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Wenn der Krebs immer wieder kommt




Henning Sablowski wurde nur 22 Jahre alt - hier mit seiner Mutter Claudia im Jahr 2016.
epd-bild/privat
Wenn Menschen schwer krank sind und ihre Ärzte nicht wissen, woran sie leiden, ist eine Therapie schwierig. Seltene Erkrankungen wie das Li-Fraumeni-Syndrom sind noch immer zu wenig bekannt. Experten und die Mutter von Henning wollen das ändern.

Vor einem reißenden Gebirgsfluss lächelt ein junger Mann mit strahlenden Augen in die Kamera. Ein Urlaubs-Selfie. Der junge Mann, Henning aus Leverkusen, wurde nur 22 Jahre alt. "Er war 16, als er an Knochenkrebs erkrankte", erzählt seine Mutter Claudia Sablowski stockend. Henning bekam Chemotherapien und wurde mehrfach operiert. Dann diagnostizierten Humangenetiker bei ihm das Li-Fraumeni-Syndrom. Die seltene und vererbbare Erkrankung erhöht drastisch das Risiko, an Krebs zu erkranken. Henning würde also, wenn er vom Knochenkrebs geheilt würde, irgendwann wieder an Krebs erkranken, hieß es. Und auch Familienmitglieder könnten betroffen sein, Eltern, Schwester, Cousinen. "Sein Vater und ich waren dabei, als er die Diagnose bekam. Und wir waren alle geschockt."

6.000 seltene Erkrankungen

Rund vier Millionen Menschen leben in Deutschland mit einer seltenen Erkrankung. Laut Bundesgesundheitsministerium gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Etwa 6.000 solcher Erkrankungen sind bislang bekannt.

"Die meisten sind erblich bedingt, nicht heilbar, treten bereits im Kindesalter auf und schränken die Lebenserwartung und die Lebensqualität ein", sagt Christian Kratz, Leiter des Zentrums für seltene Erkrankungen an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). All das trifft auch auf Hennings Erkrankung zu. Kratz, der auch die Kinderkrebsklinik an der MHH leitet, hat Henning und seine Familie auf einem Kongress in den USA kennengelernt. Er forscht seit Jahren für Menschen mit erblichen Krebserkrankungen. Das Li-Fraumeni-Syndrom ist sein Spezialgebiet. Die Krankheit trägt den Namen ihrer Entdecker, des chinesisch-amerikanischen Krebsforschers Frederick P. Li und seines amerikanischen Kollegen Joseph F. Fraumeni.

Odyssee von Arzt zu Arzt

"Eine der größten Hürden bei dieser wie auch bei allen anderen seltenen Erkrankungen ist die Diagnose", sagt der Kinderonkologe. Eine der Ursachen dafür liege im Gesundheitssystem. Niedergelassene Mediziner und Klinikärzte seien einem enormen zeitlichen Druck ausgesetzt. Aufwendige seltene Diagnosen seien für sie kaum möglich. Viele Patienten des Zentrums hätten schon eine wahre Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich. Kratz sieht aber auch Nachholbedarf bei den 31 Zentren für seltene Erkrankungen in Deutschland. Sie müssten das Bewusstsein für diese Erkrankungen in der Öffentlichkeit und unter Medizinern schärfen und Diagnosepfade vereinfachen.

Auch das Li-Fraumeni-Syndrom, das durch einen Gendefekt ausgelöst wird und einen von 5.000 Menschen trifft, ist weitgehend unbekannt. Selbst viele Onkologen hätten noch nie etwas davon gehört, sagt Claudia Sablowski. Um das zu ändern und um Betroffenen eine Plattform zum Austausch untereinander und mit Experten zu bieten, hat sie Ende 2018 mit Kratz den deutschen Zweig der US-amerikanischen "Li-Fraumeni Syndrom Association" gegründet. "Ich kenne Familien, in denen sterben seit Generationen Menschen an Krebs, und die Ärzte sagten immer wieder, das sei Zufall", sagt Sablowski.

Der Verein kämpft dafür, dass alle Kinder, die an potenziell erblich bedingten Krebsarten erkranken, genetisch untersucht werden. Neben dem Li-Fraumeni-Syndrom gibt es mehr als 60 weitere sogenannte Krebsprädispositionssyndrome. Mittlerweile seien diese Gen-Analysen gar nicht mehr teuer, sagt Sablowski. Ferner fordert der Verein, dass alle notwendigen Früherkennungsuntersuchungen von den Krankenkassen bezahlt werden. "Man kann den Gendefekt nicht heilen. Die einzige Chance ist, den Krebs früh zu erkennen und zu heilen."

Leben mit der Krankheit

Das sieht auch Kratz so: "Bei allen seltenen Erkrankungen ist es in der Regel das Ziel, den Patienten ein Leben mit der Krankheit zu ermöglichen." Die Forschungen für die Entwicklung von Therapien und Medikamenten seien jedoch schwierig. Sie lohnten sich für Firmen oft nicht, weil es nur einen kleinen Absatzmarkt gebe. "Außerdem ist es schwer, für Studien genügend Patienten zu finden." Die internationale Zusammenarbeit unter Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Familien sei deshalb enorm wichtig, ebenso die Unterstützung durch das Bundesforschungsministerium und die Kinderkrebsstiftung.

Auch Henning war mehrfach auf Einladung der "Li-Fraumeni Syndrom Association" in den USA. Beim ersten Mal, Mitte 2017, war er froh, erstmals junge Menschen mit demselben Schicksal kennenzulernen. Damals litt er noch unter den Folgen der Chemotherapie. Später hat er Vorträge gehalten über das Syndrom aus der Sicht eines Betroffenen - auch in Deutschland. Da war er krebsfrei.

"Zweieinhalb Jahre lang ging es ihm richtig gut", sagt seine Mutter. Er hat sein Abitur nachgeholt, studierte Elektrotechnik in Aachen, wohnte im Studentenwohnheim. Doch Ende 2019 kehrte der Krebs mit Macht zurück. Henning starb im Juni vergangenen Jahres kurz nach seinem 22. Geburtstag. Claudia Sablowski hat sich entschieden, weiter dafür zu kämpfen, dass das Li-Fraumeni-Syndrom bekannter wird - damit Betroffene künftig mehr Hilfe erhalten.

Martina Schwager