Kirchen

Die Flüchtlingsbürgin


Die evangelische Pastorin Uta Heine
epd-bild/Darius Simka/regios24
Im Jahr 2014 bürgt die evangelische Pastorin Uta Heine dafür, eine syrische Familie nach Deutschland zu holen. Jahre später erhält sie Post vom Jobcenter. Die Wolfsburgerin soll mehr als 38.500 Euro zahlen. Eine Zeit der Ungewissheit beginnt.

Als Tausende Menschen im Jahr 2014 vor der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak fliehen, verfolgt die evangelische Pastorin Uta Heine im mehr als 4.000 Kilometer entfernten Wolfsburg die Bilder betroffen am Fernseher. "Ich war fix und fertig", erinnert sich die 57-Jährige. Angesichts des Flüchtlingsdramas wird ihr klar, dass sie etwas tun möchte.

Heine übernimmt, wie viele Menschen bundesweit, eine sogenannte Verpflichtungsgeberschaft. Sie bürgt dafür, dass eine siebenköpfige syrische Familie auf legalem Weg nach Deutschland reisen kann. Damals ahnt die alleinerziehende Mutter noch nicht, was ihr bevorsteht.

Etwa drei Jahre später flattern der Pastorin Briefe vom Jobcenter ins Haus. Sie soll rund 38.500 Euro an Sozialleistungen zurückzahlen. "Ich war fassungslos", sagt Heine. Die syrische Familie hatte nur wenige Monate nach ihrer Ankunft den Flüchtlingsstatus erhalten. Wie vielen anderen war auch Heine gesagt worden, dass ihre finanzielle Verantwortung damit erlischt. Doch der Bund legte rückwirkend längere Fristen fest.

Politische Lösung gesucht

Für Heine beginnt eine anstrengende Zeit der Ungewissheit. Unklar bleibt, für wie viele Jahre sie für die Familie bürgen wird. "Mein Verhältnis zu diesem Land, zur Politik und zur Rechtsprechung hat sich in den vergangenen zwei Jahren deutlich verändert", sagt die Pastorin, während sie von ihrem Amtszimmer auf den Wolfsburger Schlosspark blickt. In einer Ecke des Raums erinnert noch ein Samowar an die Zeiten, als die Gemeinde zu Zeiten der Flüchtlingswelle regelmäßig Menschen zum Tee und zur Begegnung einlud.

Bundesweit verschickten die Jobcenter Forderungen von insgesamt 21 Millionen Euro. In Niedersachsen stehen Rückzahlungen von 7,2 Millionen Euro im Raum. "Ein gewisses Risiko war mir bewusst, aber mit Bescheiden in dieser Höhe habe ich nicht gerechnet", sagt Heine schließlich mit fester Stimme. "Wenn Juristen Entscheidungen überdenken oder nach einiger Zeit zu anderen Urteilen kommen, kann dies nicht zulasten der Bürger fallen, die man vorher anders informiert hat."

Heine sucht gemeinsam mit einer Kirchengemeinde, die ebenfalls eine Bürgschaft übernommen hat, zunächst nach einer politischen Lösung. Die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen setzt sich an verschiedenen Stellen dafür ein. Gespräche der Innenminister mit dem Bund bringen vorerst keine Ergebnisse. Schließlich sucht Heine sich einen Anwalt. Die E-Mails und Briefe, die sie ihm übergibt, füllen mehrere Ordner. Allein in Niedersachsen haben mehr als 480 Bürgen gegen die Kostenbescheide geklagt.

Ende Januar scheinen Bund und Länder schließlich einen erlösenden Kompromiss gefunden zu haben. Die Bürgen müssten keine Rückzahlungen befürchten, heißt es aus Berlin. Heine will sich nicht zu früh freuen. "So richtig erleichtert bin ich erst dann, wenn ich es schwarz auf weiß habe", sagt sie mit einem leichten Lächeln. Auch der niedersächsische Flüchtlingsrat sieht bei der Einigung noch viele Detailfragen offen.

Gericht entscheidet über Anwaltskosten

Vom niedersächsischen Innenministerium in Hannover heißt es derzeit, dass es "nur noch in wenigen Fällen" zu einer Erstattungspflicht kommen kann. Ob die Bürgen auch für die Anwalts- und Gerichtskosten aufkommen müssen, entschieden die Verwaltungsgerichte. Die Wolfsburger Pastorin hätte gerne auch dieses Geld lieber ihrer syrischen Familie gespendet. Während sich die fünf Kinder in Kindergarten und Schule gut integrieren, fällt es den Eltern noch schwer, in Deutschland Fuß zu fassen.

Dass nun manche kritisieren, dass der Steuerzahler für die Naivität der Flüchtlingsbürgen aufkommen muss, findet Heine kurzsichtig. Manche Probleme habe man damals noch nicht absehen können. Nach vier Jahren in der Flüchtlingshilfe sehe auch sie vieles differenzierter, denn nicht alle könnten sich gleichermaßen leicht integrieren. "Mir war wichtig, in aktueller Not zumindest für einige Hilfe zu ermöglichen." Dazu stehe sie auch heute noch. "Wir können nicht einfach so tun, als würde unsere Verantwortung an der Haustür aufhören."

Von Charlotte Morgenthal (epd)


Wolfgang Huber würdigt Bonhoeffer

Dietrich Bonhoeffers Lebenswerk sei zu einem der stärksten theologischen Impulse geworden, die aus dem vergangenen Jahrhundert in unsere Gegenwart hinüberwirken, schreibt der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Huber in seinem neuem Buch.

Der Theologe und Sozialethiker Wolfgang Huber (76) hat Dietrich Bonhoeffer als einen der wichtigsten deutschen Theologen des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Bonhoeffers Lebenswerk sei zu einem der stärksten theologischen Impulse geworden, die aus dem vergangenen Jahrhundert in unsere Gegenwart hinüberwirken, schreibt Huber in seinem neuen Buch "Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit", das am 14. Februar im Münchner Verlag C.H. Beck erschienen ist. Bonhoeffers Einsatz im Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur habe viele Menschen weltweit zu Widerständigkeit und politischem Engagement ermutigt.

Einheit von Lebensgeschichte und Denkweg

Huber beschreibt in seinem Buch die Wechselwirkungen zwischen Leben und Denken Bonhoeffers. "In der Beschäftigung mit dem Denken Bonhoeffers habe ich die Erfahrung gemacht, dass seine großen Themen gerade dann zu leuchten beginnen, wenn sie in seiner Lebensgeschichte verortet werden", schreibt der Berliner Altbischof und ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Frage des politischen Widerstands, die Verantwortung für den Frieden und die öffentliche Rolle der Kirche - dies sind nach Hubers Auffassung Bonhoeffers wichtigste Themen. Und so arbeitet er in seinem Buch dessen Wirken nicht chronologisch auf, sondern widmet sich in thematischen Einheiten Bonhoeffers Leben und Werk. Die Einheit von Lebensgeschichte und Denkweg, von Theologie und Biografie fasziniere bis heute, schreibt Huber.

Huber zeichnet Bonhoeffer als wegweisenden theologischen Denker, dessen Werk zu Lebzeiten unvollendet blieb und erst posthum Bekanntheit erlangte. Der Altbischof war mitverantwortlich für die Herausgabe der Neuauflage von Bonhoeffers gesammelten Schriften. Huber ist nicht nur ein Kenner, sondern zugleich auch ein Verehrer Bonhoeffers.

Es ist Bonhoeffers Schicksal und sein berühmtestes Gedicht "Von guten Mächten", das ihn über die Sphären der Theologie hinaus bekanntgemacht hat. Und so wird Bonhoeffer von Huber sofort zu Beginn des Buches als "Märtyrer" eingeführt, der für seine Glaubensüberzeugung gestorben ist.

Theologischer Überflieger

1906 in Breslau geboren, entwickelt sich Bonhoeffer mit Anfang 20 als theologischer Überflieger. Er kritisiert das nationalsozialistische Regime von Anfang an für dessen Rassenpolitik, wird Mitglied der Bekennenden Kirche, die sich gegen die Hitler-treuen Deutschen Christen wendet. Dank persönlicher Beziehungen arbeitet Bonhoeffer während des Kriegs bis zu seiner Verhaftung für den militärischen Auslandsgeheimdienst im Oberkommando der Wehrmacht. Das schützt ihn vor dem Militärdienst an der Front.

Durch seine Arbeit kommt er mit dem militärischen Widerstand gegen Hitler in Kontakt und schließt sich dem Widerstand an. 1943 wird er deswegen von der Gestapo verhaftet, am 9. April 1945 wird er schließlich auf Hitlers Befehl im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Das Tragische: 1939 hatte Bonhoeffer sich gegen eine Pfarrstelle in New York und damit gegen die Emigration entschieden.



Irmgard Schwaetzer: Kirche soll jungen Menschen mehr Gehör schenken

Junge Menschen sollten nach Ansicht der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Irmgard Schwaetzer, in den Synoden mehr Gehör erhalten. Viele der jungen Menschen könnten mit den traditionellen kirchlichen Bräuchen nichts anfangen, sagte sie in ihrem Grußwort am 17. Februar beim Festakt zum 150-jährigen Bestehen der Württembergischen Evangelischen Landessynode in Stuttgart.

Deshalb müssten die Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst entscheiden, wie sie ihren Glauben leben: "Ihre Ideen sind wichtig, lassen wir sie machen." Die Kirche werde dadurch mit Sicherheit bereichert.

Zudem beobachtet Schwaetzer, dass viele Kirchenmitglieder sich vor allem projektbezogen einbringen - bei Themen, die sie interessieren. Auch seien Angebote wie Citykirchen, Tourismusseelsorge und andere Formate gefragt, in denen eine "Gemeinde auf Zeit" gelebt werden könne.

Erfreulich sei, dass auch Kasualien stark nachgefragt seien, selbst bei Menschen, die nicht zur Kirche gehörten. Hier stelle sich die Frage, ob man Menschen ohne Mitgliedschaft tatsächlich wegschicken wolle, wenn sie sich eine Taufe oder kirchliche Hochzeit wünschen.

Bis zur vollkommenen Teilhabe von Frauen in der Kirche ist es nach Einschätzung von Schwaetzer noch ein weiter Weg. Vor allem in den mittleren und höheren Leitungsämtern wie den Bischofsämtern gebe es noch zu wenig Frauen, kritisierte sie.

Am 18. Februar 1869 hatte sich die erste Landessynode in Württemberg konstituiert. Die württembergische Landeskirche ist die einzige in Deutschland, die ihre Synodalen nach dem Prinzip der Urwahl wählt.



Predigten am Kirchentagssonntag werben für Gottvertrauen

Evangelische Theologen haben in ihren Predigten am sogenannten Kirchentagssonntag bundesweit für Gottvertrauen in Krisenzeiten geworben. Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, betonte am 17. Februar in der Bielefelder Matthäuskirche, dass sie sich einen Kirchentag wünsche, "auf dem die Menschen erfahren können, dass die Güte Gottes nicht rationiert ist und niemand zu kurz kommt, weil sich andere dazusetzen". In 160 Gottesdiensten bundesweit, davon 118 in der Evangelischen Kirche von Westfalen, stimmten Predigten auf den evangelischen Kirchentag und seine biblische Losung "Was für ein Vertrauen" ein. Der evangelische Kirchentag ist vom 19. bis 23. Juni zu Gast in Dortmund.

Die leitende westfälische Theologin warb für einen Kirchentag, "der auch und gerade da, wo er kritisch ist, nicht nörgelt, nicht besser weiß und nicht den moralischen Zeigefinger erhebt, sondern von der Fülle Gottes herkommt und mit dieser Fülle der Wirklichkeit zuprostet". Kirchentagsbesucher sollten dazu befreit werden, den eigenen Lebensdurst und den Durst der anderen miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, sagte Kurschus.

Leyendecker: Menschen scheinen bereit für "Schwarzbrot"

Kirchentagspräsident Hans Leyendecker sagte in der Dortmunder Reinoldikirche, er habe den Eindruck, die Menschen seien das Glatte leid und bereit für "Schwarzbrot" beziehungsweise für die Herausforderungen des Lebens. Die Kirchentagslosung aus dem 2. Buch Könige verweise auf einen "sperrigen Text" der Bibel. Für ihn mache die Kriegsgeschichte um einen Regenten, dessen Stadt von der Zerstörung eines übermächtigen Heers verschont bleibt, deutlich, dass Gottvertrauen letztlich ein "tiefes Beziehungsgeschehen" zwischen Mensch und Gott sei. Ein Vertrauen, das in ungewissen Zeiten Zuversicht bedeute und nicht lähmende Resignation gewinnen lasse. "Gottvertrauen ist für mich der Puls des christlichen Lebens", sagte der Journalist.

Auch Kirchentagsgeneralsekretärin Julia Helmke unterstrich in der Dortmunder Petrikirche, Gottvertrauen sei für sie die Grammatik des christlichen Lebens. "Mit Vertrauen fängt alles an", sagte die Pfarrerin. Vertrauen sei etwas individuelles und zugleich Grundlage und Kitt einer Gemeinschaft. Der Kirchentag bedeute eine verdichtete und besondere Zeit, in der durch Diskussion und Feiern Vertrauen wachsen könne.

Der theologische Vizepräsident der westfälischen Kirche, Ulf Schlüter, betonte in der evangelischen St. Marienkirche in Dortmund seine Skepsis gegenüber Gottvertrauen in Kriegsgeschichten. Es sei ein Segen, dass die "Gott mit uns"-Zeiten in diesem Land und in dieser Kirche beendet seien, sagte er in seiner Predigt. Dabei verwies Schlüter auf das preußische Militär, das den Spruch einst im Kampf gegen Napoleon als Slogan eingesetzt hatte. Die Kirche habe in ihrer Geschichte "furchtbare Irrwege" beschritten. Es sei ein Segen, dass heute kein deutscher Militärseelsorger mehr auf den Gedanken käme, Krieg als gottgewollt zu glorifizieren. Gott habe keinen Vertrag mit einer Nation, betonte Schlüter. Gott sei kein Siegergott, sondern geleite Menschen durch die Dunkelheit.



Weltgebetstag: Appell für gemeinsames Abendmahl

Der Weltgebetstag am 1. März soll ein Zeichen für ein gemeinsames Abendmahl setzen. "Die Trennung der Konfessionen am Tisch des Herrn ist für die im Weltgebetstag engagierten Frauen ein unerträglicher Zustand, denn sie stellt die Glaubwürdigkeit der christlichen Kirchen und Gemeinschaften infrage", erklärte das deutsche Weltgebetstags-Komitee am 12. Februar in Stein bei Nürnberg.

"Wir rufen auf, mit uns rund um den 1. März 2019 zu beten für das gemeinsame Abendmahl und für eine gerechte Welt, in der alle Menschen mit am Tisch sitzen - unabhängig von ihrer Hautfarbe, Herkunft, Alter, sexueller Orientierung und Religion", erklärte das Komitee.

Größte Basis-Bewegung christlicher Frauen

Der Weltgebetstag gilt als weltweit größte Basis-Bewegung christlicher Frauen. In Deutschland laden dazu elf Mitgliedsorganisationen aus verschiedenen christlichen Konfessionen ein. Der Aktionstag soll Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfessionen in Gebet und Handeln für Frieden, Gerechtigkeit und Frauenrechte verbinden.

Die Gebete, Texte und Lieder stammen in diesem Jahr von Frauen aus Slowenien. "Für Christinnen und Christen überall auf der Welt sind ihre Worte auch die Einladung zur eucharistischen Tisch-Gemeinschaft, die wir immer noch nicht mit allen Konfessionen gemeinsam feiern können", erklärte das Weltgebetstags-Komitee.



US-Baptisten ringen um Konsequenzen aus Missbrauchsfällen

Hunderte Missbrauchsvorwürfe gegen Pastoren und ehrenamtliche Mitarbeiter des Südlichen Baptistenverbandes haben in der größten protestantischen Kirche der USA Forderungen nach Reformen hervorgerufen. Der Informationsdienst "Religion News Service" zitierte den Präsidenten des Baptistenverbandes, J.D. Greear, es sei nun Zeit für "tiefgreifende Veränderungen". Missbrauch sei nicht nur eine Sünde, sondern auch eine Straftat. Greear rief zum Gebet für die 700 Missbrauchsopfer auf und die "vielen anderen Opfer", die noch nicht bekannt seien.

Im Informationsdienst "Baptist Press" forderte der baptistische Berater Dale Johnson am 12. Februar, Kirchen müssten sexuellen Missbrauch künftig grundsätzlich bei der Polizei melden. Der frühere Kirchenpräsident James Merritt erklärt im Kurznachrichtendienst Twitter, noch nie sei die Kirche mit einer größeren Krise konfrontiert worden.

380 Beschuldigte

Die Zeitungen "Houston Chronicle" und "San Antonio Express-News" hatten am Wochenende über zahlreiche Missbrauchsvorwürfe im 15 Millionen Mitglieder zählenden Baptistenverband berichtet. In den vergangenen zwei Jahrzehnten seien 380 Pastoren und Kirchenhelfer glaubhaft beschuldigt worden. Die Zeitungsartikel berichteten über Vorfälle, bei denen Verantwortliche in der Kirche Vorwürfe nicht ernst genommen und Beschuldigte gedeckt hätten.

Der Gründer der Missbrauchs-Hilfsorganisation "Grace", Boz Tchividjian, sagte, Kirchenführer müssten prüfen, ob sie zum Entstehen einer Kultur beigetragen hätten, die Opfer "ignorieren, marginalisieren oder dämonisieren". Im Rundfunksender NPR klagte Tchividjian, Kinder hätten keine Chance, wenn sie jemanden in einer Führungsposition beschuldigen.



Verschollene Fundstücke aus Luthers Grab


Zinkstück (vorne) und Metallspäne (links, in Streichholzschachtel) vom Sarg des Reformators Martin Luther
epd-bild/Steffen Schellhorn
In einer geheimen Aktion wurde Ende des 19. Jahrhunderts das Grab des Reformators Martin Luther geöffnet. Dabei wurden sogar "Beweisstücke" entnommen. Ein verschollen geglaubter Teil der Funde ist nun in Braunschweig wieder aufgetaucht.

Das Grab des Reformators Martin Luther (1483-1526) sollte verschlossen bleiben. Kaiser Wilhelm II. hatte eine Graböffnung ausdrücklich verboten. So beginnt ein "archäologischer Krimi", den der ehrenamtliche Leiter der Goslarschen Marktkirchen-Bibliothek und Theologe Helmut Liersch erforscht hat. Im Jahr 1892 fand dennoch eine heimliche Grabung statt, wie Liersch berichtet. Sogar "Beweisstücke" wurden aus dem Grab des Reformators entnommen. Ein Teil davon galt lange als verschollen und ist nun nach mehr als 100 Jahren in Braunschweig wieder aufgetaucht. Am Mittwoch wurden die Fundstücke an das Lutherhaus in Wittenberg übergeben.

Über Jahrzehnte lagerte eine kleine Schachtel im Pfarrhaus von Ruhestandspastor Martin Quandt. Erst kürzlich habe er herausgefunden, was sich im Nachlass seines Urgroßvaters, damals Superintendent in Wittenberg, befindet, berichtet er: Ein wenige Zentimeter großes Zinkstück, das von der Innenverkleidung des Luther-Sarges stammt und eine mit Rostpartikeln gefüllte Streichholzschachtel mit einer beigelegten Notiz "Aus Luthers Grabe zu Wittenberg". Zudem noch vier Schriftstücke.

Gemeinsam mit Bibliotheksleiter Liersch begab sich Quandt im vergangenen Jahr auf die Spuren der geheimnisvollen Grabung. Ende des 19. Jahrhunderts hätten ein Baumeister und sein Maurerpolier trotz des kaiserlichen Verbots der Versuchung nicht widerstehen können, erzählt Liersch. "Sie wollten nachschauen, ob der Reformator wirklich in der Wittenberger Schlosskirche begraben liegt." Während der Sanierung der Kirche bot sich die Gelegenheit für die geheime Aktion.

"Sensationelle Auskunft"

In Wittenberg habe sonst niemand von der Grabung gewusst. Nur durch Zufall habe der beteiligte Maurerpolier Jahre später einem Touristen in der Kirche erzählt, dass Luther entgegen anderslautender Gerüchte tatsächlich dort begraben sei. "Eine sensationelle Auskunft", betont Liersch. So habe auch Quandts Urgroßvater davon erfahren.

Kurze Zeit später enthüllt ein wissenschaftlicher Bericht, dass sogar "Beweisstücke" aus dem Grab entnommen wurden. Eine weitere Sensation, die aber kaum zur Kenntnis genommen wurde, sagt Liersch. Niemand habe nach den Fundstücken gefragt. Die Pappschachtel wanderte in Quandts Besitz und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Der Maurerpolier übergab im Jahr 1913 schließlich einen Handgriff vom Sarg, ein weiteres Fundstück, an das Wittenberger Lutherhaus.

An diese größte reformationsgeschichtliche Sammlung der Welt hat nun auch Quandt die lange verschollen geglaubten Fundstücke überreicht. Im Privateigentum seien diese nicht gut aufgehoben, betont der Theologe. "Dann geht es eventuell verloren, das will ich auf keinen Fall."

Von Charlotte Morgenthal (epd)


Bibelgesellschaft informiert online über Religionspädagogik

Die Deutsche Bibelgesellschaft hat ihr religionspädagogisches Online-Angebot ausgebaut. Im "Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon im Internet" (WiReLex) seien derzeit 450 Artikel kostenlos zugänglich, teilte die Bibelgesellschaft am 11. Februar in Stuttgart mit. WiReLex ist eingebunden in das Portal www.bibelwissenschaft.de. Das ökumenische Angebot richte sich an alle, die mit religiöser Bildung und Erziehung zu tun haben.

Unterstützt werde das Angebot durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die katholische Deutsche Bischofskonferenz, hieß es weiter. Das Comenius Institut, die evangelische Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft, ist Kooperationspartner. Zum weiteren Angebot im wissenschaftlichen Bibelportal gehören die Bibeltexte in den Ursprachen, eine Bibelkunde, die Bibel in der Kunst, der Online-Bibelkommentar und das Wissenschaftliche Bibellexikon.



Mediziner und Friedensaktivist Karl Bonhoeffer gestorben

Der Mediziner und Friedensaktivist Karl Bonhoeffer ist tot. Der Neffe des NS-Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer starb im Alter von 88 Jahren, wie der Pfarrer der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau , Björn Mensing, erklärte. Bonhoeffer sei bereits am 8. Februar gestorben und im engsten Familienkreis bestattet worden.

Bonhoeffer füllte verschiedene Funktionen in der Friedensbewegung aus und war Professor und Direktor des Instituts für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Universität Köln. Seine Universitätsstelle gab er Mensing zufolge 1987 auf, um sich ganz der Friedensarbeit widmen zu können: Karl Bonhoeffer war im Vorstand der deutschen Sektion der Vereinigung "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW), als Präsident organisierte er den 6. Weltkongress der "Ärzte gegen den Atomkrieg" 1987 in Köln.

Als ihm nach seiner Beteiligung bei einer Sitzblockade vor einer US-Militärbasis der Prozess gemacht wurde, habe er sich auf den friedensethischen Ansatz seines Onkels Dietrich Bonhoeffer berufen. In den letzten Jahren lebte Karl Bonhoeffer in München. Im Juni 2016 sprach er bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in der Dachauer Versöhnungskirche zum 75. Jahrestages des deutschen Angriffs auf Russland.



EKD-Ratsvorsitzender predigt zum Sterbetag Luthers in Eisleben

Mit einem Gottesdienst ist am 17. Februar in Eisleben (Sachsen-Anhalt) an den Sterbetag des Reformators Martin Luther (1483-1546) erinnert worden. Die Predigt hielt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. Er predigte von der Lutherkanzel der St. Andreaskirche in Eisleben.

Der EKD-Ratsvorsitzende ging dabei auch auf Luthers antisemitische Äußerungen ein. "Gerade in den letzten Lebensjahren waren die Predigten des Reformators oft auch von Polemiken gegen Andersdenkende geprägt, die uns heute befremden. Und wo die Polemik sich gegen die Juden richtet, erfüllt sie uns heute mit tiefer Scham", sagte Bedford-Strohm. Es seien deshalb eher die leiseren Passagen Luthers, "die etwas von seiner persönlichen Frömmigkeit und Glaubenspraxis zum Ausdruck bringen, was auch für uns heute eine Quelle der Inspiration sein kann."

Bedford-Strohm verwies dabei auf die zentrale Bedeutung der Taufe im christlichen Glauben. "Wenn meine inneren Gewissheiten ins Wanken geraten, dann weiß ich trotzdem: Ich bin getauft und damit für alle Zeiten mit Gott verbunden. Das kann mir niemand nehmen", betonte der EKD-Ratsvorsitzende. Die Taufe sei auch für Luther "kein magischer Akt", sondern eine "Stärkung und Kräftigung des Glaubens" gewesen.

Martin Luther kam am 10. November 1483 in Eisleben als Sohn von Hans und Margarete Luder zur Welt. Einen Tag nach seiner Geburt ließ man ihn in der St.-Petri-Pauli-Kirche auf den Namen Martin taufen. Am 18. Februar 1546 starb er im Alter von 62 Jahren, als er sich in Eisleben aufhielt. Drei Tage später wurde er in der Wittenberger Schlosskirche beigesetzt.

Die St. Andreaskirche wurde im Jahr 1180 erstmals erwähnt, ihre heutige Form erlangte sie erst Ende des 15. Jahrhunderts. Auf der 1509 erbauten Kanzel hielt Martin Luther im Februar 1546 seine letzten vier Predigten, bevor er am 18. Februar verstarb. Zum Reformationsjubiläum 2017 wurde die Lutherkanzel saniert.




Gesellschaft

Dresden erinnert an 13. Februar 1945


Am Abend schloss sich die Menschenkette.
epd-bild/Matthias Rietschel
Mit einer Menschenkette für Toleranz ist in Dresden an die Bombardierung der Stadt 1945 erinnert worden. Der Tag stand im Zeichen der Partnerschaften mit Coventry und Breslau. Aktionen von Rechten überschatteten das Gedenken.

Rund 11.500 Menschen haben am 13. Februar in Dresden ein Zeichen für Frieden und Versöhnung gesetzt. Hand in Hand bildeten sie eine Menschenkette um die Altstadt, um diese symbolisch zu schützen. An der Aktion zum Gedenken an die Bombardierung Dresdens 1945 nahmen auch Delegationen aus dem britischen Coventry und dem polnischen Breslau teil. Mit beiden Städten verbindet Dresden eine inzwischen 60-jährige Partnerschaft.

Auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) reihte sich in die Kette ein. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter hatte er zuvor erklärt, es heiße, "ein Zeichen für das demokratische Fundament unserer Gesellschaft zu setzen und zu erinnern, an die Opfer der furchtbaren Bombardierung vor 74 Jahren". Der stellvertretende Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) sagte, die Botschaft von Frieden und Versöhnung dürfe nicht 1945 stehenbleiben und müsse mehr denn je in die Gegenwart weitergetragen werden.

Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) erinnerte an die Opfer des Zweiten Weltkrieges nicht nur in Dresden, sondern auch in Coventry und Breslau und anderen europäischen Städten. Er unterstrich die Bedeutung der Städtepartnerschaften bis heute, die auf Versöhnung aufgebaut seien. In Europa gebe es in der Gegenwart aber auch "Versöhnungslücken", die es zu schließen gelte, sagte Hilbert.

Menschenkette ist Tradition

Seit 2010 versammeln sich in Dresden jedes Jahr am 13. Februar traditionell Tausende zu einer Menschenkette. Die etwa vier Kilometer lange Strecke führt über alle zentralen Plätze der Innenstadt sowie über zwei Elbbrücken.

Dresden wurde am 13. Februar 1945 und in den Tagen danach bei Luftangriffen der Alliierten schwer zerstört. Bis zu 25.000 Menschen kamen dabei ums Leben.

Mit zahlreichen Veranstaltungen erinnerten die Dresdner und ihre Gäste am Mittwoch an die Opfer des Zweiten Weltkrieges und die Zerstörung der Stadt vor 74 Jahren. Oberbürgermeister Hilbert und Sachsens Landespolizeipräsident Horst Kretzschmar legten auf dem städtischen Heidefriedhof weiße Rosen nieder.

Aktionen von Rechten

Überschattet wurde das Gedenken von Aktionen einiger Rechtsextremisten und Rechtspopulisten. Auf dem Heidefriedhof legten Vertreter der Jungen Alternative der AfD einen Kranz nieder. Auch Mitglieder der NPD waren vor Ort. Die AfD-Bundestagsfraktion und der AfD-Kreisverband Görlitz lehnten Kränze an den Gedenkstein auf den Altmarkt vor der Kreuzkirche. Dort waren nach den Angriffen der Alliierten im Februar 1945 die Leichname von Tausenden Opfern verbrannt worden.

In der Dresdner Frauenkirche versammelten sich knapp 100 Menschen zu einem Friedensgebet. Frauenkirchenpfarrer Sebastian Feydt würdigte in seiner Ansprache die 60-jährige Partnerschaft zwischen Dresden und Coventry. 1959, nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, sei es nicht selbstverständlich gewesen, eine solche Städtepartnerschaft zu begründen, sagte Feydt. Im Prozess der Versöhnung zwischen einst verfeindeten Nationen seien gerade Christen vorangegangen. Gemeinsam mit Gästen aus der britischen Partnerstadt wurde das Versöhnungsgebet von Coventry gesprochen, das von der Bitte "Vater vergib" bestimmt wird.

Gedenken auf den Neumarkt

Die Fördergesellschaft der Frauenkirche hatte zum stillen Gedenken auf den Neumarkt eingeladen. Besucher nutzten die Gelegenheit, um auf dafür vorbereiteten Flächen Kerzen zur Mahnung und Erinnerung abzustellen. Am späteren Abend sollte ein ökumenischer Gottesdienst in die Dresdner Kreuzkirche stattfinden. Zum Zeitpunkt des ersten Angriffs auf Dresden am 13. Februar 1945 um 21.45 Uhr sollten wie jedes Jahr alle Kirchenglocken der Elbestadt läuten.



"Napalm Girl" mit Dresdner Friedenspreis geehrt

Das Foto ging vor mehr als 40 Jahren um die Welt: Ein neunjähriges Mädchen läuft im Vietnamkrieg nackt und schreiend um sein Leben. Es ist Opfer eines Napalm-Angriffs. Bis heute schmerzen die Brandnarben. Doch Kim Phuc hat ihren Frieden gemacht.

Die als "Napalm Girl" bekanntgewordene Vietnamesin Kim Phuc Phan Thi ist am 11. Februar mit dem Dresdner Friedenspreis geehrt worden. Die Unesco-Botschafterin erhalte die Auszeichnung, weil sie sich als Opfer dem Hass verweigert habe, sagte der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), der Ehrenmitglied des auslobenden Vereins Friends of Dresden Deutschland ist.

Als internationale Friedensaktivistin werde die 55-Jährige für ihren unermüdlichen Einsatz für Versöhnung und Vergebung geehrt. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert. Die Vietnamesin war durch ein Foto von Nick Ut weltberühmt geworden. Es zeigt sie 1972 als Neunjährige auf einer Straße in Südvietnam weglaufend - nackt und schreiend mit von Napalm verbrannten Wunden.

"Mit Liebe die Zukunft heilen"

Allein ihr christlicher Glaube habe ihr geholfen zu vergeben, sagt sie. Sie bete jeden Tag für den Frieden der Welt. "Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber mit Liebe können wir die Zukunft heilen", betonte die Preisträgerin. Sie rief dazu auf, sich Vorurteilen und Hass entgegenzustellen.

Kim Phuc habe aus einem Leben des Krieges ein Leben des Friedens gemacht, sagte der bekannte US-amerikanische Kriegsfotograf James Nachtwey in seiner Laudatio. Sie habe sich gegen Verbitterung und Feindseligkeit gewehrt. "Ich habe den Frieden so sehr gebraucht", sagte Kim Phuc. Es habe zuvor Tage gegeben, da wollte sie einfach nicht mehr leben. Bis heute leide sie an den Folgen des Angriffs. Es vergehe kein Tag ohne Schmerzen. Die Brandnarben bedecken ihren gesamten Rücken und einen Arm.

Als "Napalm Girl" blieb Kim Phuc im kollektiven Gedächtnis. Das Foto des Mädchens habe ein überproportionales Gewicht entfaltet, sagte Nachtwey. Es sei die Anklage gegen den Vietnamkrieg und überhaupt gegen jeden Krieg. Nachtwey hatte 2012 selbst den Dresdner Friedenspreis bekommen.

Gorbatschow und Barenboim

Die internationale Auszeichnung wurde der Vietnamesin in der Semperoper in Dresden vom Friedenspeisträger des Jahres 2015, dem Herzog von Kent, überreicht. Kim Phuc wurde "Botschafterin des guten Willens" bei der Unesco und gründete vor 20 Jahren eine Stiftung für vom Krieg versehrte Kinder. Sie ist zum Symbol des Leidens unschuldiger Kriegsopfer geworden. Nach vielen Operationen durfte Kim Phuc 1982 nach Deutschland zur Nachbehandlung ausreisen. Heute lebt sie in Kanada.

Der Friedenspreis wird jährlich um den Dresdner Kriegsgedenktag vergeben. Er ehrt herausragende Persönlichkeiten, die vor allem präventiv wirken und Eskalationen verhindern helfen. Gestiftet wird er von der Heidelberger Klaus Tschira Stiftung. Die Auszeichnung wurde zum zehnten Mal verliehen. Sie setzt auch ein Zeichen gegen die versuchte Vereinnahmung des Gedenktages durch Rechtsradikale.

Erster Preisträger war 2010 der Friedensnobelpreisträger und frühere sowjetische Staatspräsident, Michail Gorbatschow. Es folgten unter anderen der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim und der Whistleblower Daniel Ellsberg. 2016 ging die Auszeichnung an den Bürgermeister des italienischen Flüchtlingsdorfes Riace, Domenico Lucano, 2017 an den Olympiasieger und US-Bürgerrechtler Tommie Smith.

Von Katharina Rögner (epd)


Forscher halten jährlich 260.000 Zuwanderer für nötig

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sowie der Hochschule Coburg im Auftrag der Bertelsmann Stiftung sieht Bedarf für einen kontinuierlichen Zuzug von Arbeitskräften.

Wissenschaftler rechnen bis 2060 mit einer jährlich nötigen Zuwanderung von mindestens 260.000 Menschen nach Deutschland. Das Angebot an Arbeitskräften nehme ohne Zuwanderung bis 2060 um fast 16 Millionen ab, heißt es in der am 12. Februar im Auftrag der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh veröffentlichten Studie. Selbst eine wachsende Erwerbsbeteiligung der Inländer könne diese Entwicklung nur um maximal 1,8 Millionen Personen abbremsen.

Die Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie der Hochschule Coburg im Auftrag der Stiftung basiert auf einer 2015 erschienenen Arbeit der Autoren mit dem Titel "Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten bis 2050". In ihren Modellrechnungen berücksichtigten die IAB-Mitarbeiter Johann Fuchs und Alexander Kubis sowie der Coburger Wirtschaftswissenschaftler Lutz Schneider den Angaben zufolge die Entwicklung der inländischen Erwerbsbeteiligung, die Migration aus EU-Staaten sowie den Einfluss der Digitalisierung.

Fachkräfte mit hoher Qualifikation gefragt

Demnach gehen die Forscher von jährlich rund 114.000 Zuwanderern aus EU-Staaten aus, rund 146.000 müssten somit aus Drittstaaten einwandern. Die Untersuchung zeige, dass die Zuwanderer aus Drittstaaten bisher eher Stellen mit geringem Anforderungsprofil besetzten, schreiben die Studienautoren. Die Engpässe am deutschen Arbeitsmarkt lägen aber im mittleren und hohen Anforderungsbereich. "Nur eine Zuwanderung von Drittstaatenangehörigen mit geeigneter Qualifikation sichert eine schnelle und qualifikationsadäquate Integration in den Arbeitsmarkt und beugt Fachkräfteengpässen vor beziehungsweise lindert diese", hieß es.

Ein zunehmend digitalisierter Arbeitsmarkt erfordert den Berechnungen zufolge nicht weniger Arbeitskräfte, sondern stattdessen mehr Fachkräfte mit hoher Qualifikation. Langfristig sei mit einer Entspannung der Engpässe bei Akademikern, aber eher mit einer Verschärfung im Bereich der mittleren Qualifikation zu rechnen.

Die Forscher plädieren unter anderem für ein "Einwanderungsgesetz aus einem Guss", da die Zuwanderung bisher in vielen Gesetzen und Vorschriften geregelt und dadurch für potenzielle Zuwanderer unübersichtlich sei. Auch eine Einreise zur zeitlich befristeten Arbeitsplatzsuche ohne vorliegendes Arbeitsangebot bei einem mittleren Qualifikationsniveau sei vorstellbar.



Neues Gesetz soll Abschiebungen deutlich leichter machen

Deutschland soll Abschiebungen nach dem Willen Seehofers künftig notfalls mit mehr Härte durchsetzen. In der Bundesregierung wird über einen Entwurf aus seinem Haus diskutiert, der erleichterte Inhaftierung und andere Sanktionen vorsieht.

Abschiebungen nicht anerkannter Asylbewerber sollen künftig deutlich konsequenter erfolgen. Wie am 14. Februar aus dem Bundesinnenministerium in Berlin verlautete, wurde die Ressortabstimmung zum Entwurf eines entsprechenden Gesetzes eingeleitet. Wer nicht kooperiert, muss demnach mit Folgen rechnen: Ausreisepflichtigen drohen zum Beispiel künftig Sanktionen, wenn sie ihre Abschiebung verzögern, indem sie kurzzeitig untertauchen oder keine Papiere beschaffen.

Gesonderte Rechtsstellung geplant

Im vergangenen Jahr gab es den Ministeriumskreisen zufolge rund 230.000 Ausreisepflichtige in Deutschland, von denen 180.000 eine Duldung hatten. Bei geschätzten vier von fünf Geduldeten sei die Abschiebung an fehlenden Reisepapieren gescheitert. Künftig sollen daher jene, die selbst Schuld daran sind, dass sie nicht ausgewiesen werden können, schlechtergestellt werden gegenüber jenen, die wegen Krankheit, einer Ausbildung minderjähriger Kinder oder anderen humanitären Gründen nicht abgeschoben würden.

Geschaffen werden soll dafür eine gesonderte Rechtsstellung für Menschen mit Ausreiseaufforderung. Dieser neue Status wirkt sich unter anderem auch negativ auf staatliche Leistungen aus. Asylbewerber sollen auch rechtlich verpflichtet werden, einen Reisepass zu beschaffen. Menschen, die eine Mitwirkung verweigern, indem sie etwa vor Anhörungen zur Bestimmung ihrer Identität abtauchen, müssen ebenfalls mit Konsequenzen rechnen.

Niedrigere Voraussetzungen für Sicherungshaft

Im vergangenen Jahr standen den Angaben nach rund 26.000 erfolgten Rückführungen etwa 31.000 gescheiterte Rückführungen gegenüber. Gescheitert seien viele Abschiebungen aus dem Grund, dass die betreffenden Personen nicht anwesend gewesen seien. Daher sollen die Voraussetzungen für die Sicherungshaft insofern abgesenkt werden, als dafür der Ablauf der Ausreisefrist hinreichend ist. Eine weitere Fluchtgefahr soll dafür nicht mehr erforderlich sein.

Für Straftäter soll der Ausweisungsschutz auf ein europa- und völkerrechtliches Minimum abgesenkt werden. Jene Straftäter, die wiederum nicht abgeschoben werden können, sollen besser überwacht werden: zum Beispiel mit Meldepflichten, einer räumlichen Beschränkung oder der elektronischen Fußfessel. "Gefährder" und Terrorverdächtige wie auch Personen, die eine andere Identität vortäuschen, sollen vor ihrer Abschiebung leichter in Haft oder Gewahrsam genommen werden können. Theoretisch ist eine Abschiebehaft von bis zu 18 Monaten möglich. In der Praxis dauerte die in den meisten Fällen aber maximal sechs Wochen, wie es hieß. Ein Ausreisegewahrsam dauert höchstens zehn Tage.

Da es nicht genügend Abschiebungshaftplätze gebe, solle zudem das Trennungsgebot von Abschiebungs- und Strafgefangenen zeitweise ausgesetzt werden. Das bedeutet, dass Menschen, die abgeschoben werden sollen, auch in Justizvollzugsanstalten festgehalten werden dürfen. Das geschehe aber baulich getrennt, so dass die Abschiebehäftlinge normalen Strafgefangenen niemals begegnen. Derzeit gebe es bundesweit 479 Abschiebungshaftplätze. Bis Ende 2020 sollen es deutlich mehr werden.

Strafbar können sich nach den Plänen künftig auch jene Personen machen, die abgelehnte Asylbewerber vor einer bevorstehenden Abschiebung warnen und dabei den konkreten Termin nennen.

Über den Entwurf mit dem Titel "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" wurden den Angaben nach neben den anderen Ministerien auch die Koalitionsfraktionen informiert. Am Freitag sollen die Innenminister der Bundesländer über die Einzelheiten aufgeklärt werden. Im Bundesinnenministerium hofft man auf zügige Anhörungen.



Brexit und der Friedensprozess in Nordirland


Gibt es künftig eine EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland?
epd-bild / Gustavo Alàbiso
Die Grenze zwischen Irland und Nordirland ist zentraler Streitpunkt in den Brexit-Diskussionen. Beobachter befürchten, dass ein Brexit den Nordirland-Konflikt wieder entfachen könnte. Derzeit investiert die EU noch viel Geld in Friedensprojekte.

Wer von Dublin mit dem Auto nach Belfast fährt, merkt kaum, dass er eine Grenze zwischen zwei Ländern überquert. Man muss schon genau darauf achten, ab wann die Schilder nicht mehr Kilometer sondern Meilen ausweisen. Dann weiß man, man ist in Nordirland. Doch um die heute fast unsichtbare Grenze tobt ein Streit, seit sich das Vereinigte Königreich mit dem Brexit-Referendum 2016 entschlossen hat, die Europäische Union zu verlassen.

Die Zukunft der Grenze ist der Hauptstreitpunkt bei den Brexit-Verhandlungen und ein wesentlicher Grund, warum Theresa May für ihr mit der EU ausgehandeltes Austrittsabkommen keine Mehrheit im Parlament bekommt. Mit der Aussicht auf einen ungeregelten Brexit ohne ein Abkommen steigt die Angst, dass der Nordirland-Konflikt zwischen denen, die loyal zum britischen Königreich stehen und denen die einen Zusammenschluss mit Irland möchten, wieder aufflammen könnte.

Alte Wunden könnten wieder aufreißen

Mehr als 3.500 Menschen wurden nach Zählungen des "Conflict Archive on the Internet (CAIN)" während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs zwischen englisch- und schottischstämmigen Protestanten und irischen Katholiken getötet. Die mehrheitlich katholischen Nationalisten strebten eine Loslösung von Großbritannien und einen Zusammenschluss mit der Republik Irland an. Die überwiegend protestantischen Unionisten wollten hingegen Teil des Königreichs bleiben. Annähernd 50.000 Menschen wurden nach CAIN-Statistiken in den Jahren der sogenannten "Troubles" verletzt, überwiegend Zivilisten.

Wenn die Grenze zwischen Nordirland und Irland wieder sichtbarer wird, könnte das alte Wunden aufreißen und einen neuen Konflikt provozieren, der seit dem Karfreitagsabkommen 1998 eigentlich offiziell beendet ist, befürchten Beobachter auf beiden Seiten der Grenze. Und noch etwas bedroht den Friedensprozess: Die EU hat den Friedensprozess der vergangenen Jahre maßgeblich finanziert. Auch das könnte in Zukunft vorbei sein.

Laurence McKeown war 17 Jahre alt, als er sich der paramilitärischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) anschloss, die im Bürgerkrieg für die Unabhängigkeit von Großbritannien kämpfte. Nachdem er auf ein Polizeiauto geschossen hatte, wurde er 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Seit seiner Entlassung setzt er sich für den Frieden ein, er schreibt Theaterstücke und macht Ausstellungen. In seinem Ausstellungsprojekt "Aftermath" erzählen Zeitzeugen von ihren Erfahrungen mit dem Konflikt. Eine Bäuerin beschreibt etwa, wie auf ihrem Feld an der Grenze eine Bombe explodierte, als Polizisten dort vorbeigingen. Später fand sie die Leichenteile auf dem Feld.

"Am Anfang hatten die Menschen teilweise Angst voreinander", sagt McKeown, "aber wir haben immer mehr Gruppen gegründet, ein Beratungsprogramm gestartet und später eine Sommeruniversität, an der Menschen aus allen Lebensbereichen teilnehmen konnten." In all den Jahren kam das Geld dafür von der EU.

Grenzüberschreitende Programme zwischen Irland und Nordirland

Bis heute dauert die Arbeit für Frieden in Nordirland an. Die EU hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Geld investiert. Allein zwischen 1995 und 2013 flossen nach Angaben der EU im Rahmen des sogenannten PEACE-Programms 1,3 Milliarden Euro nach Nordirland. Damit wurden grenzüberschreitende Programme zwischen Irland und Nordirland finanziert, und zuvor verfeindete Gruppen arbeiteten zusammen in den Projekten. "Alle Projekte, an denen ich beteiligt war, wurden durch die EU finanziert", sagt McKeown.

Bis Ende 2020 sind Gelder für den Friedensprozess fest vorgesehen, auch wenn Großbritannien ohne Deal aus der EU ausscheiden sollte, wie die Europäische Kommission auf Anfrage des Evangelischen Pressedienst (epd) mitteilte. Auch für die Zeit danach soll weiter Geld bereitgestellt werden. Die britische Regierung kündigte im Januar an, auch nach dem Brexit Geld in die Projekte zu investieren.

Die Rolle der EU beim Friedensprozess in Nordirland sei nicht zu unterschätzen, sagt Giada Lagana, Politikwissenschaftlerin an der irischen Universität Galway. "Die Aussicht, dass die Finanzierung der Programme wegen des Brexit irgendwann enden könnte, bedeutet auch, dass eine weitere Verbesserung des Friedensprozesses in der Region aufgegeben wird."

Von Christiane Link (epd)


Vom Dienstmädchen zur Sozialpionierin


Die weiblichen Abgeordneten der Mehrheitssozialisten in der Weimarer Nationalversammlung, unter ihnen Marie Juchacz (1. Reihe, 3.v.re.).
epd-bild/AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung
Sie machte als eine der ersten Frauen in Deutschland in der Politik Karriere: die Parlamentsabgeordnete und Sozialpolitikerin Marie Juchacz. Die von ihr gegründete Arbeiterwohlfahrt besteht noch heute.

Sie war die erste: Marie Juchacz hielt als erste Frau eine Rede vor einem deutschen Parlament. Im Weimarer Nationaltheater betrat die Sozialdemokratin am 19. Februar 1919 die Rednertribüne. Mit den Worten "Meine Herren und Damen" wandte sie sich an die überwiegend männlichen Abgeordneten der erst einen Monat zuvor gewählten Verfassunggebenden Nationalversammlung. Das sorgte für Heiterkeit, wie im Protokoll der Sitzung vermerkt ist.

Juchacz stellte klar: Für das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, seien die Frauen der Regierung keinen Dank schuldig. "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Erst durch die politische Gleichstellung der Frau könne man von einem "neuen Deutschland" sprechen.

Der Chefredakteur des SPD-Parteiblattes "Vorwärts", Friedrich Stampfer, sah in ihrer Rede einen geschichtlichen Augenblick: "Marie Juchacz ist die Frau, die ihre errungenen Rechte mit würdiger Selbstverständlichkeit wahrnimmt." Jahrzehntelang hatten Frauen für das Wahlrecht kämpfen müssen, bis 41 weibliche Abgeordnete im Februar 1919 in die Nationalversammlung einzogen.

Für Marie Juchacz war der Aufstieg in der Politik in keiner Weise vorgezeichnet. Die Tochter eines Handwerksmeisters wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe geboren, dem heutigen polnischen Gorzów Wielkopolski. Die Schulzeit war für sie nach acht Jahren beendet. Ihr älterer Bruder Otto brachte ihre Perspektiven einmal so auf den Punkt: "Haushalt und Fabrik und dann Versorgung durch Heirat, das ist dein Lebensweg." Doch Maries Leben sollte anders verlaufen.

Frauenbildungsverein

Die junge Frau verlässt 1906 ihre Heimatstadt, um nach Berlin zu ziehen. Hinter ihr liegt eine kurze, gescheiterte Ehe mit dem Schneidermeister Bernhard Juchacz, mit dem sie zwei Kinder hat. Tatsächlich hatte sie nach der Volksschule zunächst als Dienstmädchen gearbeitet, dann kurz in einer Fabrik und schließlich als Wärterin in einer Nervenheilanstalt.

Als sie genügend Geld gespart hat, macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin. Ihre beiden kleinen Kinder Lotte und Paul nimmt sie nach der Trennung von ihrem Mann mit nach Berlin. Ihre jüngere Schwester Elisabeth kommt mit - auch sie wird 1919 als SPD-Abgeordnete in die Nationalversammlung einziehen. Gemeinsam erziehen die beiden Frauen die Kinder. Den Lebensunterhalt verdienen sie in Heimarbeit mit Nähen.

In der Reichshauptstadt engagieren die Schwestern sich zunächst in einem Frauenbildungsverein, der Leseabende organisiert. Sie lernen, Versammlungen zu leiten und Reden zu halten. Als 1908 in Preußen das Verbot der politischen Betätigung für Frauen fällt, tritt Marie Juchacz in die SPD ein.

Obwohl sie sich nie in den Vordergrund drängt, wird sie bald zu einer gefragten Rednerin. 1913 geht sie hauptberuflich in die Politik und übernimmt die Stelle einer SPD-Frauensekretärin für die Obere Rheinprovinz in Köln. Das Nähen kann sie nun endlich aufgeben. 1917 wird Juchacz Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand in Berlin.

Auf einem Abgeordnetenfoto aus dem Jahr 1919 sieht man sie am Schreibtisch sitzen. Ernst und entschlossen blickt sie mit großen, braunen Augen in die Kamera, das dunkle Haar ist in der Mitte gescheitelt.

Als Juchacz mit knapp 40 Jahren in die Nationalversammlung einzieht, kennt sie die sozialen Probleme ihrer Zeit aus eigener Erfahrung. Sie hat Erfahrungen in der Armenpflege und ist dem Elend der Kriegswitwen und Waisenkinder, der Arbeitslosen und Invaliden begegnet. Und sie ist entschlossen, auch als Abgeordnete zur Linderung der sozialen Not beizutragen.

"Starke und schöne Stimme"

Auf einem anderen Foto aus dem gleichen Jahr sieht man die große, schlanke Frau im Mantel auf einem Balkon stehen, wo sie eine Rede vor einer Menschenmenge hält. "Sie hatte eine starke und schöne Stimme, die sie gut zu gebrauchen wusste", schrieb ihr Neffe und Biograf Fritzmichael Roehl. "Wenn ihr auch - zumindest im Beginn ihrer Laufbahn - eine gewisse Schlagfertigkeit mangelte und wenn es ihr auch nicht gegeben war, zündende, die Massen mitreißende Reden zu halten, so sprach sie doch eindringlich und wirkungsvoll und gewann damit ihre Hörer."

Schon in ihrer ersten Parlamentsrede definierte Marie Juchacz die Sozialpolitik als große Aufgabe der Frauen in der Politik. Im Dezember 1919 rief sie darum den Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der SPD ins Leben. Im Vordergrund stand die Idee der Selbsthilfe innerhalb der Arbeiterschaft. Die Organisation, die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auflöste, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet und existiert bis heute.

Im Jahr 2017 errichtete die AWO unweit des Mehringplatzes in Berlin-Kreuzberg ein Denkmal für ihre Gründerin. "Marie Juchacz setzte sich ihr Leben lang für diejenigen ein, die in der Gesellschaft keine Stimme hatten", würdigt sie der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler.

"Niemals habe ich mich zu einem Amt gedrängt", schrieb die Sozialpionierin selbst über sich. "Ich wurde immer irgendwie aufgespürt, für eine Funktion ausgesucht und vorgeschlagen oder gerufen."

Bis 1933 war Marie Juchacz Reichstagsabgeordnete, Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Vorsitzende der AWO. Nach der Machtübernahme Hitlers ging sie ins Exil. 1949 kehrte sie aus den USA nach Deutschland zurück und begleitete als Ehrenvorsitzende den Wiederaufbau der AWO. Sie starb am 28. Januar 1956 im Alter von 76 Jahren in Düsseldorf.

Von Jürgen Prause (epd)


Einziger muslimischer Kindergarten in Rheinland-Pfalz muss schließen

Die vor zehn Jahren gestartete erste muslimische Kindertagesstätte in Rheinland-Pfalz steht vor dem Aus. Das Landesjugendamt hat die Betriebserlaubnis widerrufen. Allerdings kündigt der Trägerverein Widerstand an.

Die Behörden in Rheinland-Pfalz haben dem ersten und bislang einzigen muslimischen Kindergarten im Land die Betriebsgenehmigung entzogen. Spätestens zum 31. März müsse die Mainzer Al-Nur-Kindertagesstätte geschlossen werden, gab der Präsident des Landesjugendamts, Detlef Placzek, am 11. Februar bekannt. Grund für die bedauerliche Entscheidung sei mangelnde Zuverlässigkeit des Trägervereins. "Der Verein vertritt Inhalte der Ideologie der Muslimbruderschaft sowie zum Salafismus und steht damit nicht mehr auf dem Boden der Verfassung der Bundesrepublik", erklärte Placzek.

Der 2009 eröffnete Kindergarten und der für die Einrichtung verantwortliche "Arab Nil-Rhein Verein" seien in den vergangenen zehn Jahren intensiv vom Landesamt beraten und begleitet worden. Erste öffentliche Hinweise auf eine Nähe des Vereins zum Salafismus habe es bereits zum Jahreswechsel 2012/2013 gegeben, als ein umstrittener Prediger in dem Verein auftrat. Weitere Sachverhalte seien der Behörde aber erst im vergangenen Jahr bekanntgeworden. Im vergangenen Herbst habe das Landesamt erfahren, dass der Verein bei einem interkulturellen Fest eine jugendgefährdende Schrift verteilt habe und als Prüfstelle für Studenten einer "Online-Universität" des Islamisten Bilal Philips fungierte.

"Unfair und verfassungswidrig"

Ein vom Verfassungsschutz angefertigtes "Behördenzeugnis" beschreibe weitere Sachverhalte, sagte Placzek. Einzelheiten aus dem Papier könne er jedoch nicht nennen. Hinweise auf eine unmittelbare Beeinflussung der betreuten Kinder mit radikalem Gedankengut gebe es nicht. Versäumnisse in der eigenen Behörde habe es nicht gegeben, denn das Landesjugendamt habe immer wieder auf Missstände hingewiesen, aber keine nachrichtendienstlichen Befugnisse, um den Hintergrund des Trägervereins zu durchleuchten.

Mit der Stadt Mainz gebe es bereits Absprachen darüber, wie die Betreuung der derzeit 22 in der Einrichtung betreuten Kinder künftig organisiert werden könne. Nach Placzeks Angaben ist der Mainzer Al-Nur-Kindergarten der erste in der rheinland-pfälzischen Landesgeschichte, der durch die Behörden wieder geschlossen werden musste.

Der Vereinsvorsitzende Samy El Hagrasy kündigte Widerstand gegen die Schließungspläne des Landes an. "Das ist Unrecht, das ist unfair, das ist verfassungswidrig", sagte er. Der Anwalt des Vereins werde Widerspruch gegen den Bescheid des Landesamtes einlegen und ein Eilverfahren am Verwaltungsgericht starten, damit die Einrichtung bis zum Abschluss des Rechtsstreits geöffnet bleiben könne. Die Vorwürfe gegen seinen Verein bezeichnete er als "Hetzerei" und "Hexenjagd". Niemand aus dem Vorstand des "Arab Nil-Rhein Vereins" sei Salafist oder Anhänger der Muslimbruderschaft.

Landespolitisches Thema

Wer sich ein Gesamtbild machen wolle, solle die Aktivitäten und Äußerungen der vergangenen 20 Jahre betrachten, sagte El Hagrasy. Der Verein habe mit anderen muslimischen Gemeinden sowie der katholischen und evangelischen Kirche zusammengearbeitet, niemand dort habe je extremistische Bestrebungen bemerkt. Bis zum Sommer 2018 habe es auch keine Beanstandungen durch das Landesamt gegeben, das Auflagen nicht erfüllt worden seien.

Die Entwicklungen in dem Kindergarten waren zuletzt auch Thema für die Landespolitik. AfD und CDU sprachen von einem überfälligen Schritt.

Auslöser für das harte Vorgehen des Landesamtes gegen den Trägerverein waren zwei im Sommer 2018 bekanntgewordene Gutachten über die Islamverbände in Rheinland-Pfalz. Darin war erstmals ausdrücklich erwähnt worden, dass der Verfassungsschutz sich mit dem "Arab Nil-Rhein Verein" befasste, weil es dort "Anhaltspunkte für den Verdacht extremistischer Bestrebungen" gebe.



Kieler Universität erlässt Schleier-Verbot

Die Christian-Albrechts-Universität in Kiel hat ein Schleier-Verbot erlassen. Das Präsidium der Hochschule habe sich dazu entschieden, weil eine muslimische Studentin kurz vor Weihnachten mit einem Gesichtsschleier (Nikab) zu einem Tutorium in Botanik erschienen war, sagte Uni-Sprecher Boris Pawlowski am 13. Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd) und bestätigte damit einen Bericht der "Kieler Nachrichten". In einer neuen Richtlinie erklärt das Präsidium, Kommunikation beruhe nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern auch auf Mimik und Gestik. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) begrüßte den Beschluss und kündigte eine Gesetzesinitiative gegen das Tragen von Gesichtsschleiern in den Schulen an. Kritik kommt dagegen von den Grünen.

Bislang gelten an den Schulen in Schleswig-Holstein Handlungsleitlinien zum Umgang mit Religion, Islamismus und Salafismus. In der vom Bildungsministerium herausgegebenen Broschüre werden Formen der vollständigen Gesichtsverschleierung in der Schule als "nicht angemessen und unzulässig" erklärt. Lehrkräfte und Lernende sollen bei schulischen Veranstaltungen ihren Gesprächspartnern ins Gesicht schauen können. Nikab und Burka machten "nicht nur die Identifikation der Schülerin unmöglich. Sie sind zudem im täglichen Unterrichtsbetrieb ein objektives Hindernis für die Erfüllung des pädagogischen Auftrags der Schule", heißt es in der Broschüre.

"Diskurs mit offenem Visier"

Bildungsministerin Prien will diese Handlungsleitlinie im Zuge einer Reform des Schulgesetzes, die im Sommer 2020 in Kraft treten könnte, konkretisieren. Ein Kopftuchverbot soll damit ausdrücklich nicht verbunden sein, das ist im Unterricht erlaubt. Es sei denn, das Kopftuch gefährdet die Sicherheit der Trägerinnen oder anderer Personen. So können Lehrkräfte die betroffenen Schülerinnen im Chemie- oder Sportunterricht anweisen, das Kopftuch abzulegen, wenn es ein Risiko darstellt. "So genannte 'Sport-Kopftücher' von Sportartikelherstellern können im Einzelfall Kompromisslösungen darstellen", heißt es in der Leitlinie.

Aus den eigenen Reihen bekommt die Ministerin Unterstützung für ihren Vorstoß. "Der wissenschaftliche Diskurs muss mit offenem Visier geführt werden", sagte der CDU-Landtagsabgeordnete Tobias Loose. Wo es gehe, solle Vollverschleierung verboten werden, so Loose.

Der Grünen-Landtagsabgeordnete Lasse Petersdotter bezeichnete den Uni-Beschluss dagegen als Fehler. "Eine freiheitlich demokratische Gesellschaft darf Menschen nicht aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen und Ausdrucksweise von staatlichen Bildungseinrichtungen ausschließen", betonte er. Er halte das Argument der Uni Kiel, eine Verschleierung stehe Forschung und Lehre im Weg, für vorgeschoben. "Dozierende und Professoren sind weder in der Lage noch beauftragt, die Mimik und Gestik der Studierenden zu bewerten", so Petersdotter.



Wechsel an der Spitze der Allgemeinen Rabbinerkonferenz

Der Berliner Rabbiner Andreas Nachama ist neuer Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ARK). Nachama folgt auf den 92-jährigen früheren Dortmunder Landesrabbiner, Henry G. Brandt, der den Vorsitz der Rabbinerkonferenz seit deren Gründung 2005 innehatte, teilte die Rabbinerkonferenz am 15. Februar in Berlin mit. Neben Nachama sitzen die Bamberger Rabbinerin Yael Deusel und der Berliner Rabbiner Jonah Sievers weiterhin im Vorstand.

Der 1951 geborene Andreas Nachama ist Rabbiner der Berliner Synagoge Sukkat Schalom. "Mein Ziel ist es, die jetzt zunehmend schwierigere Zeit für neues jüdischen Leben und Denken zu öffnen", sagte Nachama.

Die Allgemeine Rabbinerkonferenz vertritt die liberale Strömung im Judentum unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland. Ihr gehören derzeit bundesweit 29 Rabbiner und Rabbinerinnen an. Zudem ist sie für die Mitgliedsgemeinden der Union progressiver Juden in Deutschland mit Sitz in Bielefeld zuständig.




Soziales

Dabrock: "Gesetzentwurf zu 219a ist sinnvoller Kompromiss"


Peter Dabrock ist Vorsitzender des Deutschen Ethikrates.
epd-bild/Peter Roggenthin
Bundesregierung und Bundestag beschäftigen derzeit auffallend viele bioethische Debatten: Der evangelische Theologe Peter Dabrock, der auch Vorsitzender des Deutschen Ethikrats ist, erklärt, warum er den Kompromiss zum Paragrafen 219a für sinnvoll hält, und warum er findet, dass Bluttests für Schwangere von der Krankenkasse finanziert werden sollten.

epd: Herr Dabrock, das Bundeskabinett hat den Kompromiss zur Änderung des Werbeverbots für Abtreibungen auf den Weg gebracht. Ist es ein guter Kompromiss?

Dabrock: Ja, ich halte das für einen sinnvollen Kompromiss. Einerseits wird der Paragraf 219a modifiziert, um dem Informationsrecht der Frauen gerecht zu werden. Andererseits bleibt das Gesamtgefüge der Schwangerschaftskonfliktparagrafen im Strafrecht und in den begleitenden Gesetzen unangetastet. Dabei sollte es zugunsten des Rechts- und des sozialen Friedens bleiben.

epd: Glauben Sie, durch eine weitergehende Diskussion - etwa um die Abschaffung des gesamten Abtreibungsparagrafen - wäre der soziale Friede gefährdet?

Dabrock: Eine solche Diskussion hat alles Potenzial, den gesellschaftlichen Frieden hochgradig zu gefährden. Wir leben in einer Zeit, in der - unter anderem bedingt durch den stärkeren Einfluss sozialer Medien - Emotionalisierung und einseitige Betrachtungsweisen die Bereitschaft zu einem politisch und gesellschaftlich sinnvollen Kompromiss senken. Dabei müssen alle Seiten anerkennen, dass ein Schwangerschaftsabbruch keine "lockere" Angelegenheit der Empfängnisverhütung ist und keine Frau sich leichtfertig dafür entscheidet. Es kann keine Schwangerschaft gegen den Willen der Mutter geben. Und gleichzeitig muss man anerkennen, dass das Ungeborene ein Recht auf Leben hat.

epd: Den Bundestag beschäftigen derzeit auch andere ethische Fragen. Wie stehen Sie zu der Frage, ob die Bluttests an Schwangeren Kassenleistung werden sollen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Auskunft darüber geben, ob das Kind das Down-Syndrom hat?

Dabrock: Ich begrüße sehr, dass es eine gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Menschen mit Behinderung gibt. Es kann uns weiterbringen ehrlich festzustellen, dass es sowohl mit "behinderten" als auch mit sogenannten normalen Kindern Beglückendes, aber auch Anstrengungen und Schwierigkeiten gibt. Wir neigen sehr dazu, das eine zu romantisieren und das andere als untragbar zu betrachten. Bei der anstehenden Entscheidung geht es um die Finanzierung der nichtinvasiven Pränataldiagnostik bei Risikoschwangerschaften. Die risikoreiche invasive Methode, die Fruchtwasseruntersuchung, wird von der Kasse finanziert. Wenn wir das eine bezahlen, können wir das bei der anderen Methode nicht verweigern.

epd: Kritiker befürchten, dass die risikoarme Methode zu einem Massenscreening führen könnte ...

Dabrock: Nochmal, es geht um Risikoschwangerschaften, wobei natürlich die Zahl der Risikoschwangerschaften steigt. Ich finde es aber zynisch, gegenüber Frauen eine pseudo-heroische Erwartungshaltung zu haben: Momentan verlangt man von ihnen, bei invasiven Tests das Kind dem Risiko einer Fehlgeburt auszusetzen. Hinzu kommt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Der Test ist ohnehin zugelassen. Wer die 300 bis 500 Euro dafür hat, kann ihn machen. Nicht jede Familie kann sich das leisten. Das ist sozial ungerecht.

epd: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) zur Kassenleistung machen. Nach Protest aus Kirchen und der Union hat er das gestoppt. Ist die Debatte um die PID, bei der Paare den Embryo bei künstlichen Befruchtungen im Reagenzglas vor dem Einsetzen in die Gebärmutter untersuchen lassen können, auch eine soziale Frage?

Dabrock: In Deutschland ist die PID grundsätzlich verboten. Erlaubt ist sie, wenn eine schwerwiegende genetische Krankheit oder eine Totgeburt zu erwarten sind. Überprüft wird dies durch ein komplexes Verfahren. Der in der Debatte stets mitschwingende Vorwurf, Paare würden die Methode für ein "Designerbaby" missbrauchen, geht völlig an der Realität vorbei. Das derzeit geradezu unbarmherzige Verfahren sollte gelockert werden: Es müsste unbürokratischer werden. Warum es bei den schweren Belastungen der Betroffenen nicht von der Kasse finanziert wird, leuchtet mir auch nicht ein.

epd: Was meinen Sie damit?

Dabrock: Die Präimplantationsdiagnostik ist bei uns so scharf geregelt, als handele es sich um ein Verbrechen. Man befürchtet offensichtlich Ausweitungstendenzen. Aber die Zahl möglicher Anwendungen ist schon deshalb begrenzt, weil sie nur bei künstlichen Befruchtungen infrage kommt. Das derzeitige Kontrollverfahren ist für die betroffenen Paare geradezu entwürdigend. Das sind doch Familien, in denen es Totgeburten - oft mehrere - gegeben hat oder Geschwisterkinder schwerste Erkrankungen haben. Hier Missbrauch zu unterstellen, während die Pränataldiagnostik für alle Risikoschwangerschaften völlig legal ist, ist doch "schräg". Ich wünsche mir sehr, dass man mit den betroffenen Hochrisikopaaren, die eine PID wünschen, gnädiger umgeht.

epd: Wie beurteilen Sie die Rolle der Kirchen in den Debatten zu diesen Themen?

Dabrock: Kirchen haben zwar in den vergangenen Jahren an Mitgliedern und damit auch an politischem Einfluss verloren. Die evangelische Kirche repräsentiert aber immer noch knapp ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes. Sie ist immer noch über die Diakonie ein starker gesellschaftlicher Player. Die christliche Tradition bleibt ein wichtiger Kulturfaktor. Von daher finde ich es sehr wichtig, dass die Kirchen sich nicht von einer moralistischen Warte aus in solche Debatten einbringen, sondern Sensibilität für Konflikte zeigen. Die evangelische Kirche hat da in den vergangenen Jahren gut dazu gelernt.

epd: Gerade in den bioethischen Debatten zeigen sich schon die unterschiedlichen Positionen der evangelischen und katholischen Kirche. Läuft die evangelische Kirche Gefahr, ihr Profil zu verlieren, wenn sie zu stark auf Ökumene setzt?

Dabrock: Es ist eine Stärke der evangelischen Kirche, dass sie in solchen Debatten den Respekt für unterschiedliche Auffassungen hochhält. Das ist kein Beliebigkeitspluralismus. Die Sensibilität für Konflikte sollte nicht zugunsten forcierter Ökumene-Bemühungen aufgegeben werden. Die evangelische Kirche sollte in diesen Debatten zeigen, wie ein legitimer Korridor unterschiedlicher Positionen entwickelt und beworben werden kann. Das steht ihr gut zu Gesicht. Wenn man in diesem Sinne gemeinsame Positionen mit der katholischen Kirche findet, kann man sie auch gemeinsam vertreten.

epd: Die AfD sitzt nun mit im Bundestag. Wie wird sich das auf Debatten über ethisch sensible Themen auswirken?

Dabrock: Die bioethischen Debatten finden in einem Bundestag statt, der von einem deutlich verschärften Diskursklima geprägt ist. Bei der Debatte über die Organtransplantation haben sich die Abgeordneten der AfD, die sich zu Wort gemeldet haben, durchaus sachlich geäußert. Meine erste Vermutung, diese im Bundestag neue Partei würde auch diese Debatten unterschiedslos nutzen, um zu polarisieren, hat sich nicht bestätigt.

epd-Gespräch: Corinna Buschow und Franziska Hein


Schwachstellen beim Erkennen von Organspendern


Organspendeausweis
epd-bild / Rolf Zöllner
Die Bundesregierung hofft durch interne Strukturreformen auf mehr Organspender. Experten begrüßen diesen gesetzlichen Weg. Noch befindet sich viel Sand im Getriebe des Transplantationswesens. Eine Studie zeigt, dass Verbesserungen greifen können.

Politiker und Experten streiten vehement über die Auswirkungen der Widerspruchslösung im Transplantationsrecht. Käme sie, dann wäre im Todesfall jeder automatisch Organspender, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. Doch der Plan spaltet die Nation. Dass der Organmangel hierzulande auch ganz andere Ursachen hat, gerät leicht aus dem Blick.

Wo es intern hakt im Spendenprozess, belegt eine Untersuchung mit dem Titel "Rückgang der Organspenden in Deutschland - Eine bundesweite Sekundärdatenanalyse aller vollstationären Behandlungsfälle". Sie zeigt, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) offenbar mit seinen Reformen auf dem richtigen Weg ist. Sein "Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende" hat der Bundestag jetzt beschlossen. Es soll zum 1. April in Kraft treten.

Die zehn Forscher kommen zu dem Schluss, dass der zuletzt gestoppte Rückgang der postmortalen Organspenden vor allem mit einem Erkennungs- und Meldedefizit der Entnahmekrankenhäuser zusammenhängt. "Gelingt es, diesen Prozess organisatorisch und politisch zu stärken, könnte die Zahl der gespendeten Organe erheblich gesteigert werden" - genau das soll das neue Gesetz bewirken.

"Trendwende möglich"

Der an der Studie beteiligte Arzt Kevin Schulte sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Unser Hauptproblem ist, dass der überwiegende Anteil der möglichen Organspender in den Kliniken nicht erkannt wird. In diesen Fällen stellt sich die Frage gar nicht, ob der betreffende Patient mit einer Organspende einverstanden gewesen wäre."

Zunächst zur Ausgangslage: Die Zahl der möglichen Organspender stieg von 2010 bis 2015 um 13,9 Prozent von 23.937 auf 27.258. Alarmierend ist aber, dass die Zahl der realisierten Organspenden laut Untersuchung im selben Zeitraum um 32,3 Prozent zurückging.

Die Wissenschaftler suchten aus allen vollstationären Behandlungen der Jahre 2010 bis 2015 (mehr als 112 Millionen Fälle) diejenigen Todesfälle heraus, bei denen eine Hirnschädigung vorlag und eine Organspende theoretisch möglich war. Als Referenzgröße wurden die Ergebnisse eines 2010 begonnenen Inhouse-Koordinationsprojekt der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) ausgewählt. Hier wurde in mehr als 100 Krankenhäusern zwei Jahre lang jeder mögliche Organspender nachträglich auf seine reelle Eignung als Organspender untersucht. Ergebnis: Nahezu alle möglichen Organspender wurden tatsächlich für eine Organspende in Betracht gezogen. Die Realisationsquote der Organentnahmen lag bei 10,2 Prozent.

Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass 2015 unter der Annahme, dass dieselbe Realisationsquote wie im DSO-Inhouse-Koordinationsprojekt erreichbar gewesen wäre, statt der erfolgten 877 Organspenden 2.780 hätten erreicht werden können - 33,8 Organspenden pro einer Million Einwohner. 2017 lag der Wert in Deutschland bei 10,4.

"Eine Trendwende unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist möglich", betonten die Forscher. Genau die will Spahn nun erreichen. Krankenhäuser sollen mehr Zeit und Geld für Organtransplantationen bekommen. Das interne System der Spendererkennung und -meldung wird verbessert. Auch wird es künftig verbindliche Vorgaben für die Freistellung der Transplantationsbeauftragten, deren Arbeit von den Kassen voll refinanziert werden soll. Und: Flächendeckend wird ein neurologischer beziehungsweise neurochirurgischer Rufbereitschaftsdienst eingerichtet, um den Hirntot verlässlich zu feststellen zu können.

Die DSO ist von dem Vorhaben überzeugt. "Die Maßnahmen setzen genau da an, wo Schwachstellen in der Organisation und Zusammenarbeit mit den Entnahmekrankenhäusern bestehen", sagte der Medizinische Vorstand Axel Rahmel. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, erklärte: "Es ist gut, die Organisation und Strukturen der Entnahmekrankenhäuser zu stärken. Denn nur hier können mögliche Organspender erkannt und gegebenenfalls gemeldet werden."

Von Dirk Baas (epd)


Jedes sechste Kind lebt mit süchtigen Eltern

Scham, Druck, Angst: Wenn Eltern Drogen nehmen, leiden darunter auch die Kinder. Rund drei Millionen Kinder leben Schätzungen zufolge in Deutschland in Suchtfamilien, ihr Leiden bleibt oft unentdeckt. Hilfsorganisationen fordern bessere Aufklärung.

Eines von sechs Kindern lebt Schätzungen zufolge in Deutschland in einer Suchtfamilie. Rund drei Millionen Jungen und Mädchen wachsen somit bundesweit mit mindestens einem alkohol- oder drogenabhängigen Elternteil auf, wie der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes, Rolf Rosenbrock, am 11. Februar in Berlin sagte. Die Kinder litten nicht nur an der Krankheit selbst, sondern auch an der Stigmatisierung und Tabuisierung der Erkrankung ihrer Eltern. Langfristig könne dies zu schweren psychischen Störungen führen.

Um dem entgegenzuwirken, will die zehnte bundesweite "Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien" auf das Thema aufmerksam machen. Geplant sind rund 120 Veranstaltungen in mehr als 60 Städten, die auf das Schicksal der betroffenen Kinder hinweisen sollen, wie der Verein Nacoa als Initiator der Aktionswoche mitteilte. Der Verein fordert zudem ein flächendeckendes und regelfinanziertes Hilfesystem für die Kinder. Die Aktionswoche findet zeitgleich auch in den USA, in der Schweiz und in Großbritannien statt.

Kinder aus Suchtfamilien suchten sich oft keine Hilfe, sagte Rosenbrock. Gründe seien Scham oder Angst vor Konsequenzen: "Stattdessen übernehmen sie Rollen, die weder ihrem Entwicklungsstand noch ihren Kräften entsprechen." Als Folge würden sie oftmals selbst abhängig. Zudem seien sie stark gefährdet, eine psychische Krankheit oder soziale Störung zu entwickeln.

Bleibende Schäden

Katharina Balmes, Vorstandsmitglied des Hamburger Vereins Sucht(t)- und Wendepunkt, berichtete von einem großen Druck, unter dem die betroffenen Kinder stehen: "Sie kümmern sich oft um ihre jüngeren Geschwister, gehen einkaufen und schmeißen den Haushalt." Viele Kinder suchten die Schuld für die Erkrankung der Eltern bei sich selbst: "Sie sind mehr darauf bedacht, wie es den Eltern geht, als wie sie sich fühlen."

Besonders in Familien mit Alkoholproblemen ist laut Balmes zudem Gewalt weit verbreitet: "Dabei geht es nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch verbale." Manche Kinder zögen sich als Folge zurück, andere würden aggressiv oder spielten den Klassenclown. Nur etwa ein Drittel der Kinder trage keine langfristigen Schäden davon. "Das sind wahrscheinlich die Kinder, die einen stabilen Ansprechpartner außerhalb der Familie hatten", sagte sie.

Hilfsvereine hätten aber oftmals keine Planungssicherheit, kritisierte Balmes. Grund sei eine unsichere Finanzlage, oftmals müssten sich die Organisationen auf Spenden verlassen. Eine verlässliche Finanzierung sei aber entscheidend, um die Kinder lückenlos betreuen zu können. Generell würde die Situation der Kinder nur bei einem Bruchteil erkannt - wenn sie zum Beispiel zufällig an einen erfahrenen Jugendamtsmitarbeiter geraten: "Etwas so Grundlegendes wie Hilfe sollte aber nicht von Glück abhängen."

Rosenbrock sagte: "Es ist an der Zeit, dieses stille Leiden öffentlich wahrzunehmen." Dabei sei auch die Politik gefragt: Bereits 2017 habe der Bundestag beschlossen, dass Kinder psychisch- und suchtkranker Eltern in Deutschland Hilfe bekommen sollen. Dazu gehörten Aufklärungskampagnen sowie Aus- und Weiterbildungen für Erzieher, Lehrer, Ärzte und Psychotherapeuten. "Wichtig ist, dass nach all den versäumten Jahren endlich Maßnahmen ergriffen werden", fügte er hinzu.

Henning Mielke vom Verein Nacao betonte die Wichtigkeit von Aus- und Weiterbildung: Nur wenige Mädchen und Jungen könnten ein spezielles Hilfeangebot für Kinder von Suchtkranken nutzen. "Umso wichtiger ist es, dass in jeder Kita und jeder Schule die dort tätigen Menschen in der Lage sind, diese Kinder zu erkennen, zu verstehen und zu unterstützen, damit sie nicht die Süchtigen und psychisch Kranken von morgen werden", unterstrich Mielke.



WHO: Masern breiten sich stark aus

Die hochansteckenden und potenziell lebensgefährlichen Masern breiten sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wieder stark aus. In den vergangenen zwei Jahren habe sich weltweit die Zahl der erfassten Fälle verdoppelt, in Europa sogar verdreifacht, teilte die WHO am 14. Februar in Genf mit.

Für 2018 seien bis Mitte Januar dieses Jahres 229.000 Fälle der Infektionskrankheit gemeldet worden, sagte die WHO-Direktorin für Impfungen, Katherine O'Brien. Mitte Januar 2018 hatte die WHO 115.000 Masernfälle für 2017 erfasst. Die abschließende Zahl für 2017 habe bei 173.000 gelegen.

Die WHO-Mitgliedsländer können ihre Fälle für 2018 noch bis April 2019 melden. Die Zahl der erfassten Fälle für 2018 wird deshalb laut der WHO noch steigen. Die Dunkelziffer dürfte jedoch erheblich über den gemeldeten Fällen liegen.

In Europa habe sich die Zahl der gemeldeten Fälle 2018 sogar auf 60.000 verdreifacht, diese Entwicklung gehe vor allem auf die Ausbreitung der Krankheit in der Ukraine zurück.

Viele Erkrankungen auf den Philippinen

Bis zum Jahr 2016 habe sich die Zahl der Fälle weltweit zurückentwickelt. Die WHO macht den geringen Impfschutz für die starke Ausbreitung der Masern mitverantwortlich. In den Philippinen etwa seien 2017 nur rund 70 Prozent der Kinder geimpft worden.

Für einen wirksamen Schutz müssen den Angaben nach 95 Prozent aller Kinder geimpft sein. In den Philippinen sind laut WHO seit Anfang Januar mehr als 4.300 Masernfälle registriert worden, 70 Menschen seien gestorben.

Die WHO nennt zwei Hauptursachen für niedrige Impfraten. Viele Menschen in abgelegen Gebieten oder in Konfliktregionen seien für Impfteams schwer oder überhaupt nicht zu erreichen. Zudem habe das Vertrauen in die Impfung abgenommen.

Die WHO führt den Vertrauensschwund auch auf gezielte Desinformation zurück. Die Masern sind eine schwere Infektionskrankheit und werden durch Viren übertragen. Es kommt zu hohem Fieber, Schnupfen, Husten sowie Hautausschlag. Die Masern greifen das Immunsystem an. Die betroffenen Menschen sind anfälliger für andere Krankheiten.



Flüchtlinge dürfen gefundenes Geld behalten

Eine syrische Flüchtlingsfamilie aus Holzminden darf 14.000 D-Mark behalten, die sie im Mai 2017 in einem Bettbezug entdeckt hatte. "Wir geben das Geld an die Finder heraus", sagte eine Sprecherin der niedersächsischen Stadt am 13. Februar dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Die Familie hatte die Bettwäsche bei der Holzmindener Tafel erworben und das Geld als Fundsache bei der Polizei abgegeben. Kurz vor Ablauf einer halbjährigen Frist, in der sich ein rechtmäßiger Eigentümer melden oder ermittelt werden kann, meldete die Tafel einen Anspruch auf den Fund an. Seitdem prüfte das Holzmindener Rechtsamt den Fall.

Die Stadt sei nun zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich bei den Geldscheinen nicht um eine Fundsache handele und deshalb nicht einem Besitzer übergeben werden müsse, sagte die Sprecherin. Sowohl die syrische Familie als auch die Holzmindener Tafel seien über die Entscheidung informiert worden. Die 14.000 D-Mark entsprechen 7.158 Euro.




Medien & Kultur

Bauhaus Dessau als Symbol der Moderne


Bauhaus in Dessau-Roßlau
epd-bild/Jens Schlüter
Das Bauhaus bestand nur 14 Jahre als Schule für Kunst, Design und Architektur, doch es revolutionierte diese Bereiche und gilt bis heute als Inbegriff der Moderne. Dessau steht neben Weimar und Berlin im Jubiläumsjahr besonders im Fokus.

Vor 100 Jahren wurde das Bauhaus von Walter Gropius (1883-1969) gegründet. Zunächst in Weimar ins Leben gerufen und beheimatet, gingen die Bauhäusler schon einige Jahre später aufgrund des politischen Drucks nach Dessau. Diese Stadt in Sachsen-Anhalt mit dem charakteristischen und auffälligen Bauhaus-Hauptgebäude von Gropius, zugleich Sitz der Stiftung Bauhaus Dessau, ist bis heute eng mit dem Namen Bauhaus verbunden. Dort erlebte die Hochschule für Gestaltung von 1925 bis 1932 ihre Blütezeit, bevor sie sich 1933 in Berlin unter dem Druck der Nationalsozialisten selbst auflöste.

In Dessau entstand die Alltagskultur der Moderne: Schrifttypen, Möbel, Textilien, Tapeten und Architektur. Das Bauhaus gilt als eine der wichtigsten kulturellen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, es beeinflusste maßgeblich die Auffassung von Architektur und Design weltweit. Heute ist Dessau-Roßlau nach der Fusion mit der Stadt Roßlau mit mehr als 80.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt in Sachsen-Anhalt nach Halle und Magdeburg und verweist stolz auf meisten authentischen Bauhausbauten weltweit. Dort kann man in die Bauhausgeschichte eintauchen und sich mit den Ideen des Bauhauses vertraut machen.

"Dieses Haus muss man gesehen haben"

Das Hauptgebäude aus Stahlbeton und Glas, das Ende 1926 eröffnet wurde, befindet sich nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof in Dessau-Roßlau entfernt. Auffällig sind die großen Fensterfronten, die das helle Gebäude förmlich einhüllen. An der Seite ist ein großer Schriftzug "Bauhaus" angebracht. Über eine zweigeschossige Brücke, die für Verwaltung und das Büro des Bauhaus-Direktors vorgesehen war, wurde die einstige Gewerbeschule mit den Werkstätten verbunden. Mit einem großen Fest war das Gebäude damals eröffnet worden. "Dieses Haus muss man gesehen haben", schrieb das "Berliner Tageblatt" im Dezember 1926.

"Mit seinen klaren Linien, der damals revolutionären Glasvorhangfassade und den offenen Werkstattflächen kann man es auch als 'gebautes Curriculum' verstehen", sagt die Direktorin der Stiftung Bauhaus Dessau, Claudia Perren. "Zum einen ging es darum, neue Lehr- und Lernmethoden zu etablieren. Zum anderen hatte man den Anspruch, überzeugende Antworten auf die gestalterischen Herausforderungen der damaligen Zeit zu finden." Perren sagt, es sei wichtig zu betonen, "dass das Bauhaus eben nicht nur ikonische Designobjekte hervorbrachte, sondern dass dahinter in erster Linie ein pädagogisches Konzept stand".

Zweitgrößte Bauhaussammlung der Welt

Im Krieg wurde auch der Gebäudekomplex in Dessau durch Bomben getroffen und beschädigt. Die entstandenen Schäden wurden zunächst notdürftig repariert. 1972 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt und erstmals restauriert. Nach der Ernennung zum Weltkulturerbe durch die Unesco im Jahr 1996 folgten dann umfassende Sanierungsarbeiten, die 2006 abgeschlossen wurden. Für Bauhaus-Fans oder Interessierte wartet Dessau in diesem Jahr jedoch nicht nur mit restaurierten Originalbauten und Jubiläumsprogrammen auf, die Eröffnung eines neuen Museums am 8. September soll ein Höhepunkt im Jubiläumsjahr werden.

Die 1994 gegründete Stiftung Bauhaus Dessau verfügt nach Berlin über die zweitgrößte Bauhaussammlung der Welt. Um diese endlich umfassend präsentieren zu können, entsteht derzeit mitten in der Stadt das neue Bauhaus Museum Dessau. Perren betont: "Dabei geht es uns nicht darum, einzelne Design-Ikonen auf einen Sockel zu stellen. Vielmehr wollen wir auf anschauliche Art vermitteln, welche Fragen die damaligen Bauhäuslerinnen und Bauhäusler beschäftigten, wie sie sich einer Gestaltungsaufgabe näherten und wie ihre Lösungen dann konkret aussahen."

In dem neuen Haus soll die Geschichte der Schule anhand der originalen Möbel, Dokumente, Fotografien, Kunstwerke und Zeichnungen erzählt werden. Und es soll laut Perren auch als Ort etabliert werden, "an dem Platz ist für neue Begegnungen, Ideen und Experimente - wie schon am historischen Bauhaus". Am 23. Februar wird das Museum - noch als Baustelle - erstmals öffnen und mit einem Auftakt einen Vorgeschmack auf das Jubiläumsprogramm präsentieren. Jährlich zählt die Stiftung Bauhaus Dessau bisher etwa 100.000 Besucher, die sich für die Originalbauten interessieren.

Von Romy Richter (epd)


Kulturrat: AfD betreibt "Kulturkampf von rechts"


Olaf Zimmermann
epd-bild/Jürgen Blume

Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat das Erstarken der AfD für einen "Kulturkampf von rechts" verantwortlich gemacht. Die Partei versuche verstärkt, in die Autonomie des Kunstbereichs einzugreifen, sagte Zimmermann dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. "Debatten um Kunst gab es schon immer, aber diese Übergriffe sind neu", unterstrich er. Besonders in ländlichen Regionen würden kulturelle Einrichtungen immer stärker von Rechten bedrängt.

"Wir hatten eine Gesellschaft, in der Rechte marginalisiert werden. Jetzt sitzen sie in zahlreichen Parlamenten", sagte Zimmermann. Durch parlamentarische Anfragen zu missliebigen Projekten und Veranstaltungen versuche die Partei, Druck auf Künstler auszuüben. Zudem habe sie das rechte Milieu salonfähig gemacht. "Die Stimmung in Deutschland hat sich verändert", sagte der Geschäftsführer des Spitzenverbands deutscher Kulturverbände.

Staat soll Kunstfreiheit schützen

Zu den Angriffen auf politischer Ebene kämen auch Übergriffe von einzelnen Personen oder Gruppen, sagte Zimmermann. "Es kann nicht sein, dass Schauspieler mit ausländischen Wurzeln nach Proben bedroht werden", beklagte er. Er sieht den Staat in der Verantwortung: "Die Kunstfreiheit muss geschützt werden, darauf haben wir einen Anspruch."

Zimmermann sagte, keine Partei setze sich in ihrem Programm so sehr mit Kultur auseinander wie die AfD. Parteiangehörige würden zudem gezielt versuchen, wichtige Positionen im Kulturbereich zu besetzen. "Dass die AfD den Vorsitz des Kulturausschusses des Deutschen Bundestages erhält, konnte zum Glück noch verhindert werden", sagte er. Der AfD-Politiker Marc Jongen, der den Vorsitz angestrebt hatte, habe zuvor noch mit einer "Entsiffung des Kulturbetriebs" gedroht.

Betroffen von dieser "Entsiffung" wäre laut Zimmermann jeder Kulturschaffende, der in den Augen der AfD "links-grün-versifft" ist - oder in anderen Worten "jeder, der nicht ihrer Meinung ist". Dabei sei der Kulturbereich nicht besonders links. "Es gibt nur wenige Bereiche, die so vielseitig sind", betonte Zimmermann.

epd-Gespräch: Jana-Sophie Brüntjen


Kein rauschendes Fest

Es sollte ein Abschlussfest unter Freunden für den scheidenden Berlinale-Leiter Dieter Kosslick werden. Doch zahlreiche fragwürdige Beiträge drückten die Stimmung bei den 69. Berliner Filmfestspielen.

Zwei chinesische Filme bestimmten die Diskussion im letzten Drittel des Berlinale-Wettbewerbs: Zhang Yimous "One Second" und Wang Xiaoshuais "So long, My Son". Den Film von Zhang Yimou, der seine Karriere 1988 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären für "Das rote Kornfeld" startete, bekam niemand zu sehen. Er wurde von den chinesischen Behörden zurückgezogen, angeblich wegen "technischer Probleme in der Postproduktion".

Fall von Zensur

Ein Fall von Zensur - das war jedem klar - und der erste Film, der in der langen Geschichte der Berlinale aus dem Wettbewerb herausgeholt wurde. Die Filme von Zhang Yimou waren in der vergangenen Zeit eher linientreu, umso mehr wundert es, dass die Behörden ihr Exempel am wahrscheinlich immer noch prominentesten chinesischen Regisseur statuierten.

Wang Xiaoshuais "So long, My Son" war das Meisterwerk des diesjährigen Wettbewerbs. Ein Film mit einem langen Atem mit seinen drei Stunden Laufzeit, dem man aber auch noch länger hätte zuschauen können. "So long, My Son" ist ein historischer Bilderbogen, der drei Jahrzehnte chinesischer Geschichte umfasst, ein wunderbar konstruierter Film, der immer wieder zwischen den Zeitebenen springt.

Der politische Rahmen ist die Ein-Kind-Politik, die die chinesische Regierung seit Ende der 1970er Jahre durchsetzte. Zu Beginn des Films stirbt das Kind von Liyun und Yaojun. Aber auch, wenn sie ein anderes Kind adoptieren, das sie nach ihrem verstorbenen Xinxing nennen, wird nichts mehr so sein wie es war. Liyun wird zur Abtreibung gezwungen, weil sie ja schon ein Kind hat. Die drei sind irgendwie auch die Verlierer von Chinas Weg in die Marktwirtschaft.

"So Long, My Son" wäre der ideale Gewinner des Goldenen Bären, privat und politisch zugleich, und noch dazu furios und emotional erzählt Aber die Jury unter dem Vorsitz der französischen Schauspielerin Juliette Binoche entschied sich für die französisch-israelische Produktion "Synonymes" von Nadav Lapid. Das ist sicherlich auch ein kraftvoller Film, der in grotesken Sketchen von den Versuchen eines jungen Israeli erzählt, in Paris beziehungsweise Frankreich heimisch zu werden. Aber das Wasser reichen kann er "So Long, My Son" nicht. Immerhin haben die beiden großartigen Schauspieler aus dem chinesischen Beitrag, Yong Mei und Wang Jingchun, Silberne Bären für die besten Darsteller gewonnen.

Abschlussfest unter Freunden

Aber die Stimmung eines Abschlussfests unter Freunden, wie der letzte Wettbewerb des scheidenden Berlinale-Leiters Dieter Kosslick gerne apostrophiert wurde, wollte sich nicht einstellen. Dazu gab es zu viele fragwürdige Beiträge. Fatih Akins "Der goldene Handschuh" war ein erkenntnisleerer Slasher-Horror, Angela Schanelec' "Ich war zuhause, aber", erschöpfte sich in der spröden Ästhetik der Berliner Schule (auch wenn sie dafür einen Silbernen Bären für die beste Regie erhielt), "Elisa y Marcela" von Isabel Coixet (auch sie ein oft gesehener Gast auf der Berlinale) trug den Kitsch mitunter ziemlich dick auf, und "Mr. Jones" von Agnieszka Holland erwies sich als zähes und politisch dubioses Politstück.

Einen aufrechten und mutigen, wenngleich ziemlich konventionellen Film hat Francois Ozon gedreht: "Grace a Dieu" (Gott sei gelobt). Es geht um den Fall des Paters Bernard Preynat, der in den 1980er Jahren über 70 Jungen sexuell missbraucht hat und dessen Verbrechen von der Kirche und dem Kardinal Barbarin unter den Tisch gekehrt wurden. Fast dokumentarisch schildert Ozon, wie sich drei Opfer zusammen finden und einen Verein zur Aufdeckung dieser Verbrechen gründen. Ozon verwendet die echten Namen der beiden Kirchenleute, aber bislang sind alle Versuche, den Film per einstweiliger Verfügung zu stoppen, gescheitert: In dieser Woche, am 20. Februar, soll er in Frankreich anlaufen. In Berlin ist er mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet worden.

Von Rudolf Worschech (epd)


Ökumenische Jury ehrt Film über Frauenrechte

Der Film "God Exists, Her Name Is Petrunya" von Regisseurin Teona Strugar Mitevska ist auf der Berlinale mit dem Hauptpreis der Ökumenischen Jury geehrt worden. Gewürdigt werde damit die "wagemutige Schilderung der Verwandlung einer entmachteten jungen Frau in eine unverblümte Verteidigerin der Rechte der Frau", begründete die aus sechs Mitgliedern bestehende Jury am 16. Februar auf der Berlinale. Der Film war einer der diesjährigen Wettbewerbsfilme der Internationalen Filmfestspiele.

Seit 1992 sind die internationalen Filmorganisationen der evangelischen und der katholischen Kirchen - Interfilm und Signis - durch die unabhängige gemeinsame ökumenische Jury auf der Berlinale vertreten.

Bruch mit sozialen und kirchlichen Traditionen

Der mit dem undotierten Hauptpreis geehrte Film erzählt die Geschichte der 31-jährigen arbeitslosen Historikerin Petrunya in Mazedonien. Als Petrunya spontan an einem Ritual der orthodoxen Kirche teilnimmt, im Rahmen dessen junge Männer einem Kreuz hinterher springen, das von einem Priester in einen Fluss geworfen wird, bricht sie mit sozialen und kirchlichen Traditionen. "Ihre anfängliche Weigerung, das Kreuz zurückzugeben, setzt ihre innere Kraft angesichts institutioneller Konventionen frei und offenbart, dass Gott in ihr selbst ist", hieß es.

Weiter vergab die Ökumenische Jury den mit 2.500 Euro dotierten Preis in der Sektion Panorama an "Buoyancy" von Rodd Rathjen. Der Film handele von moderner Sklaverei und erzähle auf einzigartig erschütternde Weise vom Erwachsenwerden. Eine lobende Erwähnung fand zudem "Midnight Traveler" von Hassan Fazili, in der es um eine Fluchtgeschichte aus Afghanistan geht. Verwendet worden sei dafür ausschließlich Filmmaterial, das mit Smartphones aufgezeichnet wurde. Fazili verleihe der weltweiten Migrationskrise eine besondere Dringlichkeit und Unmittelbarkeit, hieß es.

Der ebenfalls mit 2.500 Euro dotierte Preis für die Sektion Forum ging an "Erde" von Nikolaus Geyrhalter für die Beschreibung der Verwüstung unseres Planeten durch menschliches Eingreifen, wie die Jury begründete. Der Dokumentarfilm zeige "brennend scharfe Bilder von der Zerstörung der Topographie der Erde und ebenso offenherzige Gespräche mit Arbeitern, Ingenieuren und Wissenschaftlern".

Ehrenpreis für Kosslick

Zum Start der Berlinale hatte die Ökumenische Jury zudem den langjährigen Berlinale-Direktor Dieter Kosslick (70) mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet. Unter Kosslick habe sich das Filmfest zu einem politischen Festival entwickelt. "Man erkennt vielleicht erst heute, nach der Erschütterung zahlreicher politischer, moralischer und kulturell-kommunikativer Gewissheiten, den Wert und die Bedeutung dieser entschiedenen Positionierung", hatte die Präsidentin der Internationalen Kirchlichen Filmorganisation "Interfilm", Julia Helmke, betont.



Schauspieler Bruno Ganz gestorben

Mit dem Film "Der Untergang" wurde er als Adolf Hitler einem breiten Publikum bekannt. Doch auch für das deutschsprachige Theater war Bruno Ganz von großer Bedeutung.

Der Schweizer Schauspieler Bruno Ganz ist tot. Der 77-Jährige starb am 16. Februar in seiner Heimatstadt Zürich an einer Krebserkrankung, wie seine Agentin Patricia Baumbauer dem epd sagte. Vertreter von Kultur und Politik würdigten Ganz als einen der ganz Großen seines Fachs.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte Ganz einen großartigen Menschen und Schauspieler von Weltrang. "So manche Figur der Weltliteratur hat erst durch ihn Profil und Farbe erhalten", erklärte Steinmeier in Berlin. "Man sah ihm zu und spürte, dass da auf der Bühne etwas geschah, was mit profanen Bergriffen nicht zu beschreiben war." Aber auch mit seinen Darstellungen in Kino und Fernsehen habe Ganz unzählige Menschen fasziniert. In vielen Rollen habe Ganz "den höchsten Höhen und den tiefsten Tiefen der deutschen Geschichte Ausdruck gegeben", betonte der Bundespräsident. "Damit hat er unsere Kultur nicht nur bereichert, sondern entscheidend mitgeprägt."

Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) würdigte Ganz als eine Ikone des deutschsprachigen Theaters und einen herausragenden Könner auch der internationalen Schauspielkunst. In zahlreichen Theaterstücken und in berühmten Filmen habe Ganz die Bandbreite und Intensität seiner jahrzehntelangen herausragenden Interpretationskunst gezeigt, erklärte Grütters in Berlin. "Niemand konnte sich der faszinierenden Kraft seiner Rollengestaltung entziehen." Das Publikum habe ihn für seine Experimentierfreude, aber auch für sein leises, oft melancholisches Spiel geliebt.

Maas: "Sein fulminantes Werk bleibt"

Außenminister Heiko Maas (SPD) nannte Ganz einen der bedeutendsten Schauspieler unserer Zeit. "Sein fulminantes Werk bleibt", erklärte der Minister über Twitter.

Berlinale-Direktor Dieter Kosslick sagte, Ganz sei ein Vertreter für "großes Kino" gewesen und in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach in verschiedenen Berlinale-Sektionen präsent. Ganz sei nicht nur ein sehr ernster, "sondern auch ein sehr, sehr lustiger" Künstler und Mensch gewesen, betonte Kosslick bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin. Der Festival-Direktor rief zu "großem Applaus für Bruno auf Deinen Weg nach oben" auf.

Der am 22. März 1941 in Zürich geborene Ganz galt als einer der führenden deutschsprachigen Schauspieler. Seine Theaterlaufbahn begann er in Bremen, gehörte in den 70er und 80er Jahre zum Ensemble der Berliner Schaubühne. Er verkörperte unzählige große Rollen des klassischen Theaters. Weil ihm die Herangehensweise der jungen Generation von Theaterregisseuren nach eigenen Angaben fremd war, widmete er sich in späteren Jahren zunehmend dem Film. Zu seinen wichtigsten Filmen gehören "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders, "Die Ewigkeit und ein Tag" von Theo Agelopoulos und "Der Untergang" von Oliver Hirschbiegel, in dem Ganz Adolf Hitler spielte.



Städel zeigt Meisterwerke von Tizian und Bellini


Tizian-Gemälde "Madonna mit dem Kaninchen" im Städel
epd-bild/Thomas Rohnke

Das Frankfurter Städel-Museum widmet sich in diesem Frühjahr der venezianischen Malerei der Renaissance. Vom 13. Februar bis 26. Mai seien mehr als 100 Meisterwerke zu sehen, darunter allein 20 Arbeiten des einflussreichsten Vertreters Tizian (1488/90-1576), sagte Städel-Direktor Philipp Demandt am 12. Februar. Darüber hinaus seien Gemälde und Zeichnungen von Giovanni Bellini (um 1435-1516), Jacopo Palma il Vecchio (1479/80-1528), Jacopo Tintoretto (um 1518/19-1594) und Paolo Veronese (1528-1588) versammelt.

Die Sonderausstellung "Tizian und die Renaissance in Venedig" wolle einen umfassenden Einblick in die künstlerische und thematische Bandbreite der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts geben und deutlich machen, warum sich Künstlerinnen und Künstler der nachfolgenden Jahrhunderte immer wieder auf die Werke dieser Zeit beziehen, sagte Demandt. Charakteristisch für diese Kunst seien etwa atmosphärisch aufgeladene Landschaftsdarstellungen, Idealbilder schöner Frauen (die sogenannten "Belle Donne") und die Bedeutung von Farben und Licht.

Neben dem venezianischen Bestand der Städelschen Sammlung, zu dem etwa Tizians Bildnis eines jungen Mannes (um 1510) gehört, werden Leihgaben aus mehr als 60 deutschen und internationalen Museen gezeigt, wie es hieß. Darunter sind etwa Sebastiano del Piombos "Dame in Blau mit Parfümbrenner" (um 1510/11; National Gallery of Art in Washington), Tintorettos "Heiliger Hieronymus (um 1571/72; Kunsthistorisches Museum Wien) und Paolo Veroneses Großbildnis "Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (um 1572; The John and Mable Ringling Museum of Art in Sarasota/Florida).



"Künstler müssen provozieren"


Jonathan Meese stellt in Lübeck aus.
epd-bild/Philipp Reiss
In Lübeck zeigt Jonathan Meese seine bislang größte Ausstellung. "Ich mag es, Skandal-Künstler oder das 'enfant terrible' zu sein", sagt der 49-Jährige.

Eine rote Kuh begrüßt die Besucher gleich zu Beginn der Jonathan-Meese-Ausstellung in der Lübecker Kulturkirche St. Petri. Fast hätte man das Hüpftier für Kinder übersehen - ist es doch nur ein kleiner Teil einer gigantischen Gesamt-Installation, die in ihrer Fülle fast erschlägt. Mit Katzen, Delfinen und Tigern bedruckte Kitsch-Decken hängen im Kirchenschiff. In der einen Ecke stehen zum Teil bemalte Schaufensterpuppen, in der anderen Skelette, darunter ein Haufen Chipsdosen. Auf dem Altar hat Meese eine Styropor-Säule installiert, mit der Aufschrift: "Der heillose Gral".

Jonathan Meese (49) ist ein zeitgenössischer Hamburger Künstler und längst kein unbekannter mehr, wie sich auch an dem Presserummel am Lübecker Holstentor am 15. Februar ablesen lässt. Meese war gekommen, um seine bislang größte Ausstellung vorzustellen, die am 17. Februar an zunächst zwei von fünf Standorten in Lübeck eröffnet wurde. Unter dem Titel "Dr. Zuhause: K.U.N.S.T. (Erzliebe)" zeigt er in der Kulturkirche St. Petri und im Günter Grass-Haus Installationen und Malereien zum Thema Heimat. Die Kunsthalle St. Annen und die Overbeck-Gesellschaft sollen am 30. März folgen.

Radikal und expressiv

Meese gilt als radikal und expressiv. Wo er geht und steht, propagiert er die Diktatur der Kunst. Vor der Presse gibt er sich zahm, schüttelt den Journalisten die Hand, umarmt seine Lübecker Kooperationspartner mit Küsschen. An seiner Seite ist stets "Mami", seine 89-jährige Mutter Brigitte Meese, die ihn managt und seine engste Vertraute ist. Ihr gilt auch am Freitag seine erste Frage: "Ist Mami schon da? Das ist das Wichtigste!" Ja, Mami ist da. Sie ist die zahlreichen Stufen bis in den ersten Stock des Holstentors gekraxelt.

Meese kraxelt hinterher, angetan von der Architektur des Lübecker Wahrzeichens. "Das Holstentor ist Kunst! Es hat das politische System, in dem es entstand, überlebt!", ruft er und hat damit seine Kernbotschaft für die Lübecker schon platziert. Religiöse und politische Ideologien muss man zerstören, sagt Meese, die Zukunft gehört allein der Kunst. Und die will er mit seiner Ausstellung nach Lübeck bringen.

Sowohl für Meese als auch für die Kulturschaffenden der Hansestadt ist die umfangreiche Schau einmalig - und ein Experiment. Keiner von den Verantwortlichen wusste genau, was Meese in Lübeck anstellen würde. Auf dem Presse-Podium wirken alle zufrieden. Dabei ist seine Kunst umstritten.

Auf die Frage, ob Lübeck einen Skandal-Künstler wie Meese braucht, nimmt der Kurator der Ausstellung, Oliver Zybok, seinen langjährigen Freund in Schutz. Die Kritik an ihm sei oft "pauschal diffamierend". Stattdessen wolle man mit dem Lübeck-Projekt einen differenzierteren Blick auf Meese bieten. "Denn wenn man dem Künstler genau zuhört, merkt man schnell, dass hier jemand unsere Gegenwart genau beobachtet und die Finger in die Wunden legt. Und genau das ist eine Aufgabe von Kunst", so Zybok.

Meese selbst ist es egal, ob seine Kunst dem Betrachter gefällt oder nicht. "Ich mag es, Skandal-Künstler oder das 'enfant terrible' zu sein", sagt er. Er male auch nicht, um sich zu gefallen, sondern um sich herauszufordern. "Künstler müssen provozieren. Und die Selbstzensur, die sich einige Künstler auferlegen, ist wahnsinnig", so Meese. Allerdings sei er kein Atheist, wie er oft lese. "Ich bin wie ein Tierbaby. Ich kenne keine Ideologie, meine Mutter hat mir das nicht antrainiert. Ich bin völlig frei."

Kunst ohne Grenzen

Frei für die Kunst, die für Meese keine Grenzen kennt. Die Ausstellung in St. Petri steht unter dem Titel "Großmutter und Macht". Die "Oma" findet sich auch tatsächlich in St. Petri - als übermenschlich großer Styropor-Klumpen, in Teilen angemalt und mit einer Locken-Perücke. Vier Tage lang hat Meese die Ausstellung mit seinem Team arrangiert. Zwei Trucks mit Anhängern sind aus Berlin angereist, um alle Exponate in die Kulturkirche zu schaffen. Aus den Lautsprechern ertönen Hörspiele, die Meese vor Jahren selbst geschrieben und gesprochen hat.

Ob das rote Hüpftier aus St. Petri so lange überlebt wie das spätgotische Holstentor? Wenn Jonathan Meese sich für ein Pressefoto draufsetzt, vielleicht schon. Denn die Figur Meese ist selbst ein großer Teil seiner Kunst.

Von Nadine Heggen (epd)


Evangelisches Journalismus-Projekt für Geflüchtete wird fortgesetzt

Die Finanzierung des Nachrichtenportals "Amal, Berlin!" mit Nachrichten für Geflüchtete ist bis Ende 2021 gesichert. Das unter anderem von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) geförderte Projekt werde in einigen Wochen auch eine Redaktion in Hamburg eröffnen, teilte die Evangelische Journalistenschule (EJS) am 12. Februar in Berlin mit. "Wir freuen uns über die neue Redaktion an der Elbe", sagte die Präses der EKD-Synode, Irmgard Schwaetzer. Die Journalistenschule betreibt die journalistische Nachrichtenplattform für Geflüchtete.

Für das Nachrichtenportal produzieren derzeit neun Journalisten aus Ägypten, Syrien, Afghanistan und dem Iran eine regionale und täglich aktuelle Online-Zeitung auf Arabisch und Farsi. Dadurch sollen Flüchtlinge mit Nachrichten, Reportagen und Videos aus der Hauptstadt und Deutschland versorgt werden, um ihnen so die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern. "Für die evangelische Kirche ist Amal ein Leuchtturmprojekt. Integration funktioniert nur durch Information und Teilhabe - und dafür braucht es Qualitätsmedien und professionelle Journalistinnen und Journalisten", sagte Schwaetzer. Ab Frühjahr 2019 sollen 13 Redakteurinnen und Redakteure für "Amal, Berlin!" arbeiten, heißt es in der Mitteilung der EJS.

Ausgezeichnetes Projekt

Das Nachrichtenportal erreicht inzwischen über seine Website und Facebook täglich rund 35.000 geflüchtete Menschen. Professionelle deutsche Journalistinnen und Journalisten begleiten das Projekt. "Amal, Berlin!" arbeitet seit Juni 2017 und wurde seither schon mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Finanzierung wird nicht nur durch die EKD sichergestellt, auch mehrere Landeskirchen und Stiftungen beteiligen sich an dem Projekt.

Die EJS in Berlin bildet seit 1995 Journalistinnen und Journalisten aus. Sie gehört zum Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Frankfurt am Main. Das GEP ist das zentrale Mediendienstleistungsunternehmen der EKD, ihrer Gliedkirchen, Werke und Einrichtungen. Es trägt unter anderem die Zentralredaktion des Evangelischen Pressedienstes (epd), das evangelische Magazin "chrismon" und das Internetportal "evangelisch.de".



"Für eine anständige Slowakei"


Redaktion des Nachrichtenportals "Aktuality.sk" in Bratislava
epd-bild/Kilian Kirchgeßner
Er wurde nur 27 Jahre alt. Vor einem Jahr erschoss ein Auftragsmörder den slowakischen Journalisten Ján Kuciak, der über die Verstrickungen von Mafia und Politik recherchierte. Heute kämpft sein Vater Josef für das Vermächtnis des Sohnes.

Der Garten ist eine Idylle, hier in den Karpaten im Westen der Slowakei. Stiavnik heißt der kleine Ort, und noch vor einem Jahr hätte niemand geglaubt, dass die Ausläufer der großen Politik einmal bis hierher reichen können. "Die ersten drei Tage nach dem Mord haben wir uns eingeschlossen, wir haben keine Nachrichten verfolgt und es einfach nicht wahrhaben wollen, was passiert ist", sagt Josef Kuciak. Er ist der Vater des Journalisten Ján Kuciak, der vor einem Jahr, am 21. Februar 2018, ermordet wurde. Der 27-jährige Investigativreporter des Nachrichtenportals "Aktuality.sk" hatte zuletzt zu Verstrickungen zwischen organisiertem Verbrechen und Politik in der Slowakei recherchiert.

Jetzt sitzt der Vater mit einer Tasse Kaffee im Gartenhäuschen in Stiavnik, der Schmerz ist ihm ins Gesicht geschrieben. "Erst nach diesen ersten drei Tagen habe ich langsam mitbekommen, dass die ganze Welt auf den Mord reagiert."

In der Slowakei hat der Tod des Reporters für ein Erdbeben gesorgt, in dessen Folge der Regierungschef Robert Fico, zwei Minister und der Polizeipräsident zurücktreten mussten. Die Dimension des Falls zeichnete sich schon an dem Tag ab, als die Leichen des Reporters und seiner Verlobten Martina Kusnirova gefunden wurden, dem 25. Februar: "Sie wurden getötet mit Schüssen in Brust und Kopf. Wahrscheinlich hängt der Mord mit seiner journalistischen Tätigkeit zusammen", sagte der damalige Polizeichef auf einer Pressekonferenz.

Systematisch ausgespäht

Ján Kuciak galt als einer der geschicktesten Enthüllungsreporter des Landes. Er deckte Skandale auf, die bis in die hohe Politik hinein reichen. "Über seine Arbeit haben wir nicht viel gesprochen", sagt sein Vater im Rückblick, "und wenn ich ihn gefragt habe, was er so macht, hat er geantwortet: 'Hey, das ist streng geheim!' Er hat da immer Witze darüber gemacht. Dass etwas geschehen könnte, hat er sich selbst nie eingestanden."

Nach dem Mord kam nach und nach heraus, dass Ján Kuciak offenbar über Wochen hinweg systematisch ausgespäht worden ist, bevor er dann in seinem Haus, das er gerade gekauft hatte und noch renovieren wollte, erschossen worden ist. Seine Verlobte, eine Archäologin, sollte eigentlich auf Ausgrabungsarbeiten sein, die aber wegen des schlechten Wetters abgesagt wurden.

Ein halbes Jahr lang hat die slowakische Polizei ermittelt, bis sie den Täter fassen konnte: Ein Mann, der früher als Söldner gearbeitet hatte, hat den Mord inzwischen gestanden. Ein paar Zehntausend Euro bekam er dafür - Auftraggeber soll ein Unternehmer sein, der dubiose Geschäfte mit der Unterwelt machte und bis in die höchsten Etagen der Politik gut vernetzt ist. Zu dessen Machenschaften hatte Kuciak immer wieder recherchiert. Es ist den Ermittlern allerdings bisher nicht gelungen, die Anstiftung zum Mord wasserdicht nachzuweisen; der Beschuldigte sitzt derzeit wegen anderer Delikte im Gefängnis.

Josef Kuciak, der Vater, der zum Zeitpunkt des Mordes gerade erst in Rente gegangen war, kämpft jetzt für das Vermächtnis seines Sohnes. Ein Museum für die Pressefreiheit könnte in seinem Haus eingerichtet werden, so überlegen derzeit viele Slowaken. "Ich wäre schon froh, wenn so ein Mord nicht mehr vorkommt", sagt Josef Kuciak und fügt hinzu: "Und wenn die Leute sich vor Augen halten, wer dafür verantwortlich ist und warum das passiert ist."

Diese politische Dimension ist es, die die Slowakei bis heute in Atem hält. Unmittelbar nach dem Mord gingen in allen größeren Städten des Landes Zehntausende Demonstranten auf die Straße, ihr Motto lautete: "Für eine anständige Slowakei".

Behörden bleiben unttätig

Seit Jahren schon machen Journalisten immer wieder darauf aufmerksam, wie eng Justiz, Politik und mutmaßliche Mafiagrößen miteinander verwoben sind. Da wohnen Minister in Luxus-Apartments, die sie sich von ihrem offiziellen Salär nie leisten könnten, da werden öffentliche Aufträge dubiosen Geschäftsleuten zugeschanzt - und obwohl Reporter die Geschäfte detailliert beschreiben, bleiben die Ermittlungsbehörden weitgehend untätig.

Eine Frau, die diese Geschichten gut kennt, ist Iveta Radicová. Die Soziologie-Professorin war von 2010 bis 2012 Premierministerin, bis sie über eine Intrige ihres Koalitionspartners stolperte. Sie gilt als Sauberfrau in der slowakischen Politik.

Der Wirtschaftsboom komme bei den meisten Bürgern nicht an, analysiert sie: "Der Graben vergrößert sich, das Armutsrisiko für Kinder ist sogar gewachsen, auch die regionalen Unterschiede werden größer. In dieser problematischen Lage passierte der Mord an dem Journalisten, es kommen immer neue Korruptionsskandale ans Licht, und die Menschen gehen auf die Straße mit der klaren Ansage: Es ist endlich genug!" Ob die Demonstranten einen ausreichend langen Atem haben werden, um wirkliche Änderungen in der Slowakei zu bewirken, muss sich erst noch zeigen.

Jan Kuciaks Vater erinnert sich inzwischen an einen Satz, den sein Sohn öfters sagte: "Immer, wenn er jemandem mit irgendetwas geholfen hat, mit einer Reparatur zum Beispiel, sagte er am Schluss: 'Bedank dich nicht, aber erinnere dich daran!'" Dieser Satz soll nach dem Willen des Vaters über den Eingang zum Museum stehen, das im Haus seines Sohnes entstehen soll. Die Worte haben jetzt nach dem Mord für die Slowaken einen neuen, einen tieferen Sinn bekommen.

Von Kilian Kirchgeßner (epd)


Filme der Woche

Vice – Der zweite Mann

In beiden Legislaturperioden begleitete Dick Cheney den republikanischen Präsidenten George W. Bush als Vizepräsidenten. Adam McKays zuspitzendes Biopic porträtiert diesen besonderen Vize, dessen politische Macht die bis dahin geltenden Grenzen seines Amtes deutlich überstieg und ihn zu einem der einflussreichsten Politiker seiner Zeit machte. Christian Bale gelingt in seiner Rolle als Cheney erneut eine verblüffende Verwandlung (prämiert mit dem Golden Globe): vom jungen Loser, der wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet wird, bis zum apoplektischen Konzernchef und intriganten Weltpolitiker.

Vice – Der zweite Mann (USA 2018). R u. B: Adam McKay. Mit Christian Bale, Amy Adams, Steve Carell, Sam Rockwell, Eddie Marsan, Alison Pill, Tyler Perry. 132 Min.

Hotel Jugoslavija

1969 wurde das Hotel Jugoslavija in Belgrad als Vorzeigebau für den funktionierenden sozialistischen Staat eröffnet. Bis zum Zusammenbruch Jugoslawiens fungierte es als Hotel, wurde bei einem Bombenangriff 1999 teils beschädigt und seither wechselweise in unterschiedlicher Funktion genutzt. Nicolas Wagnières ergründet die Geschichte des Prachtbaus, lässt in Teilen die Architektur selbst, aber auch Zeitzeugen, Archivmaterial und einen eigenen Kommentar Einordnungen liefern. Eine interessante Perspektive auf die jüngere Vergangenheit mit persönlichem Zugang.

Hotel Jugoslavija (Schweiz 2017). R u. B und Stimme: Nicolas Wagnières. 78 Min.

Can You Ever Forgive Me?

Die Karriere der mürrischen Schriftstellerin Lee Israel ist an einem Tiefpunkt angelangt. Ihre Bücher verkaufen sich nicht und neue Aufträge sind nicht in Sicht. Schweren Herzens verkauft sie einen Brief, den sie einst von Katharine Hepburn bekommen hat – für einen anständigen Preis. Ein Sammlermarkt für derlei obskure Stücke tut sich auf, und der will bedient werden. Also nutzt Lee ihr kreatives Talent, um Star-Devotionalien zu fälschen; Trinkkumpan Jack hilft ihr beim Verkaufen. Der auf wahren Begebenheiten basierende Film schwingt sich mit Melissa McCarthy in einer für sie ungewöhnlichen Rolle zu einem der eindrücklichsten US-Independent-Filme der letzten Jahre auf.

Can You Ever Forgive Me? (USA 2018). R: Marielle Heller. B: Nicole Holofcener, Jeff Whitty (nach einer Vorlage von Lee Israel). Mit Melissa McCarthy, Richard E. Grant, Dolly Wells, Ben Falcone, Jane Curtin, Stephen Spinella. 106 Min.

Der verlorene Sohn

Jared, der Sohn eines evangelikalen Predigers, outet sich als schwul. Seine Eltern bewegen den Jungen dazu, sich einer „Therapie“ zu unterziehen, die Homosexualität als Störung behandelt. Die einschneidenden Erlebnisse im Umerziehungscamp wechseln sich mit Rückblenden ab, die Jareds Vergangenheit und damit seine Identitätsfindung bis zum Coming-out zeigen. Mit großer Star-Besetzung hat Joel Edgerton die autobiographische Romanvorlage verfilmt. Besonders Lucas Hedges als Jared weiß zu überzeugen, spielt allerdings gegen eine allzu dünne Figurenzeichnung und vorhersehbare Dramaturgie an.

Der verlorene Sohn (USA/Australien 2018). R u. B: Joel Edgerton. Mit Lucas Hedges, Nicole Kidman, Joel Edgerton, Russell Crowe, Xavier Dolan. 115 Min.

www.epd-film.de




Entwicklung

Der Präsident, das Paradies und das Plastik


Bundespräsident Steinmeier und seine Frau beobachten eine Riesenschildkröte auf Galapagos.
epd-bild/Christian Irrgang
Das Thema Umweltschutz gehörte bislang nicht zu den Schwerpunkten von Bundespräsident Steinmeier. Auf seiner Südamerika-Reise zeigt er sich besorgt über den Planeten. Besonders eine Umweltsünde ist ihm ein Dorn im Auge: der Plastikmüll.

Ganz ohne Plastik geht es auch auf den Galapagos-Inseln nicht. Ein Mädchen am Strand der Insel Santa Cruz spült im Meer den vielen Sand von ihren Kunststoff-Sandalen. Der Lutscher im Mund eines Jungen hat einen Plastik-Stiel. Aber die Inseln bemühen sich um Verzicht. Tüten aus Kunststoff sind verboten.

In einem deutschen Regierungsflieger wird an Plastik bislang eher nicht gespart. Jedes Essensschälchen ist hygienisch in Frischhaltefolie gewickelt, jedes Besteck vor neuer Benutzung neu eingeschweißt. "Da gibt es schon Potenzial zu sparen", findet Helene Radloff.

Die 20-Jährige Medizinstudentin hat 2017 gemeinsam mit zwei Schulfreunden den Wettbewerb "Jugend forscht" gewonnen. Zwei Jahre später sind die drei früheren Klassenkameraden Teil der Delegation, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf seiner Südamerika-Reise begleitet. Am 16. Februar endete die gut fünftägige Reise auf den Spuren des Naturforscher Alexander von Humboldt, der vor mehr als 200 Jahren Südamerika erkundete und fasziniert war von der besonderen Flora und Fauna. Es ging auf dieser Reise also auch um Artenschutz, Klimaveränderung, Umweltbewusstsein - und ziemlich viel um Plastik.

Riesige Plastikinseln im Meer

"Wenn wir weitermachen wie bislang, schwimmt bis 2050 womöglich mehr Plastik als Fisch in den Ozeanen", sagte Bundespräsident Steinmeier. Helene Radloff, Johanna Romahn und Felix Engelhardt würden da nicht widersprechen. Ihr "Jugend forscht"-Projekt zeigte 2017, dass Mikroplastik vielleicht viel tiefer in den Meeresboden eindringt und damit auch eine noch viel größere Belastung für die Meere ist als bis dahin von der Forschung angenommen.

Die riesigen Plastikinseln, die inzwischen im Meer schwimmen, sind die sichtbaren Folgen des unbedarften Kunststoffkonsums. Mikroplastik - Teilchen bis zu einer Größe von fünf Millimetern - ist das nicht. Wie viel Schaden es in den Meeren anrichtet, ist nicht bis ins letzte Detail erforscht. Wissenschaftler haben aber längst herausgefunden, dass es Fische aufnehmen und das Plastik damit auch irgendwann in den Mägen anderer Tiere oder vom Menschen landet.

Miteinander von Natur und Mensch

Das bedroht auch das Naturparadies auf den Galapagos-Inseln. Freiwillige sieben auf Santa Cruz, einer der größeren Inseln, den Sand am Strand, um Plastikteilchen herauszufischen. Sie wollen es fernhalten von den Echsen, Leguanen, Blaufußtölpeln, Fregattenvögeln und Riesenschildkröten, die hier heimisch sind. Das Archipel ist ein einzigartiges Biotop. Besucher staunen über Tiere, die kaum natürliche Feinde haben und daher auch Menschen in ihrer Nähe tolerieren. Die Parkregeln erlauben maximal zwei Meter. Und dennoch: "Wer hier ist und sich ein bisschen umschaut, der merkt, wie bedroht dieses Paradies ist", stellt Steinmeier fest, der als erster Bundespräsident die Inseln besuchte.

Steinmeier hat auf seiner Südamerika-Reise das Miteinander von Natur und Mensch in den Vordergrund gestellt. "Wir haben nur einen Planeten", mahnte er in seiner Rede an der katholischen Universität in Ecuadors Hauptstadt Quito. Nicht nur Europa müsse sich mit dem Thema Plastikmüll befassen, sagte er. Konkrete Forderungen hatte der Bundespräsident nicht, merkte aber an, dass Verbote in der Vergangenheit durchaus Erfolg hatten.

Erhalt des Archipels

Dass beim Thema Plastikmüll endlich mehr geschieht, wünscht sich auch der Geschäftsführer der Charles Darwin Foundation, Arturo Izurieta. Die Einrichtung auf den Galapagos-Inseln, benannt nach dem berühmten Evolutionsforscher, will mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit zum Erhalt des Archipels beitragen. Ein neues Forschungsprojekt hat sich zum Ziel gesetzt herauszufinden, woher der Plastikmüll auf den Galapagos-Inseln angeschwemmt wird.

Das Thema Plastik erfordere eine ähnliche Anstrengung auf UN-Ebene wie der Klimaschutz, sagt Izurieta im Gespräch mit Steinmeier. Und auch die Jugend in der Delegation hat Ideen. Auf Plastikverpackungen könnte eine Steuer erhoben werden, schlägt Helene Radloff vor. Das könne Menschen dazu bewegen, ihr Verhalten zu ändern. Sie selbst ist im Alltag nach ihrem Forschungsprojekt inzwischen ziemlich konsequent. Kosmetikprodukte wie Deo oder Zahnpasta stellt sie selbst her, ohne Mikroplastik. Das sei ganz einfach: "Kokosöl, Natron und je nach Geschmack Pfefferminzöl."

Von Corinna Buschow (epd)


Steinmeier besucht Anlaufstelle für Flüchtlinge aus Venezuela


Bundespräsident Steinmeier in einer Anlaufstelle für venezolanische Flüchtlinge in Kolumbien
epd-bild/Christian Irrgang

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei seinem Besuch in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá eine Aufnahmeeinrichtung für venezolanische Flüchtlinge besucht. In der Einrichtung am zentralen Busbahnhof informierten sich Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender über die aktuelle Situation und den Umgang Kolumbiens mit den Flüchtlingen aus dem Nachbarland, die wegen der dortigen Krise das Land verlassen. Steinmeier hatte bei seinem Besuch die Anstrengungen Kolumbiens wiederholt gewürdigt. Das Land trage eine Last, sagte er.

Kolumbien mit 50 Millionen Einwohnern verzeichnete im Februar nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) 1,17 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela. Durchschnittlich rund 80 Personen erreichen nach Angaben von Mitarbeitern der Einrichtung in Bogotá täglich den Busbahnhof der Hauptstadt Kolumbiens. In Bogotá leben nach ihren Angaben inzwischen mehrere Hunderttausend venezolanische Flüchtlinge.

Gespräche am Busbahnhof

Viele, die die Grenze nach Kolumbien überqueren, wollen nach Angaben der Mitarbeiter auch weiter nach Ecuador und Peru. Sie erhalten nach ihren Worten Papiere für die Weiterreise. Venezolanische Flüchtlinge, die in Kolumbien bleiben wollen, erhielten Sonderaufenthaltsgenehmigungen. Mit den Papieren habe die kolumbianische Regierung flexibel auf den Andrang der Flüchtlinge aus Venezuela reagiert, sagte die Einrichtungsleiterin Cristina Vélez. Die Flüchtlinge könnten damit legal in Kolumbien bleiben und eine Arbeit aufnehmen.

Für den Besuch der Einrichtung haben sich Steinmeier und seine Frau am 13. Februar eine Stunde Zeit genommen. Sie redeten auch mit Flüchtlingen, die am Busbahnhof auf ein Beratungsgespräch und die Ausstellung ihrer Aufenthaltspapiere warten. Am Vormittag wollte Steinmeier weiter nach Ecuador reisen. Auch in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito will der Bundespräsident eine Einrichtung für venezolanische Flüchtlinge besuchen.



Gustav-Adolf-Werk nimmt Frauen in Südamerika in den Blick

Die Arbeitsgemeinschaft Frauenarbeit des Gustav-Adolf-Werks widmet ihr diesjähriges Jahresprojekt Frauen und Indigenen in Argentinien und Uruguay. Unterstützt werden sollen unter anderen Beratungsstellen für Frauen in den Armenvierteln der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, wie das evangelische Missionswerk am 11. Februar in Leipzig mitteilte.

Ebenfalls in Argentinien will sich das Werk demnach für eine zweisprachige Schule für Indigene in der nördlichen Provinz Misiones und für eine Frauenkonferenz einsetzen. In Uruguay sei geplant, sich für die ersten Pfarrerinnen-Pensionen der Waldenserkirche zu engagieren. Für die Projekte sollen 2019 insgesamt etwa 95.000 Euro an Spenden gesammelt werden, wie es hieß.

Das Gustav-Adolf-Werk wurde 1832 in Leipzig gegründet und unterstützt seit 1948 im offiziellen Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) protestantische Kirchen in der Diaspora. Pro Jahr fließen rund zwei Millionen Euro an Spenden an die Partnerkirchen. In Deutschland wird die Arbeit des Werkes nach eigenen Angaben von 21 Haupt- und 19 Frauengruppen getragen. Mit seinem Namen erinnert das Werk an den lutherischen schwedischen König Gustav II. Adolf (1594-1632), der als Verteidiger des Protestantismus gilt.



Ärger über kurzfristige Verschiebung der Wahl in Nigeria

Die nigerianische Wahlkommission hat die geplante Abstimmung kurz vor Öffnung der Wahllokale verschoben.

Nach der kurzfristigen Verschiebung der Präsidentenwahl hat die Wahlkommission in Nigeria Vorwürfe politischer Einflussnahme zurückgewiesen. Die Kommission übernehme die volle Verantwortung für die Verschiebung, sagte ihr Vorsitzender, Mahmood Yakubu, am 16. Februar. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen waren in der Nacht zum 16. Februar, wenige Stunden vor Öffnung der Wahllokale, aus logistischen Gründen um eine Woche auf den 23. Februar verschoben worden.

Yakubu erklärte, die Organisation der Wahlen in Afrikas bevölkerungsreichstem Land sei eine Mammutaufgabe. In den vergangenen Monaten seien knapp 422 Millionen Stimmzettel gedruckt und eine Million Wahlhelfer ausgebildet worden. Verzögerungen bei der Auslieferung von Wahlmaterial seien angesichts des Umfangs nichts Außergewöhnliches. Zugleich habe es Versuche gegeben, die Vorbereitungen zu sabotieren: In drei lokalen Büros der Kommission seien Brände gelegt und Hunderte Wählerkarten verbrannt worden, die erneut gedruckt werden müssten.

Schon in der Vergangenheit hat die Kommision immer wieder kurzfristig Abstimmungen verschoben. Oftmals kam es danach zu Protesten und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Bei den Wahlen 2015 kündigte die Kommission eine Woche vorher an, wegen Sicherheitsbedenken die Abstimmung um sechs Wochen zu verschieben. 2011 wurden die Präsidenten- und Parlamentswahlen am Wahltag selbst verschoben, als in manchen Teilen bereits gewählt wurde. Weil es Verzögerungen bei der Auslieferung von Wahlmaterial gegeben hatte, fand die Wahl zwei Tage später statt.

Kritik an Wahlkommission

Auch diesmal sorgte die kurzfristige Verschiebung der Wahlen landesweit für Ärger. Präsident Muhammadu Buhari (76) schrieb auf Twitter, er sei tief enttäuscht. Die Wahlkommission habe immer wieder versichert, bereit zu sein. "Wir und alle Bürger haben ihr geglaubt." Buhari erklärte, die Wahlkommission müsse sicherstellen, dass die bereits ausgelieferten Wahlunterlagen nun nicht in falsche Hände gelängten. Er rief die Bürger auf, Ruhe zu bewahren.

Auch der Kandidat der Opposition, Atiku Abubakar, rief die Wähler zu Geduld auf. Man habe die Misswirtschaft der Regierung die vergangenen vier Jahre ausgehalten und müsse nur noch ein paar Tage durchhalten. "Man kann eine Wahl verschieben, aber nicht das Schicksal", schrieb Atiku auf Twitter. Der 72-Jährige sah in der Verschiebung einen Versuch, die Wahlbeteiligung zu beeinflussen und einen möglichen Sieg der Opposition zu verhindern.

Bei der Präsidentenwahl wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amtsinhaber Buhari und dem Geschäftsmann und Milliardär Atiku erwartet. Insgesamt 84 Millionen Wähler sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Wegen Politikverdrossenheit in der Bevölkerung wird mit einer niedrigen Wahlbeteiligung gerechnet. Die Verschiebung könnte dazu führen, dass noch weniger Bürger ihre Stimme abgeben. Viele Wähler waren am Wochenende bereits in ihre Heimat-Bundesstaaten gereist, um dort ihre Stimme abzugeben.

Erschwert wird die Wahl durch islamistischen Terror im Norden und Nordosten des Landes. Konflikte zwischen bewaffneten Viehtreibern und sesshaften Bauern im Zentrum Nigerias sowie die starke Zunahme von Entführungen in der nigerianischen Mittelschicht stellen weitere Krisenherde dar. Zentrale Probleme in Afrikas größter Ölfördernation sind außer der Sicherheitslage die Folgen einer seit zwei Jahren währenden Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit gerade bei jungen Nigerianern, die die Mehrheit der Bevölkerung von mehr als 200 Millionen ausmachen.



"Save the Children": Etwa jedes fünfte Kind weltweit lebt im Krieg

Noch nie lebten so viele Kinder im Krieg: Schätzungsweise jedes fünfte Kind wächst in einem Konfliktgebiet auf. Zugleich gibt es mehr Angriffe auf Schulen, und die Zahl der Kindersoldaten steigt. Aktivisten sprechen von "verlorenen Generationen".

Schätzungen zufolge wächst weltweit jedes fünfte Kind in einem Konflikt- oder Kriegsgebiet auf. 2017 waren es demnach rund 420 Millionen Kinder, wie aus dem Bericht "Krieg gegen Kinder" der Kinderrechtsorganisation "Save the Children" hervorgeht, der am 14. Februar in Berlin vorgestellt wurde. Die Zahl habe sich seit Beginn der 1990er Jahre verdoppelt. Damals hätten 200 Millionen Kinder im Krieg gelebt. "Save the Children" wird in diesem Jahr 100 Jahre alt.

Die Organisationen wurde 1919 von Eglantyne Jebb in Großbritannien gegründet. Die Arbeit der Organisation sei aktueller denn je, sagte Martina Dase, Direktorin der deutschen Jubiläumskampagne. "Noch nie hat es so viele Kinder gegeben, die im Krieg aufwachsen", unterstrich sie.

Indirekte Kriegsfolgen

Die zehn gefährlichsten Länder für Kinder sind dem Bericht zufolge Afghanistan, der Jemen, der Südsudan, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo, Syrien, der Irak, Nigeria, Somalia und Mali. In diesen zehn gefährlichsten Staaten seien zwischen 2013 und 2017 mindestens 550.000 Babys durch die Folgen von Konflikten ums Leben gekommen - durchschnittlich also mehr als 100.000 pro Jahr. Die meisten von ihnen seien an indirekten Kriegsfolgen wie Hunger oder mangelndem Zugang zu Gesundheitsversorgung gestorben.

Würden nicht nur Babys, sondern alle Kinder unter fünf Jahren in die Rechnung einbezogen, starben der Organisation zufolge in diesen Ländern im gleichen Zeitraum knapp 870.000 Kinder und Säuglinge. Dem gegenüber stünden Hochrechnungen nach 175.000 kämpfende Erwachsene, die in dieser Zeit ums Leben kamen.

Jeden Tag Kinder unter Beschuss

"Das Leid der Kinder in Kriegen wird immer grauenvoller", sagte Susanna Krüger, Geschäftsführerin von "Save the Children" Deutschland. "Wir sind schockiert, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert den einfachsten moralischen Standards den Rücken kehrt", kritisierte sie. Kinder und Zivilisten dürften niemals Angriffsziele seien. Dennoch gerieten jeden Tag Kinder unter Beschuss. "Kriegsverbrechen wie der Gebrauch chemischer Waffen, Zwangsrekrutierung oder Vergewaltigung sind an der Tageordnung und die Welt schaut zu", beklagte sie.

"Save the Children" wertete nach eigenen Angaben für den Bericht auch Daten der Vereinten Nationen zu schweren Kinderrechtsverletzungen aus. Zwischen 2010 und 2017 habe sich demnach die Zahl der Kinderrechtsverletzungen fast verdreifacht, von knapp unter 10.000 auf mehr als 25.000 pro Jahr. Täglich würden Kinder gezielt getötet, verstümmelt, von bewaffneten Gruppen rekrutiert oder entführt. Zudem würde Kindern humanitäre Hilfe vorenthalten.

Verstöße gegen das Völkerrecht

So stieg den Angaben nach zwischen 2016 und 2017 die Zahl der Kindersoldaten um drei Prozent, die Fälle der sexuellen Gewalt gegen Kinder um zwölf Prozent und die Zahl der entführten Kinder um 62 Prozent. Im Jahr 2017 habe es zudem 1.432 bestätigte Angriffe auf Schulen gegeben. Auch Krankenhäuser, Kliniken und andere Gesundheitseinrichtungen würden häufig angegriffen oder zu militärischen Zwecken genutzt.

Meike Riebau, Projekt-Koordinatorin des Berichts, verurteilte diese Angriffe: "Wenn Schulen und Krankenhäuser nicht sicher sind, bedeutet das, dass der ganze Wiederaufbau schwerer wird." So gehe eine ganze Generation verloren. Gezielte Angriffe auf Kinder oder Einrichtungen, in denen sich Kinder befinden, seien klare Verstöße gegen das Völkerrecht.

"Die internationale Gemeinschaft muss klar machen, dass sie nicht toleriert, wenn internationale Verhaltensregeln im Krieg missachtet werden", forderte Geschäftsführerin Krüger. Täter müssten zur Verantwortung gezogen und Kinder besser geschützt werden. "Unser Appell richtet sich auch an die Bundesregierung, die mit dem Sitz im UN-Sicherheitsrat und als einer der größten Geber eine besondere Verantwortung für das Wohl und den Schutz der Kinder hat", unterstich sie.



Im Zweifel für den Profit


Spuren der Zerstörung nach einem Dammbruch in Brasilien 2015 (Archivbild).
epd-bild/Alberto Veiga
Hunderte Menschen starben nach dem Bruch eines Damms in einer Eisenerzmine im Südwesten Brasiliens. Wissenschaftler sprechen von einer vermeidbaren Katastrophe. Immer mehr fatale Sicherheitsverstöße des Bergbaukonzerns Vale werden jetzt publik.

Nach dem verheerenden Dammbruch in einer Eisenerzmine in Brumadinho mischt sich in die Verzweiflung der Menschen Wut - auf das Minenunternehmen Vale und auf die Politik. Immer mehr Einzelheiten kommen jetzt ans Licht, wie Brasiliens größter Bergbaukonzern Sicherheitsrisiken kontinuierlich ignorierte. Experten haben schon lange vor einer "tickenden Zeitbombe" gewarnt. Für den Umweltwissenschaftler Bruno Milanez war der Dammbruch eine Katastrophe mit Ansage. Denn alte Dämme wie die in Brumadinho im Südwesten Brasiliens sind zwar kostengünstig, aber auch mit dem größten Risiko behaftet.

Nach dem Bruch des Damms am Rückhaltebecken der Erzmine Córrego do Feijão am 25. Januar wurden bislang 157 Tote aus den Schlammmassen geborgen. 182 Menschen werden noch vermisst. Für sie gibt es keine Hoffnung mehr. Es ist das Unglück mit den meisten Opfern in der jüngeren brasilianischen Bergbaugeschichte.

Schon mehr als ein halbes Jahr vor dem Unglück haben Ingenieure des mit der Zertifizierung beauftragten TÜV Süd auf die mangelnde Stabilität des 85 Meter hohen Damms hingewiesen. Sensoren, mit denen der Wasserdruck kontrolliert wird, schlugen Alarm. Es gab Probleme mit dem Drainagesystem, wie die Tageszeitung "Folha de São Paulo" unter Berufung auf polizeiliche Vernehmungsprotokolle berichtet.

TÜV warnte

Demnach hat Vale erfolglos versucht, das Problem zu beheben. Danach habe sich der Konzern für ein zeitaufwendiges Ausschreibungsverfahren für die Arbeiten entschieden. Dennoch attestierte der TÜV Süd im September 2018 die "Stabilität" des Damms.

Zwei brasilianische Ingenieure des TÜV Süd wurden wenige Tage nach dem Unglück vorübergehend festgenommen. Sie gaben an, sie seien von Vertretern des Vale-Konzerns unter Druck gesetzt worden, die Sicherheit des Damms zu zertifizieren. In ihrem Abschlussbericht schreiben die beiden Männer aber auch, dass wegen der Stabilitätsprobleme Detonationen im Umfeld des Damms verboten wurden, wie die Zeitschrift "Veba" berichtet.

Daran hat sich Vale aber nicht gehalten, wie viele Anwohner bestätigten. Der gebrochene Damm befindet sich nur einen Kilometer von der Mine Córrego do Feijão entfernt. "Fast jeden Tag gegen drei Uhr nachmittags hörten wir den Lärm von Explosionen", sagt die Anwohnerin Carolina Mora der Zeitschrift. In vielen Häusern, auch in ihrem, seien dadurch Risse in den Wänden entstanden. Etwa 23 Detonationen soll es in dem Minenkomplex pro Monat gegeben haben. Damit wird das Gestein zerkleinert, um das Eisenerz extrahieren zu können.

Die bislang größte Umweltkatastrophe in Brasilien ereignete sich 2015, als ein Damm eines Rückhaltebeckens in dem Ort Mariana, ebenfalls im Bundesstaat Minas Gervais, brach. Damals kamen 19 Menschen ums Leben. Der Vale-Konzern, der weltweit größte Eisenerz-Exporteur, gehörte mit zu den Betreibern der Mine.

Nach dieser Katastrophe haben Wissenschaftler der Staatsanwaltschaft eine Reihe von Vorschlägen für mehr Sicherheit eingereicht. Die meisten Empfehlungen seien nicht umgesetzt worden, sagt Umweltwissenschaftler Milane der "Folia de São Paulo". Einer der Vorschläge war, dass zwischen einem Auffangbecken und der nächsten Wohnsiedlung mindestens zehn Kilometer Entfernung sein müssen. In Brumadinho wären dadurch deutlich weniger Menschen ums Leben gekommen.

3.000 Risiko-Dämme

Vale habe überhaupt kein Interesse, in mehr Sicherheit zu investieren, sagt der auf Zivilschutz spezialisierte Professor Ayrton Bordstein von der Universität in Rio de Janeiro. Die Kosten dafür seien um ein vielfaches höher als die Strafzahlungen, die Vale bei Sicherheitsvergehen leisten müsse.

Die Dämme in Brumadinho und Mariana wurden mit der sogenannten Upstream-Methode errichtet. Sie werden meist in Etappen gebaut, was die Gesamtkonstruktion instabiler und Qualitätskontrollen schwieriger macht. Die Methode gilt inzwischen als veraltet und wird in vielen Ländern nicht mehr angewandt. In Brumadinho war 1976 bei Baubeginn eine ursprüngliche Höhe von 18 Metern für den Damm geplant. Durch zahlreiche Erweiterungen ist der Damm dann auf etwa 85 Meter angewachsen.

Brasiliens Regierung kündigte an, dass es im ganzen Land etwa 3.000 Dämme mit einem "hohen Risiko" gebe, die jetzt zusätzlich geprüft werden sollen. Den Unternehmen wurde allerdings kein Zeitraum für das Monitoring gesetzt und auch keine Verpflichtung für einen Rückbau.

Von Susann Kreutzmann (epd)



Termine

1.-3.3. Güstrow

Sterben heute. Perspektiven auf das Ende des Lebens zwischen gestern und morgen. Gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen die Art und Weise, wie wir als Personen und Gesellschaft mit Tod und Sterben umgehen. Auf der einen Seite sehen wir eine starke Unterstützung des Hospizgedankens und große Fortschritte in der Palliativversorgung; auf der anderen Seite erleben wir eine zunehmende Individualisierung und Mobilität in unserer Gesellschaft. Welche Konsequenzen haben diese Veränderungen für Betroffene und Begleitende. Wie kann ihnen begegnet werden? www.akademie-nordkirche.de

7.-8.3. Tutzing

Konsens und Dissenz in der Ethik - Wie weit reicht die katholisch-evangelische Ökumene? In der Ethik sind zwischen der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen in den vergangenen Jahren immer wieder Unterschiede deutlich geworden. Dies zeigt sich beispielsweise in der Haltung zur Stammzellenforschung oder aktuell zur Pränataldiagnostik. Welchen Stellenwert haben diese und andere unterschiedliche Bewertungen? Wodurch sind sie begründet? Vertiefen sie die Trennung zwischen den Kirchen? Zeigen sie letztlich doch einen Grundwiderspruch? Behindern sie gar das gemeinsame Zeugnis für die unverlierbare Würde des Menschen? www.ev-akademie-tutzing.de

7.-9.3. Erfurt

Von der Friedensmacht zur Festung Europa? Zahlreiche weltpolitische Krisen stellen die Europäische Union vor neue Herausforderungen. Angesichts aktueller Entwicklungen, wie den Konflikten an ihren Außengrenzen, den Kontroversen um das Flüchtlingsthema sowie einem wachsenden Potential an Desintegration innerhalb der EU, ist die Friedens- und Konfliktforschung mehr denn je gefragt, die Politik der Europäischen Union kritisch in den Blick zu nehmen und ihre Erkenntnisse für die Ausgestaltung einer europäischen Friedenspolitik beizusteuern. www.eaberlin.de