er warb für moderne Tarifverträge und verlässliche Tarifpartner: „Ständige politische Einmischungen des Gesetzgebers wird die Tarifbindung nicht fördern. Jeder Sozialpartner muss seine organisatorischen Herausforderungen selbst und nicht mit Hilfe des Staates lösen“, betonte Kampeter.
Die Linkspartei sieht die Quote der Tarifbindung dagegen kritisch. Weniger als die Hälfte der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben - diese Quote sei „besorgniserregend“, sagte Pascal Meiser, gewerkschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag. Die Bundesregierung dürfe nicht länger tatenlos zusehen, wie sich „immer mehr Unternehmen der Tarifbindung entziehen und sich so schmutzige Wettbewerbsvorteile gegenüber denjenigen Konkurrenten verschaffen, die nach Tarif zahlen“. Meiser warb für einen Aktionsplan, der es erleichtere, per Allgemeinverbindlichkeitserklärung Tarifverträge auf ganze Branchen zu übertragen.
Bonn (epd). „Wo kommen Sie denn her? Und möchten Sie wieder zurückgehen?“ Diese Fragen werden Menschen mit dunklerer Hautfarbe häufig gestellt, selbst wenn sie in Deutschland aufgewachsen sind. Die Gruppe „Kanak Attak“ drehte den Spieß einfach einmal herum. Sie stellte Konzertbesuchern in der Kölner Philharmonie diese Fragen und erntete damit erstaunte Blicke bei den Kölnern, Neussern oder Essenern.
„Migration ist keine Besonderheit unserer Zeit“, heißt es in der Ausstellung „Wer wir sind. Fragen an ein Einwanderungsland“ in der Bundeskunsthalle in Bonn. Vielmehr sei Einwanderung der Normalfall. Nur der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit diesem Phänomen sei offenbar noch immer nicht selbstverständlich.
Die Bundeskunsthalle gibt deshalb den kritischen Fragen an das Einwanderungsland Deutschland mit einer Ausstellung breiten Raum. Zu sehen sind neben zahlreichen dokumentarischen Fotografien rund 300 Objekte und Dokumente zur Einwanderungsgeschichte in Deutschland. Sie stammen aus der Sammlung des DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland). Der Verein, der über eine Sammlung mit rund 150.000 Objekten verfügt, will 2027 in Köln ein Migrationsmuseum eröffnen.
Für die Bonner Ausstellung hat die Bundeskunsthalle außerdem mit dem Migrationsforscher Mark Terkessidis und dem Migrationsreferenten der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Massimo Perinelli, zusammengearbeitet.
In Video-Interviews kommen zahlreiche Zeitzeugen sowie Politiker oder Kulturschaffende mit Einwanderungsgeschichte zu Wort. Ergänzt werden die dokumentarischen Abschnitte der Ausstellung durch Arbeiten von 50 Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlicher Herkunft, darunter Mona Hatoum, Ülkü Süngün, Hito Steyerl, Alicja Kwade, Ulay, Lerato Shadi und Katharina Sieverding.
Im Zentrum stehe der strukturelle Rassismus in Deutschland, erklärt Kuratorin Johanna Adam. „Rassismus ist kein individuelles Phänomen, sondern ein gesamtgesellschaftliches“, ergänzt Ko-Kuratorin Lynhan Balatbat-Helbock. Dies habe in Deutschland eine lange Tradition.
Was macht eigentlich das „Deutschsein“ aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich unter anderem die Künstlerin Alicja Kwade. Als Kind wanderte sie mit ihrer Familie aus Polen ein und wurde bei der Einbürgerung ohne ihr Einverständnis „eingedeutscht“. Aus Alicja wurde im deutschen Personalausweis „Alice“. Kwade dokumentiert ihren Versuch, diese Umbenennung rückgängig zu machen, anhand der entsprechenden Urkunden.
Ein Kapitel der bis zum 8. Oktober gezeigten Ausstellung widmet sich der Einwanderung von Arbeitskräften nach dem Zweiten Weltkrieg. Während die Bundesrepublik sogenannte Gastarbeiter vorwiegend aus Südeuropa und der Türkei anwarb, kamen Menschen aus kommunistischen Bruderländern wie Vietnam oder Mosambik in die damalige DDR. Serkan Sarier thematisiert das Gefühl der Fremdheit der Gastarbeiter in seinem Gemälde „The Ghosts of The Past are Present (Die Gastarbeiter-Oper)“: Spärlich mit Arbeitskleidung bekleidete Gestalten winden sich vor der Kulisse einer Industrielandschaft.
Die Ausstellung beleuchtet auch das Leben von Juden in Deutschland, etwa mit der bedrückenden Videoarbeit von Hito Steyerl. Sie widmet sich dem Schicksal von Tony Abraham Merin, dem letzten im hessischen Babenhausen verbliebenen Juden. Sein Haus wird 1997 angezündet. Daraufhin verlässt er Deutschland.
Breiten Raum nehmen rassistische Gewalttaten gegen eingewanderte Menschen ein, unter anderem die Brandanschläge in Mölln und Solingen sowie der NSU-Komplex. Erstmals sind einige der rund 700 Briefe an die Familie Arslan zu sehen, die nach dem Anschlag auf das Haus der Familie 1992 bei der Stadt Mölln eingingen. Die Stadt reichte die Solidaritätsbekundungen aber nicht weiter. Erst 2019 erfuhr die Familie von dem Zuspruch und der Anteilnahme vieler Mitbürger.
Die Ausstellung lässt Erfolgsgeschichten geglückter Integration und Beispiele guten Miteinanders von Menschen verschiedener Kulturen außen vor. Auch die Ursachen von Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit werden ausgeblendet. Wie das Gefühl des „Wir“ in einer offenbar strukturell rassistischen Gesellschaft entstehen soll, bleibt am Ende offen.
Frankfurt a.M. (epd). Die hessischen Landkreise gehen nach Aussage des Geschäftsführers des Hessischen Flüchtlingsrats, Timmo Scherenberg, sehr unterschiedlich mit der Aufnahme von Geflüchteten um. „Viele Kreise jammern über die hohen Zahlen, aber eben nicht alle“, sagte Scherenberg dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein Grund dafür seien „Sondereffekte“, die sich aus einer veränderten Zuweisung durch das Land ergeben hätten.
So habe das Land im vergangenen Sommer eine bewusste Pause eingelegt, um den Kommunen Zeit zu geben, Kapazitäten auszubauen. Dafür seien dann ab Oktober 2022 mehr Flüchtlinge zugewiesen worden. Im Oktober habe man zudem die ukrainischen Geflüchteten in die Berechnungen mit aufgenommen. Landkreise, die ihre Aufnahme-Quote an ukrainischen Flüchtlingen übererfüllt hatten, mussten daraufhin weniger Asylbewerber aufnehmen - und umgekehrt. Dadurch habe sich in einigen Landkreisen der Eindruck ergeben, sehr stark überfordert zu sein.
Auch bei der Unterbringung gebe es große Unterschiede: Die Stadt Frankfurt am Main habe um Weihnachten die Unterbringung von Geflüchteten in Hallen beendet - zu einem Zeitpunkt, als andere erst damit begannen. Der Kreis Bergstraße brachte laut Scherenberg die Geflüchteten ab April 2022 zentral in einer Zeltstadt mit 1.000 Plätzen unter - andere Landkreise hingegen wiesen die Menschen direkt den Kommunen zu.
Er habe Verständnis für die Hilferufe aus den Kommunen, denen es an Personal und Geld mangele. „Es hakt zwar gerade an vielen Stellen, aber es funktioniert erstaunlich gut“, betonte Scherenberg. Vor allem die Eingliederung der ukrainischen Flüchtlinge habe „ganz gut geklappt“. Zwar benötigten auch sie anfangs viel Hilfe bei der Suche nach Integrationskursen oder bei Jobcenter-Anträgen, fänden jedoch oft schnell Wohnungen und erhielten Unterstützung aus der ukrainisch-russischen Community.
Der Umgang mit den ukrainischen Geflüchteten könne als „Blaupause“ genommen werden für den weiteren Umgang mit den Flüchtlingen: „Wir haben einen massiven Fachkräftemangel. Wir müssen die Geflüchteten viel mehr fördern und unterstützen.“ Dabei spielten auch die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer der Flüchtlingshilfe eine wichtige Rolle.
Köln (epd). Das Institut für Wirtschaft (IW) in Köln erwartet durch die neuen Zuverdienstregeln für Frührentner keine Verbesserungen im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Der Wegfall der Hinzuverdienstgrenze erlaube Frührentnern, ohne Rentenabzüge unbegrenzt hinzuzuverdienen und sei daher aus individueller Sicht finanziell lohnend, erläuterten die Autoren Martin Beznoska und Ruth Maria Schüler zur Veröffentlichung der IW-Untersuchung am 7. Juni in Köln. Allerdings müssten arbeitende Frührentner auf ihre Rente und ihren Zuverdienst weiterhin Einkommensteuer zahlen, und zwar mit einer stärkeren Steuerbelastung als Nichtrentner in der gleichen familiären Situation mit gleichem Gehalt.
Die Experten des arbeitgebernahen Instituts dämpften die Hoffnung der Bundesregierung, mit dem unbegrenzten Hinzuverdienst den Fachkräftemangel abmildern zu können. Generell lohne es sich seit Januar finanziell immer, ein arbeitender Frührentner zu sein. Allerdings sinke der Arbeitsanreiz durch die höhere Abgabenlast, lautet ein Fazit der Autoren.
Denn je nach Rentenhöhe, Gehalt und Familienstand steige die Abgabenlast unterschiedlich stark. Wer als Single etwa 15.000 Euro Rente im Jahr beziehe und 25.000 Euro hinzuverdiene, habe steuerliche Abgaben von 38,4 Prozent auf diesen Hinzuverdienst zu leisten. Ohne Rente läge die Steuerbelastung dieses Gehalts bei 26,6 Prozent.
Steuerlich günstig kämen hingegen Ehepaare weg. Aufgrund des Ehegattensplittings profitierten sie ohnehin steuerlich, der Wegfall der Hinzuverdienstgrenze ändere daran nichts. Die IW-Autoren verwiesen darauf, dass die Bundesregierung im Jahr 2027 Bilanz ziehen wolle.
Berlin (epd). Ein Klimageld würde bei einkommensschwachen Haushalten einen Großteil ihrer Zusatz-Ausgaben durch die CO2-Bepreisung von Heizöl oder Kraftstoff abdecken. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) veröffentlichte am 7. Juni in Berlin Berechnungen, wonach ein einheitliches Pro-Kopf-Klimageld die ungleiche Belastung von ärmeren gegenüber wohlhabenden Bevölkerungsschichten abmildert. Es wären aber weitere staatliche Hilfen in Härtefällen erforderlich, heißt es in dem aktuellen DIW-Bericht.
Die CO2-Bepreisung ist ein Zuschlag pro ausgestoßener Tonne CO2 auf fossile Energieträger und hat das Ziel, die Emissionen zu senken. Den DIW-Berechnungen zufolge würde ein Klimageld von 170 Euro pro Kopf bei einem angenommenen CO2-Preis von 60 Euro pro Tonne im Jahr 2026 für einen einkommensarmen Haushalt bedeuten, dass sich die Belastung durch steigende Energiepreise halbieren würde. Statt um 1,5 Prozent sänke das Nettobudget um 0,8 Prozent.
Einkommensarme Haushalte geben einen größeren Teil ihres Einkommens für Heizen und Sprit aus als Wohlhabende. Durch die CO2-Bepreisung würde in dem vom DIW berechneten Szenario 2026 bei den einkommensschwächsten zehn Prozent der Bevölkerung 3,5 Prozent des Nettobudgets aufgezehrt, bei den einkommensstärksten zehn Prozent dagegen machten die zusätzlichen Energiekosten weniger als ein Prozent des Nettoeinkommens aus.
Die Ampel-Koalition hat die Einführung eines Klimageldes als soziale Flankierung der CO2-Bepreisung vereinbart. Es soll aus den Einnahmen durch den CO2-Zuschlag finanziert werden und die Belastungen privater Haushalte mildern. Der Preis für jede ausgestoßene Tonne CO2 wird in den kommenden Jahren steigen, mit dem Ziel, die Emissionen zu senken. Derzeit liegt er bei 25 Euro, bis 2025 steigt er auf 55 Euro und soll 2026 zwischen 55 und 65 Euro liegen. Autofahren und Heizen verteuern sich dadurch.
München (epd). Das Pflegeheim im Süden von München machte einen guten Eindruck: ein moderner Bau mit schönen Zimmern, freundlich eingerichtete Aufenthaltsbereiche sowie Balkone ins Grüne. Hier verbrachte die Mutter von Susanna Vogel (Name von der Redaktion geändert) ihre letzten Tage, bevor sie im Herbst vergangenen Jahres starb.
Doch es war nicht alles gut. „Ich hätte mir gewünscht, dass das Pflegepersonal mehr Zeit und Aufmerksamkeit für meine Mutter gehabt hätte“, sagt Vogel, eine 59-jährige Fachverkäuferin. Zwischendurch hätten sie und ihre Geschwister auch nicht ins Heim gekonnt - auf der Station war jemand positiv auf Corona getestet worden. „Die Pflegesituation war alles andere als optimal“, ist ihr Fazit, das Pflegepersonal sei sichtbar überlastet gewesen.
Dass es woanders besser ist, finden auch viele Pflegekräfte und ziehen Konsequenzen: Sie lassen sich lieber über eine Leihfirma anstellen als von den Kliniken und Altenheimen direkt. So haben sie mehr Kontrolle über ihre Arbeitszeiten, können Schichtdienst vermeiden, und die Bezahlung ist besser. Während Leiharbeit zum Beispiel in der Automobilbranche eher als Nachteil im Vergleich zur Stammbelegschaft angesehen wird, ist es im Pflegebereich oftmals gerade andersherum.
Das sieht auch Eva Ohlerth so. Die examinierte Altenpflegerin ist gerade dabei, sich Angebote von Zeitarbeitsfirmen einzuholen. Ihre persönliche Erfahrung: Die Arbeitsbedingungen in der Pflege wirkten sich negativ auf die Gesundheit aus, ein soziales Leben sei kaum mehr möglich. Weil es überall an Personal fehle, müssten angestellte Pflegekräfte immer wieder bei Engpässen einspringen: „Dann klingelt ständig das Telefon in der Freizeit“, berichtet Eva Ohlerth.
Ohlerth hat langjährige Erfahrung in der Pflegearbeit, unterrichtete auch in einer Altenpflegeschule. Für sie liegen die Vorteile einer Beschäftigung über eine Leihfirma klar auf der Hand: „Ich kann selbst bestimmen, welche Schichten ich arbeiten will.“ Auch der Verdienst einer Leiharbeiterin sei besser: „Man bekommt 500 bis 1.000 Euro mehr.“
Joachim Schauer ist Betriebsrat bei einem gemeinnützigen Verein, der 21 Altenheime in Bayern betreibt. 70 Prozent der Pflegekräfte seien Frauen, weiß er, etliche davon alleinerziehend. Für sie sei das größte Problem die „Unverbindlichkeit der Dienstpläne“. Das heißt: Sie werden oft umgeworfen werden, wenn eine Kollegin erkrankt.
Der Einsatz von Leiharbeitern ist Schauers Worten zufolge fast zur Normalität geworden. Corona habe das Ganze beschleunigt, damals sei wegen der Belastung „ein ganzer Schwung“ von Pflegekräften aus dem Beruf ausgestiegen.
„Verrückte Verhältnisse“ findet Robert Hinke, Fachbereichsleiter Gesundheit bei der Gewerkschaft ver.di. Wer für eine Leiharbeitsfirma tätig sei, könne sich Schichtzeiten und Pflegebetrieb aussuchen. Eine Zeitarbeiterin könne sich dem „sozialen Gruppendruck“ auf der Station entziehen, wenn es Engpässe gebe. Das sorge aber auch für „böses Blut“. Der Gewerkschafter sieht ebenfalls in Corona eine Wendemarke: Vor der Krise habe es drei Prozent an Leiharbeitskräften in der Pflege gegeben, inzwischen seien es deutlich mehr.
Um dem Pflegenotstand entgegenzuwirken, nimmt das bayerische Gesundheitsministerium nun 7,5 Millionen Euro in die Hand, um damit sogenannte Springer-Konzepte in einer Erprobungsphase zu finanzieren. Die Devise heißt dabei „Einspringen statt Abspringen“. Überlastung und Burn-out seien die Hauptgründe, warum Pflegerinnen und Pfleger ihren Beruf aufgeben. Das soll durch Springerpools verhindert werden, in denen zum Beispiel Pflegekräfte arbeiten, die nur begrenzt Zeit haben - Alleinerziehende oder Beschäftigte in Elternzeit. Sie können ihre möglichen Dienstzeiten angeben und springen dann in Notfällen ein.
Berlin (epd). Stephan Keßler sieht im Asylbewerberleistungsgesetz den „Ausdruck einer Politik der gezielten Schäbigkeit gegenüber besonders wehrlosen Menschen“. Die Zeit sei reif, die ausgrenzenden Regelungen zu kippen, sagt der Vize-Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Die Behandlung der ukrainischen Flüchtlinge zeige, dass ein anderer Weg möglich sei. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Europa schottet seine Grenzen ab, Deutschland will künftig gezielt mehr Menschen abschieben. Fällt die Forderung des Bündnisses zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetz nicht völlig aus der Zeit?
Stephan Keßler: Nein, denn das Asylbewerberleistungsgesetz ist Teil und Ausdruck einer Politik der gezielten Schäbigkeit gegenüber besonders wehrlosen Menschen. Es grenzt diese Menschen aus. Damit fügt es dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland schweren Schaden zu. Die Abschaffung des Gesetzes ist daher mehr als überfällig.
epd: Die Forderung ist nicht neu, Kirchen und Flüchtlingsorganisationen sind seit jeher gegen das Sondergesetz. Warum kommt die Forderung, es außer Kraft zu setzen, gerade jetzt? Spielt der 30. Jahrestag eine Rolle, der sich medial gut nutzen lässt?
Keßler: Natürlich spielt auch der Jahrestag eine Rolle. Ebenso wichtig ist jedoch die positive Erfahrung aus jüngerer Zeit im Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine. Sie sind ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes herausgenommen worden und erhalten „normale“ Sozialleistungen, ohne dass die Welt dadurch zusammengebrochen wäre. Das zeigt: Es geht auch anders.
epd: Ist es nicht doch möglich, dass die Regierung, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, das Gesetz entsprechend der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Oktober vergangenen Jahres so anpasst, dass humanere Regeln entstehen?
Keßler: Das ist für uns schwer vorstellbar. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausdrücklich betont, dass sich Hilfeleistungen an den tatsächlichen Bedarfen der Menschen orientieren müsen, nicht an ihrem ausländerrechtlichen Status. Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt genau das Gegenteil. Einer Bevölkerungsgruppe wird eine geringere Hilfsbedürftigkeit zugeschrieben, die aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun. hat. Das Asylbewerberleistungsgesetz steht somit in krassem Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
epd: Bürgergeld für alle Asylbewerber, bessere medizinische Versorgung, Integrationsleistungen, eigene Wohnungen statt Großunterkünfte - all das dürfte deutlich mehr Geld kosten als die heutige Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Scheitert eine Umstellung nicht allein schon an den Finanzen?
Kessler: Nein. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz verursacht höhere Kosten als die Umstellung auf das Bürgergeld. Mit dessen Abschaffung würde der Verwaltungsaufwand wesentlich geringer. Es wäre einfacher, die Menschen in Lohn und Brot zu bringen, weil die Hilfsmittel der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stünden. Eine vernünftige medizinische Versorgung würde außerdem verhindern, dass Krankheiten verschleppt werden und am Ende enorme Behandlungskosten verursachen. Also: Die Kosten würden sinken.
Wichtiger ist uns aber, dass sich die Sozialpolitik an den realen Bedürfnissen der Menschen orientieren würde. Die Ausgrenzung von bestimmten Gruppen würde beendet und damit der solidarische Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefördert. Nicht zuletzt würde Politik wieder einem Grundprinzip unserer Rechtsordnung gerecht, nämlich dem Gleichheitsgrundsatz. Das entspräche auch dem christlichen Menschenbild.
epd: Die Asylbewerberzahlen gehen trotz des Gesetzes mit seinem abschreckenden Charakter nicht zurück. Deshalb müsste das Urteil lauten, dass sich das umstrittene Gesetz nicht bewährt hat. Aber es bleibt wohl weitgehend in Kraft. Können Sie das erklären?
Keßler: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist Ausdruck von Symbolpolitik. Manche Personen in Bundesregierung und Parlament wollen von dieser Symbolpolitik nicht lassen, obwohl sie damit in der Realität mehr Probleme schaffen als lösen.
epd: Blickt man auf die erstarkenden rechtspopulistischen Kräfte im Land, vor allem im Osten, dann wäre das Aus des AsylbLG vermutlich Wasser auf deren Mühlen. Treibt Sie nicht die Sorge um, hier mit Gutem Böses auszulösen?
Keßler: Nein, denn die Gründe dafür, warum Leute den Rechtspopulisten nachlaufen, liegen woanders. Ich nenne zum Beispiel die Inflation und die Unsicherheit über die eigene Stellung in der Gesellschaft. Mit den Hilfeleistungen an schutzbedürftige Menschen hat das nichts zu tun.
epd: Dennoch dürften viele Bürgerinnen und Bürger nicht unzufrieden über die Asylgesetze sein. Würde eine radikale Umkehr, wie das Bündnis sie fordert, überhaupt verstanden werden?
Keßler: Viele Bürgerinnen und Bürger fordern genau eine solche Umkehr. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich wieder gezeigt, dass in Deutschland Tausende von Menschen bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen. Das ist toll und ermutigend. Diese Ermutigung muss man in Politik und Verwaltung aufnehmen. Man muss die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer aktiv unterstützen und darf sie nicht durch die Mühlen der Bürokratie treiben. Damit schaffen wir auch ein politisches Klima, in dem die Wertschätzung gegenüber Flüchtlingen die Regel ist.
Neuendettelsau (epd). Der Vorstand des evangelischen Sozialunternehmens Diakoneo will in nächster Zeit entscheiden, ob die Klinik von Diakoneo in Neuendettelsau zum Jahresende die stationäre Versorgung aufgeben muss. Im epd-Interview erläutern der Vorstandsvorsitzende Mathias Hartmann und der Vorstand Gesundheit, Michael Kilb, wie brisant die Lage für das Haus mit 150 Betten und rund 350 Beschäftigten ist. Mit ihnen sprach Jutta Olschewski.
epd sozial: Anfang des Jahres haben Sie darauf hingewiesen, dass das Defizit der Klinik in Neuendettelsau auf Dauer nicht tragbar ist. Was ist seither geschehen?
Mathias Hartmann: Wir machen seit Monaten die Politik und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass die stationäre Versorgung der Klinik Neuendettelsau in Gefahr ist. Aber wir bekommen aus der Politik nur ein Achselzucken. Wir sind mit den Gesprächen noch nicht ganz am Ende. Aber wenn keine weitere Refinanzierung mehr für die Klinik kommt, müssen wir Ende des Jahres die stationäre Versorgung schließen. Diese Entscheidung müsste Mitte dieses Jahres fallen. Das ist nicht die Lösung, die wir wollen, denn es schmerzt mich, wenn wir gezwungen sind, uns auf ein Medizinisches Versorgungszentrum zu konzentrieren.
epd: Wie viel Geld fehlt genau?
Hartmann: In den vergangenen zehn Jahren ist ein Defizit von rund 20 Millionen Euro aufgelaufen. Wir brauchen jetzt für den Weiterbetrieb für die nächsten drei Jahre 12 Millionen Euro. Das Problem kennt man ja von vielen kleinen Krankenhäusern, die für die Gesundheitsversorgung auf dem Land wichtig sind, die ihren Erhalt aber von ihrer Größe her nicht selbst erwirtschaften können. 12 Millionen in drei Jahren sind im Vergleich zu anderen Kliniken ein geringer Betrag, aber andere Häuser sind kommunal getragen und die Verantwortlichen können einfach in den Steuersäckel greifen, weil die Versorgung ihre kommunale Aufgabe ist. Diese Möglichkeit haben wir als freier gemeinnütziger und konfessioneller Träger nicht.
epd: Wenn Sie sagen, Sie brauchen die Millionen für die kommenden drei Jahre, hoffen Sie, dass bis dahin die geplante Krankenhausreform des Bundes greift. Allerdings hat der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) gerade in einem Interview gesagt, 'entscheidend ist nicht das Tempo bei der Reform, sondern ihr Erfolg'. Spricht er da in Ihrem Sinne oder fällt er Ihnen in den Rücken, weil Ihnen die Zeit und die Kosten weglaufen?
Hartmann: Natürlich es es wichtig, dass die Reform gründlich gemacht wird, aber ganz viele Träger haben nicht mehr die Zeit zu warten, bis die Politik sich bewegt. Seit Monaten wird überlegt, und im Moment erleben wir ein Fingerhakeln zwischen dem Bund und den Ländern, das es wieder verzögert. Dabei sind die Träger von Kliniken, die ein Defizit haben die Leidtragenden - und da rede ich von 90 Prozent aller Kliniken in Bayern.
Michael Kilb: Der Faktor Geschwindigkeit belastet die freien gemeinnützigen Träger signifikant mehr als die in kommunaler Trägerschaft. Für sie gibt es keinen Topf, aus dem die Defizite ausgeglichen werden können. Daher halte ich das für eine Nichtgleichbehandlung der Träger. Sie könnten verstärkt vom Markt verdrängt werden.
epd: Was würde der Bevölkerung mit dem Wegfall der Neuendettelsauer Klinik fehlen?
Hartmann: Wir haben eine wirklich hervorragende medizinische Ausstattung speziell in der Kardiologie und viel, das wir im größten Flächenlandkreis Bayerns zur Gesundheitsversorgung in die Waagschale werfen können. Nur das Gesundheitssystem ist leider so gestrickt, dass es hochspezialisierte Gesundheitsversorgung auf dem Land nicht refinanziert. Wir können nicht warten, bis die Politik dieses Finanzierungssystem reformiert, sondern brauchen eine Überbrückung, bis das System greift.
Kilb: Wir führen jedenfalls die Kardiologie, egal was uns von der Politik signalisiert wird, bis Ende dieses Jahres fort. Wir haben unsere Brust-Schmerz-Einheit (Chest Pain Unit) auch noch zertifizieren lassen, so dass da die Rahmenbedingungen für eine exzellente Versorgung von kardiologischen Patienten gewährleistet wären. Und wir haben eine kardiologische Notfallversorgung sichergestellt.
epd: Was werden Sie in den nächsten Wochen tun, um die Schließung doch noch abzuwenden?
Hartmann: Wir werden weiter Gespräche führen und auch das Gespräch mit dem Gesundheitsminister noch einmal suchen. Wir haben in diesem Jahr Landtagswahl und da hätte ich schon gerne eine Antwort auf die Frage, wie die Regierung mit der Klinik Neuendettelsau umgeht und mit der Gesundheitsversorgung im Landkreis Ansbach. Auch mit dem Landkreis wollen wir sprechen und dabei hoffentlich erfahren, was dem Landkreis diese Gesundheitsversorgung wert ist. Wir hoffen, dass da Signale kommen, eventuell schließen sich Landkreis und Freistaat ja zusammen, um uns zu helfen.
Erfurt (epd). Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer dürfen in den ersten neun Monaten ihres Einsatzes nach einem geringeren Tariflohn bezahlt werden als die Stammbelegschaft des Entleihbetriebs. Das ist zulässig, wenn sie im Gegenzug Ausgleichsvorteile wie Lohnfortzahlung in einsatzfreien Zeiten erhalten, urteilte am 31. Mai das Bundesarbeitsgericht (BAG). Die EU-Leiharbeitsrichtlinie lasse eine tarifliche Schlechterstellung bei der Entlohnung von Leiharbeitnehmern ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolgt, betonten die Erfurter Richter.
Das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) und die EU-Leiharbeitsrichtlinie sehen Leiharbeitnehmer als besonders schutzwürdig an und wollen daher insgesamt eine Gleichstellung mit der Stammbelegschaft im eingesetzten Betrieb sicherstellen. Ein solcher gesetzlicher Gleichstellungsschutz besteht dagegen für benachteiligtes Stammpersonal bislang nicht. So können sich etwa in der Pflegebranche Leiharbeitskräfte die Dienste im eingesetzten Krankenhaus oder Pflegeheim meist aussuchen, während fest angestellte Pflegekräfte dann häufiger die Arbeit an Wochenenden, Feiertagen übernehmen müssen. Ein Anspruch auf „Equal Pay“, also die gleiche Bezahlung, besteht für Stammbeschäftigte nicht.
Im entschiedenen Rechtsstreit ging es jedoch nicht um eine Pflegekraft, sondern um eine befristet beschäftigte Leiharbeitnehmerin. Sie wurde von Januar bis April 2017 als Kommissioniererin in einem bayerischen Einzelhandelsbetrieb eingesetzt. Die Leiharbeitsfirma, die TimePartner Personalmanagement, zahlte ihr einen Stundenlohn von 9,23 Euro brutto. Grundlage für die Entlohnung war der zwischen der Gewerkschaft ver.di und dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen geschlossene Tarifvertrag.
Die Frau verlangte jedoch mehr und berief sich auf den Equal-Pay-Grundsatz. Dieser besagt, dass Leiharbeitnehmer genauso entlohnt werden müssen wie das Stammpersonal im eingesetzten Betrieb. Nach ihren Angaben erhielten die Stammbeschäftigten einen Stundenlohn von 13,64 Euro. Ihr stehe daher ein Lohnnachschlag von insgesamt 1.297 Euro zu.
Der Leiharbeitgeber lehnte die Lohnforderung ab. Nach geltendem Recht könnten die Sozialpartner in Tarifverträgen niedrigere Entgelte vereinbaren. Auch das deutsche AÜG lasse tarifvertragliche Abweichungen vom Equal-Pay-Gebot zumindest für die ersten neun Monate einer Überlassung zu.
Das BAG hatte den Rechtsstreit zunächst dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt und wollte wissen, inwieweit die deutschen Regelungen mit der EU-Leiharbeitsrichtlinie vereinbar sind. Dieser urteilte am 15. Dezember 2022, dass das EU-Recht einen „Gesamtschutz“ für Leiharbeitnehmer vorschreibt. Es gelte der Gleichbehandlungsgrundsatz, so dass Leiharbeitnehmer insgesamt nicht schlechter gestellt werden dürften. Tarifverträge könnten aber durchaus niedrigere Löhne für Leiharbeitnehmer vorsehen. Dafür müssten dann bei den wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ausgleichende Vorteile gewährt werden.
Diese könnten sich etwa auf die Dauer der Arbeitszeit, Pausen, Nachtarbeit, Urlaub oder auch arbeitsfreie Tage beziehen. Andernfalls würde der vorgeschriebene Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer „zwangsläufig geschwächt“.
Für Leiharbeitgeber bedeute dies, dass sie in jedem Einzelfall je nach Einsatzbetrieb mit unterschiedlichen tariflichen Regelungen einen möglichen Ausgleich einer bestehenden Ungleichbehandlung prüfen müssten. Keine Rolle spiele es hierfür, ob der Leiharbeitnehmer befristet oder unbefristet beschäftigt sei. Gebe es Streit um die Frage, ob ein Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer eingehalten wird, müssten die Gerichte darüber entscheiden.
Im konkreten Fall urteilte das BAG nun, dass tarifvertragliche „Ausgleichsvorteile“ und gesetzliche Schutzregelungen gleichermaßen zu berücksichtigen seien. Der von der Klägerin angeführte niedrigere Lohn stelle zwar einen Nachteil dar, sei aber in der Summe gerechtfertigt. Die Klägerin erhalte dafür andere Vorteile, die den angeführten Nachteil wieder ausgleichen.
So sähen sowohl der Tarifvertrag für Leiharbeiter als auch das Gesetz eine Lohnfortzahlung in verleihfreien Zeiten vor. Diese Schutzregelung gelte in Deutschland - anders als in zahlreichen anderen EU-Ländern - auch für befristete Leiharbeitsverträge. Das wirtschaftliche Risiko trage damit der Arbeitgeber.
Zudem dürfe das tarifliche Entgelt der Leiharbeitnehmer nicht schrankenlos abgesenkt werden. So dürfe der gesetzliche Mindestlohn nicht unterschritten werden. Eine tarifliche Abweichung vom Grundsatz der gleichen Bezahlung sei außerdem auf die ersten neun Monate des Leiharbeitsverhältnisses beschränkt.
Az.: 5 AZR 143/19 (BAG)
Az.: C-311/21 (EuGH)
Karlsruhe (epd). Im Rechtsstreit um einen Verstoß gegen das Werbeverbot für Abtreibungen ist die Gießener Ärztin Kristina Hänel mit einer Verfassungsbeschwerde gescheitert. Wie das Bundesverfassungsgericht am 7. Juni in Karlsruhe mitteilte, nahm es die Beschwerde nicht zur Entscheidung an. Hänel hatte sich damit gegen ihre Verurteilung und den Strafrechtsparagrafen 219a gewandt.
Während des laufenden Verfahrens hatte der Bundestag den Paragrafen 219a im Sommer 2022 gestrichen und die hierauf beruhenden strafgerichtlichen Verurteilungen und Geldstrafen rückwirkend aufgehoben. Dadurch Infolgedessen habe sich das Rechtsschutzziel der Beschwerdeführerin erledigt, erklärte das Karlsruher Gericht. Ein trotz Erledigung ausnahmsweise fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis liege nicht vor.
Hänel war Ende 2017 vom Amtsgericht Gießen wegen Verstoßes gegen den Strafrechtsparagrafen 219a zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Anfang 2021 war sie mit ihrer Revision vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main gescheitert. Nach dem OLG-Beschluss nahm sie die Informationen über Schwangerschaftsabbrüche von ihrer Praxis-Internetseite.
Der im vergangenen Jahr abgeschaffte Paragraf 219a hatte die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche aus wirtschaftlichen Interessen und in „grob anstößiger Weise“ verboten. In der Praxis führte er dazu, dass Ärztinnen und Ärzte strafrechtlich verfolgt und verurteilt wurden, weil sie auf ihrer Internetseite Informationen darüber veröffentlicht hatten, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und welche Methoden sie anwenden.
Az.: 2 BvR 390/21
Lüneburg (epd). Ein Kind darf wegen einer erfolgreichen Vaterschaftsanfechtung nicht rückwirkend die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren. Dies gilt auch dann, wenn sowohl die Mutter als auch der eigentliche Vater Ausländer sind, urteilte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Niedersachsen-Bremen am 25. Mai in Lüneburg. Das Kind könne seine ursprünglich erhaltene deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr verlieren, weil es hierfür an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung fehle, entschieden die Richter.
Damit bleibt ein 2019 geborenes Mädchen weiterhin Deutsche. Ihre ausländische Mutter hatte vor der Geburt des Mädchens einen deutschen Mann geheiratet. Das Kind erhielt die deutsche Staatsangehörigkeit.
Die ausländische Ehefrau ließ sich dann jedoch scheiden. Das Familiengericht stellte auf ihren Antrag und auf Antrag des Kindes im Jahr 2020 fest, dass nicht der geschiedene Ehemann, sondern ein Ausländer der Vater ist.
Dies blieb für das Kind nicht ohne Folgen. Die Stadt Lüneburg entschied, dass das Mädchen mit der erfolgten Vaterschaftsanfechtung rückwirkend die deutsche Staatsangehörigkeit verloren habe. Ihr Vater sei Ausländer und nicht Deutscher gewesen. Der rückwirkende Verlust der Staatsangehörigkeit entspreche auch langjähriger Verwaltungspraxis und sei von den Gerichten gebilligt worden.
Doch das gilt nicht mehr, urteilte das OVG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2009 und der geltenden Gesetzeslage reiche eine erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung nicht mehr aus, um die deutsche Staatsangehörigkeit rückwirkend zu verlieren. Vielmehr müsse ein Gesetz dies ausdrücklich vorsehen. Eine solche konkrete Regelung enthalte das Staatsangehörigkeitsgesetz jedoch nicht.
Dieses sieht den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bislang nur in wenigen Fällen vor. So ist der Verlust der Staatsangehörigkeit möglich, wenn das Kind von einem Ausländer angenommen oder wenn eine ausländische Staatsangehörigkeit erworben wird.
Az.: 13 LC 287/22
Weimar (epd). Wohnsitzlosen Menschen steht eine menschenwürdige Unterbringung zu. Die jeweilige Kommune hat aber einen Ermessensspielraum, wie und wo sie einen obdachlosen Menschen unterbringt, entschied das Verwaltungsgericht Weimar in einem kürzlich veröffentlichten Beschluss vom 6. März. Ein Anspruch auf eine vorübergehende Unterbringung in einer Ferienwohnung bestehe nicht.
Der Landkreis Nordhausen muss den wohnsitzlosen Antragsteller daher vorläufig in einer Obdachlosenunterkunft unterbringen. Da der Antragsteller sich in dem Landkreis aufhalte, sei dieser auch für die Unterbringung zuständig.
Wie das Verwaltungsgericht weiter entschied, müssten für eine menschenwürdige Unterbringung Mindestanforderungen erfüllt sein. So müsse die Unterkunft im Winter ausreichend beheizbar sein. Eine Waschgelegenheit und ein WC müssten ebenso vorhanden sein wie eine Kochgelegenheit und eine notdürftige Möblierung wie ein Bett und ein Schrank. Eine elektrische Beleuchtung muss ebenfalls sichergestellt sein.
Wohnsitzlose Menschen sollen so untergebracht werden, „dass sie die Möglichkeit haben, sich in der Unterkunft ganztätig aufzuhalten“, heißt es in dem Gerichtsbeschluss. Ihnen müsse den „ganzen Tag über eine geschützte Sphäre geboten“ werden.
Im vorliegenden Streitfall habe der Landkreis lediglich eine Notschlafstelle zur Verfügung gestellt, die nicht über eine Kochstelle verfüge. Eine solche Unterbringung sei nur für wenige Tage zulässig, entschied das Gericht.
Allerdings sei auch die Ausstattung einer menschenwürdigen Unterkunft Schwankungen unterworfen. So könne ein plötzlich erhöhter Unterbringungsbedarf von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten vorübergehend zu geringeren Anforderungen führen. Der zuständigen Behörden stehe insoweit ein Ermessensspielraum zu. Sie könne dabei entscheiden, wie und wo sie einen Wohnsitzlosen unterbringt.
Az.: 1 E 302/23 We
Frankfurt an der Oder (epd). Gabriele Floßmann (56) wechselt vom Diakoniewerk Westsachsen Stiftung in Zwickau zur Wichern Diakonie in Frankfurt (Oder). Sie übernimmt dort ab 1. August das Amt der Vorstandsvorsitzenden und bildet eine Doppelspitze mit dem kaufmännischen Vorstand Sven-Olaf Krebs.
In ihrer aktuellen Position als Stiftungsvorstand der Diakonie Westsachsen verantwortet Floßmann die theologisch-diakonische Ausrichtung als auch die strategische Weiterentwicklung und fachliche Steuerung eines Mehrspartenwerkes. Seit 2013 ist sie Vorstandsvorsitzende der Stadtmission Zwickau. 2019 wurde sie parallel als Geschäftsführerin für das Diakoniewerk Westsachsen gGmbH bestellt.
Bevor die Diakonin nach Westsachsen kam, leitete sie von 2009 bis 2013 das Diakonische Werk des Kirchenbezirks Baden-Baden und Rastatt. Floßmann ist Mitglied in der Brüder- und Schwesternschaft Johannes Falk Eisenach, studierte Diplom-Sozialarbeiterin und Mediatorin.
Ausgerüstet mit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung in Leitungspositionen sei sie „motiviert und kompetent für die neue Aufgabe in Frankfurt an der Oder“, sagte sie epd sozial. „Ich freue mich auf die neuen Aufgaben und insbesondere auf die Begegnungen mit den Menschen vor Ort.“
Unter dem Dach der Wichern Diakonie, die seit genau 120 Jahren besteht, sind verschiedene gemeinnützige Träger sozialer Arbeit vereint, die Wohn-, Arbeits-, Freizeit-, Pflege- und Beratungsmöglichkeiten anbieten. Tochtergesellschaften sind die Gronenfelder Werkstätten gGmbH, die Wichern Wohnstätten und Soziale Dienste gGmbH sowie die Wichern Pflegedienste gGmbH. Der Verein und seine Gesellschaften sind Mitglied im Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die Wichern Diakonie gehört mit mehr als 600 Mitarbeitenden und fast 500 Beschäftigten in den Werkstätten zu den größten Arbeitgebern der Stadt Frankfurt (Oder).
Joachim Graf-Osterberg und Malte Wiegand bilden seit 1. Juni bei der Evangelischen Stiftung Hephata in Mönchengladbach die „Geschäftsleitung Jugendhilfe und Wohnen für Erwachsene“. Nach dem Ausscheiden von Sabine Hirte aus der Geschäftsleitung der Hephata Wohnen gGmbH hat der Vorstand die Hephata Wohnen und die Hephata Jugendhilfe unter eine gemeinsame Leitung gestellt. Graf-Osterberg leitet seit 2021 die Hephata Jugendhilfe und verfügt außerdem über mehrjährige Erfahrung in den Bereichen Eingliederungshilfe für Erwachsene und Psychiatrienachsorge. Der neue Co-Geschäftsführer Wiegand war zuletzt als Leiter Finanzen, Personal & IT im NRW-Landesverband der Johanniter tätig.
Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, hat eine Stunde am „Silbertelefon“ gesessen und hat einsamen älteren Menschen ein offenes Ohr geboten. Menschen ab 60 Jahren konnten wie jeden Tag zum „einfach mal Reden“ anrufen. Anonym, vertraulich und kostenfrei. Das zentrum plus der AWO in Düsseldorf-Unterbilk stellte für die Telefon-Aktion ihre Räume zur Verfügung. Wüst sagte, die Gründe für Einsamkeit seien vielfältig und könnten jeden treffen. Das Silbertelefon sei ein einzigartiges Brückenangebot, um ältere Menschen aus der Einsamkeit zu holen und ihnen ein offenes Ohr zu bieten. Laut Silbernetz-Initiatorin Elke Schilling kamen bei der Hotline im vergangenen Jahr 38.000 Anrufe aus Nordrhein-Westfalen. an.
Karl-Josef Laumann (CDU), Sozialminister von Nordrhein-Westfalen, ist in Düsseldorf für sein Engagement für eine gerechte Gesellschaft mit dem Ordo-Socialis-Preis ausgezeichnet worden. Der Preisträger sehe sich in seiner Arbeit als Minister als „Schutzmacht der kleinen Leute“, sagte der katholische Essener Bischof Franz-Josef Overbeck in seiner Laudatio. Laumann stehe „fest auf dem Boden der christlichen Soziallehre“. Der Ruhrbischof verwies darauf, dass für den Preisträger der christliche Glaube Auswirkungen im Alltag wie auch in der Politik habe. Ordo Socialis ist ein Verein, der sich die weltweite Förderung der christlichen Soziallehre und der wissenschaftlichen Sozialethik zur Aufgabe gemacht. Alle zwei Jahre ehrt der Verein Persönlichkeiten, die sich für die katholische Soziallehre und für eine gerechte Welt einsetzen, mit dem Ordo-Socialis-Preis.
Hans-Christoph Keller verantwortet seit 1. Juni die interne und externe Kommunikation der Deutschen Rentenversicherung Bund. Keller hat bis Ende April die Pressearbeit der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung in Berlin geleitet. Davor war er viele Jahre in leitender Position an der Humboldt-Universität tätig, wo er die Medien- und Kommunikationsarbeit gesteuert und weiterentwickelt hat. Der bisherige Abteilungsleiter und Pressesprecher Dirk von der Heide verabschiedet sich in Kürze in den Ruhestand.
14.-16.6. Hofgeismar:
Trainingsprogramm „Rückfallprävention bei Suchterkrankung und Substanzmissbrauch“
Tel.: 030/26309-139
15.6. Heidelberg:
Seminar „Arbeitsrecht für Leitungskräfte“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-10
19.-23.6. Freiburg:
Fortbildung „Klar kommunizieren, auch wenn's eng wird“
der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes
Tel.: 0761/200-1700
20.6. Berlin:
Seminar „Chancen- und Risikomanagement in Einrichtungen der Sozialwirtschaft - vom Umgang mit rechtlichen und wirtschaftlichen Risiken“
der BFS Service GmbH
Tel.: 0221/98817-159
21.6. Heidelberg:
Seminar „Compliance - Grundlagen für gGmbHs, Vereine und Stiftungen“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 01577/7692794
22.6. Freiburg:
Seminar „Steuer-Update für Non-Profit-Organisationen“
der Unternehmensberatung Solidaris
Tel.: 0761/79186-39
22.6. Berlin:
Seminar „Ausgliederungen in gGmbHs und alle anderen Strukturänderungen auf ein Blick - Umsetzung rechtssicher gestalten“
der BFS-Service GmbH
Tel.: 0221/98817-159
22.6.:
Online-Kurs „Resilienz - Training für Führungskräfte“
der Paritätischen Akademie Süd
Tel.: 0711/286976-16
28.6. München:
Seminar „ABC des Umsatzsteuer- und Gemeinnützigkeitsrechts“
der Unternehmensberatung Solidaris
Tel.: 0761/79186-39
29.6.:
Online Barcamp „Alles anders? Alles neu? Veränderung gestalten in und mit Kirche, Diakonie und Sozialwirtschaft“
der Bundesakademie für Kirche und Diakonie
Tel.: 030/48837478