sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Dirk Baas
epd-bild/Heike Lyding

der Unmut in der Sozialbranche über das starre Festhalten an der Impfstrategie des Bundes wächst. Immer mehr Berufsgruppen, darunter auch die Jugendhilfe, fordern eine schnellere Immunisierung mit dem massenweise verfügbaren Impfstoff von Astrazeneca. Doch bislang bleibt es dabei, dass nur Kita-Personal und Grundschullehrkräfte vorgezogen werden. Dass manche Amtsträger unseriöse Wege gehen, um schneller an die Spritze zu kommen, sorgte bundesweit für Schlagzeilen. Die Länder stellen in einer Umfrage des epd klar, dass es auch bei Impfterminen übrig gebliebenen Vakzinen Regeln gibt, welche Personen ad hoc geimpft werden dürfen - und die sind eindeutig.

Nach dem gescheiterten flächendeckenden Tarifvertrag in der Altenpflege wollen sich die Wogen nicht glätten. Bei den Befürwortern ist die Empörung über die Caritas groß, die das Tarifwerk platzen ließ und damit wohl auch deutliche Lohnerhöhungen verbaut. Gegenüber dem epd hat der katholische Pflegefachverband seine Ablehnung des Flächentarifs bekräftigt und die Gründe dafür dargelegt - die lassen aufhorchen.

Mütter, und allen voran alleinerziehende, stemmen im langen Lockdown die meiste Familien- und Betreuungsarbeit. Langsam geht aber vielen dabei die Kraft aus, wie Beratungsstellen alarmiert berichten. Die Nachfrage nach Kuren sei rapide gestiegen, heißt es. Doch diese Erholungen sind für viele schwer belastete Frauen allenfalls ein ferner Rettungsanker: Für dieses Jahr sind die Kurkliniken bereits weitgehend ausgebucht.

Es fehlt an Geld und vor allem am Know-how: Wer obdachlose Menschen in der Pandemie mit digitalen Angeboten nachhaltig helfen will, braucht einen langem Atem. Das berichtet Bettina König von der Berliner Stadtmission in ihrem Gastbeitrag für epd sozial. Denn ihre Klientel muss nicht nur Handy und Sim-Karte bezahlen können, sondern das Gerät auch alleine nutzen können. Und da türmen sich im Alltag hohe Hürden auf: Wo kann das Handy aufgeladen werden? Wo gibt es freies WLAN? Die Tür in die digitale Welt stehe vielen Obdachlosen nicht auf, betont König.

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Dirk Baas




sozial-Thema

Corona

Offene Fragen bei Teststrategie und Impfungen in Praxen




Impfstoffampullen in einem Impfzentrum in Sachsen
epd-bild/Matthias Rietschel
Einen Stufenplan für Öffnungen, flankiert von mehr Impfungen und Tests, haben Bund und Länder beschlossen, um die Corona-Einschränkungen zu lockern. Zu viele Details seien noch ungeklärt, monieren Kommunen und Hausärzte. Auch die Sozialverbände zeigten sich skeptisch.

Nach den jüngsten Corona-Beschlüssen von Bund und Ländern zur stufenweisen Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen stellen sich Fragen zur konkreten Umsetzung der neuen Strategie. Vor allem setzt die Politik auf mehr Schnelltests und ein höheres Impftempo. Das Bundesgesundheitsministerium versicherte, dass ausreichend Tests zur Verfügung stehen werden. Die Kommunen kritisierten, die Organsiation der Tests sei nicht ausreichend geklärt. Hausärzte drängten auf ein unbürokratisches Vorgehen bei den Impfungen in den Praxen. Zudem entschied die Ständige Impfkommission des Robert Koch-Instituts am 4. März, den Astrazeneca-Impfstoff auch für über 65-Jährige zu empfehlen.

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) sagte zu den Beschlüssen im "ARD-Morgenmagazin", man könne die Gesellschaft "nicht nach vier Monaten weiter im Winterschlaf halten". Wichtig sei zugleich, dass eine "Notbremse" vorgesehen sei, falls Inzidenzen wieder steigen. Er äußerte sich zuversichtlich, dass sofort viele herkömmliche Schnelltests zur Verfügung stehen und Selbsttests rasch folgen werden. Das Bundesgesundheitsministerium teilte mit, es gebe genug Schnelltests auf dem Markt. 150 Millionen weitere könnten laut Herstellerangaben sofort geliefert werden. Die ersten Selbsttests seien in der vorigen Woche zugelassen worden. Laut Herstellern würden sie ab nächster Woche in Apotheken und im Einzelhandel erhältlich sein.

Tests sollen am 8. März verfügbar sein

Grundsätzlich sollen alle Bürgerinnen und Bürger künftig Anspruch auf regelmäßige Schnelltests einmal pro Woche haben. Ab dem 8. März sollen diese zur Verfügung stehen. Arbeitgeber sollen ebenfalls Tests bereitstellen, auch in Schulen und Kitas soll künftig regelmäßig getestet werden.

Vom Deutschen Städte- und Gemeindebund kam Kritik. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg sagte der Düsseldorfer "Rheinischen Post", die Beschlüsse zu den Schnell- und Eigentests seien zu unkonkret. Landkreistagspräsident Reinhard Sager verlangte "eine verlässliche Planung zu Zeitpunkten, Abläufen und Verantwortlichkeiten".

Die Hausärzte, die spätestens von April an in die Impfkampagne einbezogen werden sollen, forderten, dafür müssten die Praxen von Bürokratie entlastet werden. Jeglicher vermeidbarer Aufwand müsse wegfallen, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt.

Unterdessen wird der Astrazeneca-Impfstoff von der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert Koch-Instituts auch für über 65-Jährige und mit einem größeren Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung empfohlen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erklärte, alle Älteren, die auf eine Impfung warten, könnten nun schneller geimpft werden. Er kündigte an, die Empfehlungen schnell in der Impfverordnung umzusetzen.

Neue Daten begründen Umdenken

Bisher hatte die Stiko den Impfstoff des britisch-schwedischen Unternehmens nur für Menschen unter 65 Jahren empfohlen, weil über die Wirksamkeit bei Älteren nicht genügend Daten vorlagen. In der Gruppe der Hochaltrigen konnten daher in Deutschland nur die Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna verwendet werden. Das verlangsamte die Impfungen. Außerdem blieb Astrazeneca-Impfstoff liegen.

VdK-Präsidentin Verena Bentele sagte am 4. März in Berlin, es sei ein richtiger Schritt, dass die Bundesregierung die Testmöglichkeiten erweitern wolle. "Das ist ein wichtiger Baustein, um die Pandemie einzudämmen. Gerade für das Personal sowie die Besucherinnen und Besucher von Krankenhäusern, Pflegeheimen und vergleichbaren Einrichtungen sind diese Tests wichtig, um alle Menschen dort zu schützen. Aber ein kostenfreier Test pro Woche und Bürger reicht nicht. Da muss die Regierung nochmal nachlegen."

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe warnte davor, dass die beschlossenen Lockerungen einmal mehr zu Lasten der Beschäftigten im Gesundheitssystem und der Pflege erfolgten. "Natürlich brauchen wir eine Perspektive", sagte Präsidentin Christel Bienstein in Berlin. "Das darf aber nicht auf dem Rücken der Beschäftigten, insbesondere der beruflich Pflegenden, ausgetragen werden." Lockerungen während die Infektionszahlen und die Verbreitung der Mutante zunehmen, würden in kurzer Zeit wieder zu vollen Intensivstationen führen, "wenn die Menschen nicht selbstständig und sehr diszipliniert weiterhin ihre Kontakte einschränken und die Hygienemaßnahmen beachten."

Bettina Markmeyer


Corona

Buyx: Impfungen durch Hausärzte sinnvoll für mehr Tempo



Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, hat den Bund-Länder-Beschluss, Hausärzten schon bald Corona-Impfungen zu liefern, begrüßt. "Die Einbindung der Hausärzte ist aufgrund der erwarteten höheren Menge an Impfstoff eine sinnvolle Idee, um voranzukommen", sagte die Medizinethikerin dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Sie können schnell und viel wegimpfen."

Dabei würden auch Hausärzte die Priorisierung nicht vernachlässigen. "Hausärzte kennen ihre Patienten. Sie wissen, wer wie krank ist", sagte Buyx und ergänzte: "Ich vertraue da den Hausärzten."

Die Regierungschefs von Bund und Ländern hatten am 3. März beschlossen, dass Ende März, spätestens Anfang April auch Hausärzte Corona-Impfungen verabreichen können. Die Impfzentren sollen parallel weiterlaufen. Während dort weiter "strikt" nach festgelegter Reihenfolge geimpft werden soll, heißt es zu den Hausärzten im Beschluss, sie sollen die Priorisierung als Grundlage nehmen, es sei aber eine flexiblere Umsetzung möglich.

Priorisierung darf Impfen nicht bremsen

Buyx unterstützt dieses Vorgehen: "Die Priorisierung sollte auf keinen Fall erhöhtem Impftempo im Wege stehen." Sie dürfe "kein starres, perfektionistisches Konstrukt sein, das in einer akuten Krise das Impfmanagement behindert". Deswegen sei "ein bisschen Flexibilität und Pragmatismus richtig, solange man die Richtung der Priorisierung beibehält".

Wichtig sei ein vorausschauendes Einladungsmanagement, sagte die in München lehrende Professorin. Auch in den Hausarztpraxen werde nach Terminvergabe geimpft werden, diskutiert werde dazu auch die Einbindung der Krankenkassen. Buyx hatte den vergangenen Beschluss der Bund-Länder-Runde, der eine höhere Priorität der Impfung von Lehrerinnen und Erziehern vorsah, kritisiert. Dabei sei es nicht um Organisation und mehr Tempo gegangen, erklärte sie. "Da hat man, um einen gesellschaftlichen Bedarf zu erfüllen - nämlich die Öffnung der Schulen -, die Priorisierung verändert. Da hatte ich sehr gemischte Gefühle."

Geimpfte müssen keine Tests mehr machen

Zum Vorstoß von Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) für eine Aufhebung von Beschränkungen für Geimpfte sagte Buyx, ihm gehe es ihres Wissens nicht darum, Geimpften früher Rechte zurückzugeben als anderen. "Es geht darum, dass Freiheiten für alle unter der Voraussetzung eines Tests möglich sind und dass Geimpfte dann statt Test ihren Impfpass zeigen könnten", sagte sie. Das beiße sich nicht mit der Empfehlung des Ethikrates.

"Geimpfte müssten beispielsweise vor einer Veranstaltung, die sie besuchen wollen, keinen Test machen", sagte Buyx. Das könne man zwar als kleinen Vorteil für Geimpfte sehen. "Gleichzeitig spart es aber Tests, die auch nicht im Übermaß vorhanden sind und die dann für andere Menschen zur Verfügung stehen."

Corinna Buschow


Corona

Viele Berufsgruppen wollen schneller an die Spritze




Hinweis auf das Impfzentrum in Kaltenkirchen
epd-bild/Sebastian Stoll
Die korrigierte Impfstrategie der Bundesregierung ermöglicht nun, dass Kita-Personal und Grundschullehrer bevorzugt geimpft werden. Das weckt Begehrlichkeiten vieler anderer Berufsgruppen, auch in der Jugendhilfe. Jetzt kommt neue Bewegung in die Debatte über die Priorisierung. Erste Bundesländer wollen den Astrazeneca-Impfstoff für alle Bürger freigeben.

Pädagogische Fachkräfte der ambulanten Jugendhilfe suchen Kinder, Jugendliche und Familien oft direkt zu Hause auf - in Zeiten der Corona-Pandemie ein heikles Unterfangen. "Oft wissen die Kolleginnen nicht, was sie hinter einer Wohnungstür erwartet. Es kam schon vor, dass sie erst während des Besuchs erfuhren, dass Familienmitglieder an Covid erkrankt waren", berichtet Karin Raudszus, Leiterin des Ambulanten Erzieherischen Dienstes (AED) der Rummelsberger Diakonie in Nürnberg. Doch vorrangig geimpft werden die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nicht - noch nicht.

"Ich wünsche mir, dass sich die Mitarbeitenden aus der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam mit Erziehern und Lehrern impfen lassen können", sagt Raudszus Kollege Werner Pfingstgraef, Dienststellenleiter der Rummelsberger Diakonie. Das Infektionsrisiko sei nahezu gleich: "Unsere Betreuungsarbeit findet zu weit über 80 Prozent 'face-to face' statt". Das heißt, es gibt regelmäßige Kontakte zu weit über 600 Menschen.

"Es ist für die Kinder- und Jugendhilfe eine herbe Enttäuschung, dass sie hier nicht mitgedacht werden", bedauert Susanna Karawanskij, Präsidentin der ostdeutschen Volkssolidarität. Das gelte besonders für stationäre Einrichtungen: "Die Gefahr einer Infektion ist hier präsent, auch durch den regelmäßigen Kontakt zu Familien und Freunden der jungen Schutzbefohlenen."

Der Deutsche Kinderschutzbund hat für diese Forderungen Verständnis, äußert sich aber diplomatisch. "Es gibt auch in der Jugendhilfe einen hohen Bedarf an Impfschutz, der Hinweis darauf ist richtig. Aber man muss genau abwägen, wer zuerst geimpft wird, weil das erst nach und nach geht", sagte die stellvertretende Geschäftsführerin Martina Huxoll-von Ahn dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zumal in einigen Bundesländern die schnellere Immunisierung etwa der Sozialarbeiter zumindest angedacht sei.

Reichlich Impfstoff von Astrazeneca vorhanden

Weil Millionen Dosen des Vakzins von Astrazeneca keine Abnehmer finden, wird Liste derer, die ebenfalls schneller ihre Spitzen bekommen wollen, immer länger. Lehrende in Pflegeschulen, Personal in Hospizdiensten und Werkstätten für behinderte Menschen, Obdachlose, Asylbewerber und nicht zuletzt die Hausärzte verweisen auf ein erhöhtes Infektionsrisiko.

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe Nordost wirbt dafür, Personal in den Pflegeschulen und -studiengängen bevorzugt zu impfen. Anja Katharina Peters, Vorstandsmitglied und Fachlehrerin an einer Pflegeschule in Neubrandenburg: "Im Grunde ist jeder Unterrichtstag an einer Pflegeschule ein mögliches Superspreader-Event." Distanzunterricht sei auf Dauer unmöglich, wenn die Qualität der Pflegeausbildung nicht leiden solle. Aktuell bestehe ein hohes Risiko, "uns und unsere Familien anzustecken". Deshalb müsse das Lehrpersonal an Schulen und Hochschulen dem Pflegepersonal in der Impfgruppe 2 gleichgestellt werden.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) findet den Ansatz in Berlin gut, überschüssige Vakzine an obdachlosen Menschen zu verimpfen. "Diesen Schritt halte ich für sehr vernünftig und richtig", sagte Geschäftsführerin Verena Rosenke, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Man habe immer deutlich gemacht, dass es unter wohnungslosen Menschen viele mit Vorerkrankungen und aufgrund der prekären Lebensverhältnisse stark geschwächte Personen gibt, die so früh wie möglich geimpft werden sollten. Das Berliner Beispiel sollte Nachahmer finden.

"Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe berücksichtigen"

"Auch für die Mitarbeitenden der Wohnungslosenhilfe sollte diese Möglichkeit gelten. Hilfesuchende und Mitarbeitende müssten aber nicht in der Priorisierung nach vorne rücken, betont Rosenke: "Sie sind ja bereits in Gruppe 2, in die nun auch Lehrer und Kita-Personal aufgenommen worden sind."

Doch um all diese gefährdeten Berufsgruppen schneller impfen zu können, müsste sich die Regierung für ein pragmatischeres Vorgehen entscheiden - und sich über die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) und des Ethikrates hinwegsetzen, die an der Impfung der über 80-Jährigen festhalten.

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, sieht jedoch das Vorziehen von Beschäftigten in Grundschulen und Kindertagesstätten bei Corona-Impfungen kritisch. Sie könne das Ziel nachvollziehen, Schulen und Kindertagesstätten möglichst sicher wieder zu öffnen, sagte Buyx. Sie betont aber zugleich, dass diese politische Entscheidung eine Abkehr vom Prinzip bedeute, zunächst die besonders gefährdeten Gruppen zu impfen.

Impfreihenfolge gerät ins Wanken

Das wirft aber dennoch Fragen auf. Denn diese Richtlinien entstanden, als noch nicht klar war, dass Millionen Impfdosen der Firma Astrazeneca nicht an über 65-Jährige verimpft werden können. Das wird nun geändert. Dennoch halten Kritiker mit Blick auf die bald zu erwartenden Millionen neuer Impfdosen die bestehenden starren Regularien für überholt. Denn: Muss es nicht das übergeordnete Ziel sein, Herdenimmunität durch schnelles Impfen aller Bevölkerungsgruppen zu erreichen?

Auch Bayerns Ministerpräsident Söder (CSU) stellt die momentane Impfstrategie in Frage. Weil die Zurückhaltung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber Astrazeneca unübersehbar sei, mache er sich "große Sorge", betonte der CSU-Politiker. "Sollte es weiter so sein, dass Tausende, vielleicht sogar Hunderttausende von Impfdosen nicht verimpft werden, dann muss man die Priorisierung für diesen Impfstoff völlig neu überlegen", so Söder. Denn jeder, der geimpft werde - unabhängig vom Alter - schaffe ein Stück weit mehr Freiheit.

Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) sekundiert: "Wir müssen dieses strenge Regiment auflockern und Menschen impfen, die nach der Priorisierung noch nicht an der Reihe wären".

Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums lehnte dagegen Änderungen bei der Impfreihenfolge ab. Er sagte am 1. März in Berlin, die Priorisierung müsse "nachvollziehbar" sein. Der Impfstoff werde je nach Bevölkerungszahl an die Bundesländer verteilt. "Bei diesem Verteilmechanismus bleibt es." Das dürften die nur die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Jugendhilfe nicht gerne hören.

Dirk Baas


Umfrage: Umgang mit überzähligen Impfdosen klar geregelt




Die Impfverordnung des Bundes regelt auch, wie mit überzähligen Impfstoffen zu verfahren ist.
epd-bild/Matthias Rietschel
Kommunalpolitiker, Klinikbeschäftigte und gar Pfarrer haben sich beim Impfen gegen Corona vorgedrängelt und stehen nun als "Impfschleicher" in der Kritik. Eigentlich dürfte es solche Fälle gar nicht geben. Die Impfverordnung des Bundes regelt die Priorisierung, auch, wenn bei einem Impftermin Dosen übrig bleiben. Die Regelungen der Länder sind nahezu einheitlich.

Nach bundesweiten Schlagzeilen über Impfschleicher zeigt eine Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) bei den Ländern, dass dieses Fehlverhalten gegen eindeutige Vorgaben verstößt. Das geht aus den Antworten von dreizehn Gesundheits- und Sozialministerien hervor. Überzählige Impfdosen müssen demnach fast ausnahmlos für Personen aus der Gruppe mit der höchsten Impfpriorisierung genutzt werden. Das sind etwa Rettungsdienstmitarbeiter, Helferinnen und Helfer in den Impfzentren oder medizinisches Personal. Einzige Ausnahme bilden Polizisten im Außendienst, die der zweiten Gruppe angehören.

Alle Ministerien betonten, dass sich sämtliche Impfzentren und mobilen Impfteams bei der Nutzung von Restdosen an die bundesweiten Vorgaben zur Impfreihenfolge zu halten haben. Das heißt, das Verimpfen von bei einem Termin übrig gebliebenen Vakzinen ist nur innerhalb der Gruppe mit der höchsten Priorisierung erlaubt.

Vorgaben des Bundes müssen beachtet werden

Die Impfreihenfolge regelt eine Bundesverordnung. In der ersten Gruppe mit der höchsten Priorität sind über 80-Jährige Personen, Pflegekräfte und Beschäftigte auf Intensivstationen, in Notaufnahmen, Palliativstationen, Rettungsdiensten und Corona-Impfzentren. Ebenfalls vorrangig geimpft werden jetzt aber auch Kita-Mitarbeiterinnen und Grundschullehrer aus der Gruppe 2.

Bei Restdosen wird zunächst geprüft, ob sich weitere Personen der vulnerablen Gruppe impfen lassen wollen", teilte etwa das Gesundheitsministerium in Sachsen mit. Das könnten Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen, im betreuten Wohnen und solche sein, die von ambulanten Pflegediensten versorgt werden. Auch Krankenhäuser in der Umgebung würden angefragt, hieß es.

Berechtigte Personen müssen umgehend bereitstehen

Grundsätzlich betonen die Gesundheitsministerien, es sei oberstes Ziel der Terminplanung und -vergabe, dass alle Vakzine verimpft werden. In den allermeisten Fällen würden die geöffneten Dosen noch am selben Tag verimpft, heißt es aus Sachsen. Das gelinge jedoch nur, wenn immer Personen gefunden werden, die kurzfristig einen Impftermin wahrnehmen können. Ausnahmen seien nur in Einzelfällen möglich, "und zwar nur, wenn Impfstoff andernfalls verworfen werden müsste".

Sofern kleinere Impfstoffmengen übrigbleiben, sind die Impf-Teams angehalten, diese für Personen mit höchster Impfpriorität gemäß der Impfverordnung zu verwenden, heißt es aus dem Gesundheitsministerium in NRW. Sollte aber die Gefahr bestehen, dass die Impfstoffe weggeworfen werden müssten, dann "entscheidet die Koordinierungsstelle der Impfzentren vor Ort über die weitere Verwendung".

Impfzentren treffen Vorsorge

In Bayern nehmen die Impfzentren eine Reserveplanung vor. Auch hier gilt: Erst wenn in der höchsten Priorisierungsgruppe kurzfristig keine Personen zur Impfung bereitstehen, können Impflinge aus den danach folgenden Gruppen ihre Spitze bekommen. "Das kann auch auf Angehörige von Polizei und Rettungsdienst zutreffen."

Auch in Schleswig-Holstein, Brandenburg und Thüringen führen die Impfzentren Listen, wer ad hoc geimpft werden kann. Das zuständige Ministerium in Schleswig-Holstein nennt etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Rettungsdienstes, der Vertragsarztpraxen, Dialysepraxen oder der Impfzentren selbst. Bremen geht ebenso vor. In Rheinland-Pfalz benachrichtigen bei übrig gebliebenen Dosen die Impfzentren telefonisch berechtigte Impflinge - stets nur aus der ersten Gruppe. Sachsen-Anhalt verfährt genauso. "Das Vorziehen aus anderen späteren Gruppen ist von der Impfverordnung nicht gedeckt", heißt es dort. Ausnahmeregelungen seien nicht zulässig.

"Übrige Dosen werden ausschließlich an Personen aus den aktuell berechtigten Prioritäten verimpft, etwa aus dem Rettungsdienst, eigenes, noch nicht geimpftes Impfpersonal oder Personen in benachbarten Pflegeheimen oder Kliniken", teilte das Sozialministerium in Stuttgart auf Anfrage mit. Aufbereitete Impfdosen hätten eine Haltbarkeit von bis zu sechs Stunden. "Wir gehen davon aus, dass es in dieser Zeit möglich ist, Impfberechtigte zu finden", erklärte ein Ministeriumssprecher.

Alle Dosen werden genutzt

Aus dem Saarland hieß es: "In diesen Fällen verimpfen wir Personal der Alten- und Pflegeeinrichtungen oder in den Impfzentren, Gesundheitspersonal sowie Personal des Rettungsdienstes."

"Es gibt keine Rückmeldung, dass Impfdosen nicht mehr verwendet werden konnten", berichtet das niedersächsische Gesundheitsministerium. Sollten keine impfwilligen Personen aus der höchstpriorisierten Gruppe bereitstehen, "dann können Impfstoffreste absteigend in den weiteren Priorisierungsgruppen verimpft werden, bevor sie verfallen".

In Hessen können die Impfzentren nach eigenem Ermessen entscheiden, welche Personen mit der höchsten Priorität geimpft werden können. Dazu zählen etwa die Mitarbeiter der Impfzentren selbst oder das örtliche Personal der Rettungsdienste. Aber: In Ausnahmesituationen liege es "im Ermessen des Impfarztes, ob andere Personen außerhalb dieser Prioritätengruppe geimpft werden".

In Hamburg spricht man nur von "seltenen Einzelfällen". Sollten Dosen nicht verwendet werden können, würden gezielt Rettungsdienstmitarbeiter herangezogen: "Dafür existiert ein strukturiertes Verfahren."

Dirk Baas



sozial-Politik

Corona

Bundestag beschließt weitere Pandemie-Hilfen für Bedürftige




Protestaktion für höhere Corona-Hilfen für Bedürftige in Berlin
epd-bild/Jürgen Blume
Wer auf die Grundsicherung angewiesen ist, bekommt 150 Euro als Unterstützung in Corona-Zeiten. Familien erhalten einen Kinderbonus. Aus Sicht der Opposition und von Sozialverbänden reichen die Hilfen nicht.

Der Bundestag hat einen einmaligen Corona-Zuschlag für Grundsicherungsempfänger beschlossen. Sie sollen im Mai 150 Euro für ihre Mehrausgaben durch die Corona-Pandemie erhalten. Mit dem Sozialschutzpaket III wurde am 26. Februar in Berlin auch der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung (Hartz IV) bis zum Jahresende verlängert, der Ende März ausgelaufen wäre. Damit soll unter anderem Solo-Selbstständigen geholfen werden, deren Einnahmen durch die Corona-Einschränkungen weggebrochen sind. Sie bekommen die Unterstützung ohne die übliche Vermögensprüfung, und die Wohnkosten werden voll übernommen.

Schutzschirm bis Jahresende

Bis zum Jahresende gilt auch eine Regelung für Freiberufler in der Künstlersozialversicherung, die dafür sorgt, dass sie bei ausbleibendem Einkommen den Versicherungsschutz nicht verlieren. Die jährliche Mindesteinkommensgrenze von 3.900 Euro bleibt bis dahin ausgesetzt.

Die Verlängerung des Schutzschirms für soziale Dienste und Einrichtungen, die mit Einnahmeausfällen und Mehrkosten zu kämpfen haben, der bisher bis Ende März befristet ist, soll künftig an das Infektionsschutzgesetz gekoppelt werden. Er wird dann für den Zeitraum aufrechterhalten, für den der Bundestag eine epidemische Lage nationaler Tragweite feststellt, zunächst aber längstens bis Ende des Jahres.

Die Opposition enthielt sich der Stimme. Linken und Grünen geht die Unterstützung der Bedürftigen nicht weit genug. Sie fordern monatliche Zuschläge auf die Hartz-IV-Leistungen und höhere Regelsätze. Die FDP erklärte, die Hilfen kämen ein Jahr nach Beginn der Pandemie zu spät. Die AfD warf der Regierung vor, ihre Corona-Maßnahmen seien für die wirtschaftlichen Sorgen von Bürgern und Unternehmen verantwortlich und die Hilfen unpassend.

Nicht ausreichend unterstützt

Eltern erhalten pro Kind einen weiteren Corona-Bonus von 150 Euro. Im vergangenen Jahr waren bereits 300 Euro ausgezahlt worden. Der Kinderbonus wurde vom Parlament im Rahmen des Corona-Steuerhilfegesetzes beschlossen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) erklärte, er komme mehr als zehn Millionen Familien zugute.

Gut die Hälfte der Bevölkerung glaubt nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes indes nicht, dass die Corona-Hilfen für Grundsicherungsbezieher ausreichen. Demnach sagen 54 Prozent der Befragten, eine Einmalzahlung von 150 Euro für Erwachsene reiche nicht, um die zusätzlichen Ausgaben zu decken.

68 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Menschen mit geringen Einkommen in der Corona-Krise von der Bundesregierung nicht ausreichend unterstützt werden. Eine Mehrheit von 62 Prozent findet zudem die Regelsätze in der Grundsicherung zu niedrig sind. Nach Ansicht der Befragten müssten sie mit 573 Euro pro Monat um fast 30 Prozent über den derzeitigen Sätzen von 446 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen liegen.

Die repräsentative Umfrage erfolgte Mitte Februar. Befragt wurden 1.003 Personen über 18 Jahre. Der Paritätische fordert im Bündnis mit weiteren Sozialverbänden und Gewerkschaften für die Dauer der Krise einen monatlichen Aufschlag von 100 Euro und eine Erhöhung der Regelsätze auf von 446 auf 600 Euro.

Bettina Markmeyer


Corona

Studie: Frauen sind im Homeoffice schlechter dran



Frauen im Homeoffice werden von ihren Arbeitgebern schlechter mit Computern, Handy oder einem Bürostuhl versorgt als Männer. Das geht aus einer Studie im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums hervor, die am 2. März in Berlin veröffentlicht wurde. Das Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) gibt darin einen aktuellen Überblick über die Verbreitung von Homeoffice, Corona-Schutzmaßnahmen der Arbeitgeber und das Belastungsempfinden der Arbeitnehmer.

Die Studie, die auf einer Mitte Februar erfolgten, repräsentativen Forsa-Umfrage unter Beschäftigten basiert, kommt auch zu dem Ergebnis, dass die Corona-Arbeitsschutzverordnung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zu mehr Heimarbeit beiträgt.

Insgesamt kümmern sich die Arbeitgeber durchaus um die Ausstattung ihrer Beschäftigten zu Hause: 85 Prozent stellen einen Computer, ein Laptop oder Tablet, knapp die Hälfte ein Smartphone. Nur jeder zehnte Arbeitnehmer wird indes auch bei der Einrichtung des Arbeitsplatzes unterstützt, etwa mit einem Bürostuhl.

Unterschiede zwischen den Geschlechtern

Auffällig sind laut Studie aber die Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Während nur sechs Prozent aller männlichen Beschäftigten gar keine Arbeitsmittel erhalten, ist der Anteil der Frauen mit elf Prozent fast doppelt so hoch.

Deutliche Unterschiede zeigen sich auch bei der Frage, wie die Beschäftigten die derzeitigen Belastungen einschätzen. 48 Prozent der Frauen empfinden ihre Situation häufig oder immer als "sehr anstrengend", Männer dagegen nur zu 36 Prozent. Die allgemeine Lebenszufriedenheit ist gegenüber dem Beginn der Pandemie in diesem Februar auf einen Wert von 6,7 auf einer 10er-Skala gegenüber 7,4 im April 2020 gesunken.

Insgesamt zeigt die Studie, dass sich die Arbeitssituation durch die Pandemie spürbar verändert. Mitte Februar arbeitete fast jeder zweite Beschäftigte (49 Prozent) zumindest stundenweise im Homeoffice, gut jeder Dritte überwiegend oder ausschließlich. Vor der Beginn der Pandemie war der Anteil nur halb so hoch. Im vergangenen Sommer gaben gut ein Drittel (36 Prozent) der Arbeitnehmer an, ständig oder tageweise von zu Hause aus oder mobil zu arbeiten.



Corona

Pandemie macht das soziale Gefälle in den USA deutlich



In manchen US-Bundesstaaten wird diskutiert, ob Pastorinnen und Pastoren in der Impfreihenfolge relativ bald drankommen sollen. Viele schwarze Geistliche lassen sich indes impfen, um unter ihren Gemeindemitgliedern die Impfbereitschaft zu steigern.

In den USA nimmt die Impfkampagne gegen Corona weiter an Fahrt auf. Ende Februar wurden jeden Tag mehr als eineinhalb Millionen Menschen geimpft. Erst kamen Menschen in Pflegeheimen und Beschäftigte im Gesundheitswesen an die Reihe. Bei der Vergabe der schützenden Impfdosen zeigt sich zudem das soziale Gefälle. Ethische und praktische Fragen fordern die christlichen Kirchen heraus, die selbst mitten in einer Debatte über die Impfpraxis stecken: Manche Pastoren möchten möglichst bald selbst den Pieks in den Oberarm - entweder als Vorbild für Impfskeptiker oder um so immunisiert in ihren Gemeinden besser helfen zu können.

Impftermine werden gewöhnlich online gebucht. Das bevorzugt gebildete, jüngere und wohlhabendere Menschen, also in der Regel Weiße. Viele Afroamerikaner betrachten das Impfgeschehen dagegen skeptisch. Die überwiegend schwarze Bevölkerung in ihrer Nachbarschaft in Texas leide stark unter Covid-19, sagte die Leiterin der Hilfsorganisation "Dallas Bethlehem Center", Chelsea White, kürzlich in der Zeitung "USA Today". Doch sie hätten kein großes Vertrauen in die Regierung und in Hilfsorganisationen: "Sie versprechen zu viel, liefern zu wenig, und gehen wieder." In manchen Südstaaten seien Impflokale vornehmlich in mehrheitlich weißen Vierteln zu finden, berichtete der Rundfunksender NPR.

15 Prozent der Bürger haben erste Impfung

Laut "New York Times" haben 15 Prozent der US-Amerikaner die erste Dosis des Impfstoffes erhalten, 7,7 Prozent bereits zwei Dosen. Prozentual werden dabei weniger Afroamerikaner geimpft als Weiße, obwohl Schwarze von der Pandemie stärker betroffen sind.

Die gesundheitspolitische Stiftung "Kaiser Family Foundation" analysierte Mitte Februar mehrere Staaten: In Louisiana etwa stellten Schwarze 21 Prozent der Geimpften, 34 Prozent der Erkrankten und 39 Prozent der Todesfälle. In New York machten Afroamerikaner neun Prozent der Geimpften und 23 Prozent der Todesfälle aus.

Streit über Bevorzugung von Pastoren

Doch während sich vielerorts schwarze Pastoren demonstrativ impfen lassen, um unter ihren Gemeindemitgliedern die Impfbereitschaft zu erhöhen, gibt es auch eine Debatte, ob Pastoren bevorzugt geimpft werden sollten. In der Bibel stehe, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, betonte der leitende Bischof der anglikanischen Episkopalkirche, Michael Curry. "Sich impfen zu lassen, eine Gesichtsmaske zu tragen, Abstand zu halten und Menschenmengen fern zu bleiben" seien einfache Wege, Liebe zum Ausdruck zu bringen. Und man helfe sich selber, sagte Curry.

Die von den Bundesstaaten festgelegten Regeln für die Impfreihenfolge sehen vor, dass ältere Menschen und für die Gesellschaft besonders wichtige Berufsgruppen, etwa im Gesundheitswesen, bevorzugt werden. Manche Gläubige sind der Ansicht, Pastorinnen und Pastoren gehörten dazu.

Es gehe nicht nur um den Impfschutz für Pastoren, sondern um die Gesundheit aller, mit denen Pastoren in Kontakt kommen in ihrem "Dienst an Jesus Christus", erklärte der Direktor eines baptistischen Krankenhauses in Winston-Salem in North Carolina. Bischof Talbert Swan von der Spring of Hope Church of God in Christ in Massachusetts forderte, Geistliche sollten in der ersten Impfphase zum Zuge kommen. Sie riskierten ihre Gesundheit bei Bestattungen, Gebeten für Sterbende oder etwa bei der Essensausgabe für sozial Schwache.

Pennsylvania zieht Kirchenpersonal vor

Im Bundesstaat Pennsylvania hat die Episkopaldiözese daher beantragt, Pastorinnen und Pastoren als unentbehrliche Beschäftigte einzustufen. Für Mitte März seien in einer Kirche in Philadelphia Impfungen für 800 Geistliche und kirchlich Beschäftigte geplant. "Wir können uns nicht um die Kranken kümmern, wenn unsere Pastoren selber krank sind", sagte der für Pennsylvania zuständige Episkopalbischof, Daniel Gutiérrez, im Informationsdienst seiner Kirche.

In Kentucky dürfen Pastoren seit dem 1. März bevorzugt geimpft werden. Der Gesetzgeber hat Geistliche als "essenzielle" Arbeiter klassifiziert. Sie sind damit den Beschäftigten im Verkehrswesen und in Lebensmittelläden gleichgestellt.

Der Generalsekretär des ökumenischen Nationalen Kirchenrates, Jim Winkler, hat angeregt, Kirchen bei kommenden Großimpfungen zu nutzen. "Wir haben den Raum, die Parkplätze, und die Freiwilligen", sagte er.

Die Impfungen sollen auch den Weg dafür frei machen, dass Gottesdienste wieder gemeinschaftlich gefeiert werden können. Man werde überlegen müssen, ob geimpfte und nicht geimpfte Mitglieder separat zusammenkommen sollten, schrieb das evangelikale Magazin "Christianity Today". Ein Kommentar im Jesuitenmagazin "America" stellte zur Diskussion, ob nur geimpfte Gläubige zur Messfeier zugelassen werden sollen. Es sei verantwortungslos, hieß es, zum Gottesdienst einzuladen, ohne alles getan zu haben, um das Risiko zu verringern.

Konrad Ege


Gesundheit

Wenn der Krebs immer wieder kommt




Henning Sablowski wurde nur 22 Jahre alt - hier mit seiner Mutter Claudia im Jahr 2016.
epd-bild/privat
Wenn Menschen schwer krank sind und ihre Ärzte nicht wissen, woran sie leiden, ist eine Therapie schwierig. Seltene Erkrankungen wie das Li-Fraumeni-Syndrom sind noch immer zu wenig bekannt. Experten und die Mutter von Henning wollen das ändern.

Vor einem reißenden Gebirgsfluss lächelt ein junger Mann mit strahlenden Augen in die Kamera. Ein Urlaubs-Selfie. Der junge Mann, Henning aus Leverkusen, wurde nur 22 Jahre alt. "Er war 16, als er an Knochenkrebs erkrankte", erzählt seine Mutter Claudia Sablowski stockend. Henning bekam Chemotherapien und wurde mehrfach operiert. Dann diagnostizierten Humangenetiker bei ihm das Li-Fraumeni-Syndrom. Die seltene und vererbbare Erkrankung erhöht drastisch das Risiko, an Krebs zu erkranken. Henning würde also, wenn er vom Knochenkrebs geheilt würde, irgendwann wieder an Krebs erkranken, hieß es. Und auch Familienmitglieder könnten betroffen sein, Eltern, Schwester, Cousinen. "Sein Vater und ich waren dabei, als er die Diagnose bekam. Und wir waren alle geschockt."

6.000 seltene Erkrankungen

Rund vier Millionen Menschen leben in Deutschland mit einer seltenen Erkrankung. Laut Bundesgesundheitsministerium gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Etwa 6.000 solcher Erkrankungen sind bislang bekannt.

"Die meisten sind erblich bedingt, nicht heilbar, treten bereits im Kindesalter auf und schränken die Lebenserwartung und die Lebensqualität ein", sagt Christian Kratz, Leiter des Zentrums für seltene Erkrankungen an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). All das trifft auch auf Hennings Erkrankung zu. Kratz, der auch die Kinderkrebsklinik an der MHH leitet, hat Henning und seine Familie auf einem Kongress in den USA kennengelernt. Er forscht seit Jahren für Menschen mit erblichen Krebserkrankungen. Das Li-Fraumeni-Syndrom ist sein Spezialgebiet. Die Krankheit trägt den Namen ihrer Entdecker, des chinesisch-amerikanischen Krebsforschers Frederick P. Li und seines amerikanischen Kollegen Joseph F. Fraumeni.

Odyssee von Arzt zu Arzt

"Eine der größten Hürden bei dieser wie auch bei allen anderen seltenen Erkrankungen ist die Diagnose", sagt der Kinderonkologe. Eine der Ursachen dafür liege im Gesundheitssystem. Niedergelassene Mediziner und Klinikärzte seien einem enormen zeitlichen Druck ausgesetzt. Aufwendige seltene Diagnosen seien für sie kaum möglich. Viele Patienten des Zentrums hätten schon eine wahre Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich. Kratz sieht aber auch Nachholbedarf bei den 31 Zentren für seltene Erkrankungen in Deutschland. Sie müssten das Bewusstsein für diese Erkrankungen in der Öffentlichkeit und unter Medizinern schärfen und Diagnosepfade vereinfachen.

Auch das Li-Fraumeni-Syndrom, das durch einen Gendefekt ausgelöst wird und einen von 5.000 Menschen trifft, ist weitgehend unbekannt. Selbst viele Onkologen hätten noch nie etwas davon gehört, sagt Claudia Sablowski. Um das zu ändern und um Betroffenen eine Plattform zum Austausch untereinander und mit Experten zu bieten, hat sie Ende 2018 mit Kratz den deutschen Zweig der US-amerikanischen "Li-Fraumeni Syndrom Association" gegründet. "Ich kenne Familien, in denen sterben seit Generationen Menschen an Krebs, und die Ärzte sagten immer wieder, das sei Zufall", sagt Sablowski.

Der Verein kämpft dafür, dass alle Kinder, die an potenziell erblich bedingten Krebsarten erkranken, genetisch untersucht werden. Neben dem Li-Fraumeni-Syndrom gibt es mehr als 60 weitere sogenannte Krebsprädispositionssyndrome. Mittlerweile seien diese Gen-Analysen gar nicht mehr teuer, sagt Sablowski. Ferner fordert der Verein, dass alle notwendigen Früherkennungsuntersuchungen von den Krankenkassen bezahlt werden. "Man kann den Gendefekt nicht heilen. Die einzige Chance ist, den Krebs früh zu erkennen und zu heilen."

Leben mit der Krankheit

Das sieht auch Kratz so: "Bei allen seltenen Erkrankungen ist es in der Regel das Ziel, den Patienten ein Leben mit der Krankheit zu ermöglichen." Die Forschungen für die Entwicklung von Therapien und Medikamenten seien jedoch schwierig. Sie lohnten sich für Firmen oft nicht, weil es nur einen kleinen Absatzmarkt gebe. "Außerdem ist es schwer, für Studien genügend Patienten zu finden." Die internationale Zusammenarbeit unter Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Familien sei deshalb enorm wichtig, ebenso die Unterstützung durch das Bundesforschungsministerium und die Kinderkrebsstiftung.

Auch Henning war mehrfach auf Einladung der "Li-Fraumeni Syndrom Association" in den USA. Beim ersten Mal, Mitte 2017, war er froh, erstmals junge Menschen mit demselben Schicksal kennenzulernen. Damals litt er noch unter den Folgen der Chemotherapie. Später hat er Vorträge gehalten über das Syndrom aus der Sicht eines Betroffenen - auch in Deutschland. Da war er krebsfrei.

"Zweieinhalb Jahre lang ging es ihm richtig gut", sagt seine Mutter. Er hat sein Abitur nachgeholt, studierte Elektrotechnik in Aachen, wohnte im Studentenwohnheim. Doch Ende 2019 kehrte der Krebs mit Macht zurück. Henning starb im Juni vergangenen Jahres kurz nach seinem 22. Geburtstag. Claudia Sablowski hat sich entschieden, weiter dafür zu kämpfen, dass das Li-Fraumeni-Syndrom bekannter wird - damit Betroffene künftig mehr Hilfe erhalten.

Martina Schwager


Bundesregierung

Kabinett billigt Familienbericht: Eltern im Mittelpunkt



Das Bundeskabinett hat am 3. März in Berlin den 9. Familienbericht der Bundesregierung "Eltern sein in Deutschland" gebilligt. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und dem Wandel der Arbeitswelt empfiehlt eine unabhängige Sachverständigenkommission der Politik, die wirtschaftliche Stabilisierung von Familien zu einer ihrer Hauptaufgaben zu machen, die Arbeitsteilung zwischen Müttern und Vätern zu fördern und die Vereinbarkeit mit Berufsarbeit weiter zu erleichtern.

Eine ungleiche Verteilung von Berufs- und Familienarbeit schwäche Familien wirtschaftlich, erklären die Sachverständigen. Sie empfehlen unter anderem, die Vätermonate beim Elterngeld auszuweiten, das Ehegattensplitting, das die Ein-Verdiener-Ehe bevorteilt, abzubauen und Minijobs zurückzudrängen. Die Erfahrungen mit dem Homeoffice sollten nach der Pandemie daraufhin geprüft werden, inwiefern sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern.

Frühe Hilfen als Vorbild

Gegen Armut und Benachteilung setzt die Sachverständigenkommission auf Bildung und Ganztagsangebote im Kita- und Schulalter. Analog zu den frühen Hilfen im Kleinkindalter sollten Eltern auch im Grundschulalter der Kinder durch Lehrer und Sozialarbeiter unterstützt werden, raten die Sachverständigen.

Familienformen und Elternschaft in Deutschland sind vielfältiger als früher. Die Sachverständigen empfehlen, das Recht entsprechend anzupassen, um allen Formen gerecht zu werden. Sie schauen dabei sowohl auf unverheiratete Eltern wie auf Scheidungsfamilien und Eltern, die Kinder nur mit Hilfe der Reproduktionsmedizin bekommen können.

Giffey sieht eigene Politik bestätigt

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) sah sich durch den Bericht weitgehend bestätigt. Sie setze auf Partnerschaftlichkeit der Eltern und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Giffey pochte darauf, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule endlich kommen müsse. Er sei zwischen Union und SPD vereinbart, doch hake es noch bei den Ländern, sagte sie. Immer mehr Eltern wollten beide arbeiten und sich beide um die Kinder kümmern.

Der 600-seitige Familienbericht ist eine Bestandsaufnahme, in der diesmal die Eltern im Mittelpunkt stehen. Die unabhängigen Sachverständigen formulieren außerdem stets Empfehlungen an die Politik. Ein Bericht über die Lage der Familien wird in jeder zweiten Legislaturperiode vorgelegt. Der 9. Familienbericht wurde von einer siebenköpfigen Sachverständigenkommission erarbeitet und umfasst den Zeitraum von Juli 2018 bis Mitte August 2020.



Bundestag

Pflege-Petition fordert mehr Personal in Kliniken und Heimen



Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat im Petitionsausschuss des Bundestages bekräftigt, dass die Bundesregierung weiter gegen die Überlastung der Pflegekräfte in den Krankenhäusern und den Altenheimen vorgehen will. "Wir haben schon viel begonnen, aber es ist noch nicht überall angekommen", sagte Spahn am 1. März in Berlin in der öffentlichen Ausschusssitzung.

In einer Online-Petition an den Bundestag fordern knapp 207.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner eine "Gesundheitsreform für eine bessere Pflege zum Schutz der Pflegebedürftigen". Weitere 60.000 Personen unterzeichneten "analog". Die Petition erreichte damit nach Angaben des Bundestages eine Rekordbeteiligung.

Die Unterzeichner der von dem Arzt und Journalisten Bernhard Albrecht initiierten Petition fordern, dass Pflegekräfte mehr Zeit für die Betreuung ihrer Patienten bekommen. "Verbindliche Personalschlüssel sind das wichtigste Mittel gegen die ständige Unterbesetzung in den Krankenhäusern", sagte Albrecht. Auch wenn die Bundesregierung gegen den Pflegenotstand mehr getan habe als alle Vorgängerregierungen, sei der Reformbedarf nach wie vor groß. Pflegekräfte müssten höhere Gehälter erhalten und angesichts ihrer Qualifikation auch mehr Entscheidungsrechte an Patienten.

Gegen unrealistische Vorgaben beim Personal

Spahn wies darauf hin, dass Vorgaben des Gesetzgebers an die Personalausstattung derzeit auch an Grenzen stießen. Mit unrealistischen Vorgaben an die personelle Ausstattung dürfe nicht die mediziniche Versorgung gefährdet werden. "Es geht nur Schritt um Schritt", sagte der Minister.

In Bezug auf den Gesetzentwurf zur Pflegereform sagte Spahn, dieser "ist fast fertig" und führte weiter aus, dass der Eigenanteil der Heimbewohner gedeckelt werden solle und Heime gleichzeitig nur noch Geld von der Pflegeversicherung bekommen sollen, wenn sie Tariflohn bezahlen.

Pflegebedürftigkeit künftig besser vermeiden

Albrecht forderte eine Gesundheitsreform, die auf die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit ziele. Dazu könnten Netzwerke in Nachbarschaften, wie es sie in anderen Staaten bereits gebe, beitragen. Spahn sprach sich ebenfalls für mehr innovative Anätze aus.

Der Ausschuss fällte kein abschließendes Votum über die Petition, sie wird weiter beraten. Der Petitionsausschuss ist für die Bevölkerung die zentrale Anlaufstelle, um Sorgen und Anregungen an das Parlament herantragen zu können.



Arbeit

Expertin: Neue Konzepte für mehr Digitalkompetenzen von Frauen nötig



In Deutschland braucht es nach Ansicht der Bildungsexpertin Sandy Jahn neue Konzepte zur Förderung der Digitalkompetenzen von Frauen. Viele Frauen drohten digital abgehängt zu werden, sagte die Referentin bei der gemeinnützigen Initiative D21 dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Wir sehen das vor allem bei den Frauen höheren Alters und bei Frauen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen oder ohne Berufstätigkeit." Frauen profitierten deutlich weniger von den Vorteilen digitaler Arbeitsmöglichkeiten.

Während 91 Prozent der Männer das Internet nutzten, seien nur 84 Prozent der Frauen online. Frauen betrachteten die Digitalisierung auch seltener als Chance für ihr berufliches Fortkommen, sagte Jahn. Laut der D21-Studie "Digitales Leben" sind nur 43 Prozent der Frauen daran interessiert, ihr Wissen im digitalen Bereich auszubauen. Bei den Männern sind es hingegen 58 Prozent.

"Besorgniserregende Entwicklungen"

"Das sind besorgniserregende Entwicklungen", warnte die Digital-Expertin. Denn künftig werde es immer weniger Arbeitsplätze geben, an denen keine digitalen Kenntnisse notwendig seien. Einfachere Tätigkeiten würden bei fortschreitender Digitalisierung ersetzt: "Davon sind dann vor allem diese Frauen bedroht, die nicht in der Lage sind, sich rechtzeitig fort- und weiterzubilden."

Schon jetzt profitierten in der Berufswelt Männer stärker von den Vorteilen der Digitalisierung, sagte Jahn. "Frauen werden deutlich seltener Arbeitsmittel vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wie Smartphone, Notebooks oder aber auch Software, die sie zum mobilen Arbeiten brauchen." Arbeitgeber statteten Teilzeit-Kräfte sehr viel seltener mit technischen Geräten aus. Da nur elf Prozent der Männer Teilzeit-Stellen hätten, seien sie also in der Regel besser ausgerüstet.

Chance für die Qualität der Arbeit

"Frauen können die Möglichkeiten der Digitalisierung weniger für sich einsetzen und nehmen sie dadurch auch weniger als Chance für die Qualität ihrer Arbeits- und Lebenszufriedenheit wahr", stellte Jahn fest. So nutzten laut der D21-Studie vor der Corona-Krise nur neun Prozent der Frauen mobiles Arbeiten, während dies 21 Prozent der Männer taten. Bei Berufstätigen mit Kindern arbeiteten sogar gut ein Viertel der Männer mobil, während der Anteil bei den Frauen fast gleich blieb. Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen nutzten digitale Technik allerdings weitaus häufiger.

Die Initiative D21 mit Sitz in Berlin ist nach eigenen Angaben das größte deutsche Netzwerk für die digitale Gesellschaft. Mitglieder des Vereins sind rund 200 Unternehmen und Institutionen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie Partner aus Bund, Ländern und Kommunen.

Claudia Rometsch


Slowakei

Wie "Omamas" Roma-Kindern den Start ins Leben erleichtern



Die Slowakei hofft auf viele Millionen von der EU aus dem Wiederaufbau-Fonds. Der soll vor allem Bildungsprojekte fördern. Darauf wollte die Organisation "Cesta Von" mit ihren "Omamas" nicht warten. Sie fördert Kinder in den Armutssiedlungen.

Das Video ist in einer slowakischen Roma-Siedlung gedreht, im Volksmund werden sie Ghetto genannt. Holzbaracken stehen entlang unbefestigter Wege, häufig gibt es weder Strom noch fließendes Wasser. Immer wieder laufen Kinder durchs Bild, die in schmutzige Pfützen hüpfen. Im Film sagt Alexandra Ginova, selbst eine Roma: "Roma-Kinder wachsen in schwierigen Verhältnissen auf, und wenn sie nicht von Anfang an Anregungen bekommen, sind sie später im Rückstand."

Kinder stärken und fördern

Ginova ist eine sogenannte "Omama" der Hilfsorganisation Cesta Von (frei übersetzt: Ausweg). Im Video sieht man, wie sie Babys massiert und einfache Bewegungsspiele mit Kleinkindern spielt. "Der Sinn unseres Projektes ist es, von der Geburt bis zum Alter von drei Jahren mit ihnen zu arbeiten", sagt sie.

Seit rund fünf Jahren gibt es dieses spezielle Programm, aber erst jetzt sorgt es in der Slowakei für Schlagzeilen: Die Regierung in Bratislava führt es als Beispiel dafür an, wie das Land die vielen Millionen Euro aus dem Corona-Wiederaufbau-Fonds der EU investieren könnte, die bald ins Land fließen werden - Bildungsprojekte sollen besonders unterstützt werden. Ein flächendeckendes System von Mentoren aufzubauen - so, wie es Cesta Von bislang in elf Roma-Siedlungen gemacht hat -, wird darin als eine Idee genannt, wie Bildungsreformen angestoßen werden können.

Tatsächlich geht das Projekt die Wurzeln vieler Probleme an. "Wir versuchen, die Feinmotorik und die Grobmotorik der Kinder zu stärken und die kognitive sowie emotionale Entwicklung zu fördern", erläutert Ginova. Denn viele Roma-Eltern in den ausgegrenzten Siedlungen seien völlig hilflos in Sachen Erziehung.

Grundschüler kennen die Farben nicht

Das kommt auch daher, dass sie selbst unter solchen Umständen aufgewachsen seien, erläutert Initiator Pavel Hrica, der Gründer von Cesta Von. Und vor allem: Weil sie aufgerieben sind von den täglichen Sorgen um etwas Essen und ein wenig Holz zum Heizen, bleibe einfach keine Zeit für die Kinder: "Sie kommen in die Schule und sehen dort oft zum ersten Mal ein Buch. Sie wissen nicht, wie man einen Stift hält, es fehlen ihnen solche grundlegenden Dinge wie der Wortschatz; sie wissen nicht, was ein Dreieck oder ein Viereck ist, sie kennen die Farben nicht, sie können nicht zählen."

Hinter dem Omama-Projekt, erzählt Pavel Hrica, stecke die Erkenntnis, das man im frühesten Alter ansetzen müsse: "Alle Probleme, die diese Leute später im Leben haben, rühren von der Basis her. Wenn die Fundamente nicht fest sind, wird das Leben später umso schwieriger."

Die Organisation bildet die Omamas aus, die dann in einer Art Patenschaft mehrere Familien mit kleinen Kindern betreuen. Sie arbeiten sowohl mit den Neugeborenen als auch mit den Müttern, denen sie beispielsweise Tipps für gemeinsame Spiele, Bewegungsförderung oder Kleinkindermassagen geben.

Konzentration auf die vorschulische Bildung

Das Hauptproblem der slowakischen Bildungspolitik ist, dass die Kinder aus der Roma-Minderheit, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung stellt, bei den klassischen Bildungsangeboten oft durchs Raster fallen. Über Jahrzehnte versprechen Politiker aller Couleur immer wieder, das zu ändern, aber es hat sich so gut wie nichts getan - allen Fördergeldern aus der Europäischen Union zum Trotz.

Deshalb forderte Miroslava Hapalova, die Direktorin des staatlichen pädagogischen Instituts aus Bratislava, in einer Diskussionsrunde über Bildungsimpulse: "Wir brauchen eine Konzentration auf die vorschulische Bildung. Wir wissen, dass wir hier Defizite haben. In der Slowakei sind viel weniger Kinder in die vorschulische Bildung einbezogen als in anderen europäischen Ländern, und nochmals niedriger ist diese Zahl bei den Kindern aus benachteiligten Gruppen." Hier sei es nötig, neue Kapazitäten aufzubauen. Auch die niedrigen Gehälter von Lehrern werden immer wieder genannt, wenn es in der Slowakei um überfällige Bildungsreformen geht.

Ob ein Projekt wie die Omamas vom Geldsegen von der EU profitieren kann? Pavel Hrica ist skeptisch. Natürlich freue ihn die Aufmerksamkeit für seine Initiative, aber selbst wenn Geld aus dem Wiederaufbau-Fonds tatsächlich in seine Organisation fließen würde, könne es nur bedingt helfen. "Dabei handelt es sich um eine einmalige Finanzierung. Wenn wir die Lage dauerhaft verbessern wollen, brauchen wir eine langfristige Lösung."

Kilian Kirchgessner



sozial-Branche

Pflegelöhne

Verband: Scheitern des Flächentarifs nützt der gesamten Pflegebranche




Verbandwechsel in einem Altenpflegeheim
epd-bild/Jürgen Blume
Die Empörung ist groß: Die Caritas steht deutlichen Lohnerhöhungen in der Altenpflege im Weg. So lautet der Vorwurf, weil der Sozialverband seine Zustimmung zu einem flächendeckenden Tarifvertrag verweigert. Nun erklärt der katholische Pflegefachverband, dass ein Ja der gesamten Branche und ihren Beschäftigten geschadet hätte.

Der Pflegefachverband der Caritas hat das Scheitern eines flächendeckenden Branchentarifs in der Altenpflege begrüßt. Mit der Entscheidung der Arbeitsrechtlichen Kommission (ARK) des Deutschen Caritasverbandes gegen den Tarifvertrag der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und der DGB-Gewerkschaft ver.di seien schwerwiegende Nachteile für die Pflege abgewendet worden, sagte der Geschäftsführer des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD), Andreas Wedeking, dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Die Zustimmungsverweigerung zum Tarifvertrag, den BVAP und ver.di vorgelegt haben, ist richtig und wird vom VKAD als Einrichtungsfachverband des Deutschen Caritasverbandes vollumfänglich mitgetragen", erklärte er.

"Das Nachsehen in der Refinanzierung"

Die ARK der Caritas hatte am 25. Februar die Zustimmung zum Tarifvertrag von BVAP und ver.di verweigert. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte aber die Zustimmung der beiden kirchlichen Sozialverbände, Caritas und Diakonie, zur Voraussetzung dafür gemacht, dass er das Tarifwerk für allgemeinverbindlich erklären würde. Die ARK der Diakonie hatte nach dem negativen Votum der Caritas die für 26. Februar geplante Abstimmung abgesagt.

Nach der Auffassung des Verbandes katholischer Altenhilfe hätte eine Allgemeinverbindlicherklärung zur Folge, dass in den Vergütungsverhandlungen mit den Kranken- und Pflegekassen ein Tarif mit höheren Löhnen - wie sie etwa die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) des Caritasverbandes vorsehen - "in der Refinanzierung das Nachsehen haben könnte". Die Pflegekassen würden sich weigern, die relativ hohen Löhne der Caritas bei den Pflegesätzen in voller Höhe zu berücksichtigen, so die Befürchtung. In der Folge wären "die Träger der Einrichtungen und Dienste letztendlich aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, eine Absenkung der Löhne vorzunehmen", glaubt Wedeking.

Die Pflegekassen könnten dabei mit Paragraf 84 SGB XI argumentieren und ihn zum Maßstab machen. "Denn dort steht in Satz 2 nicht, dass grundsätzlich jeder Abschluss anzuerkennen ist. Wir befürchten also, die Grundlage unserer Finanzierungsbasis zu verlieren", erklärte Wedeking.

150.000 Altenpflegekräfte bei der Caritas

Außerdem würden durch einen Flächentarifvertrag auf Dauer alle Beschäftigten in der Pflege benachteiligt, wenn ein niedriges Lohnniveau festgeschrieben wird. Das gescheiterte Tarifwerk von BVAP und ver.di enthalte - im Unterschied zu den Regelungen für die rund 150.000 Beschäftigten in den bundesweit 3.200 Einrichtungen der Caritas-Altenhilfe - weder Überstundenregelungen noch eine betriebliche Altersvorsorge. "Seine Regelungen zielen lediglich auf Mindestbedingungen der Pflegelöhne ab", so Wedeking.

Das Thema Tarifbindung in der gesamten Pflegebranche ist nach der negativen Entscheidung der Caritas noch nicht vom Tisch. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zeigte sich am 1. März im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages für Überlegungen offen, in Zukunft die Finanzierung von Pflegeleistungen davon abhängig zu machen, ob der Pflegeanbieter seine Beschäftigten nach Tarif bezahlt.

Lohnerhöhungen um 8,5 Prozent

Die Arbeitsrechtliche Kommission des Deutschen Caritasverbandes hat in ihrer Sitzung am 25. Februar auch eine Entscheidung zur weiteren Lohnentwicklung in den Einrichtungen und Diensten der Altenhilfe der Caritas getroffen. Danach steigen nach den Angaben des VKAD die Entgelte bis zum 1. April 2022 im Durchschnitt pro Beschäftigten um 8,5 Prozent.

Die Vergütung einer Pflegefachkraft bei der Caritas in der Einstiegsstufe wird ab 1. April 2021 ein monatliches Brutto von 3.300 Euro erreichen und sukzessive auf ein Monatsbrutto von 4.100 Euro in der letzten Erfahrungsstufe ansteigen, teilte der Verband mit. Hinzu kommen Zuschläge sowie die fast vollständig arbeitgeberfinanzierte Zusatzversorgung.

Markus Jantzer


Corona

Müde Mütter: Viele Frauen warten auf einen Platz in einer Kur-Klinik



Viele Mütter und ganz besonders Alleinerziehende sind während des Lockdowns im Dauerstress. Sie müssen wegen der fehlenden Angebote etwa im Sport ihre Kinder selbst beschäftigen und bei Laune halten. Viele sind nach Monaten dieser Belastung nicht mehr gewachsen. Kuren könnten hier helfen, doch die Kliniken sind längst ausgebucht.

In der Corona-Pandemie geht Müttern zunehmend die Kraft aus. Die Beratungsstellen der Evangelischen Landeskirche in Baden beobachten seit einem Jahr deutlich mehr Gesprächsbedarf und eine erhöhte Nachfrage nach einer Kur. "Die Frauen sind dünnhäutiger geworden," sagt Elisabeth Förter-Barth vom Diakonischen Werk Karlsruhe.

Basteln, Vorlesen, Singen oder Spielen - im Lockdown müssen Mütter ihre Kinder ständig beschäftigen. Ausweichen auf Großeltern, Kita, Krabbelkreise oder Turngruppen entfällt oft. Dadurch fehlt auch der Austausch mit anderen Müttern. "Es gibt nichts mehr zum Entspannen", so Förter-Barth.

Die größten Verlierer seien Mütter mit kleinen Kindern und Alleinerziehende nach einem Umzug. "Die frühen Hilfen sind derzeit eingestellt, die Einsamkeit ist groß", sagt die für Familie zuständige Sozialberaterin. Viele Mütter kämen in die Beratung, um einfach nur zu reden.

Kommen, um zu reden

Die Sozial- und Schwangerenberatungen seien oft die ersten Anlaufstellen, an denen eine Mutter sage "ich kann nicht mehr", weiß die für Müttergenesung verantwortliche Christiane Schuhen von den Evangelischen Frauen in Baden. Auch Eltern müssten sich ausruhen dürfen, bräuchten jemand, der ihnen den Rücken frei hält, so Schuhen. Gerade über Weihnachten und im Winter sei dieser Satz Alltag gewesen, fasst Elisabeth Förter-Barth die Rückmeldungen ihrer Beraterinnen zusammen.

Erschöpfte Mütter kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Die emotionale Arbeit, das unermüdliche "Für-die Familie-dasein-müssen" zehre an der "ganz normalen Mutter", betonen die Geschäftsführerin der evangelischen Mütterkurheime e.V. Württemberg, Angelika Klingel, und die Geschäftsführerin der Klinik Hohes Licht gemeinnützige GmbH im FrauenWerk Stein in Bayern, Elke Hüttenrauch. Zur Doppelbelastung durch Familie und Beruf sei der Lockdown mit all seinen Folgen oben drauf gekommen.

Die Last der Familienarbeit

Mütter hätten gerade in der Pandemie kaum Raum und Zeit für sich, stellt Elke Hüttenrauch fest. Sie hat jedes Jahr Einblick in mehrere hundert Familien und weiß, dass Frauen in heterosexuellen Partnerschaften den "Löwinnenanteil" der Familienarbeit leisten. "In der Stellenbeschreibung der Mutter steht ja auch die Zuständigkeit für die emotionale Ermüdung der Kinder und Partner", so Hüttenrauch. Aussagen über gleichgeschlechtliche Beziehungen seien ihr wegen zu geringen Datenmaterials derzeit nicht möglich.

Ähnlich erschöpft wie Mütter seien Frauen, die einen Angehörigen pflegen, ergänzt Angelika Klingel. In der Pandemie gebe es keine Angebote der Tagespflege, für Menschen mit Behinderung fielen regelmäßige Therapeutenkontakte weg. Aus Angst, den Pflegebedürftigen mit dem Virus anzustecken, würden auch die für die Pflege zuständigen Menschen oft Kontakte meiden. Pflege sei bis heute überwiegend Frauensache, so Klingel.

Die Erschöpfung der Mütter und der mit Pflege betrauten Frauen zeigt sich in psychischen und körperlichen Symptomen wie Schlafstörungen, Rücken- oder Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Magen-Darmbeschwerden oder Migräneattacken. Entsprechend groß ist die Nachfrage nach einer Kur. "Manche Frauen sind sogar zu erschöpft für eine Kur", berichtet Elisabeth Förter-Barth.

Kliniken sind das ganze Jahr ausgebucht

Für 2021 seien die Kliniken schon ausgebucht, es gebe bereits Wartelisten, erläutern Angelika Klingel und Elke Hüttenrauch. Die Kliniken arbeiten während der Pandemie mit reduzierter Belegung unter Hygieneauflagen weiter. Nur vereinzelt gebe es Absagen. Neben Bewegung an der frischen Luft, viel freier selbstbestimmter Zeit, Bädern und Massagen erwartet die Mütter bei der dreiwöchigen Kur in den Häusern der Diakonie auch ein Angebot zu einem Seelsorgegespräch.

"Die Kirche tut hier etwas für Frauen", sagt Angelika Klingel. Frauen fragten bei der Anmeldung oft gezielt nach professioneller Trauerbegleitung. Die Sozialwirtin leitet die evangelische Frauen- und Mütterkurklinik im oberschwäbischen Bad Wurzach sowie die evangelische Mutter-Kind-Kurklinik in Loßburg und in Scheidegg im Allgäu.

Mütterkuren, später auch Mutter-Kind- oder Mutter-Vater-Kind-Kuren, hat Elly Heuss-Knapp, die Frau des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss, ins Leben gerufen. Sie gründete vor 71 Jahren das Müttergenesungswerk zur Förderung der Müttergesundheit. Für eine Mütterkur ist ein ärztliches Attest notwendig. Die Kosten für eine dreiwöchige Kur übernehmen die Krankenkassen.

Susanne Lohse


Corona

Interview

"Häusliche Pflege hat sich zugespitzt"



Die Pandemie hat auch gravierende Auswirkungen auf die Lage in der häuslichen Pflege. Die Diakonie berichtet von immer mehr erschöpften Angehörigen, die Rat und Hilfe suchen. Wie ihnen beizustehen ist, erläutert Expertin Gabriele Tammen-Paar von der Berliner Diakonie Stadtmitte im epd-Interview.

In der Corona-Pandemie hat sich die häusliche Pflege drastisch verändert. Pflegende Angehörige fühlen sich stark belastet und erschöpft, berichtet die Leiterin der Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle "Pflege in Not", die zur Diakonie Stadtmitte gehört, Gabriele Tammen-Parr, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Betroffene hoffen durch Impfungen und die Rückkehr von Unterstützungsangeboten nun auf Entlastung in der angespannte Lage. Die Fragen stellte Christine Xuân Müller.

epd sozial: In Deutschland werden drei Viertel der rund 4,8 Millionen Pflegebedürftigen nicht in Heimen, sondern zu Hause betreut - die meisten von ihnen durch Angehörige. Findet diese Arbeit ausreichend Beachtung?

Gabriele Tammen-Parr: Häusliche Pflege findet hinter verschlossenen Türen statt. Und wenn über Pflege gesprochen wird, denken viele Menschen eher an Pflegeeinrichtungen. Das was zu Hause täglich, über Jahre und Jahrzehnte geleistet wird, kann nicht genug gewürdigt werden, aber ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt.

epd: Was heißt das in Zahlen?

Tammen-Parr: Von den rund 3,6 Millione Menschen, die zu Hause gepflegt werden, werden über 60 Prozent alleine von Angehörigen, also ohne Unterstützung durch einen Pflegedienst, gepflegt. Das heißt, der große Anteil der alten pflegebedürftigen Menschen wird in der Familie versorgt. Obwohl wir von "Pflege in Not" eigentlich nur für das Land Berlin zuständig sind, bekommen wir Anrufe und Beratungsanfragen auch aus anderen Bundesländern. In anderen Bundesländern gibt es keine vergleichbaren Beratungsangebote, die speziell auch zu Konflikten und Aggressionen in der häuslichen Pflege beraten.

epd: Können Sie die aktuelle Lage der pflegenden Angehörigen in der Corona-Pandemie beschreiben?

Tammen-Parr: Uns von "Pflege in Not" war damals zu Beginn der Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen sofort klar, wenn die Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige gänzlich wegbrechen, wird sich die Situation in der häuslichen Pflege dramatisch zuspitzen. Verzweifelte Angehörige berichteten, dass die Überforderung extrem zugenommen hat. Die Abhängigkeit ist nochmal sehr viel stärker geworden. Die körperliche und emotionale Nähe hat sich nochmal verdichtet. Die Betroffenen sind völlig reduziert auf die gemeinsame Beziehung. Und natürlich haben sich Aggressionen und Konflikte entwickelt, das war zu erwarten.

epd: Welche Gründe gibt es dafür?

Tammen-Parr: Es gab keine Entlastung durch entlastende Angebote oder durch Kontakte von außen. Es war kaum eine Abgrenzung für den Pflegenden und den Pflegebedürftigen möglich. Und hinzu kam die große Angst der Infektion, also die Angst der pflegenden Angehörigen, sich zu infizieren und die Frage, was passiert dann mit dem Pflegebedürftigen? Kurzum: die häusliche Pflegesituation hat sich in der Corona-Pandemie dramatisch verändert und zugespitzt. Unsere Anruferzahlen, also die Zahlen der Ratsuchenden haben sich zu Beginn der Pandemie verdreifacht. Im Sommer entspannte sich die Situation etwas. Aber was sich die ganze Zeit durchgezogen hat, ist, dass die Leute nicht wissen, wie sie die Situation durchstehen. Oft ist es zum Beispiel auch die räumliche Enge, die belastet, wenn eine demenzerkrankte Pflegeperson und pflegende Angehörige etwa in einer Zwei-Zimmer-Wohnung leben und 24 Stunden am Tag zusammen sind. Wut und Aggressionen haben zugenommen, neben psychischer auch körperliche Gewalt. Oft liegen die Nerven einfach blank.

epd: Viele pflegende Angehörige sind selbst oft im Rentenalter, die etwa ihren an Demenz erkrankten Partner oder Partnerin zu Hause betreuen. Welche Möglichkeiten der Unterstützung gibt es für sie?

Tammen-Parr: Im Moment gibt es leider kaum Angebote für die Pflegenden und ihre Angehörigen. Das Land Berlin bietet normalerweise ein vergleichsweise großes Angebot an Unterstützungsmöglichkeiten wie Tagespflege, Kurzzeitpflege, Gesprächsgruppen und andere Betreuungsangebote. Vor der Corona- Pandemie gab es zum Beispiel neben der aufsuchenden Beratung auch qualifizierte Ehrenamtliche, die in die Wohnung kamen, um den pflegenden Angehörigen zu entlasten. Hier konnte durch eine Eins-zu-Eins-Betreuung der zum Beispiel demenzerkrankte Partner stundenweise betreut werden. Eine von vielen Entlastungen, die seit März letzten Jahres nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt, pflegende Angehörige waren plötzlich ganz auf sich alleine gestellt und die meisten sind es immer noch.

epd: Durch Impffortschritte und mehr Testkapazitäten gibt es erste Entspannungen, gilt das auch für die häusliche Pflege?

Tammen-Parr: Die Entspannung ist in der häuslichen Pflege zu einem kleinen Teil angekommen. Seit Herbst gibt es zum Beispiel in Berlin wieder Tagespflegeangebote - allerdings in reduziertem Umfang. Noch nicht wieder geöffnet sind die Betreuungsgruppen. Auch Einzelbetreuung und zugehende Beratung finden noch nicht statt. Die Folgen sind, dass pflegende Angehörige jetzt total erschöpft sind. Es ist eher so eine Stimmung nach dem Motto "Aushalten und Durchhalten" und zu sagen: "Lieber Gott, lass es uns noch überstehen bis zur Impfung" und dass es sich dann wieder entspannt.

epd: Beim Thema Corona-Impfung fühlten sich viele pflegende Angehörige vergessen, warum?

Tammen-Parr: Wir hatten gehofft, dass bei der Impfung von Pflegebedürftigen auch die pflegenden Angehörigen gleich mitgeimpft werden. Interessenvertretungen von pflegenden Angehörigen und auch wir haben immer wieder angemahnt, dass pflegende Angehörige bei Impfungen vorgezogen werden. Da gibt es jetzt eine erfreuliche Entwicklung. Die neue Impfverordnung sieht vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen Pflegebedürftige und ein bis zwei enge Kontaktpersonen, Anspruch auf eine Impfung haben. Darüber freuen wir uns!

epd: Welche Hilfe benötigen pflegende Angehörige jetzt aktuell am dringendsten?

Tammen-Parr: Es würde sehr helfen, wenn die Unterstützungsangebote für die Pflegebedürftigen und ihre pflegenden Angehörigen wieder zur Verfügung stehen würden. Jetzt aktuell haben wir es natürlich noch mit der aggressiveren Weiterentwicklung des Virus, den Mutationen, zu tun. Natürlich muss man genau abwägen, was unter welchen Bedingungen wieder aufgemacht wird. In Berlin sind zum Beispiel die Bewohner der Pflegeheime inzwischen alle durchgeimpft. Der Großteil der Pflegekräfte dort wurde ebenfalls zu rund 65 bis 70 Prozent geimpft. Dadurch kann auch wieder vorsichtig Begegnung und Nähe hergestellt werden. Wenn ähnlich wie in den Pflegeheimen nun zum Beispiel die Besucherinnen und Besucher der Tagespflegen, deren Angehörige und das Personal vor Ort geimpft sind, wäre das ein riesiger Schritt, um weitere Öffnungen vorzubereiten. Natürlich sollte man die Hygienemaßnahmen weiterhin beachten und auch Testungen bei Bedarf weiterhin vornehmen.



Obdachlosigkeit

Wohnungslose in der Pandemie unter Druck



Die Pandemie führt zu einer geringeren Nutzung der Angebote der Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe. Das belegen neue Daten aus Baden-Württemberg. Zugleich steigt jedoch die Not der Betroffenen, auch, weil es immer schwerer wird, eine günstige Wohnung zu finden.

Im vergangenen Jahr haben weniger Menschen als in den Vorjahren die Einrichtungen der Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg aufgesucht. Das geht aus der jährlichen Erhebung der Liga der Freien Wohlfahrtspflege hervor, die am 25. Februar in Stuttgart vorgestellt wurde. Der Rückgang spiegelt laut Sabine Oswald vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg nicht das ganze Ausmaß der Not wider. "Die Zahlen sind ein Ergebnis der Infektionsschutzmaßnahmen," sagte die für den Liga-Unterausschuss Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe zuständige Oswald. Die Not in Baden-Württemberg sei weiterhin groß.

"Wohnungslosigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen," sagte Oswald. Für Erzieherinnen, Pflegekräfte, Sozialarbeiter oder Beschäftigte bei der Müllabfuhr sei in Ballungszentren kaum noch eine Wohnung zu finden. Viele würden bei Freunden übernachten. "Allein in Stuttgart warten aktuell 4.900 Menschen auf eine Sozialwohnung." Gebraucht würden vor allem kleine, preiswerte Wohnungen in der Stadt.

Wachsende Wohnungsnot

Die Umwidmung freier Büroflächen in Wohnraum sehen Oswald und ihre Kollegin beim Diakonischen Werk Württemberg, Gabriele Kraft, skeptisch. Diese Flächen seien zu lukrativ, um sie zu Sozialwohnungen umzubauen. Sie stelle sich vielmehr eine neue "Quartiersentwicklung" in den Ballungsräumen vor, um der wachsenden Wohnungsnot zu begegnen, sagte Oswald.

Kraft ergänzte: "Wir brauchen ein Förderprogramm für Wohnraum". Sie forderte darüber hinaus eine dauerhafte Sozialbindung entsprechender Wohnungen. Präventive Maßnahmen wie etwa die Übernahme von Mietrückständen durch Sozialhilfeträger könnten helfen, dass Familien gar nicht erst in die Wohnungslosigkeit geraten.

Sabine Oswald und Gabriele Kraft erwarten einen Anstieg der Wohnungslosigkeit. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, sinkende Einkommen oder der Wegfall von Beschäftigungsverhältnissen gerade bei Solo-Selbstständigen führten absehbar bei vielen Menschen in die Überschuldung und Armut. "Wir befürchten eine Riesenwelle in den Sozial-, Wohnungslosen- und Schuldnerberatungen," sagte Kraft. Bereits jetzt gebe es lange Wartelisten bei den Beratungsstellen.

Soforthilfen des Landes

Kontaktbeschränkungen, Abstands- und Distanzgebote, die Minderbelegung von Einrichtungen zur Reduktion des Ansteckungsrisikos, vorzeitige Haftentlassungen oder die Verschiebung von Haftstrafen in Fällen, wo die öffentliche Sicherheit nicht bedroht ist, führten zu einer Mehrbelastung der Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg. Corona treffe Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen besonders hart, so Oswald.

Mit 900.000 Euro Soforthilfen für Wohungslose unterstützte das Land die Kommunen im vergangenen Winter bei der zusätzlichen Anmietung von Notunterkünften. In den Wärmestuben, Tagestreffs und Fachberatungsstellen fehlten allerdings ausreichend FFP2-Masken. Es gebe keine Teststrategie. Unklar sei zudem, wie eine Impfung - sowohl der Mitarbeiter in den Notunterkünften sowie der Wohnungslosen selbst - vonstattengehen solle, erklärte die Vorstandsvorsitzende der Liga Baden-Württemberg, Annette Holuschka-Uhlenbrock.

Susanne Lohse


Obdachlosigkeit

Gastbeitrag

Hürdenlauf auf dem Weg ins Internet




Bettina König
epd-bild/Stadtmission Berlin
Die Pandemie wirkt wie eine Lupe, denn sie macht Schwächen der Sozialbranche, etwa beim Thema Digitalisierung, gut sichtbar. Nachholbedarf bei der Nutzung des Internets besteht allerorten. Doch wie gehen Obdachlose und ihre Betreuer mit den Schwierigkeiten um? Welche Möglichkeiten der Unterstützung gibt es? Bettina König von der Berliner Stadtmission geht diesen Fragen in ihrem Gastbeitrag für epd sozial nach.

Eine Woche ohne Smartphone? Für viele eine Horrorvorstellung. Mich eingeschlossen. Ich genieße gerade jetzt, während der Pandemie, mein Smartphone umso mehr. Die sozialen Medien halten mich auf dem neuesten Stand und ich bin im regen Austausch mit Familie, Freunden und Freundinnen. Eine Nachricht hier, eine Sprachnachricht da, noch ein Bild mit gesendet und das lustige Video mal eben weitergeleitet. Fragen zu verschiedenen Themen sind schnell auf diversen Suchmaschinen beantwortet. Halleluja! Und nun können wir sogar mit gutem Gewissen zu Hause bleiben und uns in voller Inbrunst unseren Smartphones, Laptops, Tablets und Fernsehgeräten widmen. #stayathome macht es möglich. Eher gesagt; die Digitalisierung macht es möglich, dass wir weiterhin in Kontakt bleiben und uns informieren können.

Klingt doch fabelhaft. Doch man übersieht dabei leicht, dass nicht alle Menschen an diesem Glück namens Digitalisierung teilhaben können. Als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für wohnungs- und obdachlose Menschen begegnen mir einige, die überhaupt keine technischen Geräte besitzen. Dabei ist die Digitalisierung in Zeiten von Corona von hoher Bedeutung.

Auch auf Ämtern geht offline nichts mehr

Ämter und Beratungsstellen stellen häufig auf telefonische und Onlineangebote um, um direkten Kontakt zu vermeiden. Anträge können online gestellt werden. Auch Arzttermine können mittlerweile via Videoanruf wahrgenommen werden. Tolle Fortschritte auch unabhängig von Corona. Auch bei unserer Arbeit nutzen wir Suchmaschinen und Apps, um unseren Klientinnen und Klienten Informationen rauszusuchen.

Doch steht das nicht teilweise im Widerspruch mit dem Auftrag der Sozialen Arbeit – der Hilfe zur Selbsthilfe? Natürlich kann die Beratung und Vermittlung an diverse Einrichtungen des Hilfesystems den betroffenen Personen weiterhelfen. Doch wäre es nicht zielführender, wenn die Klienten sich die Informationen selber holen könnten? Da liegt des Pudels Kern: Nicht alle Menschen haben Teil an der Digitalisierung. Wie oben schon erwähnt, besitzen nur wenige wohnungs- und obdachlose Menschen ein Smartphone oder andere technische Geräte, die den Weg ins Internet öffnen. Doch woran liegt das?

Das kann eine Vielzahl von unterschiedlichen Gründen haben. Um ein technisches Endgerät zu erwerben, braucht es schlicht und einfach Geld, und das Verständnis für technische Geräte. Auch kann die Sprachbarriere eine Rolle beim Kauf und beim Einrichten des Gerätes spielen.

Bedienung der Geräte ist ein Problem

Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung können 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben. Das kann das Bedienen von technischen Endgeräten erschweren. Ist jetzt beispielweise ein Smartphone gekauft, muss für die optimale Benutzung noch einmal Geld für eine Sim-Karte in die Hand genommen werden. Um diese einzurichten ist seit 2017 ein Ausweisdokument erforderlich. Nicht alle wohnungs- und obdachlosen Menschen sind im Besitz eines solchen Papiers. Die Beschaffungen des Ausweisdokuments, des Smartphones und der Simkarte sind mit Kosten verbunden.

Sind alle Komponenten vorhanden und das Gerät wurde eingerichtet, wartet die nächste Herausforderung. Wo soll das Gerät aufgeladen werden? Wo gibt es freies WLAN? Wie sollen womöglich anfallendes Reparaturkosten beglichen werden? Und ein schickes Smartphone kann leider auch ganz schnell gestohlen werden.

Doch die Vorteile eines Smartphones sind wunderbar. Schnell bei Google Maps schauen, wie man zum nächsten Ort kommt. WhatsApp für die Kommunikation mit Bekannten, beim Jobcenter die Unterlagen einsehen, online Termine vereinbaren und auch bei der Wohnungssuche gibt es nützliche Apps. Ein technisches Endgerät kann Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten.

Hilfe zur Selbsthilfe bleibt ein Thema

Somit ist festzuhalten werden, dass die Teilhabe obdachloser Menschen aus fachlicher Sicht unbedingt zu fokussieren ist. Es kann sinnvoll sein, die Hoheit über Informationen zu haben. Menschen müssen zu uns Beraterinnen und Beratern kommen, um an Informationen zu gelangen. Wir haben dann die Möglichkeit mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und auch miteinander zu arbeiten. Wenn ich Menschen allerdings fördern möchte und mein Gegenüber ernst nehme und wertschätze, darf das nicht das Argument sein.

Im Zusammenhang mit der Pandemie wurde viel über Kreativität gesprochen. Es konnten Projekte umgesetzt werden, die vorher nie möglich gewesen wären. Lassen Sie uns träumen, ins Land der Utopie eintreten. Wir laufen eine Straße entlang und am Straßenrand steht ein Tower mit eingebautem Tablet. Wir können an den Tower treten und haben die Möglichkeit über das integrierte Tablet Informationen zu bekommen: Wo ist die nächste Essensausgabe und wie komme ich dahin? Wir gehen noch einen Schritt weiter. An dem Tower gibt es die Möglichkeit, Geräte zu laden und wir alle können freies WLAN nutzen.

Wow! Was für eine Errungenschaft und was für ein einfacher Zugang zum Wunder Digitalisierung - auch für alle Menschen, die nicht auf Rosen gebettet sind. Zunächst bleibt das nur ein Traum: Aber die flächendeckende Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der Digitalisierung sollte nicht aus den Augen verloren werden.

Bettina König ist Diakonin und stellvertretende Leiterin der Bahnhofsmission Zoologischer Garten der Berliner Stadtmission.


Bayern

Start für landesweiten Krisendienst für psychische Notfälle



Psychisch am Ende: Manchmal kommt man mit einer Trennung, einem Todesfall, Krankheit oder dem Verlust der Arbeit nicht allein zurecht. Bayern führt nun als erstes Bundesland einen flächendeckenden telefonischen Krisendienst ein.

Seit 1. März ist der bayernweite Krisendienst unter der Rufnummer 0800/6553000 kostenlos zu erreichen. Vorrangiges Ziel sei es, Menschen in seelischen Notlagen zu unterstützen und mit ihnen gemeinsam einen Ausweg aus ihrer Situation zu finden, teilte der Bezirketag am 26. Februar mit. Der Präsident des Bayerischen Bezirketags, Franz Löffler, bezeichnete die einheitliche Nummer als "eine Art Erste Hilfe in seelischen Notlagen". Durch eine frühe Intervention lasse sich oft eine weitere Zuspitzung vermeiden und verhindern, dass aus einer Krise eine längere Krankheit werde.

Flächendeckendes Sofort-Angebot

Der Krisendienst Bayern sei erstmalig ein flächendeckendes Sofort-Angebot bei psychischen und psychiatrischen Notfällen in einem Bundesland, hieß es. Wenn telefonische Beratung nicht ausreiche, vermittle die Leitstelle den Betroffenen beispielsweise an eine psychiatrische Praxis, den Sozialpsychiatrischen Dienst oder an die Akutstation einer psychiatrischen Klinik. In besonders dringenden Fällen würden mobile Teams zu den Anrufern kommen. Diese mobilen Einsätze würden von den Fachdiensten der Freien Wohlfahrtspflege und privater Anbieter durchgeführt.

Vom Ziel einer Rund-um-die-Uhr-Versorgung seien die Bezirke noch unterschiedlich weit entfernt, stellte Margit Berndl, Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern, fest. "Die mobilen Dienste müssen in allen Bayerischen Bezirken zügig aufgebaut und die Erreichbarkeit der Leitstellen ausgebaut werden", sagte sie. Das sei umso dringlicher, als die psychischen Belastungen durch Corona zunehmen würden.

Krankenhausaufenthalte verhindern

Insgesamt mussten für den Krisendienst fünf Leitstellen neu aufgebaut werden. In Mittelfranken und Oberbayern gab es sie bereits. Die Kosten von rund 18 Millionen Euro trage der Freistaat Bayern, teilte der Bezirketag mit. Die Finanzierung der mobilen Einsatzteams und aller sonstigen Kosten in noch einmal der gleichen Höhe würden die Bezirke bezahlen.

Daniel Staffen-Quandt


Verbände

Diakonie-Chefin: Mit Kirchensteuern die Gesellschaft stärken



Wer Kirchensteuern bezahlt, fördert damit nach Ansicht der Vorstandsvorsitzenden des Diakonischen Werks Württemberg, Annette Noller, den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Noller sagte am 26. Februar bei der Jahrespressekonferenz der württembergischen Diakonie in Stuttgart, sie würde gerne jeden, der aus der Kirche austreten will, durch diakonische Einrichtungen führen und zeigen, welche wertvolle Arbeit dort für die Gesellschaft geleistet werde. Das Diakonische Werk ist einer der größten Arbeitgeber im Südwesten, seine 50.000 Hauptamtlichen und 35.000 Ehrenamtlichen erreichen täglich rund 200.000 Menschen mit Unterstützungsbedarf.

Eva-Maria Armbruster, Vorstand Sozialpolitik bei der württembergischen Diakonie, sorgt sich angesichts der Corona-Folgen um die Zukunft diakonischer Einrichtungen. Behindertenwerkstätten oder Wohngruppen würden zwar voraussichtlich nicht geschlossen, doch fehle ihnen das Geld, um in die Zukunft zu investieren. "Eine dringend erforderliche Weiterentwicklung wird massiv abgebremst", warnte sie.

Verlierer des Digitalisierungsschubs

Armbruster berichtete zudem über die Situation von Pflegekräften. Bei vielen sei die Belastungsgrenze längst überschritten. Sie würden sie nun auch für Infektionen in Pflegeheimen und für verweigerte Impfungen beschimpft. "Dabei ist es für sie oftmals sehr schwer, überhaupt an einen Impftermin zu kommen", sagte die Sozialexpertin. Die Situation für Pflegende müsse bei der Bezahlung, den Arbeitszeiten und der Wertschätzung verbessert werden, um auch neues Personal gewinnen zu können.



Nordrhein-Westfalen

Krankenhausverband würdigt Förderung des Hebammenkreißsaals



Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband hat das NRW-Förderprogramm des hebammengeleiteten Kreißsaals gewürdigt. Diese durch eine erfahrene Hebamme betreute Form der Entbindung sei ein geburtshilfliches Konzept, das den ärztlich geleiteten Kreißsaal ergänze und zugleich dem Wunsch werdender Eltern nach einer möglichst selbstbestimmten und natürlichen Geburt entgegenkomme, erklärte der Verband am 2. März in Berlin.

Um das Modell in NRW weiter zu etablieren und landesweit auszuweiten, unterstützt das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium Krankenhäuser mit einer geburtshilflichen Abteilung beim Aufbau eines hebammengeleiteten Kreißsaals mit bis zu 25.000 Euro. Gefördert werden beispielsweise Schulungen, Workshops und Prozessmanagement. Das Programm läuft vom 1. April 2021 bis 31. Dezember 2022. Förderanträge müssen bis zum 2. November 2021 eingereicht werden. Zusätzlich fördert das Land NRW die Krankenhäuser mit 100 Millionen Euro über Einzelförderung bei Vorhaben zur Stärkung der geburtshilflichen Versorgung im Jahr 2021.

Neues Betreuungskonzept

Der Hebammenkreißsaal soll laut Ministerium als Betreuungskonzept den ärztlich geleiteten Kreißsaal ergänzen. Eine Versorgung sei für gesunde Schwangere geeignet, die nach unauffälligem Schwangerschaftsverlauf eine unkomplizierte Geburt erwarten können. Wesentliche Bestandteile des Konzepts seien die von Hebammen und Ärzteschaft gemeinsam erarbeiteten Kriterienkataloge zur Aufnahme und Weiterleitung sowie die kontinuierliche, selbstständige Betreuung während der Geburt durch erfahrene Hebammen.

Die Frauenklinik Bonn hatte den hebammengeleiteten Kreißsaal als erste Universitätsklinik Deutschlands eingeführt. Inzwischen gibt es neun Hebammenkreißsäle in Nordrhein-Westfalen: in Bad Oeynhausen, Bonn, Düsseldorf und Gütersloh sowie in Herdecke, Köln, Oberhausen, Paderborn und Velbert.




sozial-Recht

Bundesfinanzhof

Kein Kindergeld während Ausbildungsplatzsuche bei schwerer Krankheit




Der Bundesfinanzhof in München hat die Anspruchsvoraussetzungen für Kindergeldzahlungen an Eltern erwachsener Kinder geklärt.
epd-bild/Heike Lyding
Bis zum 18. Lebensjahr ist es fast immer klar: Eltern erhalten für ihr Kind Kindergeld. Für ältere, in Ausbildung befindliche oder behinderte Kinder kommt es aber oft zum Streit mit der Familienkasse. In aktuellen Entscheidungen hat der Bundesfinanzhof nun den Anspruch geklärt.

Die beabsichtigte Ausbildungsplatzsuche eines unter 25-jährigen erwachsenen Kindes führt nicht automatisch zu einem Kindergeldanspruch der Eltern. Zwar kann die Ausbildungsplatzsuche diese Zahlung begründen, nicht aber, wenn das volljährige Kind arbeitsunfähig erkrankt und das Ende der Erkrankung nicht absehbar ist, entschied der Bundesfinanzhof (BFH) in einem am 25. Februar veröffentlichten Urteil. Liege dagegen eine Behinderung vor, komme ein Kindergeldanspruch dennoch in Betracht, so die Münchener Richter.

Nach den gesetzlichen Bestimmungen erhalten Eltern das Kindergeld generell bis zum Ende des 18. Lebensjahres ihrer Kinder. Für das erste und zweite Kind sind das je 219 Euro monatlich. Anschließend kann bis zum 25. Geburtstag ein Kindergeldanspruch bestehen, wenn eine erste Ausbildung, ein Erststudium absolviert oder ein Ausbildungsplatz gesucht wird.

Über das 25. Lebensjahr hinaus ist ein Kindergeldanspruch nur möglich, wenn das Kind wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Davon wird ausgegangen, wenn das jährliche Einkommen des Kindes den Grundfreibetrag von 9.744 Euro nicht überschreitet. Zusätzlich kann ein individueller behinderungsbedingter Mehrbedarf berücksichtigt werden.

Sohn war suchtkrank

Im Streitfall hatte der Vater eines erwachsenen, aber noch nicht 25 Jahre alten Kindes Kindergeld beantragt. Sein Sohn sei wegen einer Suchterkrankung arbeitsunfähig, aber arbeitswillig und auf Ausbildungsplatzsuche, führte er an.

Die Familienkasse lehnte die Zahlung ab, weil aus den ärztlichen Attesten hervorgehe, dass das Ende der Erkrankung des Kindes zumindest zum streitigen Zeitpunkt Juni und Juli 2017 nicht absehbar war.

Der BFH schloss sich in seinem Urteil der Auffassung der Behörde an. Bei einem erkrankten, einen Ausbildungsplatz suchenden erwachsenen Kind komme ein Kindergeld nur in Betracht, "wenn das Ende der Erkrankung absehbar ist". Allein der Wille des Kindes, nach dem Ende der Erkrankung eine Ausbildung aufnehmen zu wollen, reiche dafür nicht aus, hieß es.

Allerdings sei es hier nicht ausgeschlossen, dass der Sohn wegen seiner Drogensucht als "behindertes Kind" gelten und der Vater deshalb Kindergeld beanspruchen könne. Das müsse das Finanzgericht noch einmal prüfen.

Heirat beendet Kindergeldanspruch

Bereits im Februar 2017 zog der BFH aber auch Grenzen, bis wann für behinderte, erwachsene Kinder Kindergeld gezahlt werden kann. Heiraten volljährige behinderte Kinder, gibt es für ihre Eltern danach kein Kindergeld mehr. Das gilt laut BFH, wenn der Ehepartner voll für den Unterhalt des Behinderten aufkommen kann. Weil das Kind nun verheiratet sei, entstehe den Eltern kein zusätzlicher Aufwand mehr, das behinderte Kind finanziell zu unterhalten. Daher sei es gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag mehr zu gewähren.

Ein Kindergeldanspruch wegen einer genetisch bedingten Behinderung setzt nach einer Entscheidung der Münchener Richter vom November 2019 zudem voraus, dass bereits vor dem 25. Lebensjahr bei dem Kind deutliche Beeinträchtigungen an der gesellschaftlichen Teilhabe aufgetreten sind. Allein die feste Erwartung einer späteren Behinderung reiche nicht aus, urteilte der BFH im Fall einer 1968 geborenen Tochter, die an einer erblichen, fortschreitenden Muskelerkrankung leidet. Unerheblich sei es für den Kindergeldanspruch, wenn die Behinderung erst nach der Altersgrenze von 25 Jahren diagnostiziert wurde, so der BFH.

Kein Kindergeld beim FSJ

Nach einem weiteren, am 25. Februar 2021 veröffentlichten Urteilt bestehe kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das erwachsene Kind krankheitsbedingt ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) unterbrechen muss. Konkret hatte die Tochter des Klägers ein FSJ bei der Johanniter-Unfall-Hilfe begonnen, das wegen ihrer Bulimie und Magersucht aber abbrechen müssen. Erst nach einem über siebenmonatigen Klinikaufenthalt begann sie Anfang 2019 ein weiteres FSJ in einer Behindertenwerkstatt eines anderen Trägers. Die Familienkasse stoppte für die Zeit des stationären Klinikaufenthaltes die Kindergeldzahlung.

Zu Recht, befand der BFH. Das FSJ sei keine Ausbildung. Werde der Einsatz krankheitsbedingt unterbrochen, führe das Warten auf eine neue Freiwilligenstelle nicht zu einem Kindergeldanspruch. Das FSJ diene "regelmäßig nicht der Vorbereitung auf einen konkret angestrebten Beruf, sondern der Erlangung sozialer Erfahrungen und der Stärkung des Verantwortungsbewusstseins für das Gemeinwohl".

Verpflichtet sich ein erwachsenes Kind zu einem mehrjährigen Dienst im Katastrophenschutz bei der Freiwilligen Feuerwehr, können Eltern auch nicht über das 25. Lebensjahr ihres Kindes hinaus Kindergeld erhalten, so der BFH in einem früheren Urteil vom Oktober 2017. Das sei bei Ableistung des mittlerweile abgeschafften früheren Zivildienstes oder des Grundwehrdienstes zwar möglich gewesen.

Der Gesetzgeber habe damals bei diesen Diensten die Verlängerung des Kindergeldanspruchs über das 25. Lebensjahr hinaus vorgesehen, weil diese Einsätze die Beendigung der Berufsausbildung verzögerten. Bei mehrjährigen Diensten wie bei der Freiwilligen Feuerwehr sei das nicht der Fall, weil sie neben der Ausbildung geleistet werden.

Az.: III R 49/18 (schwere Erkrankung)

Az.: III B 93/16 (Heirat behindertes Kind)

Az.: III R 44/17 (erblich bedingte Behinderung)

Az.: III R 15/20 (FSJ-Abbruch)

Az.: III R 8/17 (Katastrophenschutz)

Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Regelmäßige externe Begutachtung im Maßregelvollzug



Die Unterbringung psychisch kranker Straftäter im Maßregelvollzug muss grundsätzlich alle drei Jahre von einem zweifelsfrei externen Gutachter geprüft werden. Dass ein Gutachter lediglich in einer anderen Abteilung eines Krankenhauses und von der Unterbringungseinrichtung räumlich getrennt arbeitet, reicht für die nicht aus, wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 24. Februar veröffentlichten Beschluss entschied.

Im Streitfall ging es um einen psychisch kranken Sexualstraftäter, der 2015 als Jugendlicher unter anderem ein sechsjähriges Mädchen missbraucht hatte. Die Jugendkammer des Landgerichts Freiburg ordnete im Februar 2016 die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Verstoß gegen die Strafprozessordnung

Als die Fortdauer der Unterbringung 2019 überprüft und eine Prognose über die Gefährlichkeit des Mannes erstellt werden sollte, beauftragte das zuständige Amtsgericht Landau dazu einen Sachverständigen. Die Strafprozessordnung schreibt dabei vor, dass alle drei Jahre die Unterbringung von einem externen Sachverständigen überprüft werden soll.

Doch der "externe" Gutachter war nicht so "extern", wie er es sein muss Der Sachverständige arbeitete zwar nicht direkt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der der psychisch kranke Mann untergebracht war, sondern in einer anderen, räumlich getrennten Abteilung.

Diese gehöre aber einem Klinikum an, in dem ebenfalls der Gutachter mit halber Stelle tätig sei, so der Beschwerdeführer. Wirtschaftlich und organisatorisch gehörten beide aber zu einer betrieblichen Einheit, lautete seine Begründung.

Verfahren zurückverwiesen

Das Bundesverfassungsgericht gab dem Beschwerdeführer recht und verwies das Verfahren an die Vorinstanz zurück. Mit der Vorschrift soll Routinegutachten vorgebeugt werden. Der Untergebrachte habe daher Anspruch darauf, dass jemand neues seinen Fall untersucht.

Hier habe der Gutachter aber demselben Krankenhaus und damit derselben "betrieblichen Einheit" angehört. Leitung, Verwaltung und Träger seien dieselben gewesen. Es könne damit der Verdacht einer Beeinflussung des Gutachters bestehen, damit dieser etwa auch die Auslastung der Klinik in seinem Gutachten berücksichtigt.

Eine rein räumliche Trennung in einer anderen Abteilung des Krankenhauses reiche daher nicht aus, damit der Gutachter als extern gelten könne, so das Bundesverfassungsgericht.

Az.: 2 BvR 2032/19



Bundesverfassungsgericht

Vor Abschiebung sind aktuelle Lebensbedingungen zu prüfen



Vor der Abschiebung eines Flüchtlings in dessen Heimatland müssen Gerichte die dortigen aktuellen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen berücksichtigen. Dazu könne auch die Prüfung gehören, ob der Flüchtling trotz der Folgen der Corona-Pandemie durch eigene Arbeit ein Existenzminimum überhaupt erwirtschaften kann, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem 26. Februar veröffentlichten Beschluss. Die Karlsruher Richter gaben damit dem Antrag eines afghanischen Flüchtlings auf einstweilige Anordnung gegen dessen bevorstehende Abschiebung statt.

Der Asylantrag des drogensüchtigen und unter Betreuung stehenden Flüchtlings war abgelehnt, die Abschiebung angeordnet worden. Das Verwaltungsgericht Schleswig billigte die Abschiebungsanordnung, ohne jedoch die derzeitigen genauen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen in den Blick genommen zu haben.

Möglichkeit zum Überleben prüfen

Behörden und Gerichte müssten aber prüfen, ob ein Flüchtling nach der Abschiebung in sein Heimatland dort überhaupt überleben kann, forderte das Bundesverfassungsgericht. Dazu gehöre, sich "laufend über die tatsächlichen Entwicklungen" zu unterrichten. Das Gericht brauche zwar nicht jede Erkenntnisquelle heranziehen, müsse aber auf die vom Flüchtling vorgetragenen relevanten Gesichtspunkte auch eingehen.

Im konkreten Falle sei nicht untersucht worden, ob der drogensüchtige Mann unter den derzeitigen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Bedingungen in Afghanistan und angesichts der Corona-Pandemie überhaupt sein Existenzminimum erarbeiten kann. Ob der Flüchtling bei seiner Rückkehr auf ein familiäres Netzwerk zugreifen könne, sei ebenso nicht geprüft worden. Bis zur Entscheidung einer noch einzulegenden Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, dürfe der Mann wegen der Versäumnisses des Verwaltungsgerichts daher nicht abgeschoben werden.

Az.: 2 BvQ 8/21



Landessozialgericht

Halbgeschwister eines Deutschen haben Anspruch auf Grundsicherung



Ausländische nahe Familienangehörige eines Deutschen dürfen nicht von Grundsicherungsleistungen ausgeschlossen werden. Für sie treffe der im Sozialgesetzbuch II festgelegte Leistungsausschluss für Ausländer nicht zu, entschied das Landessozialgericht NRW in einem am 25. Februar in Essen veröffentlichten Urteil. Im konkreten Fall ging es um die ukrainischen Halbgeschwister eines minderjährigen Deutschen, die einen Aufenthaltstitel wegen Familiennachzugs haben.

Die Kläger und ihre Mutter besitzen nach Angaben des Gerichts die ukrainische Staatsangehörigkeit. Als Kinder seien sie im Juli 2015 zusammen mit ihrer Mutter und ihrem deutschen Halbbruder nach Deutschland gekommen. Seitdem lebten sie mit dem Vater des Halbbruders zusammen. Während Vater, Mutter und der Halbbruder SGB-II-Leistungen erhielten, lehnte das Jobcenter diese für die Halbgeschwister zunächst ab. Sie seien von Leistungen ausgeschlossen, da sie sich seit der Einreise noch nicht drei Monate in Deutschland aufgehalten hätten und auch keine Familienangehörigen eines im Haushalt lebenden deutschen Staatsangehörigen seien.

Hiergegen wehrten sie sich den Angaben zufolge erfolgreich vor dem Sozialgericht Düsseldorf. Das Landessozialgericht bestätigte diese Entscheidung nun weitgehend. Der Leistungsausschluss greife im vorliegenden Fall nicht, befanden die Richter. Für Ausländer, die im Rahmen eines Familiennachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen in die Bundesrepublik zögen, gelte diese Regelung nicht.

Az.: L 19 AS 212/20



Landessozialgericht

Arbeitslose müssen auch bei Online-Antrag Merkblatt lesen



Arbeitslose können sich nicht auf Unkenntnis berufen, wenn sie den Empfang des Merkblattes "Rechte und Pflichten" in einem Online-Antrag bestätigt haben. Mit einem entsprechenden Urteil wies das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen die Klage eines 44-jährigen Berufskraftfahrers aus Bremen ab. Die Entscheidung wurde am 1. März bekanntgegeben.

Der Kläger war Ende 2016 arbeitslos geworden. Nach seiner persönlichen Arbeitslosmeldung stellte er einen Antrag auf Arbeitslosengeld im Internet. Dabei bestätigte er laut Gericht, das Merkblatt über seine Rechte und Pflichten als Arbeitsloser zur Kenntnis genommen zu haben.

Probearbeit in Vollzeit verschwiegen

Im Februar 2017 nahm der Mann eine einwöchige unbezahlte Probearbeit in Vollzeit an, was er aber nicht der Agentur für Arbeit mitteilte. Zu einer Anstellung kam es nicht. Nachdem die Agentur davon erfahren hatte, verlangte sie das Arbeitslosengeld zurück. Durch Aufnahme der Probearbeit sei die Arbeitslosigkeit weggefallen und die Arbeitslosmeldung unwirksam geworden. Da die Rückforderung auch die Folgezeit betraf, summierte sich der Betrag auf rund 5.000 Euro.

Der Kläger argumentierte, dass eine unbezahlte Probearbeit nicht mit einer normalen Arbeit gleichgesetzt werden könne. Außerdem habe er sich keine Gedanken über eine unterlassene Mitteilung gemacht. Ein Merkblatt habe er nach seiner Erinnerung nie erhalten.

Das Landessozialgericht bestätigte nun die Rechtsauffassung der Arbeitsagentur. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entfalle auch bei einer unbezahlten Probearbeit von mindestens 15 Wochenstunden, da der Betroffene dadurch der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stehe. Gegen die Rückforderung könne auch keine Unkenntnis der Meldepflicht vorgebracht werden. Sie ergebe sich aus dem Merkblatt, dessen Erhalt jeder Arbeitslose bei Antragstellung durch Unterschrift bestätige. Gleiches gelte auch bei einem Online-Antrag, denn dieser könne nur an die Bundesagentur versandt werden, wenn zuvor die Kenntnisnahme durch Anklicken bestätigt werde.

Az.: L 11 AL 15/19



Landessozialgericht

Dauernde Durchfälle begründen Erwerbsminderungsrente



Die Benutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel ist bei einer chronischen Darmerkrankung mit häufigen unkontrollierbaren Durchfällen nicht zumutbar und kann eine Erwerbsminderung begründen. Ist der stetige Aufenthalt in der Nähe einer Toilette erforderlich, darf die Rentenversicherung nicht Erwerbsfähigkeit unterstellen und Versicherte für ihren Arbeitsweg auf Bus und Bahn verweisen, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in einem am 26. Februar bekanntgegebenen Urteil. Die Stuttgarter Richter sprachen damit einer heute 51-jährigen Frau eine befristete Erwerbsminderungsrente zu.

Die Klägerin hatte von 2010 bis 2014 in der Altenpflege gearbeitet. Bis Ende 2016 bezog sie Arbeitslosengeld und Krankengeld. Seit Oktober 2016 leidet sie an der chronischen Darmerkrankung Morbus Crohn mit mindestens zehn Durchfällen pro Tag sowie plötzlicher und einer Funktionsstörung der Blase.

Rententräger lehnte Antrag ab

Im Juni 2017 beantragte sie bei der Rentenversicherung eine Erwerbsminderungsrente. Sie müsse sich immer vergewissern, dass sie beim Verlassen des Hauses unterwegs eine Toilette aufsuchen könne. Selbst im Supermarkt habe sie zum Beispiel die Erlaubnis, auf die Personaltoilette zu gehen. Auf einen Arbeitsweg könne sie sich wegen ihrer Darmerkrankung nicht begeben.

Doch einen Grund für eine Erwerbsminderung sah der Rentenversicherungsträger nicht. Um zur Arbeit gelangen zu können, könne sie zumindest bei kürzeren Arbeitswegen auch öffentliche Verkehrsmittel ohne Toiletten nutzen.

Hinweis auf fehlende Toiletten in Bussen und U-Bahnen

Doch das ist der Klägerin wegen ihrer häufigen und plötzlichen Durchfälle nicht zuzumuten, urteilte das LSG und sprach ihr eine befristete Erwerbsminderungsrente zu. Denn in Bussen oder U-Bahnen gebe es gar keine, in Regionalzügen nur wenige Toiletten, hieß es zur Begründung.

Anders als bei einer Harninkontinenz könne die Frau auch nicht auf Einlagen verwiesen werden. Das gelte umso mehr, als sie sich nicht etwa auf dem Weg nach Hause mit der Möglichkeit anschließender Hygienemaßnahmen, sondern auf dem Weg zur Arbeitsstätte befinde. Allerdings sei die Erwerbsminderungsrente zu befristen, weil es sein könne, dass die begonnene Therapie zu einer Besserung ihres Gesundheitszustandes führe.

Az.: L 7 R 3817/19



Europäischer Gerichtshof

Partieller Zugang zu Tätigkeiten von Heilberufen möglich



Die EU-Länder können einen teilweisen Zugang zu Tätigkeiten bestimmter Berufe wie Arzt, Apotheker oder Hebamme erlauben, wenn der Betreffende in einem anderen EU-Land spezielle Fähigkeiten dafür erworben hat, ohne dass er Arzt, Apotheker oder Hebamme ist. Die Betreffenden dürften dann aber nicht etwa als Arzt, Apotheker oder Hebamme auftreten, wie aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg vom 25. Februar hervorgeht. Zudem könne ein Mitgliedsland auch den partiellen Zugang insbesondere bei Gesundheitsberufen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses verweigern, erklärte der EuGH zu dem Fall aus Frankreich.

Dort hatten Berufsorganisationen des Gesundheitssektors gegen eine staatliche Regelung geklagt, die einen partiellen Zugang zu sämtlichen Gesundheitsberufen ermöglicht. Sie wollten also beispielsweise erreichen, dass jemand nur Tätigkeiten einer Hebamme ausführen darf, wenn sie den Beruf in allen Tätigkeiten beherrscht.

EU-Gesetz regelt Zugang zu Heilberufen

Der Europäische Gerichtshof hatte mitzureden, weil ein EU-Gesetz für bestimmte Berufe einschließlich der Heilberufe vorsieht, dass der jeweilige Berufsangehörige aus einem EU-Land dank automatischer Anerkennung auch in jedem anderen Land arbeiten kann - demnach also etwa eine Hebamme aus Rumänien auch als Hebamme in Frankreich tätig werden kann. Das Urteil gilt entsprechend nur für Menschen mit Fähigkeiten, die in einem anderen EU-Land erworben wurden.

Dem Urteil zufolge darf ein Mitgliedsland laut EU-Recht es zulassen, dass gewisse Tätigkeiten zum Beispiel der Hebamme nicht nur von Hebammen verrichtet werden dürfen. Der Staat, in dem Fall Frankreich, könne stattdessen einen partiellen Zugang zu dem Beruf erlauben, insoweit die Betreffende qualifiziert ist und ohne dass sie die Berufsbezeichnung trägt, die breitere Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzt.

Az.: C-940/19




sozial-Köpfe

Kirchen

Andrea Betz im Vorstand der Diakonie München und Oberbayern




Andrea Betz
epd-bild/Innere Mission München/Kurt Bauer
Der Vorstand der Diakonie München und Oberbayern wird um eine Frau verstärkt: Andrea Betz steigt zum 1. Mai in das vierköpfige Führungsteam auf. Die 41-Jährige hatte nach ihrem Studium für die Caritas gearbeitet.

Andrea Betz wird zum 1. Mai in den Vorstand der Diakonie München und Oberbayern berufen. Die 41-jährige Sozialpädagogin ist damit die erste Frau im Vorstand des Diakonieunternehmens. Als fachliche Vorständin im Geschäftsbereich München verantwortet sie unter anderem die Bereiche Kindertageseinrichtungen, Kinder- und Jugendhilfe, Sozialpsychiatrie und Migration. Als Leiterin der Bezirksstelle des Diakonischen Werks der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik übernimmt sie außerdem die spitzenverbandliche Vertretung der Diakonie.

Vorstandssprecher Thorsten Nolting sagte, mit Andrea Betz eine Persönlichkeit den Vorstand, die entschieden und klar für Menschen in schwierigen Lebensverhältnissen eintrete. Sie ist beherzt diakonisch und schnell in der Konzeption und Umsetzung kluger sozialer Lösungen."

Zusammen mit Finanzvorstand Hans Rock und dem weiteren fachlichen Vorstand Wilfried Knorr, der für die Diakonie Herzogsägmühle zuständig ist, bilden Nolting und Betz den künftigen Vorstand der Diakonie München und Oberbayern.

Andrea Betz studierte Soziale Arbeit an der Stiftungshochschule in München. Nach ihrem Studium war sie acht Jahre beim Diözesancaritasverband München und Freising in Leitungspositionen tätig. Als Projektmanagerin organisierte sie dort 2010 den Ökumenischen Kirchentag. Seit 2013 arbeitet die gebürtige Münchnerin bei der Diakonie München und Oberbayern als Abteilungsleiterin für Flucht und Migration. Bereits seit 2019 vertritt Betz die Diakonie spitzenverbandlich in den politischen Ausschüssen und Gremien der Landeshauptstadt und im Landkreis München.

Die Diakonie München und Oberbayern beschäftigt in mehr als 200 Einrichtungen etwa 5.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Außerdem engagieren sich rund 3.500 Menschen ehrenamtlich. Der diakonische Träger betreibt Pflegeheime, Kindertages- und Jugendhilfeeinrichtungen, ist in der Flüchtlingsarbeit und Beratungstätigkeit engagiert sowie im Bereich der Sozialpsychiatrie und Obdachlosenarbeit.



Weitere Personalien



Daniela Behrens (52) soll Nachfolgerin von Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) werden, die am 1. März überraschend aus gesundheitlichen Gründen ihren sofortigen Rücktritt erklärt hatte. Das Kabinett und der Landtag müssen der Berufung noch zustimmen. Bis dahin wird Innenminister Boris Pistorius (SPD) die Geschäfte des Sozialministers wahrnehmen. Die SPD-Politikerin Behrens und Diplom-Politologin war von 2013 bis 2017 Staatssekretärin im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr des Landes Niedersachsen. Derzeit ist sie Leiterin der Abteilung Gleichstellung im Bundesfamilienministerium. Reimann hatte mitgeteilt, dass sie zeitnah ins Krankenhaus müsse. Sie hatte das Amt seit November 2017 inne. Zuvor war die Biotechnologin seit dem Jahr 2000 Mitglied des Bundestages.

Dagmar Pruin (50), Pfarrerin, ist seit dem 1. März neue Präsidentin der evangelischen Hilfswerke "Brot für die Welt" und Diakonie Katastrophenhilfe. Die promovierte Alttestamentlerin tritt die Nachfolge von Cornelia Füllkrug-Weitzel (65) an, die sich nach mehr als 20 Jahren an der Spitze der Organisationen in den Ruhestand verabschiedet. Pruin leitete mehr als sieben Jahre als Co-Geschäftsführerin die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste mit Büros in 13 Ländern. Sie ist Gründungsmitglied des Forschungsbereichs "Religion und Politik" an der Humboldt-Universität Berlin. Studienaufenthalte und Lehrtätigkeiten führten sie nach Jerusalem, Washington und Stellenbosch (Südafrika).

Özlem Türeci und Ugur Sahin, die beiden Gründer des Mainzer Unternehmens Biontech, erhalten eine der höchsten Auszeichnungen der Bundesrepublik. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird dem Forscher-Ehepaar am 19. März das Große Verdienstkreuz mit Stern überreichen. Den Angaben zufolge wird es die erste persönliche Ordensverleihung des Staatsoberhauptes in diesem Jahr sein und im Schluss Bellevue in Berlin stattfinden. Biontech hat einen der ersten Corona-Impfstoffe entwickelt und auf den Markt gebracht. Türeci und Sahin verbänden medizinische Grundlagenforschung mit deren Übersetzung in eine praktische Nutzung, hieß es zur Begründung. Dank ihrer Kompetenz im Bereich der mRNA-Technologien und ihres Einsatzes sei ihnen in kürzester Zeit die Entwicklung und Zulassung eines Impfstoffes gegen Covid-19 gelungen. Sie hätten damit einen entscheidenden Beitrag zur Eindämmung der Corona-Pandemie geleistet.

Roland Pelikan (65), Münchner Sozialpfarrer, ist am 26. Februar mit einem Gottesdienst in den Ruhestand verabschiedet worden. Der promovierte Theologe hat seit 1998 in der Münchner Zweigstelle der evangelischen Kirchlichen Dienste in der Arbeitswelt (kda) Brücken zwischen Kirche und Wirtschaft, Unternehmern und Beschäftigten gebaut und ist den Arbeitnehmern zur Seite gestanden. Pelikan sei ein sprachmächtiger Prediger, ein einfühlsamer Seelsorger und ein bundesweit wissenschaftlich ausgewiesener Sozialethiker, sagte kda-Leiter Johannes Rehm.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis April



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, dies zu beachten.

März

9.3.:

Online-Seminar: "Der digitale Jugendclub Chancen und Potenziale für die Jugendarbeit"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

9.3.:

Online-Seminar "Wichtige Kennzahlen für ambulante Pflegedienste in der Krise - und danach"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

9.-10.3.:

Online-Seminar: "Die Schnittstelle Eingliederungshilfe - Pflege gestalten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/301 28 19

11.3.:

Online-Kurs: "Führen auf Distanz - Wie Teamarbeit online gelingen kann"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828227

16.-18.3.:

Online-Fortbildung "Streetwork: Aufsuchen statt Abwarten"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

18.3.:

Online-Seminar: "IT-Strategie für Verbände (4.0)"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

18.3. Köln:

Seminar "Fachlichkeit und Wirtschaftlichkeit in Zeiten des BTHG - (k)ein Widerspruch?!"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

22.3.:

Online-Kurs: "Praktischer Datenschutz und IT-Sicherheit für kleinere Organisationen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356-159

22.3.:

Online-Fortbildung: "Flucht und Behinderung - Rechtliche Möglichkeiten in der Flüchtlings- und Behindertenhilfe"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/48837-488

22.-23.3.:

Online-Seminar: "Datenschutz in sozialen Einrichtungen"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

22.-24.3.:

Online-Kurs: "Erfolgreiche Lobbyarbeit im politischen Raum"

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

23.-24.3.:

Online-Schulung "Das deutsche Asyl- und Aufenthaltsrecht"

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

23.-25.3.:

Online-Fortbildung: "Psychisch kranke Wohnungslose zwischen den Hilfesystemen - Aspekte bedarfsgerechter Hilfen"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/301 28 19

24.-25.3.:

Online-Seminar: "Team auf Distanz - Team in Balance"

der AWO Bundesakademie

Tel.: 030/26309-139

April

14.4.: Köln:

Seminar "Treasury in der Sozialwirtschaft - Finanzmittel bedarfsgerecht bereitstellen"

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356.159

15.-16.4. Korntal:

Seminar "Selbstbestimmtes Wohnen im BTHG - Grundlagen, Anforderungen und Umsetzungsstrategien"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0172/3012819

23.4.:

Online-Seminar "Die Leistungen der neuen Eingliederungshilfe"

der Paritätischen Akademie Berlin

Tel.: 030/275828224

28.4.:

Online-Seminar: "Verständigungsbarrieren in niedrigschwelligen Settings überwinden"

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0174/3473485