Frankfurt a.M. (epd). Im August hätte sie ihren 16. Geburtstag feiern können. 16 Jahre - was für ein aufregendes Alter! Vielleicht hätte sie schon ihren ersten Freund. Oder den ersten Liebeskummer. Doch all das durfte sie nicht erleben. Denn sie wurde tot geboren. „Drei Wochen vor dem Entbindungstermin merkte ich, dass es keine Herzschläge mehr gibt“, sagt Elisabeth Blecks aus dem thüringischen Rudolstadt. Aufgrund eines Gendefekts starb ihr „Sternenkind“ im Mutterleib: „Sie hatte Trisomie 18.“
Elisabeth Blecks teilt ihr Schicksal mit vielen Frauen: Tot- oder Fehlgeburten sind nicht selten. In den vergangenen Jahren stiegen die Zahlen der sogenannten Sternenkinder sogar deutlich an. Laut Statistischem Bundesamt gingen sie zwischen 2007 und 2021 um 24 Prozent in die Höhe. Insgesamt wurden 2021 bundesweit 3.420 Kinder tot geboren. Auf 1.000 lebendgeborene Kinder kommen demnach 4,3 Totgeburten. Dabei gilt als „Totgeburt“, wenn das Kind bei der Entbindung mindestens 500 Gramm wiegt oder die 24. Schwangerschaftswoche erreicht wurde.
Die Zahlen scheinen in allen Bundesländern zu steigen. Der Trend brach auch 2022 nicht ab, zeigen Daten jener Statistischen Landesämter, die bereits Auswertungen für das vergangene Jahr haben. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel wurden 2022 insgesamt 157 Kinder tot geboren. Das waren 4,3 Totgeburten auf 1.000 Lebendgeborene. 2021 lag das Verhältnis sogar bei 4,6 von 1.000. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 kamen lediglich 2,9 Totgeburten auf 1.000 Lebendgeborene.
Seit wenigen Tagen liegen auch die Zahlen für 2022 im Land Bremen vor. Dort wurden im vergangenen Jahr 53 Totgeburten registriert. Das war die höchste Zahl seit 2000. Der Tiefststand wurde 2009 mit 14 Totgeburten erreicht. Höher war die Zahl lediglich in den 1970er Jahren. 1971 wurden 96 Kinder im Land Bremen tot geboren. 8.501 Kinder kamen in jenem Jahr lebend zur Welt - viel mehr als 2022, wo nur 6.720 Kinder im Land Bremen lebend geboren wurden.
Frauen, die ein Kind tot zur Welt bringen, sind meist sehr verzweifelt. So war es auch bei Elisabeth Blecks. „Ich hatte zu jener Zeit manchmal sogar Selbstmordgedanken“, sagt die Hebamme aus Thüringen. Mütter mit demselben Schicksal, die sie in einer Selbsthilfegruppe traf, ließen sie wieder neue Hoffnung schöpfen. Seit der Tragödie vor 15 Jahren brachte Elisabeth Blecks denn auch drei gesunde Kinder zur Welt.
Zum Glück, sagt sie, gibt es ausreichend psychosoziale Unterstützung für Frauen, die eine Fehl- oder Totgeburt haben oder die ihr Kind abtreiben, etwa wenn es mit großer Wahrscheinlichkeit schwerstbehindert zur Welt käme. Selbst in kleineren Städten existieren heute Selbsthilfegruppen. „Außerdem können sich betroffene Frauen überall an eine Schwangerenberatungsstelle wenden“, sagt Birgit Wysocki vom Evangelischen Beratungszentrum Würzburg.
Nun ist es nicht so, dass jede Frau, die ihr Kind tot zur Welt bringt, in eine schwere psychische Krise gestürzt würde, erklärt Wysocki. Allerdings ist der Sozialpädagogin das, was Elisabeth Blecks schildert, bekannt. Quälend sei für viele Frauen vor allem die Frage, ob sie in der Schwangerschaft irgendetwas falsch gemacht hätten. Nicht selten komme es auch zu Konflikten in der Partnerschaft. Männer trauern anders, oft weniger „wortreich“ als Frauen. Frauen litten darunter, wenn ihr Partner nicht reden wolle: „Sie fühlen sich alleingelassen“, sagt die Würzburger Schwangerenberaterin Heike Link.
Im Vergleich zur regulären Schwangerschaftsberatung fällt die Unterstützung von Frauen mit Tot- oder Fehlgeburten quantitativ kaum ins Gewicht. Allerdings bemerken auch die Mitarbeiterinnen der Würzburger evangelischen Beratungsstelle, dass die Zahlen steigen. 2019 ließen sich sechs, im Jahr 2020 ließen sich fünf betroffene Frauen erstmals beraten. 2021 sowie 2022 hingegen kamen jeweils 17 „Sternenkinder-Mamas“ zur Erstberatung.
Warum die Zahlen steigen, dafür gibt es noch keine Erklärung. Auch Elisabeth Blecks, die als Hebamme im Frühjahr 2022 mit deutlich mehr Tot- und Fehlgeburten zu tun hatte als sonst, kennt nur Spekulationen: „Sowohl Corona als auch die Corona-Impfung stehen im Verdacht.“ Sie selbst denkt, dass die massiven psychischen Belastungen von Frauen in den aktuellen Krisenzeiten für den Anstieg an Tot- und Fehlgeburten mitverantwortlich sind.
Immerhin gibt es bundesweit inzwischen genug Anlaufstellen für „Sternenkindereltern“. Allerdings existieren noch nicht überall Gräberfelder für Sternenkinder auf Friedhöfen. Solche Gräberfelder werden von den Eltern als trostreich und stabilisierend erlebt.
Juliane Frey setzt sich im hessischen Niederdorfelden als Kommunalpolitikerin dafür ein, dass auf dem örtlichen Friedhof eine Grab- und Gedenkstätte für Sternenkinder eingerichtet wird. „In meinem persönlichen und familiären Umfeld gibt es etliche Familien, die Sternenkinder bekommen haben“, begründet die Sozialdemokratin ihr Engagement. Warum dies so ist, darauf weiß auch sie keine Antwort. „Es mag mit daran liegen, dass heutzutage eher über solche Erfahrungen gesprochen wird als früher“, meint sie. Sternenkinder hätten inzwischen einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft.
Dies bestätigt auch Elisabeth Blecks. Wie früher mit Frauen nach einer Totgeburt umgegangen wurde, empfindet sie als höchst brutal. Durch ihr Engagement in der Selbsthilfe weiß sie von Seniorinnen, die das, was ihnen vor 60 Jahren widerfahren ist, bis heute seelisch nicht verarbeitet haben. „Damals war es zum Beispiel üblich, dass die Mütter nicht einmal das Geschlecht ihres Sternenkindes erfahren durften“, sagt die Hebamme.
Auch wenn sich inzwischen viel verbessert hat, müsste nach Ansicht der Thüringerin noch mehr geschehen, um Eltern von Sternenkindern gerecht zu werden. Betroffene bräuchten sehr viel mehr Zeit, um mit ihrem Schicksal fertig zu werden: „Vor allem Väter gehen unter, sie müssen sofort wieder funktionieren.“ Erst vor kurzem hatte sie mit einem betroffenen „Sternenkind“-Paar zu tun: „Der Mann hat sich gerade mal eine Woche Urlaub nehmen können, um für seine Frau da zu sein.“