sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Gekürzte Asylleistungen in Sammelunterkünften verfassungswidrig




Syrische Familie in einer Flüchtlingsunterkunft (Archivbild)
epd-bild/Uwe Pollmann
Alleinstehende erwachsene Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft müssen mehr Geld erhalten. Der Gesetzgeber hat in verfassungswidriger Weise für diese Gruppe die Asylbewerberleistungen um zehn Prozent gekürzt, entschied das Bundesverfassungsgericht.

Karlsruhe (epd). In einer Sammelunterkunft lebende alleinstehende erwachsene Flüchtlinge haben Anspruch auf höhere Asylbewerberleistungen. Die vom Gesetzgeber 2019 eingeführte Sonderbedarfsstufe, nach der in Sammelunterkünften untergebrachte alleinstehende Asylbewerber pauschal zehn Prozent weniger erhalten als in Wohnungen lebende Flüchtlinge, führt zu einer Unterdeckung des Existenzminimums und ist damit verfassungswidrig, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am 24. November veröffentlichten Beschluss.

„Aus einem Topf wirtschaften“

Die Leistungskürzung betrifft alleinstehende Erwachsene, die in Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Der Gesetzgeber begründete die ab 1. September 2019 geltenden geringeren Asylbewerberleistungen mit Einsparpotenzialen, die alleinstehende erwachsene Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft haben. Die Bewohner bildeten dort eine „Schicksalsgemeinschaft“ und könnten gemeinsam wirtschaften - etwa zusammen einkaufen und Essen kochen, so die Annahme. Alleinstehende Flüchtlinge wurden damit genauso veranschlagt wie Paare, die zusammen in einer Wohnung leben und aus „einem Topf wirtschaften“.

Aktuell liegt der Regelsatz für alleinstehende erwachsene Asylbewerber bei 367 Euro pro Monat, für Paare und Menschen, die in einer Sammelunterkunft untergebracht sind, bei 330 Euro monatlich. Insbesondere Asylbewerber in Sammelunterkünften bekommen dabei vorrangig Sachleistungen statt Geld.

Im Streitfall wollte ein 1982 geborener und in einer Sammelunterkunft lebender alleinstehender Flüchtling aus Sri Lanka die Leistungskürzung nicht hinnehmen und zog vor Gericht. Der Mann war 2014 nach Deutschland gekommen und hatte erfolglos Asyl beantragt. Er erhielt eine Duldung und lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft im Raum Düsseldorf, in der insgesamt 24 Personen untergebracht sind. In seiner Wohneinheit wohnt er mit fünf weiteren, nicht mit ihm verwandten Personen zusammen und teilt mit ihnen Küche und Bad. Sein Zimmer teilt er sich mit einem Mitbewohner aus Guinea.

Gesetzgeber überschritt seinen Spielraum

Das Sozialgericht Düsseldorf hielt die pauschal gekürzten Asylbewerberleistungen für den alleinstehenden Flüchtling für verfassungswidrig niedrig und legte das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

Die Karlsruher Richter erklärten nun die Sonderbedarfsstufe für alleinstehende Flüchtlinge und die damit verbundene Leistungskürzung für verfassungswidrig. Das grundrechtlich garantierte Existenzminimum werde nicht mehr gewährleistet. Alle noch nicht bestandskräftigen sowie künftigen Asylbewerberleistungsbescheide müssten sich nach der regulären höheren Regelbedarfsstufe 1 berechnen, unabhängig davon, ob sie in einer Sammelunterkunft leben oder nicht.

Der Gesetzgeber müsse Sozialleistungen „fortlaufend realitätsgerecht bemessen“, mahnte das Bundesverfassungsgericht. „Der existenznotwendige Bedarf muss stets gedeckt sein.“ Dies müsse sich „an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichten“. Der Gesetzgeber habe dabei einen Spielraum, dieser sei hier aber überschritten.

„Keine tragfähigen Erkenntnisse“

Zwar könne er im Sinne des Nachrangs staatlicher Leistungen grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen und dann die Hilfeleistungen entsprechend absenken.

Dies sei hier aber nicht gerechtfertigt. „Die Erwägung, beim notwendigen Bedarf an Nahrung könne eingespart werden, etwa indem Lebensmittel oder zumindest der Küchengrundbedarf in größeren Mengen gemeinsam eingekauft und in den Gemeinschaftsküchen gemeinsam genutzt werde, wird nicht auf Tatsachen gestützt. Vielmehr wird nur eine Erwartung formuliert, ohne zu belegen, dass sie tatsächlich erfüllt wird“, heißt es in dem Beschluss.

Bis heute, drei Jahre nach Inkrafttreten der Regelung, lägen zu den behaupteten Einsparungen keine tragfähigen Erkenntnisse vor. Der Bund habe hierzu keinerlei Erhebungen gemacht und auch keine anderweitigen Erkenntnisquellen benennen können. Dass Asylbewerber in Sammelunterkünften ähnlich Paaren gemeinsam „aus einem Topf“ wirtschaften, sei eine reine Vermutung. Anhaltspunkte dafür hätten sich in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht ergeben. Die Annahme, dass Flüchtlinge in einer Sammelunterkunft eine „Schicksalsgemeinschaft“ bildeten, trage die Leistungskürzung um zehn Prozent nicht, so das Bundesverfassungsgericht.

Ab sofort der volle Regelsatz

Der Deutsche Caritasverband zeigte sich über die Entscheidung erleichtert. Der Gesetzgeber müsse den Beschluss der Verfassungsrichter zum Anlass nehmen, dass auch andere ähnliche ungerechtfertigte Restriktionen beseitigt werden. So müssten etwa auch Asylsuchende eine Gesundheitsversorgung erhalten können, die den allgemeinen Standards der Krankenkassenleistungen entspricht.

Das Bundesarbeitsministerium verwies auf Nachfrage auf den Koalitionsvertrag, laut dem das Asylbewerberleistungsgesetz „im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ weiterentwickelt werden soll. Die korrekte Versorgung Leistungsberechtigter werde bis zu einer Gesetzesänderung sichergestellt, indem - wie vom Verfassungsgericht verlangt - auch für Erwachsene in Sammelunterkünften künftig der volle Regelsatz für Alleinstehende gezahlt wird, sagte eine Sprecherin.

Az.: 1 BvL 3/21

Christine Süß-Demuth, Frank Leth