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Flüchtlinge

Interview

Jesuiten: Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes überfällig




Stephan Keßler
epd-bild/JRS
Ein Bündnis von 200 Organisationen fordert die Abschaffung des seit 30 Jahren geltenden Asylbewerberleistungsgesetzes. Auch der Jesuiten-Flüchtlingsdienst hat den Appell unterzeichnet. Der stellvertretende Direktor Stephan Keßler dazu im Interview.

Berlin (epd). Stephan Keßler sieht im Asylbewerberleistungsgesetz den „Ausdruck einer Politik der gezielten Schäbigkeit gegenüber besonders wehrlosen Menschen“. Die Zeit sei reif, die ausgrenzenden Regelungen zu kippen, sagt der Vize-Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes. Die Behandlung der ukrainischen Flüchtlinge zeige, dass ein anderer Weg möglich sei. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Europa schottet seine Grenzen ab, Deutschland will künftig gezielt mehr Menschen abschieben. Fällt die Forderung des Bündnisses zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetz nicht völlig aus der Zeit?

Stephan Keßler: Nein, denn das Asylbewerberleistungsgesetz ist Teil und Ausdruck einer Politik der gezielten Schäbigkeit gegenüber besonders wehrlosen Menschen. Es grenzt diese Menschen aus. Damit fügt es dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland schweren Schaden zu. Die Abschaffung des Gesetzes ist daher mehr als überfällig.

epd: Die Forderung ist nicht neu, Kirchen und Flüchtlingsorganisationen sind seit jeher gegen das Sondergesetz. Warum kommt die Forderung, es außer Kraft zu setzen, gerade jetzt? Spielt der 30. Jahrestag eine Rolle, der sich medial gut nutzen lässt?

Keßler: Natürlich spielt auch der Jahrestag eine Rolle. Ebenso wichtig ist jedoch die positive Erfahrung aus jüngerer Zeit im Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine. Sie sind ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes herausgenommen worden und erhalten „normale“ Sozialleistungen, ohne dass die Welt dadurch zusammengebrochen wäre. Das zeigt: Es geht auch anders.

epd: Ist es nicht doch möglich, dass die Regierung, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, das Gesetz entsprechend der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Oktober vergangenen Jahres so anpasst, dass humanere Regeln entstehen?

Keßler: Das ist für uns schwer vorstellbar. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausdrücklich betont, dass sich Hilfeleistungen an den tatsächlichen Bedarfen der Menschen orientieren müsen, nicht an ihrem ausländerrechtlichen Status. Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt genau das Gegenteil. Einer Bevölkerungsgruppe wird eine geringere Hilfsbedürftigkeit zugeschrieben, die aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun. hat. Das Asylbewerberleistungsgesetz steht somit in krassem Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

epd: Bürgergeld für alle Asylbewerber, bessere medizinische Versorgung, Integrationsleistungen, eigene Wohnungen statt Großunterkünfte - all das dürfte deutlich mehr Geld kosten als die heutige Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Scheitert eine Umstellung nicht allein schon an den Finanzen?

Kessler: Nein. Denn das Asylbewerberleistungsgesetz verursacht höhere Kosten als die Umstellung auf das Bürgergeld. Mit dessen Abschaffung würde der Verwaltungsaufwand wesentlich geringer. Es wäre einfacher, die Menschen in Lohn und Brot zu bringen, weil die Hilfsmittel der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stünden. Eine vernünftige medizinische Versorgung würde außerdem verhindern, dass Krankheiten verschleppt werden und am Ende enorme Behandlungskosten verursachen. Also: Die Kosten würden sinken.

Wichtiger ist uns aber, dass sich die Sozialpolitik an den realen Bedürfnissen der Menschen orientieren würde. Die Ausgrenzung von bestimmten Gruppen würde beendet und damit der solidarische Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gefördert. Nicht zuletzt würde Politik wieder einem Grundprinzip unserer Rechtsordnung gerecht, nämlich dem Gleichheitsgrundsatz. Das entspräche auch dem christlichen Menschenbild.

epd: Die Asylbewerberzahlen gehen trotz des Gesetzes mit seinem abschreckenden Charakter nicht zurück. Deshalb müsste das Urteil lauten, dass sich das umstrittene Gesetz nicht bewährt hat. Aber es bleibt wohl weitgehend in Kraft. Können Sie das erklären?

Keßler: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist Ausdruck von Symbolpolitik. Manche Personen in Bundesregierung und Parlament wollen von dieser Symbolpolitik nicht lassen, obwohl sie damit in der Realität mehr Probleme schaffen als lösen.

epd: Blickt man auf die erstarkenden rechtspopulistischen Kräfte im Land, vor allem im Osten, dann wäre das Aus des AsylbLG vermutlich Wasser auf deren Mühlen. Treibt Sie nicht die Sorge um, hier mit Gutem Böses auszulösen?

Keßler: Nein, denn die Gründe dafür, warum Leute den Rechtspopulisten nachlaufen, liegen woanders. Ich nenne zum Beispiel die Inflation und die Unsicherheit über die eigene Stellung in der Gesellschaft. Mit den Hilfeleistungen an schutzbedürftige Menschen hat das nichts zu tun.

epd: Dennoch dürften viele Bürgerinnen und Bürger nicht unzufrieden über die Asylgesetze sein. Würde eine radikale Umkehr, wie das Bündnis sie fordert, überhaupt verstanden werden?

Keßler: Viele Bürgerinnen und Bürger fordern genau eine solche Umkehr. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich wieder gezeigt, dass in Deutschland Tausende von Menschen bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen. Das ist toll und ermutigend. Diese Ermutigung muss man in Politik und Verwaltung aufnehmen. Man muss die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer aktiv unterstützen und darf sie nicht durch die Mühlen der Bürokratie treiben. Damit schaffen wir auch ein politisches Klima, in dem die Wertschätzung gegenüber Flüchtlingen die Regel ist.