sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Markus Jantzer
epd-bild/Heike Lyding

in der Corona-Krise haben Menschen mit Behinderung die Kontakt-Beschränkungen mit besonderer Härte getroffen. Blinde seien auf Körperkontakt angewiesen, weil sie keine Mimik erfassen könnten, sagte der blinde Markus Rummel aus Würzburg dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dass erwachsene Kinder in der Pandemie aus Wohneinrichtungen geholt wurden und zu ihren Eltern ziehen mussten, habe manche von ihnen „aus der Bahn geworfen“, hat der Behindertenaktivist Ottmar Miles-Paul erlebt. Die Münchner Soziologin Elisabeth Wacker gibt im epd-Interview vorab einen Einblick in ihre noch unveröffentlichte bundesweite Feldstudie zu Corona-Folgen in der Eingliederungshilfe.

Drei Frauen, die nach einer ungewollten Schwangerschaft abgetrieben haben, haben der epd-Reporterin Patricia Averesch geschildert, wie es ihnen in ihrer Konfliktlage ergangen ist. Alle drei fühlten sich an erster Stelle allein und isoliert. Hilfreich sei, mit einer Frau zu sprechen, die bereits einen Abbruch hinter sich hat. „Es tat einfach gut, von ihren Erfahrungen zu hören“, sagte Gesine aus Hamburg dem epd. Sie hat sich deshalb vorgenommen, ihren Schwangerschaftsabbruch nicht zu verheimlichen und künftig für andere ungewollt schwangere Frauen ansprechbar zu sein.

Weil die freiwilligen Helfer bei den Tafeln massiv unter Druck stehen, greift ihnen in Kassel eine neue Initiative unter die Arme: Der Verein „Fahrende Ärzte“ gibt nun dreimal in der Woche kostenlose Mittagsmenüs an die Kundinnen und Kunden aus. Dazu bringen die Mediziner das Essen gleich mit. „Die Zahl der Kunden nimmt zu, die Betriebskosten steigen drastisch, die Lebensmittelspenden von Händlern und Supermärkten gehen zurück“, beschreibt Katja Bernhard vom Vorstand der Tafeln in Hessen im Interview die angespannte Lage.

In Sammelunterkünften untergebrachte alleinstehende Asylbewerber bekommen vom Staat geringere Sozialleistungen, weil das gemeinsame Wohnen mit anderen Flüchtlingen vom Gesetzgeber bislang wie eine Partnerschaft behandelt wurde. Das verstößt gegen das Grundgesetz, urteilte nun das Bundesverfassungsgericht. Die Leistungen müssen existenzsichernd sein.

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Markus Jantzer




sozial-Politik

Corona

Kontaktbeschränkungen: Fatale Folgen für Menschen mit Behinderung




Julian Wendel
epd-bild/Pat Christ
Die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pandemie waren für alle eine Belastung, für Menschen mit Behinderung jedoch in besonderer Weise. Betroffene sehen auch in aktuellen Schutzmaßnahmen eine "übertriebene Vorsicht".

Frankfurt a.M. (epd). Die Schutzmaßnahmen vor dem Coronavirus gehen Interessenvertretern für Menschen mit Behinderung manchmal zu weit. Der Behindertenbeauftragte der Stadt Würzburg, Julian Wendel, kritisiert, dass Menschen mit Handicap weiterhin als „vulnerabel“ eingestuft würden. Die Folge: Sie werden geschützt - ob sie es wollen oder nicht. „Eine Berliner Freundin von mir befindet sich ganz in der Nähe auf Reha, doch ich kann sie nicht besuchen, weil Besucher auch mit Maske und Test nicht hereingelassen werden“, schildert der 38-Jährige, der an spinaler Muskelatrophie leidet. Für ihn ist das eine „überzogene Vorsicht“.

Es fehlt an Assistenzkräften

Kontakt müsse endlich wieder normal werden, fordert er. „Für Menschen mit einer Behinderung ist es sowieso schon sehr schwer, sozial teilzuhaben.“ Was Kontaktbeschränkungen anrichten können, sehe er an einem Mitstreiter aus dem kommunalen Behindertenbeirat: „Er wurde in der Pandemie depressiv und lag lange in der Klinik.“

Julian Wendel kann aufgrund seiner schweren Behinderung nur mit Hilfe seine Wohnung verlassen. Bisher konnte er sich für Ausflüge oder Besuche bei Freunden auf Assistenzkräfte verlassen. Durch die Corona-Krise kam es jedoch zu einem Fachkräftemangel, der sich auch auf die persönliche Assistenz auswirkt: „Es wird immer schwerer, Assistenzkräfte zu finden“, sagt Wendel. Er habe deshalb schon private Treffen absagen müssen.

„Blinde Menschen haben unter den Kontaktbeschränkungen extrem gelitten“, sagt Markus Rummel, ein blinder Rentner aus Würzburg. Denn Blinde seien auf Körperkontakt angewiesen. Weil sie keine Mimik erfassen können, sei der Händedruck so wichtig. „Ich habe immer wieder mal ganz automatisch meine Hand hingestreckt, aber es kam in der Zeit des Kontaktverbots nur ein einziges Mal vor, dass mir jemand die Hand gab“, sagte der ehemalige Musiktherapeut der Würzburger Blindeninstitutsstiftung dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Ottmar Miles-Paul, seh- und hörbehinderter Sozialarbeiter aus Kassel, hätte sich in der Corona-Krise mehr Sensibilität gewünscht. So wurden in der Pandemie erwachsene Kinder von ihren Eltern aus den Behindertenwohnheimen geholt und mussten zu ihnen ziehen. Das habe einige der 30, 40 oder 50 Jahre alten Söhne und Töchter „aus der Bahn geworfen“, sagte der Behindertenrechtsaktivist dem epd: „Sie wollen, wie andere erwachsene Kinder, in diesem Alter nicht mehr bei ihren Eltern leben.“

Prozess der Inklusion zurückgeworfen

Der mit dem Bundesteilhabegesetz initiierte Reformprozess, der Menschen mit Behinderung wesentliche Verbesserungen bringen soll, „wurde durch Corona völlig ausgebremst“, sagt Miles-Paul. Der Prozess der Inklusion sei um zwei Jahre zurückgeworfen worden.

Mesut Can ist Mitglied des Behindertenbeirats der Stadt Gütersloh. Der 40-jährige schwerbehinderte Rollstuhlfahrer beklagt, dass „die Sitzungen des Behindertenbeirats komplett ausfielen“. Dadurch hätten Menschen mit Behinderung in den vergangenen zwei Jahren praktisch keine Möglichkeit gehabt, die Stadtverwaltung effektiv zu beraten.

Wie Julian Wendel kritisiert auch er überzogene Vorsichtsmaßnahmen. So sei die Schließung der Förderschulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung höchst problematisch gewesen: „Schüler, die normalerweise einen Schulabschluss gerade geschafft hätten, wurden durch digitalen Unterricht, bei dem sie nicht mitkamen, um den Abschluss gebracht.“

Laut Anja Roy Chowdhury, Teilhabeberaterin aus Gütersloh, hatte die Entscheidung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), nur noch telefonisch zu begutachten, fatale Folgen: „Einige unserer Klienten haben dadurch keinen Pflegegrad bekommen. So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt die Beraterin. Überhaupt habe ihre Einrichtung noch niemals so häufig über Widersprüche gegen MDK-Entscheidungen beraten müssen wie in den vergangenen Monaten.

Pat Christ


Corona

Interview

Expertin: Maßnahmen in der Pandemie hebelten Teilhabe aus




Elisabeth Wacker
epd-bild/privat
Rund 200.000 Menschen mit Behinderung, die in Wohngruppen und Heimen leben, waren einer Studie zufolge in der Corona-Pandemie extrem isoliert. "Teilhabe und Selbstbestimmung waren praktisch eingefroren", sagt Studienleiterin Elisabeth Wacker von der Technischen Universität München.

München (epd). Elisabeth Wacker leitet eine bundesweite Feldstudie zu Corona-Folgen in der Eingliederungshilfe, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziert wird. Die Ergebnisse stellen die Münchner Soziologin und ihr Team am 7. Dezember erstmals der Öffentlichkeit vor. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst gab sie vorab einen Einblick. Mit ihr sprach Detlev Brockes.

epd sozial: Frau Professor Wacker, was Sie haben die Folgen der Corona-Pandemie für Menschen mit Behinderung untersucht ...

Elisabeth Wacker: Es ging uns um authentische Informationen zur Situation in der Eingliederungshilfe unter Pandemie-Bedingungen. Untersucht haben wir, wie es Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen ergeht. Das ist im Bundesteilhabegesetz die Bezeichnung für Heime und Wohngruppen mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Unser Fokus war, wie sich der Gesundheitsschutz auf Gleichstellung und Teilhabe auswirkt.

epd: Was waren die Erhebungsmethoden?

Wacker: Die Untersuchung ist als Panoramastudie angelegt, um unterschiedliche Perspektiven zu erfassen. Wir haben Informationen zu 19 Einrichtungen bundesweit und stützen uns auf rund 200 ausführliche Interviews und Gesprächskreise. Einbezogen waren Bewohnerinnen und Bewohner, Leitungskräfte und Fachpersonal, Angehörige und Verantwortliche für die rechtliche Betreuung. Dabei waren es meist Face-to-face-Gespräche, ergänzt durch digitale Fragebögen. Unter den Einrichtungen sind kleine und mittlere, aber auch große Flaggschiffe der Eingliederungshilfe. Zudem sind die wichtigen Trägergruppen wie Diakonie, Caritas oder Lebenshilfe vertreten. Aber auch freie Träger kamen zu Wort.

epd: Was haben Sie über die Situation in den Wohneinrichtungen erfahren?

Wacker: Die Menschen in diesen Wohnformen sind als besonders vulnerabel eingestuft und waren weitreichenden Kontaktbeschränkungen im Inneren und nach außen unterworfen. Teilhabe und Selbstbestimmung waren praktisch eingefroren. Besonders krass war das am Anfang der Pandemie, aber viele Einschränkungen gelten auch jetzt noch. In den Einrichtungen leben die Menschen ohnehin eher isoliert. Durch die Corona-Auflagen entstand eine weitere Isolation in der Isolation.

epd: Können Sie Beispiele nennen?

Wacker: Heime und Wohngruppen mussten anfangs etwa auf gemeinsame Mahlzeiten verzichten. Das war hygienisch einwandfrei begründet, aber menschlich und psychisch war es sehr problematisch. Menschen, die sonst selbstständig unterwegs sein konnten, mussten über Monate in den Einrichtungen bleiben. Sie konnten nicht zur Arbeit, weil Werkstätten geschlossen waren, sie durften nicht einkaufen gehen und auch keinen Besuch bekommen. Das galt zu Anfang der Pandemie unterschiedslos für alle Bewohnerinnen und Bewohner, obwohl jemand wegen einer intellektuellen Einschränkung in der Regel nicht anfälliger ist für ein Virus.

Aus meiner Sicht dürfen Teilhabe-Einschränkungen in diesem Umfang nie wieder passieren. Wir können nicht Menschen monatelang einsperren oder sie allein sterben lassen, weil das Gesundheitsamt dies für den Infektionsschutz angeordnet hat. Die Gesundheitsämter waren auf die Pandemie nicht vorbereitet und spielten nach unseren Erkenntnissen häufig eine problematische Rolle. Sie agierten oft ohne Vorstellung von der Lebenswirklichkeit der behinderten Bewohnerinnen und Bewohner und der Aktionsmöglichkeit des Fachpersonals.

epd: Warum haben sich Betroffene bei Ihren Befragungen trotzdem zufrieden geäußert?

Wacker: Menschen leben unter Rahmenbedingungen und Regeln, die sie oft nicht verstehen, die aber von Institutionen durchgesetzt werden. Sie passen sich an, weil sie keine andere Wahl haben und dauerhaften psychischen Stress vermeiden wollen. Wir nennen das adaptive Zufriedenheit, die sich vor allem als generelle Zustimmung zur gegebenen Lage ausdrückt.

epd: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Mitarbeitenden in der Eingliederungshilfe ausgewirkt?

Wacker: Einrichtungen und Fachkräfte konnten kaum noch planen. Bewohnerinnen und Bewohner, die tagsüber Arbeit oder Beschäftigung hatten, waren nun die ganze Zeit zu Hause. Das führte zu überlangen Schichten für die Betreuungskräfte ohne entsprechende Entlastung. Wir haben bei Mitarbeitenden viel Überlast wahrgenommen. Die Personaldecke in den Einrichtungen ist so dünn, dass ich nicht weiß, wie dieses System noch lange funktionieren soll, wenn der Druck auf die verbleibenden Fachkräfte anhält. Das liegt nicht nur an Corona, aber natürlich waren auch die Mitarbeitenden allen Einschränkungen und Risiken unterworfen.

epd: Wie war die Resonanz in den Einrichtungen auf die Studie?

Wacker: Wir hätten noch weit mehr Einrichtungen befragen können. Sie alle trieb die Hoffnung an, mit ihrer schwierigen Lage gesehen zu werden. Sie hoffen auf Unterstützung für Veränderungen - und die sind auch dringend erforderlich.

epd: Wegen der Corona-Einschränkungen konnten Sie erst Ende 2021 mit den Befragungen beginnen. Wann präsentieren Sie die Ergebnisse?

Wacker: Über eine erste Auswertung haben wir uns mit dem Bundesministerium bereits ausgetauscht. Beim ConSozial-Kongress am 7. und 8. Dezember in Nürnberg stellen wir Ergebnisse erstmals öffentlich vor.



Corona

Von Long Covid aus dem Leben gerissen




Leidet unter Long Covid: Claudia Ellert
epd-bild/Rolf K. Wegst
Rund 15 Prozent aller Ansteckungen mit dem Coronavirus haben Langzeitfolgen. Long Covid und Post Covid sind weitgehend unerforscht. Erkrankten wird oft irrtümlich eine psychische Störung diagnostiziert. Betroffene kämpfen gegen eine Stigmatisierung.

Frankfurt a.M. (epd). Vor ihrer Covid-19-Erkrankung führte Sandra Richter ein sehr aktives Leben. „Ich arbeitete bis zu 60 Stunden die Woche.“ Täglich ging sie bis zu zehn Kilometer mit ihren beiden Hunden spazieren, kümmerte sich mit ihrem Verlobten um das neue Haus und den großen Garten in Gommern in Sachsen-Anhalt. „In der übrigen Zeit traf ich Freunde oder ging zum Yoga-Kurs“, sagt die 31 Jahre alte Lehrerin.

Dann steckte sie sich zweimal mit dem Coronavirus an. Die erste Ansteckung passierte Anfang Dezember 2021, eine weitere Ende Januar 2022. Beide Male verlief die Erkrankung wie eine Grippe. „Ich hatte weder Husten noch Schnupfen, nur Fieber. Bei der ersten Ansteckung litt ich zusätzlich unter Atemnot“, sagt sie.

Nach der Erkrankung fing sie wieder zu arbeiten an, ging mit den Hunden spazieren. „Ich dachte, ich hätte es überstanden.“ Doch sie merkte schnell, dass etwas nicht stimmte. „Ich hatte Luftnot beim Unterrichten, Herzrasen und schwache Beine.“ Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass sie Long Covid hatte.

RKI: Datenlage sehr lückenhaft

Mediziner sprechen von Long Covid, wenn die Symptome der Erkrankung vier Wochen nach der Ansteckung anhalten. Als Post-Covid-Syndrom werden Beschwerden bezeichnet, die noch mehr als zwölf Wochen nach der Infektion vorhanden sind und nicht anders erklärt werden können. Laut Robert Koch-Institut (RKI) ist die Datenlage sehr lückenhaft. Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) zufolge betrifft Long Covid bis zu 15 Prozent aller Erkrankten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zählt europaweit 17 Millionen Long-Covid-Fälle.

Im März brach Sandra Richter bewusstlos zusammen. Sie kam in die Notaufnahme. „Ich litt unter Muskelzuckungen, Sehstörungen, extremem Schwindel und schließlich an Krampfanfällen am ganzen Körper“, berichtet sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Sie sei dann in einem „katastrophalen Zustand“ entlassen worden. „Ich erlitt einen Zusammenbruch beim Versuch, allein auf die Toilette zu gehen“, erinnert sie sich. Ärzte rieten ihr, eine psychosomatische Klinik aufzusuchen.

Es geht Sandra Richter noch immer schlecht: „Ich schaffe es, mich alleine im Bad fertig zu machen und zu Hause frei zu bewegen.“ An einem guten Tag schaffe sie einen kleinen Spaziergang mit den Hunden und einen Arztbesuch, kann mittlerweile wieder lesen und kurz telefonieren.

Therapeutin: Krankheit isoliert Patienten

Die Heidelberger Psychotherapeutin Bettina Grande hat schon viele Patienten betreut, die mit Long Covid oder Post Covid kämpfen. „Betroffene werden durch die Krankheit sozial isoliert. Das Pflegen von Beziehungen und Freundschaften wird schwierig“, sagt Grande. Sie betont, dass es sich nicht um eine psychische, sondern um eine körperliche Erkrankung handle. Die Patienten müssten lernen, mit ihren wenigen Kräften zu haushalten, erklärt Grande.

Sandra Richter kämpft gegen eine Stigmatisierung von Long-Covid-Erkrankten. „Ich engagiere mich seit April im Rahmen der Kampagne 'nichtgenesen' auf Instagram und Twitter“, sagt sie. Mithilfe engagierter Ärzte und Ärztinnen und Betroffener will sie die Politik zu einer Aufklärungskampagne bewegen.

Arbeit nur stark eingeschränkt möglich

Auch Claudia Ellert ist durch Covid-19 aus dem Leben gerissen worden. Die Gefäßchirurgin aus Wetzlar erkrankte im November 2020 an Corona. „Ich hatte einen milden Verlauf mit leichten Symptomen eines grippalen Infekts wie Husten und Gliederschmerzen“, erinnert sie sich. Drei Wochen nach der Ansteckung wollte sie wieder arbeiten. „Nach zehn Tagen musste ich aufhören. Es war einfach zu anstrengend“, sagt die 50-Jährige.

Auch in der Folgezeit litt sie unter anhaltenden Symptomen. Im Januar 2021 folgte dann die Diagnose: Long Covid. Mit weitreichenden Folgen. „Früher war ich Triathletin, heute kann ich kaum noch eine Stunde spazieren gehen“, sagt die Ärztin. Sie arbeite wieder in ihrem Beruf, fühle sich aber durch die Erschöpfung sehr eingeschränkt.

Stefanie Unbehauen


Frauen

Kein Geld für die Verhütungspille




Antibabypillen
epd-bild/Nicola O`Sullivan
Sie haben Angst vor Nebenwirkungen oder sie haben wenig Geld: Frauen, die eine Schwangerschaft vermeiden wollen und dennoch nicht die Pille nehmen. Manche von ihnen nutzen kostenlose Verhütungs-Apps, eine sichere Methode ist das aber nicht.

Frankfurt a.M., Recklinghausen (epd). Verhütung kostet Geld: Das können 20 Euro für eine Verhütungspille sein oder mehrere hundert Euro für eine Spirale. In der Regel müssen Frauen, die eine ungewollte Schwangerschaft vermeiden wollen, die Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel selbst bezahlen. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht.

Beispiel Recklinghausen: Weil sich der Kreistag in der Ruhrgebietsstadt nicht damit zufrieden geben wollte, dass vor allem einkommensarme Frauen weniger sicher verhüten, gründete er einen Fonds. Mit ihm werden seit zwei Jahren Frauen mit einem geringen Arbeitseinkommen sowie Empfängerinnen von Sozialleistungen verschreibungspflichtige Verhütungsmittel erstattet. Solche Geldtöpfe gibt es auch in anderen deutschen Städten und Gemeinden.

Forderung: Verhütung muss Kassenleistung werden

Im Kreis Recklinghausen stehen jährlich insgesamt 60.000 Euro zur Verfügung. Die 42.000 Euro, die pro familia daraus in diesem Jahr verteilen kann, sind bereits seit August ausgegeben. Der Verband fordert deshalb, dass Verhütungsmittel Kassenleistung werden.

Bei der Bundesregierung stößt pro familia damit auf offene Ohren. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen Krankenkassen ermöglichen, Verhütungsmittel als Satzungsleistung zu erstatten. Bei Geringverdienenden werden die Kosten übernommen.“ Satzungsleistung bedeutet, dass die Kassen die Kosten übernehmen können, wenn sie das wollen.

Studie legte schon 2016 Fakten offen

Dass Frauen mit wenig Geld mitunter bei der Verhütung sparen, hat eine Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bereits im Jahr 2016 herausgefunden. Birgit Schoppmeier-Krügener (64), Leiterin der pro familia-Beratungsstelle in Recklinghausen, kann das bestätigen: „Viele Frauen in der Schwangerschaftskonfliktberatung sagen uns, dass sie kein Geld für die Verhütung hatten. Manche haben deshalb zum Beispiel einen Monat mit der Pille ausgesetzt. Oder sie nutzen kostenlose Verhütungs-Apps auf dem Handy. Die sind unserer Erfahrung nach aber nicht sehr genau. Damit haben wir hier in der Beratungsstelle sehr viele ungeplante, ungewollte Schwangerschaften.“

Welche Verhütungsmethode Menschen wählten und wie regelmäßig sie verhüteten, hänge mit ihrem Einkommen zusammen. „Das spitzt sich noch mal zu, wenn das Geld in der Inflation weiter knapp wird“, sagt die Leiterin der pro-familia-Beratung in Recklinghausen.

Die Anti-Baby-Pille, einst Symbol sexueller Selbstbestimmung, hat insgesamt an Beliebtheit eingebüßt. So lag der Anteil der gesetzlich versicherten Frauen, denen sie verordnet wurde, laut AOK 2010 bei 46 Prozent, 2021 nur noch bei 32 Prozent. Eine Erklärung könne sein, dass immer mehr jungen Frauen bewusst sei, dass die Pille in den Hormonhaushalt eingreift und Nebenwirkungen haben könne, sagt AOK-Ärztin Eike Eymers. Viele Kombinationspräparate seien mit einem erhöhten Risiko für Thrombosen und Embolien verbunden.

Verhütung mit App birgt Risiken

Manche Frauen sparen Geld, indem sie auf kostenlose Verhütungs-Apps zurückgreifen. Diese funktionieren wie moderne Versionen der Kalender- oder Temperaturmethode: Die Nutzerinnen füttern sie mit - teils sehr intimen - Daten, aus denen die Künstliche Intelligenz fruchtbare und unfruchtbare Tage errechnet.

Doch das ist nicht ohne Risiko: Weil die Tage bis zum nächsten Eisprung einfach nur gezählt werden, gilt die Kalendermethode als äußerst unzuverlässig, heißt es bei der Techniker Krankenkasse (TK). „Eine App allein ist noch kein Verhütungsmittel“, warnt sie. Auch Apps, bei denen die Nutzerin ihre Körpertemperatur nach dem Aufwachen und manchmal auch weitere Symptome eintragen muss, seien auf dem Handy nicht sicherer als die altmodische Erfassung dieser Daten mit Zettel und Stift.

Anna Schmid


Frauen

Ungewollt schwanger: Allein unter Tausenden



Jedes Jahr brechen fast 100.000 Frauen in Deutschland ihre Schwangerschaft ab. Viele von ihnen fühlen sich in dieser Situation isoliert. Kaum eine Frau weiß offenbar von einer anderen Person in ihrem Umfeld, die einmal abgetrieben hat.

Frankfurt a.M. (epd). Der positive Schwangerschaftstest war für sie alle ein Schock: Laura (22) aus Halle an der Saale, Janine (33) aus Celle und die 22-jährige Gesine aus Hamburg (alle Namen von der Redaktion geändert). Keine von ihnen wollte schwanger werden. Für Josefine, die mit der Spirale verhütete, war die Situation so unwirklich, dass sie sogar kurz auflachte. Laura war sprachlos. Janine machte gleich noch zwei weitere Tests. Es nützte nichts, auch die bestätigten: Sie war schwanger.

Ungewollt schwanger

Allen drei Frauen war schnell klar, dass sie das Kind nicht möchten. Laura studiert noch, ihre Essstörung hat sie erst vor Kurzem überwunden. Gesine hat vor wenigen Monaten ihren ersten Job angetreten und führt eine Fernbeziehung. Janine bezweifelt wegen ihrer chronischen Erkrankung, dass sie überhaupt ein Kind bekommen könnte. Ihre wahren Namen wollen die drei Frauen nicht öffentlich machen. Sie haben Angst, nicht verstanden oder verurteilt zu werden. Ihre Erfahrungen teilten sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) trotzdem mit. Denn sie wollen, dass sich andere ungewollt schwangere Frauen nicht so isoliert fühlen wie sie.

Laura wusste von keiner anderen Frau aus ihrem Verwandtschafts- oder Freundeskreis, die je eine Schwangerschaft beendet hat. „Man denkt, niemand in der Umgebung hat Ahnung davon und fühlt sich allein, obwohl das garantiert nicht der Fall ist“, erinnert sie sich.

Janine erging es ähnlich. Sie suchte deshalb vor ihrem Abbruch kurz vor Weihnachten 2021 in den sozialen Netzwerken nach Frauen, die ihre Erfahrungen teilten. Denn außerhalb des Internets, findet sie, sind Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor ein Tabu: „Kaum eine Frau spricht darüber, es wird einfach unter den Tisch gekehrt.“

Dass eine ungewollt schwangere Frau offenbar kaum eine andere Frau kennt, der es so wie ihr erging, ist angesichts der Zahlen erstaunlich. In Deutschland entschieden sich in den vergangenen zehn Jahren jährlich etwa 100.000 Frauen für eine Abtreibung.

Ansprechpartnerin für betroffene Frauen

Immerhin wusste Gesine von der Freundin einer Freundin, die bereits eine Schwangerschaft beendet hatte. Wenige Stunden, nachdem sie den Schwangerschaftstest gemacht hatte, fragt sie nach ihrer Nummer und rief bei ihr an: „Ich wollte wissen, was jetzt auf mich zukommt“, erklärt sie. Es half ihr, mit einer anderen Betroffenen zu sprechen: „Es tat einfach gut, von ihren Erfahrungen zu hören.“

Gesine hat sich fest vorgenommen, in ihrem sozialen Umfeld offen mit ihrem Schwangerschaftsabbruch umzugehen. Ihrer Familie und vielen ihrer Freunde hat sie von ihrer Abtreibung erzählt. Sie hofft, dass sie künftig für andere ungewollt schwangere Frauen aus ihrem Bekanntenkreis als Ansprechpartnerin dienen kann: „Sie sollen wissen, dass ich ihnen helfen kann.“ Denn keine Frau wünsche sich eine Abtreibung, sagt sie. „Aber es kann schnell vorkommen, dass man ungewollt schwanger wird.“

Außerdem findet Gesine, der Abbruch - auch wenn sie ihn nicht bereue - gehöre jetzt irgendwie zu ihr. Sie werde sicherlich in Zukunft immer wieder an das Kind denken und sich etwa fragen, wie alt es jetzt wäre, sagt sie. Auch Janine will nicht über ihren Abbruch schweigen: „Ich will zeigen, dass die Frauen keine Monster sind.“ Sie habe lange überlegt und sich letztlich aus Gründen der Selbstfürsorge für die Abtreibung entschieden, erzählt sie. Das Ultraschallbild hat Janine aufgehoben.

Laura hat sich fest vorgenommen, ihrer Mutter bald von ihrem Schwangerschaftsabbruch zu erzählen. „Ich habe das Gefühl, das sie ein Recht hat, davon zu erfahren.“ Bislang habe sie sich noch nicht getraut - aus Angst, dass ihre Mutter, die damals Probleme hatte, schwanger zu werden, ihre Entscheidung nicht verstehe. „Ich wusste bisher noch nicht, wie ich ihr davon erzählen soll“, sagt sie.

Patricia Averesch


Behinderung

Projekt sucht "Wege in den Beruf" für taubblinde Menschen




Marcell Feldmann in seinem Büro
epd-bild/Jens Schulze
Marcell Feldmann hat drei Berufe gelernt. Doch als er mit 37 zusätzlich zu einer Schwerhörigkeit anfängt zu erblinden, soll er in Rente gehen. Er kämpft um eine andere Perspektive - für sich, und dann im Deutschen Taubblindenwerk auch für andere.

Hannover (epd). Marcell Feldmann geht flotten Schrittes durch die Flure im Deutschen Taubblindenwerk in Hannover. Seinen Langstock mit der Kugel vorne führt der hochgewachsene Mann dabei entlang der weißen, aufgerauten Linie in der Mitte der Bodenkacheln - dem Blindenleitsystem. „Obwohl ich den Weg hier kenne, ist das meine Orientierung“, sagt er. An seinem Arbeitsplatz als Berater in dem Werk, das sich seit 1967 für taubblinde Menschen einsetzt, gibt es vergleichsweise viele Hilfsmittel, die ihm den Alltag erleichtern.

Fortschreitende Netzhautdegeneration

Der 49-Jährige ist von Geburt an schwerhörig. Damit hat er zu leben gelernt. Doch mit 37 ließ auch sein Augenlicht nach. Ein Arzt hatte schließlich den richtigen Verdacht und veranlasste eine Humangenetische Untersuchung. Die Diagnose: Usher-Syndrom - Typ 2. Bei der Erbkrankheit kommt zu früher oder angeborener Schwerhörigkeit eine langsam fortschreitende Netzhautdegeneration hinzu, die bis zur vollständigen Erblindung führen kann. „Das hat mich schwer geschockt“, erinnert sich Feldmann. „Ich habe auf dem Dorf gelebt und war auf das Auto angewiesen.“

Zwar wurden seine Kinder langsam selbstständig. „Doch für mich stellte sich die Existenzfrage.“ Mittlerweile berät er im Taubblindenwerk andere, die in ähnlicher Lage sind. Gefördert von der Stiftung „Aktion Mensch“ läuft dort bis 2025 das Modellprojekt „Wege in den Beruf“. Es zielt auch darauf, mit Hilfsmitteln Hindernisse im Alltag, im Beruf oder in der Freizeit zu überwinden, wie Projektleiterin Melissa Glomb erläutert.

„Einer Erhebung zufolge kommen jedes Jahr 400 bis 500 Menschen wegen Taubblindheit oder einer Hörsehbehinderung im Beruf nicht mehr klar“, sagt sie. In Deutschland gelten Glomb zufolge rund 10.000 Menschen als taubblind, auch wenn die Dunkelziffer weitaus höher liegen dürfte. Bei den Jüngeren ist zumeist das Usher-Syndrom die Ursache. Weil die Erkrankung selten ist, herrscht nicht nur bei Betroffenen, sondern oft auch bei Arbeitgebern oder Versicherungsträgern Unsicherheit, wie Marcell Feldmann erfahren hat.

„Keiner sagt, ich habe da ein Angebot für dich“, berichtet er. Sein eigener Weg war entsprechend steinig. Feldmann hat als Kunstglasbläser, Chemikant und Kaufmann in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft drei Berufsausbildungen. Vor seiner Erkrankung arbeitete er zuletzt freiberuflich als Versicherungsberater und Journalist. Als die Rentenversicherung ihn dann als erwerbsunfähig einstufte, wollte er sich damit nicht abfinden: „Da stellt man sich selbst infrage, warum habe ich keine Rechte und keinen Wert?“

„Ich verstand kein Wort“

Feldmann zog aus einem Dorf in Brandenburg nach Kassel. Aber auch Reha-Angebote - etwa das Lernen der Blindenschrift Braille - passten für ihn nicht wirklich. Andere Teilnehmer waren zwar sehbehindert wie er, doch sie redeten munter durcheinander. „Da war ich raus, ich verstand kein Wort“, sagt er. Doch ihm gelang der Weg in eine Anstellung, zunächst beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, dann beim Taubblindenwerk.

Sein Büro dort ist nach seinen Bedürfnissen ausgestattet, mit einer elektronischen Braillezeile als zusätzliche Tastatur, mit einer Sprachausgabe des Computers, die direkt in seine Hörgeräte übertragen wird. Mit einem Auge kann er noch wie durch einen schmalen Tunnel Sehreste wahrnehmen. Das Licht muss dabei blendfrei sein. Feldmanns Blindenführhund Kondor unterstützt ihn im Alltag, eine Arbeitsassistenz fünf Stunden die Woche im Beruf.

Schon länger engagiert er sich ehrenamtlich, unter anderem als Vorsitzender des Vereins „Leben mit Usher-Syndrom“. „Er ist für uns ein großer Gewinn“, sagt Melissa Glomb. „Er kann am besten sagen, was für Angebote es braucht.“ So sitzt Marcell Feldmann auch in der Jury eines Wettbewerbs der Projektpartner von „Wege in den Beruf“. Am 3. Dezember soll dabei die beste Erfindung eines Hilfsmittels für Taubblinde prämiert werden.

Manchmal sind es einfache Dinge, das demonstriert Feldmann in der Lehrküche des Taubblindenwerkes. Er legt ein Plastikgerät in Eiform über einen Glasrand. Im Inneren des Glases erfühlt ein Sensor, wie voll es ist und das Gerät fängt an zu piepen und zu vibrieren, bevor die Flüssigkeit überläuft. Besonders bei Heißgetränken ist das eine gute Alternative zum Finger, den viele Blinde nutzen. „Das beste Hilfsmittel sind aber andere Menschen“, sagt Feldmann. „Man muss sich bewusst sein, dass man immer auf andere angewiesen ist. Das muss man aushalten können.“

Karen Miether


Behinderung

Langzeitarbeitslosigkeit unter Menschen mit Handicap nimmt zu



Für Beschäftigte mit Behinderung stabilisiert sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt leicht. Doch zeigt das Inklusionsbarometer 2022 eine kritische Entwicklung für behinderte Langzeitarbeitslose an.

Bonn (epd). Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Behinderung einer Studie zufolge widersprüchlich. Zwar sinken die Arbeitslosenquoten, es verschärft sich aber die Langzeitarbeitslosigkeit, wie aus dem am 30. November in Bonn veröffentlichten Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch und des Handelsblatt Research Instituts hervorgeht. Danach war fast die Hälfte (47 Prozent) aller im Jahr 2021 als arbeitslos gemeldeten Menschen mit Behinderung mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung - eine Steigerung von mehr als fünf Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr, als die Quote bei 41,2 Prozent lag.

Mangelnde Beschäftigungsbereitschaft

„Erholung und Fortschritt der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt scheitern insbesondere an der Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen“, heißt es in der mittlerweile zehnten Erhebung des Handelsblatt Research Institutes im Auftrag der Aktion Mensch. Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen sind gesetzlich dazu aufgefordert, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung zu vergeben. In der Praxis beschäftige aber ein Viertel der rund 173.000 Betriebe keinen einzigen behinderten Menschen, sondern zahle stattdessen eine sogenannte Ausgleichsabgabe.

Bestehende Arbeitsverhältnisse erweisen sich für Menschen mit Handicap als relativ stabil. So wurde im Jahr 2021 laut Inklusionsbarometer 19.746 angestellten Behinderten gekündigt - nach den Angaben so wenigen wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren.

Wenn Menschen mit Behinderung allerdings ihren Job verlieren, fällt die Rückkehr in den Arbeitsmarkt sehr schwer: Lediglich drei Prozent von ihnen gelang dies im vergangenen Jahr. Bei Menschen ohne Behinderung waren es sieben Prozent. „Arbeitslose ohne Behinderung haben folglich eine mehr als doppelt so hohe Chance, eine Anstellung zu finden als Arbeitslose mit Behinderung“, erklären die Studienautoren.

„Der erneut gestiegene Anteil an langzeitarbeitslosen Menschen mit Behinderung ist alarmierend“, mahnte Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch. Die Inklusionsbemühungen müssten daher deutlich verstärkt werden.

Rürup empfiehlt: „Entlassungen vermeiden“

Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institutes, sprach von einem Rückstau bei den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, von denen insbesondere Langzeitarbeitslose profitieren könnten. Viele Maßnahmen seien in den vergangenen Jahren aufgrund der Pandemie ausgefallen, erklärte er. Die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste Energiepreiskrise lasse einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung erwarten. Menschen mit Behinderung, die einmal in der Arbeitslosigkeit seien, spürten die negativen Auswirkungen von Wirtschaftskrisen länger als Menschen ohne Behinderung. „Daher sollte alles getan werden, um Entlassungen zu vermeiden.“

Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung lag nach den Angaben im Jahr 2021 bei 11,5 Prozent (2020: 11,8 Prozent). Die allgemeine Arbeitslosenquote sank im selben Zeitraum bundesweit von 5,9 auf 5,7 Prozent.

Seit 2013 erstellt das Handelsblatt Research Institute in Kooperation mit der Aktion Mensch jährlich das Inklusionsbarometer Arbeit. Basierend auf Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Integrationsämter werden Indikatoren ausgewertet, die über den aktuellen Grad der Inklusion von Menschen mit Schwerbehinderung in den ersten Arbeitsmarkt Auskunft geben sollen, neben Beschäftigungs- und Arbeitslosenquoten ist dies etwa die Dauer der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter. Die Analyse wird durch eine repräsentative Online-Umfrage unter 800 abhängig beschäftigten Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung ergänzt sowie durch eine telefonische Umfrage unter Personalverantwortlichen von 500 Unternehmen, die Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung beschäftigen.

Markus Jantzer, Gabriele Fritz


Migration

Kabinett beschließt Gesetzes-Fahrplan zur Fachkräfteeinwanderung




Eine kurdische Näherin arbeitet in einer Schneiderei bei Freiburg (Archivbild)
epd-bild/Sebastian Stoll
Einfacher und schneller sollen Fachkräfte aus aller Welt nach Deutschland kommen können, um hier zu arbeiten. Angesichts Hunderttausender unbesetzter Stellen will die Regierung Vorschriften vereinfachen und ein Punktesystem einführen.

Berlin (epd). Die Bundesregierung will mit einfacheren Regeln und neuen Angeboten mehr Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen. Das Bundeskabinett beschloss am 30. November in Berlin Eckpunkte für ein Gesetz, das es für Menschen aus Ländern außerhalb der Europäischen Union (EU) attraktiver machen soll, in Deutschland zu arbeiten. Dazu zählt auch ein Punktesystem. Die Wirtschaft begrüßte das Vorhaben.

„Wir müssen Einwanderung wollen“

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte nach dem Kabinettsbeschluss: „Fachkräftesicherung ist Wohlstandssicherung.“ Überall würden mehr Arbeitskräfte gebraucht, im Handwerk, in der Kinderbetreuung, der Pflege, in der öffentlichen Verwaltung oder in der Gastronomie. Deshalb reichten die Anstrengungen zur Fachkräftesicherung im Inland allein nicht aus: „Wir müssen Einwanderung wollen.“

Es sei eine gemeinsame Ausgabe von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass Deutschland nicht abschreckend, sondern einladend sei für „helfende Hände und kluge Köpfe“, sagte Heil. Der SPD-Politiker plant nach eigenem Bekunden, den Gesetzentwurf Anfang kommenden Jahres in den Bundestag einzubringen.

Zu den neuen Regeln gehört, dass Menschen künftig mit einer „Chancenkarte“ zunächst für ein Jahr nach Deutschland kommen können, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Punkte gibt es für die Qualifikation, berufliche Erfahrung, Sprachkenntnisse oder einen persönlichen Bezug zu Deutschland sowie das Alter. Neu ist auch, dass Berufserfahrung mehr Gewicht erhält. Ausländische Fachkräfte sollen auch dann eine Stelle annehmen können, wenn ihr Berufsabschluss in Deutschland nicht anerkannt ist, sie aber über eine mindestens zweijährige Berufserfahrung verfügen. Es ist dann möglich, die Anerkennung in Deutschland nachzuholen.

Hunderttausende offene Stellen

Zuwanderer mit einem anerkannten Abschluss können künftig nicht nur in ihrem erlernten Beruf arbeiten, sondern auch eine andere Tätigkeit aufnehmen. Damit kommt die Regierung Wünschen der Wirtschaft entgegen. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger erklärte, die Politik stelle die richtigen Weichen dafür, die Einwanderung in den Arbeitsmarkt einfacher zu machen. Es könnten bis zu sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen, wenn nicht gegengesteuert werde.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte, das geplante Gesetz sei überfällig. In der IT-Branche beispielsweise fehlten 100.000 Fachleute, in der Solar- und Windenergiebranche gebe es 200.000 offene Stellen. Die Ampel-Koalition werde die Schwellen für Zuwanderung senken und darauf achten, dass die Verfahren „schnell und pragmatisch“ umgesetzt würden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte, Deutschland werde das modernste Gesetz in Europa zur Fachkräfteeinwanderung haben. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) betonte, man werde auch die Zuwanderung für Studierende und Auszubildende erleichtern.

Heil hatte die Eckpunkte im Oktober zur Abstimmung mit den anderen Ministerien vorgelegt. Die Regelungen für Fachkräfte sind Teil eines Gesetzespakets zur Migration, mit dem die Ampel-Koalition das Einwanderungs-, Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht modernisieren will. Kontrovers wird derzeit innerhalb der Ampel über die Erleichterung von Einbürgerungen debattiert.

Die bisherigen Regeln zur Arbeitskräftegewinnung im Ausland stammen aus dem März 2020, als das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der damaligen großen Koalition in Kraft trat. Bewähren konnte es sich wegen der Corona-Pandemie zunächst nicht.

Bettina Markmeyer


Ethik

Sterbehilfe: Regelung im Strafrecht stößt bei Juristen auf Skepsis



Die angestrebte Regelung für die Hilfe beim Suizid bleibt umstritten. Das zeigte eine Anhörung im Bundestag. Juristen sind mehrheitlich skeptisch gegenüber einer Regelung im Strafrecht. Praktikerinnen warnen dagegen vor einer zu liberalen Regelung.

Berlin (epd). Die vom Bundestag angestrebte Regelung der Hilfe beim Suizid bleibt umstritten. Unter den Sachverständigen, die am 28. November im Rechtsausschuss des Parlaments angehört wurden, gab es keine Mehrheit für einen der drei vorliegenden Vorschläge. Die Mehrheit der geladenen Juristen äußerten Skepsis gegenüber einer Regelung im Strafrecht, wie sie die Gruppe um die Abgeordneten Lars Castellucci (SPD) und Ansgar Heveling (CSU) vorsieht.

Reform des Betäubungsmittelgesetzes

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020 geurteilt, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch das Recht umfasst, hierbei Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Eine bis dahin geltende Regelung, die organisierte Suizidassistenz von Sterbehilfeorganisationen verboten hatte, erklärte das Gericht für nicht zulässig. Nun geht es im Bundestag um eine mögliche Folgeregelung.

Drei Gruppen mit Abgeordneten verschiedener Fraktionen haben dazu Vorschläge vorgelegt. Alle drei Entwürfe sehen vor, dass das Betäubungsmittelgesetz dahingehend geändert wird, dass todbringende Medikamente auch für eine beabsichtigte Selbsttötung verschrieben werden dürfen, legen die Hürde dafür aber unterschiedlich hoch.

Eine Gruppe um Castellucci, Heveling und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) plädiert für ein erneutes Verbot der organisierten, sogenannten geschäftsmäßigen Suizidassistenz, das aber in eng definierten Grenzen Ausnahmen zulässt. Voraussetzung für eine legale Hilfe bei der Selbsttötung wäre unter anderem eine ärztliche Begutachtung.

„Kein strafwürdiges Unrecht“

Vier der fünf geladenen Juristen lehnten dies ab. Die Hilfe bei der Ausübung eines Freiheitsrechts sei „kein im Regelfall strafwürdiges Unrecht“, erklärte der Düsseldorfer Strafrechtsprofessor Helmut Frister. Es erscheine nicht sachgerecht, „eine bei der Ausübung dieses Rechts geleistete Hilfe grundsätzlich mit Strafe zu bedrohen“, betonte Frister, der auch dem Deutschen Ethikrat angehört.

Der Hamburger Jurist Karsten Gaede äußerte ebenfalls Skepsis und warnte mit Blick auf die im Gesetzentwurf formulierten Bedingungen davor, Betroffene, die Hilfe bei der Selbsttötung in Anspruch nehmen wollen, mit „maximalen und kaum konkretisierten Anforderungen“ zu überfordern. Abgelehnt wurde der Castellucci-Entwurf auch vom Münchner Strafrechtsexperten Christoph Knauer und von Gina Greeve vom Deutschen Anwaltverein.

Der Osnabrücker Strafrechtler Arndt Sinn dagegen hält eine Regelung im Strafgesetzbuch für sinnvoll. Sie folge einem legitimen Zweck, weil Autonomie und Leben dadurch geschützt werden sollen, sagte er. Den anderen Entwürfen warf er vor, hinter diesem Schutzgebot zurückzubleiben.

Medizinische Notlage

Die anderen beiden Gruppen legen in ihren Entwürfen den Fokus auf die Durchsetzung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben. Katrin Helling-Plahr (FDP), Helge Lindh (SPD) und weitere Parlamentarier wollen eine Beratung zur Bedingung für eine Suizidassistenz machen. Der Vorschlag von unter anderem Renate Künast (Grüne) und Nina Scheer (SPD) geht in eine ähnliche Richtung wie der von Helling-Plahr. Er unterscheidet bei den Voraussetzungen allerdings zwischen Menschen in medizinischen Notlagen und solchen, die das nicht sind.

Die Leiterin des Hospizdienstes beim Malteser Hilfsdienst in Berlin, Kerstin Kurzke, gab zu bedenken, dass die Äußerung eines Suizidwunsches oftmals ein Hilfeschrei sei. „Menschen, die sagen, ich möchte nicht mehr leben, meinen: Ich möchte so, wie es jetzt ist, nicht mehr leben“, sagte sie. Auch die Psychiaterin und Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms, Barbara Schneider, sagte, sie habe fast täglich Kontakt mit suizidalen Menschen, kenne aber nur wenige, „die eine eindeutige Entschlossenheit haben“.

Ebenso wie der Vorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes, Winfried Hardinghaus, forderten sie mehr Anstrengungen des Gesetzgebers bei der Suizidprävention. „Die Gesellschaft muss ein starkes Zeichen der Lebensbejahung und Fürsorge setzen“, sagte er. Die Gruppe um Castellucci und andere Abgeordnete hat zu ihrem Entwurf auch einen Antrag zur Suizidprävention vorgelegt. Wann final über die Entwürfe im Bundestag abgestimmt werden soll, ist noch offen.

Corinna Buschow



sozial-Branche

Pflege

Zockende Senioren




Senioren an der Spielekonsole
epd-bild/Dieter Sell
Spielend gegen die Vergesslichkeit und für mehr Mobilität: Spielekonsolen sorgen in Alten- und Pflegeheimen für Spaß und sind gleichzeitig Therapie. In Bremen trifft sich die Senioren-"Zockerrunde" zum virtuellen Kegeln und Tischtennisspielen.

Bremen (epd). Claus Lehnert hat die Ruhe weg. Der 61-Jährige steht mit seinem Rollstuhl vor einer großen Videowand und hebt gelassen die linke Hand. So pariert er beim virtuellen Tischtennis den Angriff seiner Mitspielerin Margret Warnken. „Mist“, flucht seine Gegnerin, der ein Ball von Lehnert durchgeflutscht ist. Der lächelt sanft. Wieder einen Punkt gutgemacht. Die beiden gehören zu einer Gruppe von Senioren und Seniorinnen ohne technische Berührungsängste, die sich im Bremer Alten- und Pflegeheim der Johanniter regelmäßig vor der Spielekonsole treffen.

Was für die „Zockerrunde“, wie sie sich selbst nennt, längst zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen gehört, ist vielen Seniorenhäusern in Deutschland noch fremd: die Beschäftigung mit digitalen Spielen. In diesem Fall handelt es sich um die „Memore-Box“ des Hamburger Start-up-Unternehmens „RetroBrain“. Sie erfasst mit Hilfe einer 3D-Kamera die Bewegungen von Lehnert und Warnken und überträgt sie ins digitale Spiel. So kann unter anderem virtuell gekegelt, Motorrad gefahren, Post verteilt oder eben Tischtennis gespielt werden.

„Versuchen Sie es mit mehr Schwung“

Besonders emotional wird es beim „Pudel“ auf der digitalen Kegelbahn, wenn die Kugel komplett ihr Ziel verfehlt. „Uhhh“, schallt es beim Fehlwurf von Günter Schlesinger aus dem Hintergrund. „Versuchen Sie es mit mehr Schwung“, tönt es aus dem Lautsprecher der Memore-Box. Der 94-Jährige versucht es noch mal - und ist erfolgreich: „Alle neune!“, die Zockerrunde johlt und klatscht Beifall, wenig später stoßen alle mit Sekt an.

Die Pandemie hat dem Kreis kräftig zugesetzt. „Doch jetzt geht es wieder los“, sagt Johanniter-Pflegedienstleiterin Sabine Stubbe. „Wer mitmacht, profitiert gleich mehrfach“, hat sie beobachtet. „Natürlich geht es zuerst um den Spaß am Spiel. Aber ganz unbemerkt werden dabei auch Muskeln, Gleichgewichtssinn, Gedächtnis, Konzentration und Koordination trainiert.“ Das bestätigt eine Studie des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung. Danach können Videospiele gezielt sogar Hirnbereiche vergrößern, die für räumliche Orientierung, Gedächtnisbildung, strategisches Denken sowie Feinmotorik bedeutsam sind.

Regelmäßiges Spielen verbessert Leistungsfähigkeit

Spielen trotz hohen Alters, einsetzender Demenz oder körperlicher Beeinträchtigung: Dass das funktioniert, zeigt eine Testreihe in bundesweit rund 100 Einrichtungen, an der sich die Barmer Krankenkasse beteiligt hat. „Das regelmäßige Spielen verbesserte die kognitive und körperliche Leistungsfähigkeit, aber auch die Stimmung der Seniorinnen und Senioren“, bilanziert Barmer-Psychologin Andrea Jakob-Pannier.

Die Untersuchung habe gezeigt, dass sich fast zwei Drittel der Nutzerinnen und Nutzer durch das Training körperlich und geistig gut gefördert fühlten. Pflege- und Betreuungskräfte hätten die positiven Effekte bestätigt, fasst Jakob-Pannier zusammen. Auch „Game“, der Verband der deutschen Games-Branche, sieht Senioren als Zielgruppe: Videospiele sorgten bei ihnen nicht nur für Abwechslung und Spaß, „sie besitzen auch therapeutisches Potenzial“, erklärt ein Sprecher.

Wieder mehr Kontakt zu anderen Menschen

Lehnert, den ein Schlaganfall nach seinen eigenen Worten „total ausgebremst“ hat, bestätigt das. Seine Gedächtnisleistung habe sich verbessert, seitdem er an der Box spiele. Er sei beweglicher geworden und könne sich besser konzentrieren. „Und ich bin wieder in Kontakt mit anderen Menschen.“

„Der Zusammenhalt in der Gruppe, das ist die treibende Kraft, darin liegt für mich der größte Wert“, betont Lehnert und ergänzt: „Wenn man mal ein Tief hat, wird man von den anderen getragen und mitgerissen.“ Beim Spielen entstünden Freundschaften, die vorher nicht denkbar gewesen seien, bestätigt „RetroBrain“-Manager Jens Brandis. Er spricht von bundesweit mittlerweile mehr als 400 Häusern mit einer Memore-Box.

Auch Bremens Altbürgermeister Henning Scherf (SPD) hat die Konsole ausprobiert. „Der Spaß hat mich angesteckt“, berichtet der 84-jährige Bestsellerautor („Grau ist bunt“). „Wenn ich das mit anderen zusammen mache, das ist doch eine tolle Sache. Da kommt man raus aus Einsamkeit und Isolation, das gibt Tagesstruktur.“ Und weil Spiele wie die Motorradfahrt die Reaktionsfähigkeit herausfordern und Denkaufgaben stellen, ist Scherf fest überzeugt: „Im hohen Alter lässt sich der Kopf noch mobilisieren.“

Dieter Sell


Corona

Pflegereport: Pandemie bleibt eine Gefahr für die Heime




Pflegekraft mit Heimbewohnerin
epd-bild/Fritz Stark
Während über weitere Lockerungen in der Corona-Pandemie gesprochen wird, haben die Menschen, die in Pflegeheimen leben und arbeiten, immer noch ein hohes Risiko, krank zu werden oder zu sterben. Der Barmer-Pflegereport liefert die Zahlen.

Berlin (epd). In den Pflegeheimen und beim Pflegepersonal ist die Corona-Pandemie keineswegs überwunden. Das geht aus dem aktuellen Barmer-Pflegereport 2022 hervor, der am 29. November in Berlin veröffentlicht wurde.

In diesem Jahr sind danach viel mehr Pflegekräfte an Covid-19 erkrankt als in den beiden ersten Jahren der Pandemie. Die Spitzenwerte der Covid-19-Erkrankungen wurden im März und Juli festgestellt. Im März kamen 158 Krankschreibungen auf 10.000 Pflegekräfte und damit 14 Mal so viele wie im Vorjahresmonat und mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Pandemie. Im Juli wurde der zweithöchste Wert gemessen.

Hohe Sterberate

In den ersten beiden Wellen Anfang 2020 und im Winter 2020/2021 waren die Krankschreibungen beim Pflegepersonal etwa fünfmal so hoch wie bei den Beschäftigten in anderen Wirtschaftszweigen. In der dritten und vierten Welle glichen sich die Zahlen dann dem allgemeinen Krankenstand bei den Beschäftigten in Deutschland stärker an.

Wie die Pandemie in den Heimen gewütet hat, macht der Report ebenfalls zum Thema: Auf dem Höhepunkt der ersten und auch der zweiten Corona-Welle waren 50 bis 60 Prozent der Verstorbenen stationär gepflegte Menschen. Zum Ende der vierten Welle, im Dezember 2021, waren es noch 30 Prozent. Der Bremer Pflegewissenschaftler Heinz Rothgang rechnete vor, dass 45 Prozent der Menschen, die bis Ende 2021 mit einer Covid-Infektion gestorben sind, Heimbewohnerinnen und Heimbewohner waren.

Von Januar 2020 bis Dezember 2021 sind Rothgang zufolge in den Pflegeheimen 155.000 Menschen mehr gestorben als nach den Sterbeziffern der Jahre 2017 bis 2019 zu erwarten war. Dass die Sterbezahlen in der vierten Welle trotz höherer Infektionszahlen gesunken seien, sei den Impfungen zu verdanken, sagte Rothgang. Zudem sei das Virus in der Omikron-Variante nicht mehr so gefährlich.

Sicherheitskonzept für den Winter

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte zur aktuellen Situation: „Wir haben im Moment keine so hohe Sterblichkeit in den Pflegeheimen.“ Die gegenwärtigen Schutzmaßnahmen wirkten und stünden auch nicht infrage. Beauftragte in jedem Pflegeheim sorgten dafür, dass Impfungen erfolgten, erkrankte Heimbewohner mit dem Corona-Medikament Paxlovid behandelt und die Hygiene-Maßnahmen eingehalten würden. Dieses Sicherheitskonzept werde in diesem Winter fortgeführt, sagte Lauterbach.

Offenbar als Reaktion auf die hohen Todeszahlen war dem Barmer-Pflegereport zufolge 2020 die Zahl der Pflegebedürftigen, die in ein Heim umzogen, um ein Drittel zurückgegangen. Im Mai 2020 wechselten bundesweit 17.000 Menschen aus der ambulanten in die stationäre Pflege, wogegen es im Frühjahr 2018 und 2019 jeweils über 25.000 Personen waren. Inzwischen hat sich die Inanspruchnahme von Heimplätzen wieder auf dem früheren Stand eingespielt.

Der Pflegereport gibt auch Auskunft darüber, wie sich die Maßnahmen in der Pandemie finanziell ausgewirkt haben. Rothgang zufolge haben der Rettungsschirm für Einrichtungen und Pflegedienste sowie die Corona-Tests und die Pflegeprämien den Etat der Pflegeversicherung mit 9,2 Milliarden Euro zusätzlich belastet, wovon der Bund vier Milliarden Euro ausgeglichen hat. Für Ende dieses Jahres rechnet der Report mit einem Fehlbetrag in der Pflegeversicherung von rund sechs Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 hatte die Pflegeversicherung Einnahmen von 52,5 Milliarden Euro und Ausgaben von 53,8 Milliarden Euro.

Bettina Markmeyer


Kinder

Lecker vegetarisch essen in der Kita




Gemüse für das Mittagessen
epd-bild / Philipp Reiss
Nur noch vegetarische Mahlzeiten in Kitas und Schulen? Das wird in einer Würzburger Kita seit Jahren mit regionalen Produkten aus biologischem Anbau umgesetzt. Ähnliche Pläne der Stadt Freiburg erhitzen unterdessen die Gemüter.

Freiburg/Würzburg (epd). Ein frisch gekochtes vegetarisches Mittagessen mit Bioprodukten aus regionalem Anbau gibt es täglich in einer Würzburger Kita. „Es funktioniert super gut, und den Kindern schmeckt es“, sagt die Hauswirtschafterin und Buchautorin Silvia Popp dem Evangelischen Pressedienst (epd): „Wir verwenden Eier, Gemüse, Getreide- und Milchprodukte fast nur aus der Region, an die Jahreszeiten angepasst und sogar biozertifiziert.“

Kritik aus ganz Deutschland

Auch die Eltern seien begeistert von dem Angebot, das es seit fast zehn Jahren gibt, erzählt Popp. 2013 wurde die Hauswirtschafterin von der Evangelischen Montessori Kindertagesstätte der Erlöserkirche in Würzburg gebeten, ein fleischloses Verpflegungskonzept zu entwickeln.

Doch ein rein vegetarisches Essenskonzept in Kindertagesstätten oder Schulen kommt nicht bei allen gut an. Nachdem Mitte Oktober der Gemeinderat im baden-württembergischen Freiburg beschlossen hatte, künftig nur noch ein vegetarisches Mittagessen in städtischen Kitas und Grundschulen anzubieten, hagelte es bundesweit Kritik.

Die Entscheidung der südbadischen Stadt wurde als ideologisch kritisiert. Sogar von einem „Kulturkampf auf dem Rücken von Kindern“ war die Rede. Kritik übte etwa auch das baden-württembergische Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz. Zu einer ausgewogenen Ernährung gehöre auch Fleisch. Weniger Fleisch zu konsumieren sei richtig, „eine ausschließlich vegetarische Ernährung als Vorgabe unterstützen wir nicht“, teilte das Ministerium mit.

Hauswirtschafterin Popp aus Würzburg findet dagegen die geplante Umstellung von Kita- und Schulessen in Freiburg „richtig gut“ und kann die Kritik nicht nachvollziehen: „Das heißt doch überhaupt nicht, dass die Kinder Vegetarier werden müssen.“ Am Wochenende könnten gerne eine Bratwurst oder ein Fleischgericht gegessen werden, sagt Popp, die ein biologisch-vollwertiges, vegetarisches Ernährungskonzept für Kinder erarbeitet hat.

Vier Euro für ein Mittagessen

„Es schmeckt nicht nur besser, sondern ist außerdem noch billiger“, erklärt Popp. In der Kita frisch zu kochen, sei günstiger, als auf Caterer zurückzugreifen. Sie hat dazu das Buch „Gesund und nachhaltig kochen in der Kita“ verfasst. Neben vielen Rezepten gibt es darin auch Hinweise zum wirtschaftlichen Einkauf, Tages- und Wochenpläne sowie Kostenaufstellungen etwa für eine Kita-Kücheneinrichtung.

Weniger als vier Euro kostet so ein frisch zubereitetes Mittagessen in Würzburg. Insgesamt zahlen die Eltern 92 Euro pro Monat für die Verpflegung mit Frühstück, Mittagessen und Nachmittagssnack. Sogar das Brot werde in der Kita frisch gebacken, aus zuvor selbst gemahlenem Getreide. Auch das sei billiger, als fertige Bio-Brote zu kaufen, erläutert die Expertin.

Und noch mehr Vorteile habe eine vollwertige, vegetarische Ernährungsform, sagt sie. Sie fördere die Gesundheit und beuge Übergewicht und Krankheiten vor. Der Speiseplan der meisten Kinder enthalte zu viel tierisches Eiweiß, sagt Popp. Von rein veganen Mahlzeiten an Kitas oder Schulen hält sie dagegen nichts. Für eine ausgewogene, regionale Ernährung von Kindern seien Eier und Milchprodukte wichtig, ist sie überzeugt.

Warum in Deutschland derzeit heftig über rein vegetarisches Schulessen diskutiert wird, können auch die Experten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) mit Sitz in Bonn nicht nachvollziehen. Das Schulessen beinhalte nur fünf Mahlzeiten in der Woche, sagt DEG-Ernährungswissenschaftlerin Silke Restemeyer. Auch ohne Fleisch, Fleischprodukte und Fisch sei diese Ernährungsweise sehr gut dazu geeignet, alle Nährstoffe in ausreichender Menge zu liefern.

Christine Süß-Demuth


Alkoholmissbrauch

"Endlich wusste ich, was mit mir los ist"




Gisela Bolbecher, Vorsitzende des FASD-Netzwerks Nordbayern
epd-bild/privat
Ein Fünftel der schwangeren Frauen in Deutschland trinkt Alkohol. Was viele nicht wissen: Schon die kleinste Menge kann beim Fötus schwere Schäden verursachen. Für Aufklärung sorgt das FASD Netzwerk Nordbayern.

Bräuningshof/Nürnberg (epd). Für Lena Hess (Name geändert) war die Diagnose FASD mit Anfang 20 eine Erleichterung. „Endlich hatte ich eine Erklärung für alles, was schiefgegangen ist. Warum ich mich anstrengen kann, wie ich will, und trotzdem nicht zurechtkomme“, sagt die Nürnbergerin. Die Bezeichnung FASD (Fetale Alkoholspektrumstörung) wird als Oberbegriff für die Schädigung eines Menschen verwendet, die pränatal durch den Alkoholkonsum der Mutter entsteht. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen trinkt jede fünfte schwangere Frau Alkohol.

„Ich bin nie richtig vorwärtsgekommen“

Bei Hess äußerte sich die Schädigung schon ihr ganzes Leben lang. „Ich bin nie richtig vorwärtsgekommen. In der Schule habe ich keinen Anschluss gefunden, weil ich gemerkt habe, dass bei mir irgendetwas anders ist. Ich habe immer wieder Ausbildungen abgebrochen, hatte Depressionen und habe meinen Alltag nicht hinbekommen.“ Auf den Rat ihrer Pflegemutter hin fährt Hess zu einem Spezialisten für FASD-Diagnostik „und da war es relativ schnell ziemlich klar. Ich weiß noch, dass der Arzt zu mir gesagt hat: Jetzt wissen Sie, dass Sie nicht daran schuld sind.“

Die Störung zeigt sich bei den Betroffenen unterschiedlich, weiß Gisela Bolbecher, Vorsitzende des Vereins FASD Netzwerk Nordbayern. „Kinder mit FASD sind aber immer auffällig. Oft sind sie reizbar und impulsiv, können sich schlecht konzentrieren und vergessen viel. Sie zeigen Bindungsstörungen und Intelligenzminderungen. Das führt für sie und ihre Familien zu großen Herausforderungen im Alltag.“

Dabei ließe sich die Schädigung einfach verhindern: durch 100-prozentigen Alkoholverzicht in der Schwangerschaft. „Aber es wissen viele nicht. Lange Zeit haben Frauenärzte immer wieder gesagt, dass ein Gläschen nicht schaden würde.“ Mittlerweile sei aber bekannt, dass selbst kleine Mengen Alkohol die Entwicklung der Organe und des Nervensystems des ungeborenen Kindes schädigen können - auch in den ersten Wochen der Schwangerschaft.

Zusammenarbeit mit Jugendämtern

Der Vereins will Aufklärung betreiben. Er bietet Informations- sowie Lehrmaterial für den Unterricht an und hat mit der Wanderausstellung „Zero!“ ein Konzept entwickelt, das Jugendlichen anschaulich zeigt, wie sich ein Baby in der Schwangerschaft entwickelt und welche Auswirkungen Alkoholkonsum haben kann. Für Menschen mit FASD bietet das Netzwerk eine Beratung und Gesprächskreise an, in denen Betroffene Unterstützung bei den Themen Wohnen, Arbeit, Alltag und Freizeit bekommen. Der Verein vernetzt bei einem Runden Tisch regelmäßig Expertinnen und Experten von Forschung bis Therapie.

Auch mit den Jugendämtern arbeitet das FASD-Netzwerk eng zusammen, sagt die Leiterin der Beratungsstelle des FASD Netzwerks Evelina Eckfeld-Wein. „Wir stehen in Kontakt mit Kranken- und Pflegekassen, wenn es darum geht, ob eine Pflegestufe für die Betroffenen notwendig wird, und bieten weitere sozialrechtliche Hilfen an.“ Betroffene oder Menschen, die den Verdacht abklären wollen, können sich zunächst unkompliziert über eine Hotline oder die Webseite melden und werden dann weitervermittelt. An Schulen und pädagogischen Förderstellen berät und schult der Verein die Mitarbeitenden.

Begleitung statt Verurteilung

Auch wenn es Leitlinien zur FASD-Diagnostik gibt, sei diese schwierig, sagt Bolbecher. Oft gehe man fälschlicherweise von ADHS aus, da sich einige Symptome ähneln. Dazu komme das Thema Schuld, das bei einer Diagnose schwer auf der Mutter lasten kann. Bolbecher ist es wichtig, Mütter, die während der Schwangerschaft Alkohol getrunken haben, nicht zu verurteilen, sondern sie zu begleiten. Sie würde sich wünschen, dass sie frühzeitig die Unterstützung des Netzwerks in Anspruch nehmen, um von Fördermöglichkeiten für ihr Kind zu erfahren.

Zu ihrer leiblichen Mutter, die neben einer schweren psychischen Erkrankung auch eine Suchterkrankung hatte, hat Lena Hess schon lange keinen Kontakt mehr. Seit der Diagnose hat sich jedoch ihr Blick auf ihre Erzeugerin verändert, sagt sie: „Es ist immer noch ambivalent, aber ich kann besser damit umgehen. Als Jugendliche hat es mich immer fertig gemacht, wo ich herkomme, das Warum und Weshalb. Als Erwachsene kann ich fast so etwas wie Mitgefühl für sie aufbringen.“ Hess großer Wunsch ist, dass Mädchen schon früh lernen, was Alkohol in der Schwangerschaft anrichten kann, „denn FASD ist so leicht vermeidbar“.

Julia Riese


Zusammenhalt

Deutsche spenden trotz Inflation



Trotz Krisenstimmung sind die Deutschen bereit zu spenden. Das kommt insbesondere Menschen auf der Flucht zugute. Es könnte sogar das Rekordergebnis vom vergangenen Jahr wieder erreicht werden.

Berlin (epd). Der Deutsche Spendenrat erwartet in diesem Jahr trotz Kriegsängsten und Inflation ein ähnlich hohes Spendenaufkommen wie im Vorjahr. Die Deutschen hätten bereits von Januar bis September 2022 rund 3,8 Milliarden Euro gespendet, erklärte der Geschäftsführer des Spendenrates, Max Mälzer, am 1. Dezember in Berlin bei der Vorstellung der GfK-Erhebung „Trends und Prognosen“. Damit sei das Spendenergebnis aus dem Vorjahreszeitraum sogar um 0,8 Prozent übertroffen worden.

Jeder vierte Bürger spendet

Auch die Aussichten für das Gesamtjahr sähen gut aus, vorbehaltlich der weiteren Inflationsentwicklung. Im vergangenen Jahr hatten die Deutschen laut Marktforschungsinstitut GfK insgesamt knapp 5,8 Milliarden Euro gespendet. Die Erhebung beruht auf einer monatlichen, regelmäßigen und repräsentativen Stichprobe von 10.000 deutschen Teilnehmern ab zehn Jahren im Auftrag des Spendenrates.

Dabei sank laut GfK der Anteil von Spendern an der Bevölkerung um 1,2 Prozent oder 800.000 Menschen auf 24,1 Prozent. Mälzer sprach von einem „Wermutstropfen“. Zugleich stieg der durchschnittliche Spendenbetrag gegenüber dem Vorjahreszeitraum um einen Euro auf 41 Euro. Die durchschnittliche Spendenhäufigkeit pro Spender blieb mit 5,8 stabil.

Gut drei Viertel aller Spenden (76,7 Prozent; 2021: 78,5 Prozent) flossen erneut in die humanitäre Hilfe, davon 40 Prozent in die Not- und Katastrophenhilfe. Dagegen mussten alle anderen Teile der humanitären Hilfe wie Entwicklungshilfe, Kirchen, Bildung oder Kinder- und Jugendhilfe prozentual wie in absoluten Spendensummen Rückgänge hinnehmen.

Insbesondere das Spendenvolumen für die Flüchtlingshilfe stieg gegenüber den ersten neun Monaten 2021 um 359 Prozent von 207 Millionen auf 949 Millionen Euro. Dabei vervielfachte sich die Anzahl der Spendenden um 254 Prozent auf 6,7 Millionen Menschen, gleichzeitig stieg die Durchschnittsspende um 79 Prozent von 40 Euro auf 71 Euro. Es liege nahe, dass der enorme Anstieg vor allem auf Spenden für Flüchtende aus der Ukraine beruhe.

Am meisten kommt von der Generation 70plus

Gestützt wird die Annahme durch die regionale Verteilung der Spendenprojekte. So flossen 2021 im Jahr der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zwei Drittel des Spendenvolumens in lokale und nationale Projekte. In diesem Jahr stieg der Anteil für internationale Projekte wieder auf 50 Prozent, hieß es.

Insgesamt spendete weiterhin die Generation 70plus am meisten. Ihr Anteil am Gesamtspendenvolumen fiel allerdings leicht um knapp drei Prozentpunkte auf 41,6 Prozent. Ihr durchschnittliches Spendenvolumen verringerte sich um vier Euro auf 311 Millionen Euro.

Nicht enthalten sind in der GfK-Spendenprognose etwa Erbschaften, Unternehmensspenden, Geldzuweisungen von Gerichten, Großspenden von mehr als 2.500 Euro und Spenden ausländischer Staatsangehöriger. So erkläre sich unter anderem der Unterschied zu den Prognosen des Deutschen Instituts für soziale Fragen (DZI). Es hatte für 2021 Geldspenden von 12,9 Milliarden Euro an gemeinnützige, Spenden sammelnde Organisationen ermittelt. Der Deutsche Spendenrat versammelt unter seinem Dach nach eigenen Angaben 70 Spenden sammelnde gemeinnützige Organisationen.

Lukas Philippi


Armut

"Fahrende Ärzte" greifen Tafel unter die Arme




"Fahrende Ärzte" verteilen bei der Kasseler Tafel Mahlzeiten
epd-bild/Helga Kristina Kothe
Die Lebensmittelspenden sind knapper geworden. Deshalb unterstützt ein Kasseler Verein die Tafel und gibt dreimal in der Woche kostenlose Mittagsmenüs an die Kunden aus.

Kassel (epd). Die Schlange vor dem Haus ist lang. Viele warten seit dem Morgen, um für wenig Geld eine mit Lebensmitteln gepackte Tüte bei der Tafel in Kassel zu holen. An diesem Mittag hängt der Duft von Gulasch und Kartoffelstampf im Raum. An jeden Tafelkunden geben die „Fahrenden Ärzte Kassel“ zwei warme Menüs aus, die nichts kosten und besonders an kalten Tagen sehr willkommen sind.

„Ohne die Tafel würden wir nicht auskommen“

Seit dem Start des Projekts Anfang August wurden über 5.000 Mahlzeiten verteilt, pro Woche 320. Bis Ende des Jahres sei die Finanzierung gesichert, wie es weitergehe, hänge von Spenden ab, sagt Dagmar Dobischat vom Vorstand, die das Essen mit ihrem Sohn Timo verteilt.

An diesem Montag werden bei der Tafel Flüchtlinge aus der Ukraine versorgt. Gekommen ist auch Elena mit ihrem Sohn Swatlav. Sie sind Anfang März vor dem Krieg aus Irpin geflüchtet. „Das Essen schmeckt super“, sagt der 17-Jährige. „Ohne die Tafel würden wir nicht auskommen. Wir sind sehr dankbar“, ergänzt die Mutter der sechsköpfigen Familie.

Die Idee, warme Mahlzeiten für Bedürftige zu kochen oder auszugeben, hatten die „Fahrenden Ärzte“, als sie hörten, dass die Tafel immer weniger Lebensmittelspenden erhält. „Wir wollen nicht nur medizinische Hilfe für Bedürftige leisten, sondern auch humanitäre“, sagt Dagmar Dobischat. Mit Blick auf die Kriegsflüchtlinge hofft sie, damit einen Beitrag in für sie schwierigen Zeiten leisten zu können.

Die stellvertretende Vorsitzende der Kasseler Tafel, Helga Schmucker-Hilfer, führt aus, dass Lebensmittelspenden seit der Pandemie rückläufig seien. So sehr, dass der Dachverband Tafel Deutschland sogar Lebensmittelzukäufe, finanziert durch Spenden, toleriere. „Strategien zur Vermeidung von Überschüssen im Handel machen sich bei uns bemerkbar“, sagt sie.

180 Personen auf der Warteliste

Für die Tafel erschwert das die Versorgung: Nach eigenen Angaben hat sie 1.250 Berechtigungskarten an Bedürftige vergeben, weitere 500 an Ukraine-Flüchtlinge. Dahinter stehen fast 4.500 Menschen, die auf die Hilfe der Tafel angewiesen sind. Rund 180 Personen stünden auf der Warteliste, so Helga Schmucker-Hilfer. Vor allem die Zahl der Rentner und Alleinerziehenden unter ihnen nehme zu.

Auch andere Tafeln geben warmes Essen aus, etwa die Tafel Nürnberg. Vor einem Jahr hat sie begonnen, in ihrer neuen Suppenküche aus gespendeten Lebensmitteln einmal in der Woche für Bedürftige zu kochen. „Mittlerweile können Tafelkunden von Montag bis Freitag zu uns kommen und erhalten für 1,50 Euro ein warmes Mittagessen“, berichtet Leiterin Edeltraud Rager.

Bei der Wetzlarer Tafel, eine Einrichtung der Evangelischen Kirchengemeinde Niedergirmes, gibt es seit fast elf Jahren die „Gesegnete Mahlzeit“. Für das Menü zahlen Menschen mit schmalem Geldbeutel 3,50 Euro, der Normalpreis beträgt 4,50 Euro. Pro Woche würden etwa 90 Mahlzeiten ausgegeben, davon 75 an Bedürftige, deren Essen die Kirchengemeinde bezuschusse, sagt Tafel-Mitarbeiter Dirk Jakob. Während die Nachfrage dort gleich bleibt, sind die Tafelgäste mehr geworden: „Seit Januar wurden 980 neue Bedarfsgemeinschaften registriert, darunter 600 Ukraine-Flüchtlinge“, so Jakob.

Es fehlen Lebensmittel, Ehrenamtliche oder Räume

Auch in Nürnberg steigt die Zahl der Neukunden: „Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat sich unsere Kundenzahl fast verdoppelt. Derzeit haben wir einen Stand von 9.500 Kunden“, sagt Edeltraud Rager. Es kämen immer mehr Menschen, die bislang gerade so über die Runden gekommen seien, jetzt aber durch steigende Lebenshaltungskosten diesen Weg gehen müssten.

Bundesweit verteilen rund 960 Tafeln Lebensmittel an Bedürftige, die nicht mehr verkauft werden können. Laut der Tafel Deutschland werden derzeit rund zwei Millionen Menschen versorgt, so viele wie nie zuvor. Etwa ein Drittel der Tafeln könne nicht allen helfen. Es fehlten Lebensmittel, Ehrenamtliche oder Räume.

Von der Politik erwarte der Verband unter anderem armutsfeste Regelsätze. Das Bürgergeld sei ein Schritt in die richtige Richtung, aber 503 Euro mehr reichten nicht aus. „Wir helfen jetzt in der Krise nach Kräften, aber wir sind kein Teil des sozialstaatlichen Systems“, betont Verres. Tafeln dürften nicht als notwendige und selbstverständliche Existenzhilfe gesehen werden.

Helga Kristina Kothe


Armut

Interview

Steigende Kundenzahlen bringen Tafeln an ihr Limit




Katja Bernhard
epd-bild/Tafel Hessen
Es kommen immer mehr Kunden, darunter auch viele Flüchtlinge aus der Ukraine: Hessens Tafeln arbeiten am Limit, berichtet Katja Bernhard, Vorstand des Tafel-Landesverbandes, im Interview.

Frankfurt a.M. (epd). Die Tafeln sind gefordert. Katja Bernhard vom Vorständin der Tafeln in Hessen berichtet: „Die Zahl der Kunden nimmt zu, die Betriebskosten steigen drastisch, die Lebensmittelspenden von Händlern und Supermärkten gehen zurück.“ Dennoch sagt sie: „Wir sind zuversichtlich, die Herausforderungen zu meistern.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Weniger Lebensmittelspenden, mehr Klienten und erste Fälle von Aufnahmestopps: Die Tafeln scheinen zum Teil bereits am oder schon über ihrem Limit zu arbeiten. Wie ist die Lage in Hessen?

Katja Bernhard: Auch die Tafeln in Hessen stehen vor großen Herausforderungen. Die Zahl der Tafel-Kunden nimmt weiter zu, die Betriebskosten steigen drastisch, die Lebensmittelspenden von den Händlern und Supermärkten gehen zurück. Über 6.000 überwiegend ehrenamtlich Helfende arbeiten am Limit bei ihrem Einsatz mit Kraft, Zeit und psychischen Belastungen. Wir stellen einen täglichen Zuwachs von Geringverdienern als Neukunden fest, deren Lohn nicht mehr ausreicht und bei den Tafel Hilfe suchen.

epd: Wie reagieren die Tafeln darauf?

Bernhard: Zwischenzeitliche Aufnahmestopps waren unumgänglich und Neukunden wurden auf auf Wartelisten vorgemerkt. Die Lage ist weiter angespannt, aber durch veränderte Konzepte, finanzielle Hilfen und eine große Solidarität in der Gesellschaft sind wir doch zuversichtlich, die Herausforderungen zu meistern.

epd: Solche Aufnahmestopps führen immer zu Diskussionen. Ist das der richtige Weg oder sollte man nicht besser einfach die Lebensmittelgaben an Einzelne reduzieren, so dass alle Bedürftigen etwas abbekommen?

Bernhard: Den Tafeln kann man keinen Vorwurf für ihre Entscheidungen machen, Aufnahmestopps zu verhängen und/oder Warteliste anzulegen. Diese Vorgehensweise gilt oft nur für einzelne Ausgabetage oder Ausgabestellen, so dass es immer Kontingente für die Unterstützung von Notleidenden gibt.

epd: Gibt es Zahlen, wie viele Klientinnen und Klienten hessenweit seit der Fluchtbewegung nach Putins Überfall auf die Ukraine dazugekommen sind?

Bernhard: In Hessen haben sich seit Anfang 2022 über 35.300 neue Kunden angemeldet. Davon kommen rund 25.000 Geflüchtete aus der Ukraine. Auch kehren viele Bestandskunden zu den Tafeln zurück, die einige Zeit ohne die Unterstützung der Tafel zurecht gekommen sind.

epd: Der Krieg kann noch lange dauern, der Winter steht vor der Tür. Sind die Tafeln in der Lage, noch deutlich mehr Flüchtlinge zu versorgen oder müsste da nicht der Staat finanziell tätig werden?

Bernhard: Die Tafeln mit ihren zusammen rund 6.000 Helfenden sind schon am Anschlag. Es werden weiter unermüdlich Lebensmittel gesammelt und verteilt. Jedoch erleben wir, dass viele Geflüchtete ihren Weg zu den Tafeln oft aufgrund von Hinweisen durch Behörden finden. Tafeln sind oftmals die erste Anlaufstelle für Geflüchtete, um schnelle und unbürokratische Hilfe zu erhalten.

epd: Das ist ja nicht grudsätzlich verkehrt ...

Bernhard: Nein. Aber wir weisen als Landesverband immer wieder darauf hin, dass diese Unterstützung nicht selbstverständlich sein kann. Wir rufen die Kommunen auf, hier neben finanzieller Unterstützung auch umfassende Hilfskonzepte für die Ukrainer vorzulegen. Das Land Hessen hat bereits reagiert. Mit einer Soforthilfe von 2,2 Millionen Euro unterstützt es die Sicherstellung eines geregelten Tafel-Betriebes. So wird verhindert, dass Tafeln schließen müssen. Man sollte nie vergessen werden, dass wir ganz von ehrenamtlichen Mitarbeitenden getragen werden. Sie leisten Untterstützung, die grundsätzlich der Staat zu leisten hat. Mehr Kunden bedeuten für die Tafeln noch mehr Kraft und Zeiteinsatz. Doch die Ressourcen einer nichtstaatlichen Organisation, die dem Staat die Unterstützung der Bürger abnimmt, sind endlich. Sie sollten nicht von außen in Frage gestellt werden, und sie bleiben ein freiwilliges Angebot.

epd: Längst bringen die Inflation und die hohen Energiepreise Bürger in Notlagen. Wie ist hier der Trend verstärkten Zulaufs und auf welche Szenarien müssen sich die Tafeln noch vorbereiten?

Bernhard: Seit Jahresbeginn haben die Tafeln in Hessen einen Zulauf von mehr als 30 Prozent an Neukunden. Dazu gehören auch vermehrt Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem Einkommen nicht mehr auskommen und bei einer Tafel Hilfe suchen. Die Tafeln rechnen im Frühjahr 2023 mit einem enormen Anstieg an weiteren Neukunden. Selbstverständlich arbeiten Tafel-Leitungen an vorbereitenden Maßnahmen wie etwa geänderten Öffnungszeiten, reduzierten Abgabemengen und zusätzlichen Ausgabestellen.

epd: Viele Tafeln, die auch Geldspenden sammeln, kaufen Lebensmittel zu. Das ist sicher sinnvoll, aber konterkariert das nicht die Grundidee der Tafeln, überschüssige Waren zu sammeln und zu verteilen?

Bernhard: Der Zukauf von Lebensmittel ist der außerordentlich schwierigen Zeit und der überproportional gewachsenen Kundenzahlen geschuldet. Trotzdem werden Zukäufe als Ausnahmen gesehen, von einigen Tafeln sogar abgelehnt und sind kein selbstverständlicher Baustein der zukünftigen Aufstellung einer Tafel. Die Grundidee, Lebensmittel vor der Mülltonne zu retten und nur diese zu verteilen, besteht fort.

epd: Oft ist zu hören, dass die Tafeln weniger Lebensmittelspenden erhalten, weil die Discounter besser kalkulieren, was ja eigentlich gut ist. Nicht aber für die Tafeln. Ist das nicht ein dauerhaftes Problem, das sich kaum lösen lässt?

Bernhard: Die Tafeln sind mit über 280.000 Tonnen der größte Lebensmittelretter in Deutschland und tragen ganz wesentlich zum Klimaschutz bei. Ja, der Handel disponiert noch vorsichtiger als früher und so bleiben am Ende des Tages weniger Waren übrig. Doch dass optimiert wird, entspricht weiter dem Standpunkt des Bundesverbands Tafel Deutschland, der Landesverbände und Tafel-Leitungen. In Deutschland muss es vermieden werden, Lebensmittel wegzuwerfen. Klar ist die Verknappung ein Problem der Tafeln. Doch dem setzen wir entgegen, dass die Tafeln lediglich ein Ergänzungsprogramm sind, das Menschen in Not mit Lebensmittel unterstützen, die sonst im Müll landen würden. Tafeln helfen, weil sie wollen und nicht weil sie müssen.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Gekürzte Asylleistungen in Sammelunterkünften verfassungswidrig




Syrische Familie in einer Flüchtlingsunterkunft (Archivbild)
epd-bild/Uwe Pollmann
Alleinstehende erwachsene Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft müssen mehr Geld erhalten. Der Gesetzgeber hat in verfassungswidriger Weise für diese Gruppe die Asylbewerberleistungen um zehn Prozent gekürzt, entschied das Bundesverfassungsgericht.

Karlsruhe (epd). In einer Sammelunterkunft lebende alleinstehende erwachsene Flüchtlinge haben Anspruch auf höhere Asylbewerberleistungen. Die vom Gesetzgeber 2019 eingeführte Sonderbedarfsstufe, nach der in Sammelunterkünften untergebrachte alleinstehende Asylbewerber pauschal zehn Prozent weniger erhalten als in Wohnungen lebende Flüchtlinge, führt zu einer Unterdeckung des Existenzminimums und ist damit verfassungswidrig, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 24. November veröffentlichten Beschluss.

„Aus einem Topf wirtschaften“

Die Leistungskürzung betrifft alleinstehende Erwachsene, die in Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Der Gesetzgeber begründete die ab 1. September 2019 geltenden geringeren Asylbewerberleistungen mit Einsparpotenzialen, die alleinstehende erwachsene Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft haben. Die Bewohner bildeten dort eine „Schicksalsgemeinschaft“ und könnten gemeinsam wirtschaften - etwa zusammen einkaufen und Essen kochen, so die Annahme. Alleinstehende Flüchtlinge wurden damit genauso veranschlagt wie Paare, die zusammen in einer Wohnung leben und aus „einem Topf wirtschaften“.

Aktuell liegt der Regelsatz für alleinstehende erwachsene Asylbewerber bei 367 Euro pro Monat, für Paare und Menschen, die in einer Sammelunterkunft untergebracht sind, bei 330 Euro monatlich. Insbesondere Asylbewerber in Sammelunterkünften bekommen dabei vorrangig Sachleistungen statt Geld.

Im Streitfall wollte ein 1982 geborener und in einer Sammelunterkunft lebender alleinstehender Flüchtling aus Sri Lanka die Leistungskürzung nicht hinnehmen und zog vor Gericht. Der Mann war 2014 nach Deutschland gekommen und hatte erfolglos Asyl beantragt. Er erhielt eine Duldung und lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft im Raum Düsseldorf, in der insgesamt 24 Personen untergebracht sind. In seiner Wohneinheit wohnt er mit fünf weiteren, nicht mit ihm verwandten Personen zusammen und teilt mit ihnen Küche und Bad. Sein Zimmer teilt er sich mit einem Mitbewohner aus Guinea.

Gesetzgeber überschritt seinen Spielraum

Das Sozialgericht Düsseldorf hielt die pauschal gekürzten Asylbewerberleistungen für den alleinstehenden Flüchtling für verfassungswidrig niedrig und legte das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

Die Karlsruher Richter erklärten nun die Sonderbedarfsstufe für alleinstehende Flüchtlinge und die damit verbundene Leistungskürzung für verfassungswidrig. Das grundrechtlich garantierte Existenzminimum werde nicht mehr gewährleistet. Alle noch nicht bestandskräftigen sowie künftigen Asylbewerberleistungsbescheide müssten sich nach der regulären höheren Regelbedarfsstufe 1 berechnen, unabhängig davon, ob sie in einer Sammelunterkunft leben oder nicht.

Der Gesetzgeber müsse Sozialleistungen „fortlaufend realitätsgerecht bemessen“, mahnte das Bundesverfassungsgericht. „Der existenznotwendige Bedarf muss stets gedeckt sein.“ Dies müsse sich „an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichten“. Der Gesetzgeber habe dabei einen Spielraum, dieser sei hier aber überschritten.

„Keine tragfähigen Erkenntnisse“

Zwar könne er im Sinne des Nachrangs staatlicher Leistungen grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen und dann die Hilfeleistungen entsprechend absenken.

Dies sei hier aber nicht gerechtfertigt. „Die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde, wird nicht auf Tatsachen gestützt. Vielmehr wird nur eine Erwartung formuliert, ohne zu belegen, dass sie tatsächlich erfüllt wird“, heißt es in dem Beschluss.

Bis heute, drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung, lägen zu den behaupteten Einsparungen keine tragfähigen Erkenntnisse vor. Der Bund habe hierzu keinerlei Erhebungen gemacht und auch keine anderweitigen Erkenntnisquellen benennen können. Dass Asylbewerber in Sammelunterkünften ähnlich Paaren gemeinsam „aus einem Topf“ wirtschaften, sei eine reine Vermutung. Anhaltspunkte dafür hätten sich in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht ergeben. Die Annahme, dass Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft eine „Schicksalsgemeinschaft“ bildeten, trage die Leistungskürzung um zehn Prozent nicht, so das Bundesverfassungsgericht.

Ab sofort der volle Regelsatz

Der Deutsche Caritasverband zeigte sich über die Entscheidung erleichtert. Der Gesetzgeber müsse den Beschluss der Verfassungsrichter zum Anlass nehmen, dass auch andere ähnliche ungerechtfertigte Restriktionen beseitigt werden. So müssten etwa auch Asylsuchende eine Gesundheitsversorgung erhalten können, die den allgemeinen Standards der Krankenkassenleistungen entspricht.

Das Bundesarbeitsministerium verwies auf Nachfrage auf den Koalitionsvertrag, laut dem das Asylbewerberleistungsgesetz „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ weiterentwickelt werden soll. Die korrekte Versorgung Leistungsberechtigter werde bis zu einer Gesetzesänderung sichergestellt, indem - wie vom Verfassungsgericht verlangt - auch für Erwachsene in Sammelunterkünften künftig der volle Regelsatz für Alleinstehende gezahlt wird, sagte eine Sprecherin.

Az.: 1 BvL 3/21

Christine Süß-Demuth, Frank Leth


Bundesverfassungsgericht

Kein Schadenersatz für künstliche Ernährung



Karslruhe (epd). Hinterbliebene können keine Schadenersatzansprüche für das verlängerte Leiden eines künstlich ernährten und zwischenzeitlich verstorbenen demenzkranken Angehörigen geltend machen. Weder enge Verwandte noch Erben können wegen einer Verletzung von „höchstpersönlichen Rechten“ des Verstorbenen Schmerzensgeld gerichtlich einfordern, wie das Bundesverfassungsgericht in einem am 29. November veröffentlichten Beschluss entschied.

Konkret ging es um einen schwer demenzkranken und im November 2011 verstorbenen Mann. Dieser lebte seit 2006 in einem Pflegeheim. Gut fünf Jahre lang wurde er mit einer Magensonde künstlich ernährt. Da keine Patientenverfügung vorlag und er zu einer Kommunikation mit anderen Personen kaum fähig war, konnte sein Wille über die Fortsetzung der künstlichen Ernährung nicht geklärt werden.

Leiden verlängert

Nach dem Tod des Pflegebedürftigen forderte der in den USA lebende Sohn vom behandelnden Hausarzt seines Vaters Schmerzensgeld und Schadenersatz für Behandlungs- und Pflegekosten, insgesamt 150.000 Euro. Die vom Arzt veranlasste künstliche Ernährung habe das Leben seines Vaters nur noch sinnlos verlängert und das Leiden verlängert, argumentierte der Sohn.

Der Bundesgerichtshof (BGH) lehnte den Anspruch mit Urteil vom 2. April 2019 ab (Az.: VI ZR 13/18). Die bei dem Pflegebedürftigen veranlasste lebensverlängernde Maßnahme sei kein „Schaden“, der Schadenersatzansprüche auslösen könne. Es sei nicht klar, ob der Arzt seine Pflichten verletzt habe. Die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit verböten es, das Leben - „auch ein leidensbehaftetes Weiterleben“ - als Schaden anzusehen.

Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde des Sohnes hatte keinen Erfolg. Bei den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht handele es sich um „höchstpersönliche Rechte“, die nur der Betroffene geltend machen könne. Nach dessen Tod könnten enge Angehörige oder Erben diese daher nicht einfordern, erklärte das Bundesverfassungsgericht.

Ob allerdings zu Lebzeiten Schadenersatzansprüche bestehen können, wenn entgegen dem Willen des Patienten lebensverlängernde Maßnahmen durchgeführt werden, habe der BGH offengelassen, hieß es in der Entscheidung.

Az.: 1 BvR 1187/19



Bundesgerichtshof

Anspruch auf Kontrollbetreuer bekräftigt



Karlsruhe (epd). Ein als Betreuer eingesetzter Ehepartner darf das Grundstücksvermögen seiner demenzkranken Ehefrau nicht ohne Weiteres deutlich unter Wert verkaufen. Gibt es „hinreichende Anhaltspunkte“ für eine schuldhafte Pflichtverletzung bei der Vermögensverwaltung, kann die Einsetzung eines Kontrollbetreuers durchgesetzt werden, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 28. November veröffentlichten Beschluss.

Im konkreten Fall ging es um eine 75-jährige Frau, die wegen ihrer schweren Alzheimer-Demenzerkrankung in einem Pflegeheim lebt. Ihren Ehemann hatte sie eine notarielle Vorsorgevollmacht erteilt, damit dieser ihre Vermögensangelegenheiten regeln kann.

Grundstück zu billig verkauft

Der Ehemann verkaufte ein ihm und seiner Ehefrau je zur Hälfte gehörendes Hausgrundstück zum Preis von 250.000 Euro. Der aus erster Ehe stammende Sohn der Frau, der als ihr Erbe eingesetzt wurde, sah in dem Verkauf eine Pflichtverletzung seines Stiefvaters. Das Grundstück habe einen Wert von bis zu 700.000 Euro gehabt. Es sei an Personen verkauft worden, die seine Mutter gemieden und enterbt habe. Er verlangte die Einsetzung eines Kontrollbetreuers, damit dieser für seine Mutter mögliche Schadenersatzansprüche gegen den Bevollmächtigten geltend machen kann.

Das Landgericht Mosbach lehnte die Bestellung eines Kontrollbetreuers ab. Eine Kontrollbetreuung sei keine Strafmaßnahme für vergangenes Fehlverhalten - hier der Verkauf des Grundstücks unter Wert. Diese sei erst möglich, wenn der Betreuungsbedarf durch die Vorsorgevollmacht nicht hinreichend erfüllt werde.

Anhaltspunkte für schuldhafte Pflichtverletzung

Dem widersprach jedoch der BGH und verwies das Verfahren zur erneuten Prüfung an das Landgericht zurück. Eine Kontrollbetreuung könne auch eingerichtet werden, wenn es hinreichende Anhaltspunkte für eine schuldhafte Pflichtverletzung des Bevollmächtigten gebe. Der Kontrollbetreuer könne dann etwaige Schadenersatzansprüche geltend machen.

„Erforderlich ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit von Ansprüchen und Rechten gegenüber dem Bevollmächtigten, die der Betroffene selbst nicht mehr geltend machen kann“, so der BGH. Dem müsse das Landgericht noch einmal nachgehen.

Az.: XII ZB 273/22



Oberlandesgericht

Maskenattest bedarf ärztlicher Untersuchung



Celle (epd). Das Ausstellen von Maskenattesten ohne körperliche Untersuchung kann für einen Arzt strafbar sein. Nur wenn der Mediziner in seiner Bescheinigung ausdrücklich auf die fehlende ärztliche Untersuchung hinweist, stellt er mit der Befreiung von der Maskenpflicht kein falsches ärztliches Gesundheitszeugnis aus, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Celle in einem 23. November bekanntgegebenen Beschluss.

Im Streitfall ging es um einen Arzt aus dem Raum Uelzen in Niedersachsen, der insgesamt 29 Personen ein Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht ausgestellt hatte. Körperlich untersucht hat er die betroffenen Personen nicht.

Geldstrafe für Mediziner

Das Amtsgericht Uelzen verurteilte ihn daraufhin zu einer Geldstrafe in Höhe von 8.400 Euro. Der Mediziner legte gegen seine Verurteilung Revision beim OLG ein.

Dieses verwies das Verfahren zwar an das Amtsgericht wieder zurück. Die Celler Richter stellten aber klar, dass ein ärztliches Gesundheitszeugnis falsch ist, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustands erforderliche körperliche Untersuchung nicht gemacht wurde und sich dies auch „nicht hinreichend aus dem Attest selbst ergibt“. Da aus den Feststellungen des Amtsgerichts nicht eindeutig zu entnehmen war, ob in den Bescheinigungen tatsächlich auf die fehlende Untersuchung hingewiesen wurde, hat das OLG das Verfahren zur weiteren Tatsachenfeststellung zurückverwiesen.

Az.: 2 Ss 137/22



Verwaltungsgericht

Einrichtungsbezogene Impfpflicht gilt auch für die Verwaltung



Koblenz (epd). Die einrichtungsbezogene Impfpflicht gilt auch für in der Verwaltung tätige Mitarbeiter. Ohne ausreichenden Immunitätsnachweis gegen das Corona-Virus darf daher auch einem Hauswirtschaftsleiter eines Seniorenheims der Zutritt zu seiner Arbeitsstätte verwehrt werden, entschied das Verwaltungsgericht Koblenz in einem am 21. November bekanntgegebenen Eilbeschluss.

In Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen müssen Beschäftigte seit dem 16. März 2022 nachweisen, dass sie gegen Covid-19 geimpft oder davon genesen sind oder die eine Unverträglichkeit gegen die Impfung aufweisen. Kommen Arbeitnehmer der Nachweispflicht nicht nach, muss der Arbeitgeber sie beim Gesundheitsamt melden. Die Behörde kann dann ein bis zum 31. Dezember 2022 befristetes Betretungs- und Tätigkeitsverbot aussprechen.

Kein unmittelbarer Kontakt zu Bewohnern

Im konkreten Fall ist der Antragsteller bei einer Firma angestellt, die die Heimleitung in einem Seniorenheim übernommen hat. Der Beschäftigte ist in der Einrichtung als Leiter der Hauswirtschaft tätig. Weil er keinen Immunitätsnachweis gegen das Sars-CoV-2-Virus vorlegte, untersagte ihm das Gesundheitsamt, die Einrichtung zu betreten.

In seinem Eilantrag argumentierte der Hauswirtschaftsleiter, er nehme nur Verwaltungstätigkeiten wahr und habe daher keinen unmittelbaren Kontakt zu den Heimbewohnern und Pflegekräften. Er teste sich zudem täglich selbst und trage eine FFP2-Maske.

Doch das Verwaltungsgericht wies den Eilantrag ab. Nach dem gesetzlichen Wortlaut sowie dem Willen des Gesetzgebers komme es für die Nachweispflicht nicht auf die Art der Tätigkeit an. Zudem könne hier der Hauswirtschaftsleiter seine Arbeit auch zu Hause im Homeoffice erledigen, so dass ihn das Betretungsverbot bei seiner beruflichen Tätigkeit nur wenig einschränke. Das tägliche Testen und das Tragen einer FFP2-Maske stelle kein gleichwertiger Schutz zu einer vollständigen Immunisierung dar, so die Koblenzer Richter.

Az.: 3 L 974/22.KO



Verwaltungsgericht

Impfschaden nicht als Dienstunfall anerkannt



Hannover (epd). Gesundheitliche Beeinträchtigungen nach einer Impfung sind nicht als Dienstunfall zu werten, wenn die Impfung zwar im Gebäude des Arbeitgebers erfolgte, von diesem aber nicht selbst angeboten wurde. Mit dieser Entscheidung wies das Verwaltungsgericht Hannover am 24. November die Klage einer Förderschullehrerin ab.

Die 62 Jahre alte Klägerin wurde Ende März 2021 im Gebäude ihrer Schule von einem mobilen Impfteam des Impfzentrums Hannover mit dem Impfstoff von AstraZeneca gegen das Coronavirus geimpft. Etwa eine Woche später erlitt sie laut Gericht schwerste körperliche Schäden, deren Folgen weiter andauern. Die Frau wollte den Vorgang vom Gericht als Dienstunfall anerkennen lassen, da die Impfung eine von ihrem Dienstherren - dem Land Niedersachsen - angebotene und zu verantwortende dienstliche Veranstaltung gewesen sei.

Aus Sicht des Verwaltungsgerichts war die Impfaktion jedoch keine dienstliche Veranstaltung. Der Dienstherr habe lediglich seine Räumlichkeiten in der Schule zur Verfügung gestellt, damit das Impfteam dort die Immunisierung vornehmen konnte. Das Land Niedersachsen sei jedoch selbst nicht Organisator des Vorgangs gewesen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Verwaltungsgericht ließ eine Revision vor dem Oberverwaltungsgericht Lüneburg zu.

Az.: 2A 460/22



Landgericht

Impfskandal: Ex-Krankenschwester erhält Bewährungsstrafe



Oldenburg (epd). Eine Krankenschwester, die Corona-Impfspritzen mit einer Kochsalzlösung aufgezogen hat, ist am 30. November vom Landgericht Oldenburg wegen vorsätzlicher Körperverletzung in sechs Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Der Angeklagten war am 21. April 2021 im Impfzentrum Schortens-Roffhausen eine Ampulle mit Impfstoff zerbrochen. Um den Vorfall zu vertuschen, füllte die heute 40-Jährige sechs Impfspritzen mit einer Kochsalzlösung und Vakzin-Resten aus andere Ampullen. Dabei habe sie gewusst, dass diese Impfungen wirkungslos seien. Gegen das Urteil können die Prozessbeteiligten eine Revision binnen einer Woche einlegen.

Das Gericht folgte mit dem Urteil weitgehend der Forderung der Staatsanwaltschaft, die ursprünglich Anklage in 15 Fällen erhoben hatte. Die Nebenklage hatte darüber hinaus für ein Berufsverbot plädiert. Der Verteidiger hatte sich lediglich für eine geringe Geldstrafe ausgesprochen.

Der Vorfall hatte damals für ein bundesweites und internationales Echo in den Medien gesorgt. Rund 10.000 Menschen wurden nach Bekanntwerden des Falls aufgerufen, sich nachimpfen zu lassen.

Az.: 3 KLs 18/22



Europäischer Gerichtshof

Drohende erhebliche Schmerzen können Abschiebungshindernis sein



Luxemburg (epd). Schwer erkrankte Ausländer dürfen nicht ohne Weiteres in ihr Herkunftsland abgeschoben werden. Dies gilt zumindest dann, wenn in dem Heimatstaat keine ausreichende medizinische Versorgung besteht und dem Betroffenen dort letztlich eine erhebliche und unumkehrbare Zunahme der mit dieser Krankheit verbundenen Schmerzen droht, urteilte am 22. November der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg im Fall eines russischen, in den Niederlanden sich aufhaltenden Krebspatienten.

Der heute 34-jährige Mann war bereits mit 16 Jahren an einer seltenen Form von Blutkrebs erkrankt. Er befindet sich derzeit in den Niederlanden zur Behandlung. Mehrere Asylanträge wurden von den niederländischen Behörden und Gerichten abgelehnt, zuletzt im Jahr 2020. Gegen seine Schmerzen erhält der Patient medizinisches Cannabis. In Russland ist die Verwendung von Cannabis in der Medizin verboten.

Kein medizinisches Cannabis in Russland

Gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen setzte sich der Mann gerichtlich zur Wehr. Die Behandlung auf der Basis von medizinischem Cannabis in den Niederlanden sei für seine Schmerzbehandlung wesentlich. In Russland müsse diese Behandlung eingestellt werden, so dass er nicht mehr auf menschenwürdige Weise leben könne.

Das Bezirksgericht Den Haag legte den Fall dem EuGH zur Prüfung vor. Die Luxemburger Richter urteilten, dass illegal sich aufhaltende Ausländer sich neben der Menschenwürde auch auf das Grundrecht der Achtung des Privatlebens berufen können. Hierzu gehörten auch medizinische Behandlungen. Vor Erlass bei einer Rückreiseentscheidung müsse die Ausländerbehörde daher den Gesundheitszustand prüfen.

Führe eine unzureichende medizinische Versorgung im Herkunftsland dazu, dass dies ihm „der tatsächlichen Gefahr einer raschen, erheblichen und unumkehrbaren Zunahme der durch seine Krankheit verursachten Schmerzen aussetzen würde“, könne die Ausweisung EU-Recht verletzen. Dies sei dann der Fall, wenn „das Ausbleiben einer solchen Behandlung ihn Schmerzen von einer solchen Intensität aussetzen würde, dass es gegen die Menschenwürde verstieße“. So könnten die Schmerzen schwere und unumkehrbare psychische Störungen verursachen oder Kranke sogar zum Selbstmord veranlassen. Über die Klage des krebskranken Russen muss nach diesen Maßgaben nun das Bezirksgericht Den Haag entscheiden.

Az.: C-69/21




sozial-Köpfe

Kirchen

Volker Steinbrecher wechselt zur Diakonie Württemberg




Volker Steinbrecher
epd-bild/Thomas B. Jones/Diakonie Württemberg
Von der verfassten Kirche zur Wohlfahrt: In Baden-Württemberg wechselt der Beauftragte der Evangelischen Landeskirche, Volker Steinbrecher, zur Diakonie Württemberg. Der Theologe wird dort Abteilungsleiter.

Stuttgart (epd). Der Beauftragte der Evangelischen Landeskirchen in Baden und Württemberg bei Landtag und Landesregierung, Volker Steinbrecher, wechselt zur Diakonie Württemberg. Der 59-jährige Pfarrer übernimmt die Leitung der Abteilung Landkreis- und Kirchenbezirksdiakonie, Existenzsicherung.

Steinbrecher ist beim Wohlfahrtsverband künftig zuständig für die Begleitung und Weiterentwicklung der Beratungsstellen der Diakonie in mehr als 70 Orten in Württemberg. Beratungen der Diakonie werden in mehr als 40 Kirchenbezirken und in zahlreichen diakonischen Einrichtungen täglich für Menschen in sozialen und seelischen Krisen geleistet. Zu Steinbrechers Abteilung gehören auch die Hilfen für arme, überschuldete, arbeits- und wohnungslose Menschen, Frauen- und Kinderschutzhäuser, die Fachstelle Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin sowie die Suchthilfe.

Oberkirchenrätin Annette Noller, Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, sagte über die neue Führungskraft: „Mit Herrn Steinbrecher gewinnt die Diakonie einen theologisch und politisch sehr versierten Menschen, der gewohnt ist, zu vernetzen und Themen voranzubringen. Das wichtige Zusammenspiel von freier Wohlfahrtspflege, Kirche und Politik ist ihm gut bekannt.“

Steinbrecher will, wie er sagte, „dabei mitwirken, dass unsere Kirche eine starke diakonische Kirche ist, dass unsere diakonischen Einrichtungen auch weiterhin für viele Menschen gute und wichtige Angebote machen können, weil sie dadurch die soziale Temperatur im Land hochhalten.“ In Baden-Württemberg steige die Zahl bedürftiger Menschen, die Hilfe und Schutz brauchen.

Steinbrecher stammt aus Dellstedt in Schleswig-Holstein. Ein Praktikum im Mutterhaus der Kaiserswerther Diakonie Düsseldorf gab ihm den Impuls für ein Theologiestudium in Hamburg. Sein Vikariat machte er in Reutlingen, er war Gemeindepfarrer in Heilbronn. Seit 2011 ist er Beauftragter der Landeskirchen bei Landtag und Landesregierung.



Weitere Personalien



Barbara Aßmann wird zum Jahreswechsel Diözesan-Caritasdirektorin im Bistum Speyer. Die 57-Jährige übernahm im Laufe ihrer Tätigkeit für den Caritasverband verschiedene Leitungsaufgaben in den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Erzieherische Hilfen und psychosoziale Beratung sowie die spitzenverbandliche Vertretung und Lobbyarbeit für die Kinder- und Jugendhilfe. 2010 übernahm die Diplom-Sozialarbeiterin die Leitung der neu definierten Sparte Caritas-Zentren, die dann 2015 mit der spitzenverbandlichen Abteilung Soziales zur neuen Abteilung Soziales unter ihrer Leitung zusammengelegt wurde.

Claudia Fischer ist die neue Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Hessen. Die Mitgliederversammlung wählte die 54-Jährige als Nachfolgerin von Wolfgang Werner. Er war nach 14 Amtsjahren nicht mehr angetreten und wurde für sein langjähriges Engagement zum Ehrenvorsitzenden des Paritätischen Hessen ernannt. Claudia Fischer leitet bei der Lebenshilfe Frankfurt die Bereiche Projektentwicklung und Kommunikation und ist seit 2018 Mitglied im ehrenamtlichen Vorstand des Paritätischen Hessen.

Michael Bammessel, von 2011 bis 2022 Präsident des Diakonischen Werks Bayern, wird mit dem Bayerischen Verfassungsorden ausgezeichnet. Jochen Keßler-Rosa, Vorsitzender des Diakonischen Rates, würdigte Bammessel als „prägend für eine Dekade Sozialpolitik im Freistaat“. Er sei zehn Jahre lang das Gesicht der bayerischen Diakonie gewesen. Bammessel war Stadtdekan in Nürnberg, ehe er im Sommer 2011 zum Präsidenten der Diakonie in Bayern gewählt wurde. In dieser Funktion vertrat er den zweitgrößten bayerischen Wohlfahrtsverband mit mehr als 3.000 Einrichtungen und über 90.000 Mitarbeitenden.

Frank Zander (80), Musiker und Entertainer, wird für sein Engagement zugunsten Obdachloser erneut mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Zander ist eine von 15 Persönlichkeiten, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 5. Dezember im Berliner Schloss Bellevue ehren will. Zander wurde deutschlandweit bekannt für sein Engagement für Menschen auf der Straße. Seit 1995 organisiert der Sänger mit der rauchigen Stimme mit seiner Familie ein Weihnachtsfest für mehrere Tausend Obdachlose. Seit der Corona-Pandemie teilt er das Essen mobil aus. Bereits 2002 war er vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden.

Ole Jantschek leitet ab Mitte 2023 allein als Bundestutor die Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et). Bislang stand der 42-Jährige als pädagogischer Leiter gemeinsam mit Hanna Lorenzen an der Spitze der et. Jantschek arbeitet seit 2014 für die et. Er habe deren Profil in den Schwerpunktbereichen Digitalisierung und politische Medienbildung sowie Zusammenleben in Diversität und europäische Bürgerschaft geprägt. Die Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung ist eine bundesweit tätige Organisation der politischen Jugendbildung.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Januar



Wir haben Tagungen, Seminare, Workshops und Webinare aufgelistet, die aktuell geplant sind. Wegen der Corona-Epidemie sagen Veranstalter allerdings Termine auch kurzfristig ab. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, das zu beachten.

Dezember

6.12.:

Online-Vortragsveranstaltung „Strategieimpuls Management - Branchenleitfaden Nachhaltigkeitsbericht“

der Bank für Sozialwirtschaft

Tel.: 0221/97356-790

7.12.:

Online-Seminar „Sozialdatenschutz in der Online-Beratung“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/200-1700

14.-16.12. Berlin:

Seminar „Einführung in die Grundlagen des deutschen Asylverfahrens“

der AWO-Bundesakademie

Tel.: 030/26309-416

Januar

11.1.:

Online-Seminar „Kompetent online beraten per Video“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbandes

Tel.: 0761/2001700

16.1.:

Online-Workshop „Mit Wertschätzung und Klarheit - Kommunikation für Führungskräfte“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 0711 286976-10

26.-27.1.:

Online-Seminar „Umgang mit psychisch kranken alten Menschen“

der Bundesakademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 030/ 488 37-495

27.-28.1. Berlin:

Kongress „Pflege 2023“

der Springer Pflege

Tel.: 030/82787-5510

31.1.:

Online-Seminar „Probleme in der Pflege lösen“

der BFS Service GmbH

Tel.: 0221/97356159