

München (epd). Elisabeth Wacker leitet eine bundesweite Feldstudie zu Corona-Folgen in der Eingliederungshilfe, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziert wird. Die Ergebnisse stellen die Münchner Soziologin und ihr Team am 7. Dezember erstmals der Öffentlichkeit vor. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst gab sie vorab einen Einblick. Mit ihr sprach Detlev Brockes.
epd sozial: Frau Professor Wacker, was Sie haben die Folgen der Corona-Pandemie für Menschen mit Behinderung untersucht ...
Elisabeth Wacker: Es ging uns um authentische Informationen zur Situation in der Eingliederungshilfe unter Pandemie-Bedingungen. Untersucht haben wir, wie es Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen ergeht. Das ist im Bundesteilhabegesetz die Bezeichnung für Heime und Wohngruppen mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Unser Fokus war, wie sich der Gesundheitsschutz auf Gleichstellung und Teilhabe auswirkt.
epd: Was waren die Erhebungsmethoden?
Wacker: Die Untersuchung ist als Panoramastudie angelegt, um unterschiedliche Perspektiven zu erfassen. Wir haben Informationen zu 19 Einrichtungen bundesweit und stützen uns auf rund 200 ausführliche Interviews und Gesprächskreise. Einbezogen waren Bewohnerinnen und Bewohner, Leitungskräfte und Fachpersonal, Angehörige und Verantwortliche für die rechtliche Betreuung. Dabei waren es meist Face-to-face-Gespräche, ergänzt durch digitale Fragebögen. Unter den Einrichtungen sind kleine und mittlere, aber auch große Flaggschiffe der Eingliederungshilfe. Zudem sind die wichtigen Trägergruppen wie Diakonie, Caritas oder Lebenshilfe vertreten. Aber auch freie Träger kamen zu Wort.
epd: Was haben Sie über die Situation in den Wohneinrichtungen erfahren?
Wacker: Die Menschen in diesen Wohnformen sind als besonders vulnerabel eingestuft und waren weitreichenden Kontaktbeschränkungen im Inneren und nach außen unterworfen. Teilhabe und Selbstbestimmung waren praktisch eingefroren. Besonders krass war das am Anfang der Pandemie, aber viele Einschränkungen gelten auch jetzt noch. In den Einrichtungen leben die Menschen ohnehin eher isoliert. Durch die Corona-Auflagen entstand eine weitere Isolation in der Isolation.
epd: Können Sie Beispiele nennen?
Wacker: Heime und Wohngruppen mussten anfangs etwa auf gemeinsame Mahlzeiten verzichten. Das war hygienisch einwandfrei begründet, aber menschlich und psychisch war es sehr problematisch. Menschen, die sonst selbstständig unterwegs sein konnten, mussten über Monate in den Einrichtungen bleiben. Sie konnten nicht zur Arbeit, weil Werkstätten geschlossen waren, sie durften nicht einkaufen gehen und auch keinen Besuch bekommen. Das galt zu Anfang der Pandemie unterschiedslos für alle Bewohnerinnen und Bewohner, obwohl jemand wegen einer intellektuellen Einschränkung in der Regel nicht anfälliger ist für ein Virus.
Aus meiner Sicht dürfen Teilhabe-Einschränkungen in diesem Umfang nie wieder passieren. Wir können nicht Menschen monatelang einsperren oder sie allein sterben lassen, weil das Gesundheitsamt dies für den Infektionsschutz angeordnet hat. Die Gesundheitsämter waren auf die Pandemie nicht vorbereitet und spielten nach unseren Erkenntnissen häufig eine problematische Rolle. Sie agierten oft ohne Vorstellung von der Lebenswirklichkeit der behinderten Bewohnerinnen und Bewohner und der Aktionsmöglichkeit des Fachpersonals.
epd: Warum haben sich Betroffene bei Ihren Befragungen trotzdem zufrieden geäußert?
Wacker: Menschen leben unter Rahmenbedingungen und Regeln, die sie oft nicht verstehen, die aber von Institutionen durchgesetzt werden. Sie passen sich an, weil sie keine andere Wahl haben und dauerhaften psychischen Stress vermeiden wollen. Wir nennen das adaptive Zufriedenheit, die sich vor allem als generelle Zustimmung zur gegebenen Lage ausdrückt.
epd: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Mitarbeitenden in der Eingliederungshilfe ausgewirkt?
Wacker: Einrichtungen und Fachkräfte konnten kaum noch planen. Bewohnerinnen und Bewohner, die tagsüber Arbeit oder Beschäftigung hatten, waren nun die ganze Zeit zu Hause. Das führte zu überlangen Schichten für die Betreuungskräfte ohne entsprechende Entlastung. Wir haben bei Mitarbeitenden viel Überlast wahrgenommen. Die Personaldecke in den Einrichtungen ist so dünn, dass ich nicht weiß, wie dieses System noch lange funktionieren soll, wenn der Druck auf die verbleibenden Fachkräfte anhält. Das liegt nicht nur an Corona, aber natürlich waren auch die Mitarbeitenden allen Einschränkungen und Risiken unterworfen.
epd: Wie war die Resonanz in den Einrichtungen auf die Studie?
Wacker: Wir hätten noch weit mehr Einrichtungen befragen können. Sie alle trieb die Hoffnung an, mit ihrer schwierigen Lage gesehen zu werden. Sie hoffen auf Unterstützung für Veränderungen - und die sind auch dringend erforderlich.
epd: Wegen der Corona-Einschränkungen konnten Sie erst Ende 2021 mit den Befragungen beginnen. Wann präsentieren Sie die Ergebnisse?
Wacker: Über eine erste Auswertung haben wir uns mit dem Bundesministerium bereits ausgetauscht. Beim ConSozial-Kongress am 7. und 8. Dezember in Nürnberg stellen wir Ergebnisse erstmals öffentlich vor.