Sie war die erste: Marie Juchacz hielt als erste Frau eine Rede vor einem deutschen Parlament. Im Weimarer Nationaltheater betrat die Sozialdemokratin am 19. Februar 1919 die Rednertribüne. Mit den Worten "Meine Herren und Damen" wandte sie sich an die überwiegend männlichen Abgeordneten der erst einen Monat zuvor gewählten Verfassunggebenden Nationalversammlung. Das sorgte für Heiterkeit, wie im Protokoll der Sitzung vermerkt ist.

Juchacz stellte klar: Für das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, seien die Frauen der Regierung keinen Dank schuldig. "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist." Erst durch die politische Gleichstellung der Frau könne man von einem "neuen Deutschland" sprechen.

Der Chefredakteur des SPD-Parteiblattes "Vorwärts", Friedrich Stampfer, sah in ihrer Rede einen geschichtlichen Augenblick: "Marie Juchacz ist die Frau, die ihre errungenen Rechte mit würdiger Selbstverständlichkeit wahrnimmt." Jahrzehntelang hatten Frauen für das Wahlrecht kämpfen müssen, bis 41 weibliche Abgeordnete im Februar 1919 in die Nationalversammlung einzogen.

Für Marie Juchacz war der Aufstieg in der Politik in keiner Weise vorgezeichnet. Die Tochter eines Handwerksmeisters wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe geboren, dem heutigen polnischen Gorzów Wielkopolski. Die Schulzeit war für sie nach acht Jahren beendet. Ihr älterer Bruder Otto brachte ihre Perspektiven einmal so auf den Punkt: "Haushalt und Fabrik und dann Versorgung durch Heirat, das ist dein Lebensweg." Doch Maries Leben sollte anders verlaufen.

Frauenbildungsverein

Die junge Frau verlässt 1906 ihre Heimatstadt, um nach Berlin zu ziehen. Hinter ihr liegt eine kurze, gescheiterte Ehe mit dem Schneidermeister Bernhard Juchacz, mit dem sie zwei Kinder hat. Tatsächlich hatte sie nach der Volksschule zunächst als Dienstmädchen gearbeitet, dann kurz in einer Fabrik und schließlich als Wärterin in einer Nervenheilanstalt.

Als sie genügend Geld gespart hat, macht sie eine Ausbildung zur Schneiderin. Ihre beiden kleinen Kinder Lotte und Paul nimmt sie nach der Trennung von ihrem Mann mit nach Berlin. Ihre jüngere Schwester Elisabeth kommt mit - auch sie wird 1919 als SPD-Abgeordnete in die Nationalversammlung einziehen. Gemeinsam erziehen die beiden Frauen die Kinder. Den Lebensunterhalt verdienen sie in Heimarbeit mit Nähen.

In der Reichshauptstadt engagieren die Schwestern sich zunächst in einem Frauenbildungsverein, der Leseabende organisiert. Sie lernen, Versammlungen zu leiten und Reden zu halten. Als 1908 in Preußen das Verbot der politischen Betätigung für Frauen fällt, tritt Marie Juchacz in die SPD ein.

Obwohl sie sich nie in den Vordergrund drängt, wird sie bald zu einer gefragten Rednerin. 1913 geht sie hauptberuflich in die Politik und übernimmt die Stelle einer SPD-Frauensekretärin für die Obere Rheinprovinz in Köln. Das Nähen kann sie nun endlich aufgeben. 1917 wird Juchacz Frauensekretärin im SPD-Parteivorstand in Berlin.

Auf einem Abgeordnetenfoto aus dem Jahr 1919 sieht man sie am Schreibtisch sitzen. Ernst und entschlossen blickt sie mit großen, braunen Augen in die Kamera, das dunkle Haar ist in der Mitte gescheitelt.

Als Juchacz mit knapp 40 Jahren in die Nationalversammlung einzieht, kennt sie die sozialen Probleme ihrer Zeit aus eigener Erfahrung. Sie hat Erfahrungen in der Armenpflege und ist dem Elend der Kriegswitwen und Waisenkinder, der Arbeitslosen und Invaliden begegnet. Und sie ist entschlossen, auch als Abgeordnete zur Linderung der sozialen Not beizutragen.

"Starke und schöne Stimme"

Auf einem anderen Foto aus dem gleichen Jahr sieht man die große, schlanke Frau im Mantel auf einem Balkon stehen, wo sie eine Rede vor einer Menschenmenge hält. "Sie hatte eine starke und schöne Stimme, die sie gut zu gebrauchen wusste", schrieb ihr Neffe und Biograf Fritzmichael Roehl. "Wenn ihr auch - zumindest im Beginn ihrer Laufbahn - eine gewisse Schlagfertigkeit mangelte und wenn es ihr auch nicht gegeben war, zündende, die Massen mitreißende Reden zu halten, so sprach sie doch eindringlich und wirkungsvoll und gewann damit ihre Hörer."

Schon in ihrer ersten Parlamentsrede definierte Marie Juchacz die Sozialpolitik als große Aufgabe der Frauen in der Politik. Im Dezember 1919 rief sie darum den Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der SPD ins Leben. Im Vordergrund stand die Idee der Selbsthilfe innerhalb der Arbeiterschaft. Die Organisation, die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auflöste, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet und existiert bis heute.

Im Jahr 2017 errichtete die AWO unweit des Mehringplatzes in Berlin-Kreuzberg ein Denkmal für ihre Gründerin. "Marie Juchacz setzte sich ihr Leben lang für diejenigen ein, die in der Gesellschaft keine Stimme hatten", würdigt sie der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler.

"Niemals habe ich mich zu einem Amt gedrängt", schrieb die Sozialpionierin selbst über sich. "Ich wurde immer irgendwie aufgespürt, für eine Funktion ausgesucht und vorgeschlagen oder gerufen."

Bis 1933 war Marie Juchacz Reichstagsabgeordnete, Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Vorsitzende der AWO. Nach der Machtübernahme Hitlers ging sie ins Exil. 1949 kehrte sie aus den USA nach Deutschland zurück und begleitete als Ehrenvorsitzende den Wiederaufbau der AWO. Sie starb am 28. Januar 1956 im Alter von 76 Jahren in Düsseldorf.