sozial-Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,




Nils Sandrisser
epd-bild/Christiane Stock

Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) will ein Gewalthilfegesetz noch vor den Neuwahlen im Februar beschließen lassen. Sie ist dabei aber auf die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag angewiesen. Ob die Union zustimmt, steht dahin. Indes offenbart eine Umfrage des Evangelischen Pressediensts, dass keines der Bundesländer die von der Istanbul-Konvention empfohlene Zahl der Schutzplätze für Frauen und Kinder vorhalten kann. Die Mehrzahl der Länder kommt nicht einmal auf die Hälfte der von der Konvention empfohlenen 2,5 Plätze pro 10.000 Einwohner.

Derzeit nehmen die Deutschen Migration vor allem als Problem wahr, als Herausforderung für die öffentliche Sicherheit und die Sozialsysteme. Dabei ist Einwanderung dringend nötig. Erst in dieser Woche hat die Bertelsmann Stiftung festgestellt, dass das inländische Potenzial nicht ausreicht, um den Arbeitskräftebedarf zu decken. Der Migrationsforscher Jochen Oltmer spricht sich dafür aus, abgelehnten Asylbewerbern die Möglichkeit zu geben, in Deutschland zu bleiben, um hier zu arbeiten. Denn das geht bislang nur in engen Grenzen.

Besonders groß ist der Arbeitskräftemangel derzeit in der Pflege. Die Diakonie Saar versucht, ihn zu mildern und ist dabei mit einem Projekt erfolgreich. Wer lange arbeitslos war, kann mit einem Pflegekurs den Wiedereinstieg ins Berufsleben schaffen. Auch wer zugewandert ist, kann als Pflegehelfer einen Fuß auf den Boden bekommen.

Grundsätzlich hat jede und jeder das Recht, über die eigene Gesundheit selbst zu bestimmen. Aber wenn die eigene Urteilsfähigkeit beeinträchtigt ist, etwa bei einer psychischen Krankheit, dürfen Ärzte auch zwangsweise behandeln. Bislang musste das stets in einer Klinik geschehen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat nun geurteilt, dass dieser Krankenhausvorbehalt nicht immer verhältnismäßig ist.

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Ihr Nils Sandrisser




sozial-Thema

Kriminalität

Appelle an die Politik für Gewalthilfegesetz




Gewalt gegen Frauen
epd-bild/Detlef Heese
Die Hilfs- und Schutzangebote für Frauen sind unzureichend. Ein Gesetz der rot-grünen Rest-Regierung soll das ändern. Aber es kommt vermutlich zu spät. Unterdessen forderte eine breite Öffentlichkeit Regierung und Bundestag auf, die Gesetze für mehr Schutz und Hilfe noch zu beschließen.

Berlin (epd). Mehrere Hilfsorganisationen und Verbände appellieren an die Politik, das Gewalthilfegesetz noch vor den Neuwahlen zum Bundestag im Februar zu beschließen. Die Geschäftsführerin des Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Katja Grieger, sagte: Wir brauchen dieses Gesetz dringend. Grieger erklärte, keine Beratungsstelle sei „bisher gesetzlich abgesichert. Die könnten alle je nach politischer Mehrheit und Haushaltslage morgen wieder weg sein.“ In Frauenhäusern gebe es viel zu wenige Schutzplätze. In den Beratungsstellen müssten von Gewalt betroffene Frauen oft wochenlang auf Termine warten, nötig seien dreimal so viele Beratungskapazitäten wie aktuell vorhanden.

Grieger schätzte, dass lediglich jede zehnte Gewalttat gegen Frauen bei der Polizei angezeigt werde. Schon am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, hatte ein breites Bündnis einen Brandbrief an Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) übergeben.

Die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, Katja Mast, forderte die Union auf, das geplante Gewalthilfegesetz zu unterstützen. Mast sagte dem epd: „Das Gewalthilfegesetz zum Schutz von Frauen muss kommen. Friedrich Merz und die Union müssen jetzt Farbe bekennen.“ Es wäre ein fatales Zeichen, wenn nicht gehandelt werde, erklärte Mast angesichts der steigenden Zahlen von Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen: „Das Thema Gewalt gegen Frauen braucht gerade jetzt eine deutliche, auch politische Antwort.“

Die Fraktion der Linken im Bundestag erklärte, das Gesetz unterstützen zu wollen, forderte aber Nachbesserungen. Es brauche ein Sofortprogramm von mindestens 500 Millionen Euro, erklärte Linken-Vorsitzende Ines Schwerdtner. Zudem müsse der Aufenthalt in Frauenhäusern für Betroffene kostenlos werden.

Union müsste zustimmen

Die Bundesregierung will noch vor den Neuwahlen die künftige Finanzierung von Frauenhäusern in Deutschland neu regeln. Das Kabinett brachte am 27. November in Berlin den Entwurf von Paus für ein Gewalthilfegesetz auf den Weg. Danach soll ein individueller Rechtsanspruch auf Beratung und Hilfe eingeführt werden. Von 2027 an will der Bund in die Finanzierung einsteigen. In Deutschland fehlen Tausende von Frauenhausplätzen.

Die Union müsste dem Gesetzentwurf zustimmen, da die rot-grüne Regierung nach dem Ampel-Aus keine eigene Mehrheit mehr hat. Die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Silvia Breher (CDU) hat hingegen bereits mehrfach erklärt, sie halte es allein zeitlich nicht für machbar, das Gesetz bis zu den Neuwahlen durch Bundestag und Bundesrat zu bringen. Die Union will indes ebenfalls den Gewaltschutz verbessern und hat einen eigenen Antrag vorgelegt. Breher wirft der Koalition vor, das Gesetz nicht rechtzeitig zustande gebracht zu haben und nun die Opposition unter Druck setzen zu wollen.

Länder und Kommunen finanzieren Frauenhäuser je nach Bundesland zu unterschiedlichen Anteilen. Der Bund gibt Zuschüsse. Die gescheiterte Ampel-Koalition wollte mit dem Gewalthilfegesetz den Bund zur verlässlichen Mitfinanzierung der Frauenhäuser verpflichten. Es soll ein Rechtsanspruch auf Beratung und Schutz eingeführt werden. In der Folge müssten mehr Schutzplätze eingerichtet werden, Länder sollen dem Entwurf zufolge verpflichtet werden, ein ausreichendes Angebot an Schutzplätzen und Beratungsstellen bereitzuhalten. Dafür sollen bis einschließlich 2036 rund 2,6 Milliarden Euro an Bundesmitteln fließen.

Heute finanzieren Länder und Kommunen die Hilfen, der Bund gibt nur Zuschüsse. Für die Frauen und andere Betroffene sollen die Leistungen künftig kostenfrei sein. In den meisten Bundesländern müssen Frauen bisher für ihren Aufenthalt im Frauenhaus eine Zuzahlung leisten. Das Gesetz sieht außerdem mehr Beratungsangebote, Prävention und Aufklärung vor.

Appelle an Abgeordnete

UN Women Deutschland und der Deutsche Frauenrat forderten in dem Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Familienministerin Paus und Finanzminister Jörg Kukies (SPD), das Gewalthilfegesetz noch zu verabschieden. Es fehlten Tausende Frauenhausplätze, Beratungsstellen seien überlastet und die Wartezeiten unerträglich lang, schreiben die Initiatorinnen, die von zahlreichen Verbänden und Prominenten unterstützt werden.

Die Diakonie Deutschland appellierte an alle Abgeordneten, das Gewalthilfegesetz im Bundestag nicht zu blockieren. Vorständin Maria Loheide erklärte, nur mit einem bundeseinheitlichen Rechtsrahmen sei eine verlässliche Finanzierung der Frauenhäuser sicherzustellen. Zugleich müssten Ursachen der Gewalt gegen Frauen bekämpft werden.

Der Bundesgeschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie (eaf), Andreas Zieske, bezeichnete es als dramatisch, dass mit dem vorzeitigen Ende der Ampel-Koalition die Chancen auf eine Verbesserung des Gewaltschutzes geschwunden seien. Ähnlich äußerten sich die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd), der Deutsche Verein, in dem sämtliche Akteure in der Sozialpolitik und sozialen Arbeit organisiert sind, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, die auf die besonders schwierige Lage geflüchteter Frauen hinwies.

Der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) forderte alle politischen Entscheidungsträger auf, ein Gewalthilfegesetz zu verabschieden und häusliche Gewalt wirksam zu bekämpfen. AWO-Präsidentin Kathrin Sonnenholzner sagte, um diese Gewalt zu stoppen, müssten Schutz, Beratung und Intervention gestärkt werden. Außerdem sollten Anforderungen aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und der EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt erfüllt werden. „Deutschland ist in der Pflicht, seinen gesetzlichen und menschenrechtlichen Verpflichtungen dringend nachzukommen“, sagte Sonnenholzner.

Steigende Fallzahlen

Paus sagte nach dem Kabinettsbeschluss, das Gesetz sei ein wichtiger Schritt, um die Situation der Frauen zu verbessern. Die Zahlen zur Gewalt gegen Frauen und Mädchen seien dramatisch, wie das aktuelle Lagebild des Bundeskriminalamts gerade erst gezeigt habe. Zugleich hätten 15.000 Frauen allein im Jahr 2022 von Frauenhäusern abgewiesen werden müssen, weil die Plätze nicht reichen. Gemessen an internationalen Empfehlungen müssten die Kapazitäten eigentlich verdreifacht werden, erklärte Paus. Nicht nur Frauenhäuser haben zu wenige Plätze, auch Beratungsstellen beklagen lange Wartezeiten.

Dem Bundeskriminalamt zufolge nimmt die Gewalt gegen Frauen und Mädchen weiter zu. Im vergangenen Jahr stiegen im Vergleich zu 2022 die registrierten Sexualstraftaten um 6,2 Prozent und Fälle häuslicher Gewalt um 5,6 Prozent. Die Behörden registrierten 938 Tötungsversuche, 360 Frauen wurden umgebracht. Das ist ein Femizid an fast jedem Tag. In Frauenhäusern und Schutzwohnungen suchten rund 14.200 Frauen mit 16.000 Kindern Zuflucht.

Bettina Markmeyer


Kriminalität

Umfrage: Bundesländer haben zu wenige Frauenhaus-Plätze



Deutschland tut immer noch nicht genug, um Frauen und Kindern an sicheren Orten Zuflucht vor Gewalt von Partnern oder Ex-Partnern zu bieten. In allen Bundesländern gibt es weniger Schutzplätze als internationale Abkommen empfehlen.

Berlin (epd). In Deutschland gibt es überall zu wenige Plätze in Frauenhäusern. Das geht aus einer Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25. November) bei den Ministerien der Bundesländer hervor. Die Mehrheit der Länder stellt trotz teils erheblicher Fortschritte immer noch weniger als die Hälfte der Schutzplätze bereit, die für Deutschland empfohlen werden.

Nach dem Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) sollen Schutzplätze für Frauen und Kinder „in ausreichender Zahl“ zur Verfügung stehen. Für Deutschland, das sich verpflichtet hat, die Konvention umzusetzen, werden 2,5 Plätze für Frauen und Kinder auf 10.000 Einwohner empfohlen.

Besonders viele Plätze in Bremen

Die Quoten in den Bundesländern liegen indes nach Angaben der Ministerien und Berechnungen des epd zwischen 0,5 und rund 2,1 Schutzplätzen pro 10.000 Einwohner und Einwohnerinnen. Am unteren Ende sind Sachsen-Anhalt und das Saarland mit rund 0,6 Plätzen auf 10.000 Einwohner zu finden. Es folgen Bayern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen mit rund 0,7 bis 0,8 Plätzen.

Mecklenburg-Vorpommern stellt rechnerisch einen Platz für schutzsuchende Frauen und ihre Kinder pro 10.000 Einwohner bereit. Brandenburg, Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen liegen darüber, mit Quoten von knapp 1,2 bis 1,6 Plätzen. Das Land Bremen ist mit rund 2,1 Frauenhausplätzen pro 10.000 Einwohner ein Ausreißer. Mehrere Länder wollen die Zahl ihrer Schutzplätze weiter erhöhen, darunter Sachsen, Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen.

Die Platzzahlen pro 10.000 Einwohner geben keine Auskunft über die gesamte Hilfestruktur in einem Bundesland, etwa über Beratungsstellen, Übergangswohnungen, Gewaltprävention und Täterarbeit. Das Frauenministerium von Rheinland-Pfalz erklärte, man setze „nicht auf die Erfüllung von bloßen Zahlen, sondern auf gute Konzepte“. Ähnlich äußerten sich Hamburg, Baden-Württemberg und Hessen. Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt erarbeiten derzeit eine Strategie zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.

Unterschiedlich hohe Eigenbeiträge

Hilfesuchende Frauen müssen sich je nach Bundesland mit 8 bis 22 Euro pro Tag an den Kosten ihres Aufenthalts im Frauenhaus beteiligen. In Schleswig-Holstein, Hamburg, Berlin und Bremen werden keine Zuzahlungen verlangt. Thüringen will 2025 folgen, Sachsen-Anhalt setzt auf das Gewalthilfegesetz, um die Eigenbeteiligung von bis zu 15 Euro pro Tag abschaffen zu können. Angaben aus Sachsen (55 Prozent) und dem Saarland (79 Prozent) zeigen beispielhaft, dass in der Mehrzahl der Fälle die Kosten von Jobcentern oder Sozialämtern übernommen werden. Exakte Daten zur Kostenübernahme und Selbstzahlerinnen übermittelten die meisten Länder nicht.

Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) hatte keine Einigung mit Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) über die Finanzierung erzielen können. Im Gesetzentwurf sind für zehn Jahre von 2027 bis einschließlich 2036 rund 2,6 Milliarden Euro eingeplant, wie eine Ministeriumssprecherin dem epd bestätigte. Lindners Nachfolger Jörg Kukies (SPD) habe inzwischen Zustimmung signalisiert. Dass das Gesetz aber bis zu den Neuwahlen im Bundestag beraten und beschlossen wird, ist derzeit unwahrscheinlich.

Paus zufolge gibt es bundesweit rund 350 Frauenhäuser und 100 Schutzwohnungen. Dort suchten 2023 rund 14.200 Frauen mit 16.000 Kindern Zuflucht. Dem Bundeskriminalamt zufolge nimmt die Gewalt gegen Frauen zu. Im vergangenen Jahr wurden 360 Frauen umgebracht, das ist ein Femizid an fast jedem Tag.



Kriminalität

Mehrheit der Bevölkerung hält häusliche Gewalt für häufiges Problem



Berlin (epd). Knapp zwei Drittel der Bevölkerung halten häusliche Gewalt für ein alltägliches Phänomen. Das geht aus einer Umfrage im Auftrag des Bundesfamilienministeriums hervor, die das Ministerium am 27. November veröffentlichte. Unter Frauen ist der Anteil mit knapp 70 Prozent höher als unter Männern (57,5 Prozent). 39 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer beantworteten die Frage, ob aus ihrem Umfeld jemand Opfer häuslicher Gewalt geworden sei, mit Ja. Einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung für Gewaltopfer befürwortet mit 87 Prozent die große Mehrheit der Bevölkerung.

Für die repräsentative Meinungsumfrage befragte das Berliner Unternehmen Civey für digitale Meinungsforschung Anfang November 3.777 Personen ab 18 Jahren. Die Umfrage wurde vor der Veröffentlichung des Lagebilds des Bundeskriminalamts (BKA) zu häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt durchgeführt. Dem BKA zufolge sind bei nahezu allen registrierten Gewaltdelikten gegen Frauen und Mädchen deutliche Anstiege zu verzeichnen.




sozial-Politik

Migration

Arbeitsmarkt braucht Hunderttausende Zuwanderer




Ausbildungswerkstatt für junge Flüchtlinge
epd-bild/Matthias Rietschel
Deutschland benötigt einer Studie zufolge Jahr für Jahr knapp 290.000 Zuwanderer als Arbeitskräfte. Um Fachkräfte anzuziehen, brauche es aber auch eine Willkommenskultur, sagen Experten.

Gütersloh (epd). Um den Bedarf an Arbeitskräften in den kommenden Jahrzehnten zu decken, braucht Deutschland einer Studie zufolge bis 2040 jährlich rund 288.000 Zuwanderer. So viele internationale Arbeitskräfte seien nötig, um das Potenzial an Erwerbspersonen nicht einbrechen zu lassen, erklärte die Bertelsmann Stiftung am 26. November zur Vorstellung ihrer Untersuchung „Zuwanderung und Arbeitsmarkt“ in Gütersloh. Ohne eine Willkommenskultur und längerfristige Bleibeperspektiven würden interessierte Fachkräfte aus dem Ausland aber nicht kommen, warnte die Stiftung.

Die Studie rechnet den Angaben zufolge für 2040 mit einem Bedarf an 45,7 Millionen Arbeitskräften. Ohne Zuwanderung ginge die Zahl der Erwerbspersonen jedoch in diesem Zeitraum von aktuell 46,4 Millionen um zehn Prozent auf 41,9 Millionen zurück. Bis 2060 würde die Zahl ohne zusätzliche Einwanderer sogar um ein Viertel auf nur noch 35 Millionen sinken.

Inländisches Potenzial deckt Bedarf nicht

Die Bertelsmann-Migrationsexpertin Susanne Schultz sagte, der demografische Wandel erfordere auch Zuwanderung. Natürlich müsse vorrangig das inländische Arbeitskräftepotenzial von Einheimischen und bereits Zugewanderten entwickelt und die Beteiligung am Arbeitsmarkt erhöht werden, betonte sie. Der künftige Bedarf an Erwerbspersonen werde jedoch „damit allein nicht gedeckt werden können“.

Schultz wies darauf hin, dass das reformierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz neue Möglichkeiten für an Deutschland interessierte Arbeitskräfte biete. Ohne eine „ausgeprägte Willkommenskultur“ in Behörden, Unternehmen und Kommunen und die Aussicht auf einen längerfristigen Aufenthalt würden sie jedoch ausbleiben, erläuterte die Bertelsmann-Expertin.

Die einzelnen Bundesländer wären laut der Analyse von ausbleibender Zuwanderung sehr unterschiedlich betroffen. Besonders stark wäre der Rückgang an Arbeitskräften bis 2040 in Thüringen, Sachsen-Anhalt und im Saarland mit jeweils deutlich über zehn Prozent. Weniger ausgeprägt wäre das Minus mit Werten deutlich unter dieser Marke in Hamburg, Berlin oder Brandenburg.

Bedarf hängt von Strukturwandel ab

Der Bedarf an internationalen Arbeitskräften in den Ländern hänge auch von unterschiedlichen Auswirkungen des Strukturwandels ab, hieß es. Wo mehr Arbeitsplätze neu entstehen, als abgebaut werden, sei der Zuwanderungsbedarf höher. Dies gilt der Studie zufolge besonders für Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Berlin und Hamburg.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und die Hochschule Coburg haben die Studie nach Angaben der Bertelsmann Stiftung erstellt. Grundlage für die Berechnungen ist demnach eine Projektion des Arbeitskräftebedarfs durch das IAB und das Bundesinstitut für Berufsbildung.

Der Arbeitgeberverband Pflege forderte eine Beschleunigung der Verfahren bei der Einwanderung von Pflegekräften. Die Geschäftsführerin des Verbands Isabell Halletz sagte, erforderlich seien standardisierte Prozesse und verbindliche Fristen. „Beschleunigte Verfahren im Gesetzbuch bringen wenig, wenn das Personal zur Bearbeitung fehlt“, erklärte Halletz. Ein modernes Einwanderungsland braucht moderne Behörden. Dazu gehöre ein einfacher Einwanderungsprozess, bei der alle notwendigen Genehmigungen in einem Schritt beantragt werden können. Sie regte an, Künstliche Intelligenz zur Prüfung der Unterlagen einzusetzen.



Migration

Forscher fordert "Spurwechsel" für Asylbewerber




Jochen Oltmer
epd-bild/Michael Gründel
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer bemängelt die zu geringen Bleibemöglichkeiten für Asylbewerber, die sich hier ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Die Abschottungspolitik führe zur Ablehnung von Migration insgesamt.

Osnabrück (epd). Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück, fordert vor dem Hintergrund der drohenden Abschiebung von zehn kolumbianischen Pflegekräften aus dem Landkreis Rotenburg einen sogenannten „Spurwechsel“ aus dem Asylsystem in den Arbeitsmarkt. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht er sich dafür aus, dass Asylbewerber mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung künftig die Möglichkeit bekommen sollten, in Deutschland zu bleiben. Die betroffenen Kolumbianer hatten Asyl beantragt, wurden aber abgelehnt und sind jetzt ausreisepflichtig, falls nicht eine andere Möglichkeit gefunden wird. Ihr Pflegeheim hatte mitgeteilt, dass es ohne die Kolumbianer schließen müsse. Die Fragen stellte Martina Schwager.

epd sozial: Herr Professor Oltmer, es erscheint paradox, dass Deutschland Arbeitskräfte aus dem Ausland für viel Geld anwirbt, aber geeignete Migranten, die durch das Asylsystem fallen, abschiebt. Benötigen wir einen Spurwechsel aus dem Asylsystem in das System der Arbeitsmigration?

Jochen Oltmer: Ich denke schon, dass wir einen Spurwechsel benötigen. Menschen, die sich in einem Asylverfahren befinden, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und damit ihren Lebensunterhalt allein bestreiten können, sollten die Möglichkeit bekommen, in Deutschland zu bleiben. Das wird seit vielen Jahren diskutiert. Dennoch bleibt der Spurwechsel bis heute verboten, weil das Asylsystem auf Abschreckung ausgerichtet ist. Dahinter steht die Annahme, dass der Spurwechsel einen zusätzlichen Anreiz für Asyl-Einwanderung biete. Nachweisen lassen sich diese sogenannten Pull-Faktoren allerdings nicht.

epd: Welche Möglichkeiten gibt es, zum Arbeiten von außerhalb der EU nach Deutschland zu kommen?

Oltmer: Das wesentliche Instrument der Bundesregierung ist derzeit das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Allerdings können sich lediglich ausgebildete Fachkräfte über dieses Gesetz für eine Einwanderung bewerben. Die deutsche Wirtschaft beklagt aber nicht nur einen Fachkräftemangel, sondern auch einen allgemeinen Arbeitskräftemangel. Zunehmend werden auch Menschen gesucht, die nicht unbedingt über erhebliche Qualifikationen verfügen müssen. Das wird über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nicht aufgefangen. Lange Zeit wurde der Arbeitskräftemangel durch ungelernte Kräfte aus der EU aufgefangen, etwa aus Bulgarien oder Rumänien. Doch die Potenziale innerhalb der EU werden zunehmend geringer. Der demografische Wandel hat mittlerweile alle Staaten in der EU erfasst. Da besteht die Notwendigkeit, Menschen mit geringen Qualifikationen von außerhalb der EU zum Arbeiten nach Deutschland zu holen. Dieser Bereich ist bislang jedoch gänzlich ungeregelt.

epd: Welche Möglichkeiten haben denn Menschen wie die zehn Kolumbianer, trotz abgelehnter Asylanträge in Deutschland zu bleiben?

Oltmer: Es gibt in Deutschland das Instrument des Chancenaufenthaltsrechts, das einen Spurwechsel ermöglicht. Das ist aber nur auf Menschen beschränkt, die vor 2017 eingereist sind. Auch die sogenannte Ausbildungsduldung wäre eine Möglichkeit des Spurwechsels. Dafür muss aber eine Ausbildung begonnen worden sein. Auf die zehn Kolumbianer aus dem Landkreis Rotenburg trifft das jedoch nicht zu.

epd: Sind aus Ihrer Sicht Verträge, die Deutschland mit Nicht-EU-Staaten zur Gewinnung von Fachkräften schließt, ein sinnvolles Instrument der Arbeitsmigration?

Oltmer: Die Abkommen, die Deutschland zuletzt geschlossen hat, dienen meist zum einen der Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern. Sie sollen zum anderen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz begleiten und für den deutschen Arbeitsmarkt werben. Für die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber erhalten diese Staaten Gegenleistungen - etwa in Form von Geld oder Visumserleichterungen. Damit sollen sichere Wege der Migration geschaffen werden. Das ist sinnvoll. Problematisch wird es jedoch, wenn solche Abkommen mit autokratischen Machthabern geschlossen werden, wie es mit Marokko, Kirgisistan oder Usbekistan der Fall ist. Abgeschobene Personen landen dann häufig in Gefängnissen oder miserablen Verhältnissen. Bei anderen Ländern wie Indien, Philippinen oder Brasilien geht es im Wesentlichen um Fachkräfteeinwanderung.

epd: Hinterlassen die auswandernden ausgebildeten Fachkräfte nicht Lücken in ihren Herkunftsländern?

Oltmer: Die Verträge werden zwar mit souveränen Staaten geschlossen, dennoch existiert zwischen den Vertragspartnern oftmals ein Machtgefälle. Es sollte nicht zu einem Ausverkauf von Fachkräften kommen. Das gilt insbesondere für den Bereich von Pflegekräften und medizinischem Personal. Wir haben es weltweit mit einem Mangel an Pflegekräften und medizinischem Fachpersonal zu tun. Sinnvoll wären Verträge, in denen sichergestellt wird, dass die ausbildenden Gesellschaften ebenfalls profitieren. Mit Ausbildungspartnerschaften könnten sie beim Ausbau der Ausbildungskapazitäten unterstützt werden, damit sowohl Herkunfts- als auch Ankunftsgesellschaften genügend Fachkräfte erhalten.

epd: Wie wirkt sich die seit Monaten eher ablehnende Haltung gegenüber Asylbewerbern auf die Anwerbung von Arbeitskräften aus?

Oltmer: Mit der schroffen Abschottungspolitik gegenüber Asylbewerbern wurde eine Stimmung erzeugt, die zunehmend zu einer Ablehnung von Migration insgesamt führt. Das ist sehr problematisch in einer Gesellschaft, die von Migration geprägt und auf Migration angewiesen ist. Migranten, die zum Teil seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland leben, erleben diese Stimmung für ihre eigene Lage als bedrohlich. Das erschwert die Bemühungen, Fachkräfte aus anderen Ländern zu gewinnen. Untersuchungen belegen, dass in vielen Ländern genau darauf geschaut wird, wie es um die sogenannte Willkommenskultur in Deutschland steht.



Migration

Wege nach Deutschland



Berlin (epd). Deutschland benötigt Fach- und Arbeitskräfte aus dem Ausland, auch aus Nicht-EU-Staaten. Darin sind sich Politik und Wirtschaft einig. Die Bundesregierung hat die Wege in den deutschen Arbeitsmarkt 2023 erleichtert, allerdings bislang nur für Fachkräfte. Gering Qualifizierte und abgelehnte Asylbewerber haben kaum Chancen, in Deutschland Arbeit zu finden und eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten.

Wege aus Nicht-EU-Staaten in den deutschen Arbeitsmarkt: Durch das Mitte 2023 beschlossene Fachkräfteeinwanderungsgesetz können Fachkräfte mit Berufsausbildung und Personen mit berufspraktischen Kenntnissen leichter nach Deutschland einwandern. Es senkt etwa die Verdienstgrenze für die Blaue Karte EU und führt eine Chancenkarte mit Punktesystem ein. Voraussetzungen sind immer ein konkretes Jobangebot, eine nachweisbare qualifizierte Ausbildung und Deutschkenntnisse. Der Lebensunterhalt muss komplett selbst verdient werden, oder es muss ein Mindestgehalt nachgewiesen werden. Die Blaue Karte EU ist im Wesentlichen für Akademiker oder Hochqualifizierte wie etwa Handwerksmeister gedacht.

Die Chancenkarte ist ebenfalls für ausgebildete Fachkräfte oder Hochschulabsolventen gedacht. Sie dürfen sich zur Jobsuche mit einem entsprechenden Visum in Deutschland aufhalten, müssen aber bereits während der Suche ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Auch wenn ausländische Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden, können Bewerber ein Chancenkartenvisum erhalten. Sie müssen dafür bestimmte Kriterien erfüllen wie gehobene Sprachkenntnisse oder langjährige Berufserfahrung und bekommen dafür Punkte.

Auch zum Absolvieren einer Ausbildung können Nicht-EU-Bürger in Deutschland ein Visum beantragen. Dafür müssen sie einen Ausbildungsplatz und Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1 nachweisen. Zudem müssen sie ihren Lebensunterhalt sicherstellen.

Mit dem Visum beziehungsweise der Aufenthaltserlaubnis zur Ausbildungsplatzsuche können Nicht-EU-Bürger für bis zu neun Monate nach Deutschland einreisen, um sich vor Ort auf eine Ausbildungsstelle zu bewerben. Sie müssen auch in diesem Fall ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Zudem benötigen sie einen Schulabschluss, der zum Besuch einer Hochschule berechtigt, und Sprachkenntnisse auf dem Niveau B1.

Für Pflegehilfskräfte gibt es Sonderregelungen. Sie können eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, wenn sie ein konkretes Arbeitsplatzangebot in Deutschland vorlegen können.

Wege für abgelehnte Asylbewerber in den Arbeitsmarkt: Abgelehnte Asylsuchende können über eine Duldung für die Dauer der Ausbildung und eine sich anschließende Beschäftigung als Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhalten. Voraussetzung ist unter anderem, dass sie ihre Identität nachweisen können.

Das seit dem 31. Dezember 2022 geltende Chancenaufenthaltsrecht ermöglicht es abgelehnten Asylbewerbern mit einer Duldung, innerhalb von 18 Monaten eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erlangen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie seit mindestens Oktober 2017 in Deutschland leben, durchgängig mindestens geduldet waren und ihre Identität geklärt ist. Innerhalb der 18 Monate müssen sie mündliche Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2 und einen Job nachweisen, mit dem sie ihren Lebensunterhalt „überwiegend eigenständig“ verdienen.



Asyl

Schwangere: Mindeststandards in Flüchtlingsheimen fehlen



Berlin (epd). Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) hat die Unterbringung von Schwangeren und jungen Müttern in zwei Erstaufnahmeeinrichtungen in Süddeutschland untersucht. Dabei sei deutlich geworden, dass deren Unterbringung oft mangelhaft ist. Der Bericht zeige exemplarisch, womit die Frauen in den Einrichtungen konfrontiert sein können, „auch weil Angebote und Ausstattung für diese Gruppe nicht rechtlich verpflichtend sind“, heißt es in einer Mitteilung.

In der bisherigen Forschung stelle der Blick auf die Unterbringung von Schwangeren und jungen Müttern eine Lücke dar, hieß es. Für die Erhebung „Intersektionale Gewaltschutzbedarfe von Schwangeren und Müttern von Neugeborenen und Kleinkindern in Geflüchtetenunterkünften“ fanden 22 Interviews mit Betroffenen und Mitarbeitenden der Flüchtlingsheime statt. Antworten sollten auf folgende Fragen gefunden werden: Welche Herausforderungen lassen sich für schwangere Frauen und Mütter mit Neugeborenen und Kleinkindern in Geflüchtetenunterkünften identifizieren, welche Schutzbedarfe haben sie, und wie könnte der Schutz vor Gewalt für sie verbessert werden? Ziel war es, Mitarbeitende und Ehrenamtlichen in den Unterkünften dabei unterstützen, die intersektionalen Schutzbedarfe dieser Gruppe zu erkennen, um einen angemessenen Schutz vor Gewalt zu gewährleisten.

Fehlende Privatsphäre, mangelnde Hygiene

Kritisiert wird vom DeZIM etwa, dass es in den untersuchten Unterkünften kaum Privatsphäre gibt und es oft an Hygiene mangelt: So fehlten Still- und Wickelräume und zum Teil müssten Dusch- und Toilettenräume gemeinsam genutzt werden. Auch fehle oft die nötige Ausstattung, etwa um selbstständig (Baby-)Mahlzeiten zuzubereiten. Weiterer Kritikpunkt: Es gibt keinen oder nur einen erschwerten Zugang zu medizinischer, gynäkologischer Versorgung und sozialpsychischer Unterstützung.

„Obwohl schwangere Frauen und Mütter mit Neugeborenen und Kleinkindern als besonders schutzbedürftig gelten, ist der Gewaltschutz für sie in den untersuchten Erstaufnahmeeinrichtungen uneinheitlich und fragmentiert“, heißt es im Fazit der Studie. Ferner fehle oft der Blick für die intersektionale und potenziell sehr vulnerablen Situationen einzelner Frauen. Diese würden angesichts ihrer besonderen Vulnerabilität in der Umsetzung der Mindeststandards häufig nicht adressiert.

Die Autorinnen und Autoren sprechen sich dafür aus, psychosoziale und medizinische Angebote (zum Beispiel Hebammen) am besten innerhalb der Unterkunft mit (unabhängiger) Sprachmittlung bereitzustellen. „Ebenso sollten räumliche Schutzbedarfe, wie der Bedarf nach Räumen mit Privatsphäre (beispielsweise zum Stillen), anerkannt werden. Angesichts der Vulnerabilität von Schwangeren und Müttern von Neugeborenen und Kleinkindern in Erstaufnahmeeinrichtungen ist Handeln gefordert.“



Kinder

Expertin: Mehr tun gegen ungleiche Bildungschancen




Marisa Neher
epd-bild/Marisa Neher
Mit dem Thema "Arme Eltern, schlechte Chancen" befasst sich die Beraterin für schulische Ganztagsfragen, Ganztags-Referentin Marisa Neher bei der Evangelischen Jugendsozialarbeit Bayern. Im Interview mit epd sozial erläutert sie bestehende Probleme und Lösungswege.

Nürnberg (epd). „Eine der größten Schnittstellen, an der Ungleichheit im Bildungssystem entsteht, ist der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule“, sagt Marisa Neher. Weil das so ist, müsse man die Übertrittsempfehlungen hinterfragen, die oft „von Subjektivität geleitet werden“. Die Fragen stellte Jutta Olschewski.

epd sozial: Frau Neher, wo spielen regionale und soziale Herkunft eine wichtige Rolle in der Bildungsbiografie?

Marisa Neher: Das zieht sich durch die ganze Bildungsbiografie - von Anfang bis Ende. Beim Eintritt in die Grundschule haben Kinder ganz unterschiedliche Voraussetzungen in puncto Sprache oder bei den Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern. Akademikereltern können eher bei einer Mathefrage helfen als vielleicht Eltern, die gar nicht zu Hause sind, weil sie arbeiten müssen oder die Mathefragen nicht beantworten können, weil sie in einem anderen Bildungssystem sozialisiert wurden. Eine der größten Schnittstellen, an der Ungleichheit im Bildungssystem entsteht, ist der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. Es ist erschreckend, dass bei gleicher Leistung Kinder von Nichtakademikereltern eine Empfehlung für die Realschule bekommen und Kinder von Akademikereltern für das Gymnasium. Das haben etliche Studien belegt.

epd: Woran liegt das?

Neher: Es spielt zunächst eine Rolle, dass Lehrerinnen und Lehrer selbst Vorurteile und subjektive Vorannahmen haben. Sie glauben, diese Kinder können vom Elternhaus nicht unterstützt werden, wenn es mal schwieriger wird. Sie denken, vielleicht ist das Kind überfordert und eine leichtere Schule wäre für das Kind besser. Ein wichtiger Punkt ist, dass Akademikereltern in der Schule präsenter sind: Sie sind im Elternbeirat, kommen zu den Elternsprechabenden, holen die Kinder ab und bringen sich engagiert beim Weihnachtsbasar ein. Zu anderen Eltern haben Lehrkräfte keinen Bezug und können nicht einschätzen, ob diese die Kinder unterstützen.

epd: Wie könnte man dieses Problem angehen?

Neher: Man muss diese Übertrittempfehlungen hinterfragen. Es kann nicht sein, dass sie von Subjektivität geleitet werden. Man könnte beispielsweise Psychologen in die Schule einladen, die die sozio-emotionale Entwicklung der Kinder bewerten und mit einem objektiven Leistungstest die schulischen Kenntnisse und Fähigkeiten abfragen.

epd: Welche Vorschläge hätten Sie noch, damit sich die Startbedingungen für Kinder aus ärmeren Familien an die anderer angleichen ließen?

Neher: Man muss bereits vor der Schulzeit anfangen, in Kita und Kindergarten sehr gehaltvoll zu betreuen und zu bilden. Natürlich wird das heute von vielen Fachkräften gemacht, die da Tolles bewirken. Aber in Finnland bekommen sie es gut hin, dass die Kinder mit ziemlich gleichen Voraussetzungen und Vorwissen in das Schulsystem hinübergehen. Es wäre schön, wenn man in Deutschland auch schon in diesem Alter anknüpfen würde. Denn mit der frühkindlichen Bildung gibt es viele Möglichkeiten, der Chancenungleichheit im weiteren Leben entgegenzutreten. Ich wundere mich sehr, dass die Politik da so wenig unternimmt.

epd: Sie selbst sind ja für die Organisation der schulischen Ganztagsbetreuung bei der Evangelischen Jugendsozialarbeit zuständig. Welche Rolle spielt der Ganztag für die soziale Bildungsgerechtigkeit?

Neher: Der Ganztag bietet den Kindern zunächst Freizeitangebote, zum Beispiel Sport oder Musikunterricht, die Kinder aus nicht so wohlhabenderen Familien oft nicht hätten. Eine Mitgliedschaft im Fußballverein oder Klavierstunden sind teuer. Kindern, die nicht die Muttersprache Deutsch haben, bekommen Hilfe bei Hausaufgaben, für die im Elternhaus die Möglichkeit oft nicht vorhanden ist. Wenn die Kinder acht Stunden am Tag betreut sind, ein Essen bekommen und spielen können, entlastet das die Eltern, die beide Vollzeit arbeiten oder alleinerziehend sind, dann am Abend mit ihren Kindern etwas unternehmen können und ihre Kinder in guter Betreuung wissen.



Kinder

Studien belegen herkunftsbedingte Bildungsunterschiede



Dass sowohl der soziale als auch der Migrationshintergrund den Schulerfolg beeinflussen, gilt als gesichert. Zwei Studien bekräftigen diese Ergebnisse erneut und gehen den tieferen Ursachen nach.

Düsseldorf, Berlin (epd). Zwei am 27. November veröffentlichte Studien bekräftigen die entscheidende Rolle der sozialen Herkunft über den Bildungserfolg. Die Metastudie „Woher und Wohin 2024“ stelle die zentralen Befunde zahlreicher Untersuchungen zu Schulleistungen mit Fokus auf die herkunftsbedingten Unterschiede umfassend dar, teilte die Wübben Stiftung Bildung in Düsseldorf mit. Einer Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung bekommen Kinder mit deutscher Saatsangehörigkeit mehr Hilfe für die Schule als Kinder ausländischem Pass.

In die Metastudie „Woher und Wohin 2024“ flossen den Angaben zufolge vier nationale und fünf internationale Studien in mehreren Auflagen ein, darunter die Iglu- und die Pisa-Studien. Laut der Expertise sind die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern aus sozial benachteiligten Familien über die gesamte Bildungsbiografie hinweg eingeschränkt. Schon vor dem Schuleintritt zeigten sich signifikant bessere Leistungen bei Schülerinnen und Schülern aus privilegierten Familien.

Benachteiligung in vier Dimensionen

Die Benachteiligung für Schüler aus unteren Schichten zeigt sich der Metastudie zufolge in vier Dimensionen. Die primären Herkunftseffekte seien tatsächliche Leistungsunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Sekundäre Herkunftseffekte seien die Entscheidungen der Eltern zum Übergang auf eine weiterführende Schule. Ungleiche Leistungsbewertungen durch Lehrkräfte seien die tertiären Effekte, während die unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsmilieus von Schulen in privilegierten und sozial benachteiligten Lagen quartäre Herkunftseffekte darstellten.

Die Metastudie empfiehlt unter anderem, systematisch gegen schulisches Versagen vorzugehen. Dazu gehöre die Frühförderung im Vorschulbereich, die Sprachförderung sowohl nichtdeutscher als auch deutscher Schülerinnen und Schüler mit Sprachdefiziten sowie weitere Wege zum Erwerb eines nachträglichen Schulabschlusses. Das gegliederte Schulsystem in Deutschland sei Schulformen anderer Ländern in puncto Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit unterlegen, in denen im gleichen Setting individuelle Bildungswege möglich sind. Es brauche daher ein inklusives Schulsystem und Schulformen mit mehreren Bildungsgängen. Schulen in besonders benachteiligten Lagen sollten besonders gefördert werden, etwa durch eine Mittelzuweisung, die auf einem Sozialindex basiert.

Herkunftsbedingte Unterschiede beim Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologie seien zu vermindern, dabei solle der Fokus besonders auf Schülerinnen und Schüler mit schwachen Kompetenzen in diesem Bereich liegen, hieß es weiter. Vor allem an nicht-gymnasialen Schulformen müssten politische Basiskompetenzen gefördert werden.

Gründe für Effekt der Staatsbürgerschaft unklar

Bei Kindern mit Migrationshintergrund hat der Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zufolge der deutsche Pass Einfluss auf deren Bildungserfolg. Zugewanderte Mütter, deren Kinder seit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, unterstützen diese demnach intensiver in schulischen Belangen. Die Studie könne das auf den bloßen Effekt der Staatsbürgerschaft zurückführen. Der Effekt wirke sich langfristig auf die Schulabschlüsse aus. Kinder aus zugewanderten Familien mit deutschem Pass machen der Studie zufolge mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Abitur.

Die Studienautorinnen um die Bevölkerungsökonomin C. Katharina Spieß haben für die Untersuchung die Auswirkungen der im Jahr 2000 in Kraft getretenen Staatsangehörigkeitsreform betrachtet. Seitdem ist es unter bestimmten Voraussetzungen möglich, dass in Deutschland geborene Kinder von Eltern ohne deutschen Pass selbst die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können. Die Studie vergleicht vier Gruppen: Kinder, die im Jahr vor und nach der Reform geboren sind, sowie Kinder aus Familien mit und ohne Migrationshintergrund. Dadurch könne der Effekt der Staatsbürgerschaft isoliert werden. Analysiert wurden für die Studie Daten unter anderem aus dem Mikrozensus und dem nationalen Bildungspanel.

Die formale Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft mache einen Unterschied beim Bildungserfolg, resümieren die Autorinnen. Über die Gründe für den Effekt der Staatsbürgerschaft könne man nur spekulieren, sagte Studien-Co-Autorin Elena Ziege. Mütter erwarteten mit Erwerb der Staatsbürgerschaft für ihre Kinder vermutlich bessere Perspektiven am Arbeitsmarkt, sagte sie. Sie sähen einen höheren Nutzen von Bildungserfolgen für ihre Kinder, heißt es dazu in der Studie.

Nils Sandrisser, Corinna Buschow



sozial-Branche

Arbeit

Wiedereinstieg ins Berufsleben über Pflegekurs




Andrea Kartal (li.) und Tatiana Baier (re.) im Pflegeheim Elisabeth in Dudweiler
epd-bild/Jörg Fischer
Der Bedarf an Altenpflegern und -pflegerinnen ist groß. Bundesweit gibt es Kurse für Langzeitarbeitslose und Zuwanderer zum Einstieg in die Pflege - auch bei der Diakonie Saar. Bisher ist das offenbar erfolgreich.

Saarbrücken (epd). Andrea Kartal und Tatiana Baier haben offenbar ihre Berufung gefunden. Die langzeitarbeitslose Saarbrückerin und die aus Turkmenistan stammende Frau arbeiten jetzt im Senioren- und Pflegeheim Elisabeth in Dudweiler bei Saarbrücken. „Ich bin glücklich“, sagt Kartal. „Endlich bin ich nicht mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen.“ Beide betreuen als Pflegehelferinnen vorwiegend ältere Menschen, betten und waschen die Heiminsassen, begleiten sie zum Essen oder spielen mit ihnen, wie etwa mit Elisabeth Hensel und Egon Schütz, zwei von rund 100 Bewohnern des Heims.

Mehr als sechs Jahre lang pflegte die heute 50-jährige Kartal ihre alte und demente Mutter zu Hause. Sie hielt sich mit Taxifahren in der Nachtschicht über Wasser. „Davon allein konnte ich aber nicht leben“, betont sie. Nach dem Tod ihrer Mutter fiel ihr der Wiedereinstieg ins Berufsleben schwer. Dann hörte sie von dem viermonatigen Basiskurs Altenpflege „Alba“ der Diakonie Saar. Teilnehmende lernen dort pflegerisches Fachwissen, haben drei Tage in der Woche Theorieunterricht und zwei Tage Fachpraxis.

Im Kurs dazugelernt

Für Kartal war das genau das Richtige, schließlich hatte sie schon ihre Mutter gepflegt. „In dem Kurs lernte ich sehr viel dazu und merkte erst, was ich bei der Pflege meiner Mutter alles falsch gemacht habe“, erzählt sie.

Bei ihrer heutigen Kollegin, Tatiana Baier, war das ähnlich, aber ihr Lebensweg anders. Sie kam vor gut sechs Jahren mit ihrem Ehemann nach Deutschland. In ihrer Heimat hatte die gelernte Hotelfachfrau schon einige Jahre als Krankenschwester gearbeitet. In ihr reifte der Plan, OP-Schwester zu werden. Sie absolvierte den Diakonie-Kurs „Impuls“, in dem Zuwanderer ihre Deutschkenntnisse vertiefen können und der darauf abzielt, die Voraussetzung für eine weitere berufliche Qualifizierung zu bekommen, etwa zur Ausbildung zur Pflegeassistentin.

Nach dem Kurs gab Baier ihren ursprünglichen Plan auf, OP-Schwester zu werden, und stieg direkt als Pflegehelferin in den Beruf ein. „Mit 44 Jahren wollte ich gleich mein eigenes Geld verdienen“, sagt sie. Eine Pflegehelferin verdient durchschnittlich 2.800 Euro brutto im Monat, berichtet die stellvertretende Heimleiterin, Jennifer Schmidt, die die beiden Frauen eingestellt hat.

Suche nach Pflegepersonal wird noch schwieriger werden

Darüber, wie viele Pflegekräfte in Deutschland fehlen, gibt es unterschiedliche Angaben. Einig sind sich aber alle Experten, dass der Pflegenotstand in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. Bei den Arbeitsämtern waren nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit 2023 rund 35.000 offene Stellen in der Pflege gemeldet, darunter 22.000 Pflegefachkräfte und 10.000 Pflegehelfer. Altenheime dürfen nach Angaben Schmidts 50 Prozent qualifizierte Fachkräfte und 50 Prozent Helfer einsetzen.

Grundsätzlich begrüßt das Bundesgesundheitsministerium auch die Ausbildung von Pflegehelfern in Kursen wie von der Diakonie Saar. Dafür seien aber die einzelnen Länder zuständig. Eine Übersicht für Deutschland oder wenigstens für das vergleichsweise kleine Saarland gibt es aber offenbar nicht.

Die Kurse der Diakonie sind bisher erfolgreich. „Bisher konnten wir noch jeden Absolventen weitervermitteln“, betont Kati Schiweck-Dörr von der Diakonie. Die Diakonie Saar bietet auch noch einen Kurs mit Namen „Haba“ für Haushaltshilfen an, der auf die Betreuung von Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden abzielt.

Bildungsgutschein nicht immer leicht zu bekommen

Voraussetzung für alle Kurse ist neben dem Interesse an dem Beruf und guten Deutschkenntnissen vor allem ein Bildungsgutschein vom Arbeitsamt oder Jobcenter. Der ist nicht immer leicht zu bekommen. So hatte die Diakonie kurz vor dem Start des jüngsten „Alba“-Kurses Anfang November zwar genug Interessenten, aber dennoch war der Kurs noch nicht voll, weil Bildungsgutscheine fehlten.

Dabei scheint es so, als wenn mit solchen Kursen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden können: die Integration von Langzeitarbeitslosen und Zuwanderern in den Arbeitsmarkt und die Verringerung des Pflegenotstands. Die für „Alba“ zuständige Sozialarbeiterin Schiweck-Dörr meint mit Blick auf Andrea Kartal und Tatiana Baier: „Von solchen Menschen möchte man auch mal im Alter gepflegt werden.“

Jörg Fischer


Fundraising

Leichte Steigerung bei Spenden




Gespendetes Geld
epd-bild/Norbert Neetz
Trotz Krisen spenden die Deutschen wieder mehr als im Vorjahr. Allerdings geht die Zahl der Spender zurück. Für Organisationen, die auf Spenden angewiesen sind, ist das eine Herausforderung.

Berlin (epd). Der Deutsche Spendenrat erwartet für dieses Jahr eine leichte Steigerung der Spendeneinnahmen um etwas mehr als zwei Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei Fortsetzung des Trends der ersten neun Monate würden bis zum Jahresende Spenden von insgesamt 5,091 Milliarden Euro erwartet, teilte der Spendenrat am 25. November in Berlin mit. Der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Spendenrats, Ulrich Pohl, erklärte, trotz wirtschaftlicher Herausforderungen zeigten die Deutschen eine beeindruckende Solidarität und ein hohes Maß an Gemeinsinn.

So hätten Privatpersonen bereits in den ersten neun Monaten des Jahres insgesamt 3,2 Milliarden Euro gespendet. Dies deute auf eine leichte, aber spürbare Erholung des Spendenmarkts hin. Pohl ist auch Vorsitzender des Vorstands und Anstaltsleiter der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.

Neuer Höchstwert

Die durchschnittliche Spende liegt derzeit demnach bei 38 Euro. Dies sei ein Euro mehr als im Vergleichszeitraum 2023. Im Durchschnitt spendeten die Menschen in Deutschland mehr als sechsmal pro Jahr. Dies sei ein neuer Höchstwert, der den stetigen Spendenwillen der Bevölkerung betone.

Bemerkenswert sei dabei die Zunahme der Spendeneinnahmen durch jüngere Altersgruppen. So verzeichnete die Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen einen Zuwachs von 24 Prozent bei den Spenden. Die Generation 60plus stellt weiterhin mit fast zwei Dritteln (59 Prozent) des gesamten Spendenvolumens die größte Gebergruppe. Dabei stiegen die Spenden in der Gruppe 70plus um drei Prozent, während sie in der Altersgruppe 60 bis 69 Jahren um elf Prozent zurückgingen.

Martin Wulff, Geschäftsführer des Deutschen Spendenrats, erklärte: „Der wachsende Beitrag jüngerer Generationen zum Spendenmarkt ist ein äußerst positives Zeichen und unterstreicht den Wertewandel hin zu mehr sozialem Engagement.“ Allerdings sei die Zahl der Spender insgesamt um 800.000 Personen im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Der Rückgang betreffe alle Altersgruppen. Derzeit würden 20 Prozent der Bevölkerung wenigstens einmal im Jahr spenden. Hier sei es nötig, „die Spenderbindung zu stärken und neue Zielgruppen zu gewinnen“.

Bedarf der humanitären Hilfe besonders groß

Besonders in der humanitären Hilfe seien die Herausforderungen groß, hieß es weiter. Die Spenden für humanitäre Zwecke stünden mit minus 43 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahreszeitraum unter Druck, machten aber mit 2,387 Milliarden Euro immer noch einen wesentlichen Bestandteil des Spendenmarktes aus. Im Gegensatz dazu verzeichneten nicht-humanitäre Zwecke, wie beispielsweise Projekte im Bereich Bildung, Kultur und Umwelt, einen Anstieg der Spendeneinnahmen von rund 100 Millionen Euro auf 830 Millionen Euro. Auch für „Kirche/Religion“ wurden nach Jahren des Rückgangs in diesem Jahr wieder steigende Spenden festgestellt.

Die „Bilanz des Helfens - Trends und Prognosen“ wird im Auftrag des Spendenrates von YouGov erstellt. Sie beruht auf einer repräsentativen, monatlichen Erhebung unter 10.000 privaten Verbrauchern in Deutschland. Nicht enthalten sind Erbschaften, Unternehmensspenden, Spenden an politische Parteien sowie Großspenden von mehr als 2.500 Euro. Der Deutsche Spendenrat ist ein Dachverband von 74 spendensammelnden Organisationen.



Medien

Innenstädte werden unattraktiver für Verkauf von Straßenmagazinen



Nürnberg (epd). Für Straßenmagazine wird es schwieriger, ihre Hefte in Innenstädten unter die Leute zu bringen. Es gebe immer mehr Leerstand in den Einkaufsmeilen, sagte Alisa Müller, Chefredakteurin des Nürnberger Sozialmagazins „Straßenkreuzer“, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Doch seien die Verkäuferinnen und Verkäufer darauf angewiesen, an Orten zu stehen, wo Menschen sind. „Viele wollen inzwischen lieber vor Supermärkten in anderen Stadtteilen verkaufen“, sagte Müller.

Der Vorteil von Straßenzeitungen sei, dass man mobil ist und die Verkaufsorte anpassen kann. Dass ihre Leute eher aus den Innenstädten weggehen, sei ein Symptom der aktuellen Entwicklung, aber kein großes Problem. Wichtig neben dem Standort sei die Verlässlichkeit der Verkäuferinnen und Verkäufer. „So gewöhnen sich die Leute, die regelmäßig dort vorbeikommen, an die Menschen, und es entsteht eine Art persönliche Beziehung“, sagte Müller.

Verkaufszahlen sinken

Dennoch sinken die Verkaufszahlen des seit 30 Jahren erscheinenden „Straßenkreuzers“ in Nürnberg seit einigen Jahren. „Dabei spielen aber eher die gestiegenen Preise eine Rolle“, sagte die Chefredakteurin. Wegen der Inflation und hoher Papierpreise hat das Magazin seinen Verkaufspreis angehoben auf derzeit 2,70 Euro. „Viele Menschen spüren im Moment auch eine allgemeine Verunsicherung, mit den ganzen Krisen.“ Deswegen sitze das Geld oft nicht mehr so locker.

Der „Straßenkreuzer“ erscheint nach eigenen Angaben elfmal im Jahr mit jeweils 12.000 bis 18.000 Exemplaren.

Julia Riese


Flüchtlinge

Projekt NIFA plus: Hilfe bei der Integration in Ausbildung oder Arbeit



Stuttgart (epd). Die Zwischenbilanz nach zwei Projektjahren von „NIFA plus: Netzwerk zur beruflichen Teilhabe von Geflüchteten“ in Baden-Württemberg fällt positiv aus: Rund 880 Flüchtlinge konnten beraten und davon 25 Prozent (220 Personen) in Arbeit, Ausbildung oder Schule vermittelt werden, heißt es in einer Mitteilung des Paritätischen. Das Netzwerk zur beruflichen Teilhabe von Geflüchteten hat die Teilnehmenden vor allem in Dienstleistungsbranchen wie Friseurgewerbe, Steuergewerbe, produzierendes Gewerbe, aber auch in das Gesundheits- oder Sozialwesen vermittelt.

„Ein wesentlicher Grund für den Erfolg ist die ganzheitliche, stufenweise und langfristige Beratung und Begleitung von Geflüchteten und Betrieben auch noch nach der Aufnahme der Beschäftigung“, sagte Lea Engisch, Projektkoordinatorin NIFA plus bei der Werkstatt PARITÄT. So könne Abbrüchen vorgebeugt und eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration mit Bleibeperspektive gefördert werden.

Insgesamt hohe Nachfrage

Insgesamt bestehe eine sehr hohe Nachfrage bei der Beratung zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten sowohl seitens der Geflüchteten selbst, aber auch auf Seiten der Arbeitgebenden, der öffentlichen Verwaltung, der Beratungsstellen und auch der Flüchtlingshilfe. „Das begründet sich vor allem in der komplexen Rechtslage beim Zugang zum Arbeitsmarkt und entsprechenden Förderinstrumenten. Hinzukommen vielerlei strukturelle Herausforderungen, wie die Überlastung der Behörden, fehlende Sprachkursplätze und Kinderbetreuungsangebote, die leider eher zunehmen als weniger werden“, erläuterte Engisch.

Mittels der überregionalen Fachberatungsstelle NIFA plus konnten den Angaben nach außerdem 570 Arbeitgebende und Multiplikatoren geschult sowie knapp 160 Fachberatungen für Arbeitgebende, (Arbeits-)Verwaltung, Sozialarbeitende und Ehrenamtliche angeboten werden. Beraten und unterstützt wurden die Projekt-Teilnehmenden bei der Berufswegeplanung, der Berufsorientierung und zu Praktika sowie bei sprachlichen Qualifizierung, der Anerkennung von Bildungsabschlüssen und beruflichen Qualifikationen.

Unterbesetzung in Verwaltungen

„Als eine der aktuell größten Schwierigkeiten sehen wir die “Verwaltungskrise„ an, die durch Unterbesetzung und bürokratische Abläufe beispielsweise in der Ausländerbehörde dazu führt, dass Menschen aufgrund monatelang dauernder Arbeitserlaubnisverfahren im Sozialleistungsbezug verharren, weil sie keine Beschäftigung aufnehmen und im Ergebnis auch nicht in die Sozialkassen einzahlen können“, sagte Julie Leube, Projektmitarbeiterin NIFA plus - Netzwerk zur beruflichen Teilhabe von Geflüchteten bei der Arbeitsgemeinschaft für die eine Welt in Stuttgart. Erschwerend komme hinzu, dass viele geflüchtete Menschen eine Wohnsitzauflage haben, sodass sie nicht in Regionen ziehen könnten, in denen Wohnraum zur Verfügung stehe.

Das Projekt „NIFA plus: Netzwerk zur beruflichen Teilhabe von Geflüchteten“ wird im Rahmen des Programms „WIR - Netzwerke integrieren Geflüchtete in den regionalen Arbeitsmarkt“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die Europäische Union über den Europäischen Sozialfonds Plus (ESF Plus) bis 2026 gefördert. Projektträger ist die Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH, eine 100-prozentige Tochter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg. Es gibt neun Teilprojektpartner aus den verschiedenen Bereichen der Flüchtlingsarbeit.



Kinder

Themenheft zeigt Wege aus der Kita-Krise



Berlin (epd). Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat ein Themenheft veröffentlicht, das das Kita-System auf den Prüfstand stellt und Lösungswege aufzeigt. Es trägt den Titel „Kita: Herausforderungen jenseits der Kinderbetreuung“ und ist in der Reihe Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit erschienen.

„Kita-Streiks sind der jüngste Höhepunkt einer Kita-Krise. Im Fokus steht nicht nur die Zahl der Kita-Plätze, sondern auch die Qualität des Angebots: Kindertageseinrichtungen sollen die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie erleichtern, Bildungschancen eröffnen, Inklusion verwirklichen, Demokratie fördern und eine hochwertige pädagogische Betreuung bieten“, sagte Verena Staats, Vorständin des Deutschen Vereins. „Das war uns Anlass, Fachleute aus Wissenschaft und Praxis die Aufgaben der Kindertagesbetreuung grundsätzlich diskutieren zu lassen.“

Vor dem Hintergrund aktueller fachpolitischer Diskurse und auf Grundlage aktueller Studien werden in dem Themenheft „notwendige Fachkompetenzen, pädagogische Konzepte, die Verantwortung der Träger sowie die rechtliche Verankerung und Finanzierung der Kindertagesbetreuung erörtert“. Anhand von Praxisberichten würden zudem Handlungsmöglichkeiten von Kitas ausgelotet und zielführende Lösungsansätze vorgestellt, so der Verein.



Behinderung

Landesamt startete weiteres Prüfverfahren wegen Kreuznacher Diakonie



Mainz, Bad Kreuznach (epd). Nach Beschwerden über Missstände bei der Betreuung von Menschen mit Behinderung in einer Mainzer Einrichtung der Kreuznacher Diakonie hat das rheinland-pfälzische Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung (LSJV) ein offizielles Prüfverfahren eingeleitet. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass die Stiftung Kreuznacher Diakonie ihre „vertraglichen oder gesetzlichen Pflichten nicht erfüllt“, teilte eine Behördensprecherin am 22. November auf Nachfrage dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit.

Bei der Betreuung der Menschen mit Behinderung gebe es Mängel, etwa bei der Hilfe zur Körperpflege, die vernachlässigt werde. Zudem hätten Beschäftigte für sogenannte Einzelfallbetreuungen Arbeitsstunden abrechnen lassen, die gar nicht geleistet worden seien. Bereits Ende September habe ein dreistündiges Treffen zwischen den Beschwerdeführern und dem LSJV stattgefunden, teilte das Landesamt mit. Die Angehörigen hätten dabei auch ausführlich die von ihnen wahrgenommenen Probleme bei der Kommunikation mit der Einrichtung geschildert. Im Oktober hätten Vertreter des LSJV dann die Einrichtung besucht und die Mitarbeiter „zu einer gelingenden Kommunikation mit Angehörigen im Allgemeinen“ beraten.

Anderes Verfahren läuft bereits

Bereits seit dem Frühjahr läuft ein weiteres Prüfverfahren, nachdem der rheinland-pfälzische Landesrechnungshof den Verdacht geäußert hatte, dass das Land Rheinland-Pfalz der Kreuznacher Diakonie womöglich unverhältnismäßig viel Geld für die Arbeit ihrer Behindertenwerkstätten überweist. Erlöse aus der Behindertenhilfe könnten womöglich in den defizitären Krankenhausbetrieb des Sozialunternehmens umgeleitet worden sein, was unzulässig wäre.

Die Kreuznacher Diakonie hatte damals davon gesprochen, Grund für die Kritik seien missverständliche Interview-Äußerungen gewesen, tatsächlich finde ein Verlustausgleich nicht statt. Ein Ergebnis der Prüfung steht noch aus. Zur Klärung des Sachverhalts müssten umfangreiche Unterlagen ausgewertet werden, hieß es dazu im LSJV. Zu den neuen Vorwürfen hinsichtlich der Betreuungsmängel war auf Nachfrage zunächst kein Kommentar von der Kreuznacher Diakonie zu erhalten.




sozial-Recht

Bundesverfassungsgericht

Zwangsbehandlung außerhalb von Kliniken möglich




Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
epd-bild/Joerg Donecker
Gesetzliche Regelungen, die ärztliche Zwangsbehandlungen ausschließlich in einer Klinik vorsehen, sind teilweise verfassungswidrig, urteilte das Bundesverfassungsgericht.

Karlsruhe (epd). Die ärztliche Zwangsbehandlung eines unter Betreuung stehenden kranken oder behinderten Menschen muss ausnahmsweise auch in dessen Wohnumfeld möglich sein. Die gesetzliche Regelung, wonach eine medizinisch notwendige Zwangsbehandlung zwingend in einer Klinik erfolgen muss, verstößt gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und ist teilweise verfassungswidrig, urteilte am 26. November das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Der Gesetzgeber muss nun bis zum 31. Dezember 2026 eine verfassungsgemäße Neuregelung schaffen. Bis dahin gilt das bisherige Recht weiter.

Entscheidungen zur Gesundheit grundsätzlich frei

Die Karlsruher Richter hatten sich in der Vergangenheit bereits mehrfach zu den Voraussetzungen einer ärztlichen Zwangsbehandlung geäußert. So hatte das Bundesverfassungsgericht am 26. Juli 2016 klargestellt, dass grundsätzlich jeder Mensch über seine Gesundheit nach eigenem Gutdünken entscheiden dürfe. Allerdings greife für Personen, die „selbst zu ihrem Schutz nicht in der Lage sind, eine staatliche Schutzpflicht“. Bei solchen hilfsbedürftigen und nicht einsichtsfähigen Patienten müsse eine medizinische Behandlung auch gegen ihren geäußerten Willen möglich sein.

Der Gesetzgeber hatte schließlich bestimmt, dass „die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus (…) durchgeführt wird“. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Notwendigkeit des Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit bei einwilligungsunfähigen Patienten auch tatsächlich gegeben ist. In Krankenhäusern könnten multiprofessionelle Teams dies besser überprüfen.

Mit Beschluss vom 2. November 2021 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Zwangsmaßnahmen auf das für den Betreuten notwendige Maß zu beschränken sind. Offengelassen hatten die Karlsruher, ob ärztliche Zwangsbehandlungen weiterhin allein den Kliniken vorbehalten bleiben müssen. Betreuerinnen und Betreuer könnten künftig von den Fachgerichten klären lassen, inwieweit eine entsprechende Zwangsmaßnahme auch in einem Heim möglich ist, so das Gericht. Auch sei nicht ganz klar, was überhaupt als Zwangsbehandlung anzusehen sei. Gehört beispielsweise die heimliche Medikamentengabe, etwa mit dem Essen, dazu?

Konkrete Anforderungen an Zwangsbehandlungen

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschluss vom 12. Juni 2024 die Anforderungen an eine ärztliche Zwangsbehandlung konkretisiert. Danach müsse der behandelnde Arzt zunächst „ohne Ausübung von Druck“ und „mit dem gebotenen Zeitaufwand“ versuchen, das Einverständnis der betreuten Person in die Maßnahme zu erlangen. Erst wenn dies dokumentiert sei, könne die medizinisch notwendige Zwangsbehandlung beim Betreuungsgericht beantragt und genehmigt werden.

In dem aktuell vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall ging es erneut um die Frage, ob der Gesetzgeber die ärztliche Zwangsbehandlung ausnahmslos in Kliniken vorsehen durfte. Geklagt hatte eine von ihrem Betreuer vertretene Frau, die an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt ist. Die in einer geschlossenen Wohnform im Raum Lippstadt untergebrachte Frau hatte sich in der Vergangenheit mehrfach geweigert, die erforderliche medikamentöse Behandlung im Krankenhaus durchzuführen. Teilweise musste sie für die Medikamentengabe fixiert werden.

Der Betreuer hielt zwar ebenso wie die behandelnden Ärzte die medikamentöse Zwangsbehandlung für erforderlich. Die Zwangsmaßnahme müsse aber auch im vertrauten Wohnumfeld möglich sein. Durch die Verlegung in ein Krankenhaus drohe der Frau eine Traumatisierung und damit ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. Nach der erfolgten Zwangsmaßnahme wollte der Betreuer feststellen lassen, dass diese zu Unrecht im Krankenhaus erfolgt sei. Dies bestätigte auch der BGH mit Beschluss vom 8. November 2023 und legte das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

Ausnahmslose Behandlung in Kliniken unverhältnismäßig

Die Verfassungsrichter urteilten, der Gesetzgeber habe zwar durchaus davon ausgehen dürfen, dass die Erforderlichkeit einer Zwangsbehandlung in einer Klinik besser überprüft werden könne, zumal dort multiprofessionelle Teams zum Einsatz kämen. Es gehöre zur Schutzpflicht des Staates gegenüber einwilligungsunfähigen Menschen, dass eine Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel zulässig sei.

Die ausnahmslose Zwangsbehandlung in einer Klinik sei jedoch unverhältnismäßig, wenn sie auch in einer Wohneinrichtung durchgeführt werden könne und dort der Krankenhausstandard eingehalten werde. Wenn durch die Zwangsmaßnahme im vertrauten Wohnumfeld eine Traumatisierung des Betroffenen eher vermieden werden könne, müsse die Zwangsbehandlung dort möglich sein. Andernfalls könnte das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden, so die Verfassungsrichter.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte befürchtet indes eine Ausweitung von Zwangsbehandlungen als Folge des Karlsruher Urteils. Dessen Direktorin Beate Rudolf erklärte, es könne das Vertrauen von Patienten zu ihren Betreuern und Ärzten stören, wenn Zwangsbehandlungen nun auch in vertrauten Umgebungen möglich seien. „Die Tatsache, dass Zwangsmaßnahmen in Einzelfällen auch ohne Einweisung in ein Krankenhaus rechtlich möglich werden sollen, darf nicht dazu führen, dass sie häufiger angewendet werden - etwa bei Personal- oder Zeitknappheit“, sagte sie. Bei der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils müsse der Bundestag die Vorgaben für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen streng definieren.

Az.: 1 BvL 1/24 (Bundesverfassungsgericht zur Zwangsbehandlung im Wohnumfeld

Az.: 1 BvL 8/15 (Bundesverfassungsgericht zur staatlichen Schutzpflicht)

Az.: 1 BvR 1575/18 (Bundesverfassungsgericht zum Klinikvorbehalt)

Az.: XII ZB 572/23 (Bundesgerichtshof zu Überzeugungsversuchen)

Az.: XII ZB 459/22 (Bundesgerichtshof zur Verfassungsgerichtsvorlage)

Frank Leth


Bundesverwaltungsgericht

Abschiebung alleinstehender Flüchtlinge nach Italien zumutbar



Leipzig (epd). Alleinstehende, erwerbsfähige und gesunde Flüchtlinge müssen bei einer Abschiebung nach Italien keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung fürchten. Sie können zumindest zeitweise in Notunterkünften unterkommen und für ihre weiteren Bedürfnisse Unterstützung erhalten, urteilte am 21. November das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Ein Verstoß gegen die EU-Grundrechtecharta liege mit der Abschiebung daher nicht vor.

Schon in Italien anerkannt

Geklagt hatten zwei aus Somalia und Syrien geflohene Frauen. Sie wurden in Italien als Flüchtlinge anerkannt. Als sie weiter nach Deutschland reisten, wurde ihr dort gestellter Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMAF) als unzulässig abgelehnt. Sie hätten ja schon in Italien Schutz gefunden, so die Begründung.

Gegen die drohende Abschiebung zogen die Frauen vor Gericht. Die Situation für anerkannte Flüchtlinge in Italien sei besonders schlecht, so dass dort mit einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung zu rechnen sei. Sie müssten daher weiter in Deutschland bleiben können.

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz hielt die Abschiebung für zumutbar und ging nicht von einer Verletzung der EU-Grundrechtecharta aus. Da das OVG Nordrhein-Westfalen die Situation für Flüchtlinge in Italien anders beurteilte, ließen die Koblenzer Richter die sogenannte Tatsachenrevision zum Bundesverwaltungsgericht zu.

Grundversorgung gewährleistet

Die obersten Verwaltungsrichter hielten die Situation für alleinstehende, erwerbsfähige und gesunde Flüchtlinge in Italien für zumutbar. Nach der aktuellen Erkenntnislage sei „nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten“, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr nach Italien „in eine extreme materielle Notlage geraten werden, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementaren Grundbedürfnisse hinsichtlich Unterkunft, Ernährung und Hygiene zu befriedigen“, urteilte das Bundesverwaltungsgericht.

Sie könnten zumindest vorübergehend in Notunterkünften oder Notschlafstellen mit grundlegenden sanitären Einrichtungen unterkommen. Darüber hinaus gebe es kommunale Stellen sowie kirchliche und andere nichtstaatliche Hilfsorganisationen, die bei den weiteren Grundbedürfnissen einschließlich des Verpflegungsbedarfs Unterstützung leisteten. Es bestehe auch die Möglichkeit, selbst arbeiten zu gehen. Eine medizinische Grundversorgung sei ebenfalls gewährleistet.

Az.: 1 C 23.23 und 1 C 24.23



Bundessozialgericht

Auskunftspflicht für Elternunterhalt eingeschränkt



Kassel (epd). Erwachsene Kinder müssen für die mögliche Zahlung von Elternunterhalt ab einem sechsstelligen Jahresverdienst nicht umfassend Auskunft über Einkommen und Vermögen geben. Sozialhilfeträger dürfen nur bei „hinreichenden Anhaltspunkten“ über ein entsprechendes Einkommen die potenziell unterhaltspflichtigen Kinder danach fragen, nicht aber nach ihrem Vermögen, stellte das Bundessozialgericht in einem am 21. November verkündeten Urteil klar.

Seit 2020 sind Kinder nur noch dann zum Elternunterhalt verpflichtet, wenn sie abzüglich ihrer Werbungskosten mehr als 100.000 Euro im Jahr verdienen. Bei einem geringeren Verdienst kommen die Sozialhilfeträger für noch offene Pflegeheimkosten auf.

Sohn sollte Vermögen offenlegen

Im konkreten Fall ging es um einen in einem Pflegeheim lebenden mittellosen Rentner. Wegen seiner niedrigen Rente beantragte der Bruder des Manns als gesetzlicher Betreuer die Übernahme der Heimpflegekosten durch die Sozialhilfe.

Der Landrat des Landkreises Neuwied als Sozialhilfeträger vermutete, dass der Sohn des Rentners über ausreichendes Einkommen und Vermögen verfügt. Hierzu stellte die Behörde fest, dass der Sohn in einer teuren Gegend in Köln wohnt und als Chief Technology Manager in einem IT-Unternehmen arbeitet. Wegen dieser „hinreichenden Anhaltspunkte“ sollte er eine umfassende Auskunft über sein Einkommen und Vermögen sowie Angaben zu Familienmitgliedern machen.

Nur Einkommen, nicht Vermögen erfragen

Der Sohn hielt die Auskunft für zu weitgehend und klagte. Das Bundessozialgericht gab ihm recht. Gebe es hinreichende Anhaltspunkte für ein Einkommen über 100.000 Euro, dürfe die Behörde nur nach dem Einkommen fragen. Doch sei der Kläger auch nach seinem Vermögen gefragt worden. Das habe der Gesetzgeber so nicht vorgesehen.

„Hinreichende Anhaltspunkte“ über ein hohes Einkommen dürften auch in öffentlich zugänglichen Internetquellen recherchiert werden. Für den Auskunftsanspruch reiche es dann aus, dass eine „gewisse Wahrscheinlichkeit über entsprechende Einkommensverhältnisse“ bestehe.

Az.: B 8 SO 5/23 R



Arbeitsgericht

Keine Entgeltfortzahlung bei selbstverschuldeter Arbeitsunfähigkeit



Suhl (epd). Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können bei einer absehbaren Arbeitsunfähigkeit wegen einer privat finanzierten Operation nicht darauf vertrauen, dass sie von ihrem Arbeitgeber Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall erhalten. Voraussetzung für die Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber sei, dass die Operation auch tatsächlich medizinisch erforderlich war, entschied das Arbeitsgericht Suhl in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 14. Oktober. Damit steht der 1964 geborenen, als Pflegefachkraft beschäftigten Klägerin keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu.

Die Frau trägt seit ihrem zwölften Lebensjahr wegen einer Hornhautverkrümmung eine Brille. Bis zum Jahr 2013 war sie in augenärztlicher Behandlung. Seither haben sich ihre Augen verschlechtert. Sie klagte über brennende Augen, Kopfschmerzen, eine Lichtempfindlichkeit und eine verstärkte Nachtblindheit. Nach einer Beratung entschloss sie sich zu einer Augenoperation, bei der ihr sogenannte Trifokallinsen in beide Augen eingesetzt werden sollten. Der Eingriff wird von den gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlt.

Entgelt wieder abgezogen

Ihr Arbeitgeber zahlte zwar zunächst für den Zeitraum 27. November 2023 bis einschließlich 29. Dezember 2023 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 2.970 Euro, zog diesen Betrag jedoch im Januar 2024 wieder vom Gehalt ab. Die auf private Kosten durchgeführte Operation sei aus ästhetischen Gründen erfolgt und medizinisch gar nicht nötig gewesen. Die Arbeitsunfähigkeit habe die Pflegefachkraft durch die OP selbst verschuldet, so dass der Arbeitgeber hierfür nicht geradestehen müsse.

Das Arbeitsgericht urteilte ebenfalls, dass die Klägerin ihre Arbeitsunfähigkeit durch die absehbare Operation selbst verschuldet habe. Nur wenn eine gewisse Notwendigkeit einer Operation bestehe, könne ein Entgeltfortzahlungsanspruch beansprucht werden. Zwar sei dieser bei einer privaten Operation nicht zwingend ausgeschlossen. Dann müsse der Patient aber belegen, dass eine medizinische Indikation vorgelegen habe. Die sei der Klägerin nicht gelungen, zumal sie seit 2013 sich nicht in augenärztlicher Behandlung befunden habe.

Allerdings habe der Arbeitgeber im Januar 2024 zu Unrecht den streitigen Betrag in Höhe von 2.970 Euro mit dem Januargehalt verrechnet. Dies sei hier nur im Rahmen der Pfändungsfreigrenzen erlaubt. Im Streitfall dürfe eine Aufrechnung nur in Höhe von rund 780 Euro erfolgen. Die verbleibenden 2.190 Euro müsse der Arbeitgeber daher noch an die Klägerin zahlen.

Az.: 6 Ca 398/24




sozial-Köpfe

Medien

"Bobby" Brederlow gestorben




Rolf "Bobby" Brederlow mit Annette Frier (li.) und Ulla Schmidt
Lebenshilfe/Thilo Schmülgen
Rolf "Bobby" Brederlow wurde mit dem ARD-Vierteiler "Liebe und weitere Katastrophen" bekannt und war Namensgeber des Medienpreises Bobby. Am 22. November ist der Schauspieler mit Trisomie 21 verstorben.

München, Berlin (epd). Rolf Brederlow ist tot. Der Schauspieler mit Trisomie 21 aus München starb am 22. November im Alter von 63 Jahren. Bereits vor einigen Jahren hatte er seine Karriere vor der Kamera wegen einer Demenzerkrankung beendet.

Brederlow spielte in dem ARD-Vierteiler „Liebe und weitere Katastrophen“ vor 25 Jahren an der Seite von Senta Berger, Friedrich von Thun und Suzanne von Borsody die Rolle des Bobby und wollte fortan nur noch Bobby genannt werden. Er stand später immer wieder vor der Kamera, sogar sein Leben wurde verfilmt, mit ihm und Veronica Ferres in den Hauptrollen.

Erster Preisträger

Nach Brederlows Rolle in „Liebe und weitere Katastrophen“ war die Bundesvereinigung Lebenshilfe von dessen Leistung so beeindruckt, dass sie einen eigenen Medienpreis namens „Bobby“ auslobte. Brederlow war 1999 der erste Preisträger.

Die Lebenshilfe würdigte Brederlow als „großes Vorbild für alle Menschen mit Down-Syndrom“. Die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und ehemalige Bundesministerin Ulla Schmidt sagte, Brederlow habe viel dazu beigetragen, dass Menschen mit Behinderung mehr und mehr als gleichberechtigt anerkannt würden. „Die Lebenshilfe wird ihn nicht vergessen“, sagte Schmidt, sein Name werde immer mit dem Medienpreis verbunden sein.

Brederlow erhielt neben dem „Bobby“ mit dem Goldenen Gong, dem Bambi, der Goldenen Kamera und dem Bundesverdienstkreuz weitere Ehrungen. Er wurde Pate des Deutschen Down-Sportlerfestivals und warb für die deutschlandweite Kampagne „Du bist Deutschland“. Mit dem „Bobby“ wurden neben ihm seit 1999 Medienpersonen mit und ohne Trisomie 21 ausgezeichnet: Günther Jauch, Annette Frier, Kai Pflaume, Christine Urspruch, Juliana Götze und Natalie Dedreux.



Weitere Personalien



Marc Inderfurth hat den Vorstand beim Caritasverband Moers-Xanten übernommen. Seit 2022 war der Diplom-Sozialarbeiter und Verwaltungs-Betriebswirt Vorstand für den Caritasverband Rhein-Kreis Neuss und war für die Caritasstiftung Rhein-Kreis Neuss tätig. Außerdem leitete der heute 57-Jährige die Senioren- und Sozialdienste der Caritas im Rhein-Neuss-Kreis. Zuvor war er neun Jahre lang Geschäftsführer der Caritas Lebenswelten in Aachen.

Michael Vucinaj führt die Geschäfte der Aidshilfe Düsseldorf. Der 56-Jährige ist bereits seit Oktober im Amt. Er war als Vorstand und Geschäftsführer beim Deutschen Roten Kreuz tätig, unter anderem in den Kreisverbänden Witten und Grevenbroich. Zuvor leitete er die Geschäfte der Diakonie München und der Lebenshilfe Schweinfurt. Vucinaj ist Theologe und Sozialpädagoge. Er engagiert sich außerdem als Notfallseelsorger für die Stadt Düsseldorf.

Juliane Domke ist ab dem 1. Dezember Mitgeschäftsführerin von Agaplesion Mitteldeutschland. Die 37-Jährige ist Juristin und leitet das Unternehmen gemeinsam mit Dirk Herrmann und folgt auf Cornelia Schricker, die sich Ende September in den Ruhestand verabschiedet hat. Domke begann ihre Berufslaufbahn als Personalberaterin in Berlin. Danach war sie Klinikmanagerin der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg. Seit 2021 führte sie die Geschäfte der Asklepios Klinik Parchim. Agaplesion Mitteldeutschland beschäftigt in Sachsen und Sachsen-Anhalt rund 3.000 Menschen. Im vergangenen Jahr lag der Umsatz bei 239 Millionen Euro.

Jean Franke übernimmt die Geschäftsführung der Clusters Berlin/Brandenburg Nord des Klinikbetreibers Sana. Die 46-Jährige übernimmt diesen Posten ab Januar von Michael Kabiersch, der den Konzern auf eigenen Wunsch verlässt. Kabiersch war seit 2008 für Sana in mehreren Kliniken als Geschäftsführer tätig, seit 2023 war er Geschäftsführer des Clusters. Die Gesundheitsökonomin Franke ist seit 2006 bei Sana beschäftigt. 2023 verließ sie das Unternehmen in Richtung der Immanuel Albertinen Diakonie, kehrte jedoch wieder als Geschäftsführerin der Sana-Kliniken Berlin-Brandenburg zurück. Das Sana-Cluster Berlin/Brandenburg Nord umfasst nicht nur Krankenhäuser, sondern auch mehr als 80 haus- und fachärztliche Praxen.




sozial-Termine

Veranstaltungen bis Januar



Dezember

2.-5.12. Freiburg:

Seminar „Systemische Organisationsentwicklung - Veränderungsprozesse wirksam gestalten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbands

Tel.: 0761/200-1700

4.12. Stuttgart:

Seminar „Der Jahresabschluss gemeinnütziger Einrichtungen - Grundlagen, Besonderheiten, Vorbereitung und Gestaltungsmöglichkeiten“

der Solidaris Unternehmensberatung

Tel.: 02203/8997-193

4.-6.12. Freiburg:

Praxisworkshop: „Im Ende liegt auch der Neubeginn - Offboarding und Nachfolge erfolgreich gestalten“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbands

Tel.: 0761/200-1700

5.12.:

Online-Veranstaltung „Power statt Pause: Motivation und Gesundheit im Turbo-Check“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 0173/2637308

5.12. Berlin:

Seminar „Vergütungssatzverhandlungen in der Kinder- und Jugendhilfe - Vorbereitung, Strategie und Verhandlungsführung“

der Unternehmensberatung Solidaris

Tel.: 02203/8997-519

6.12.:

Online-Kurs „Digitale Öffentlichkeitsarbeit und Social-Media für soziale Einrichtungen“

der Paritätischen Akademie Süd

Tel.: 01577/7692794

10.-11.12. Frankfurt:

Seminar „Forum Personalentwicklung in der Caritas“

der Fortbildungsakademie des Deutschen Caritasverbands

Tel.: 0761/200-1700

13.12.:

Online-Veranstaltung „Immobilienwirtschaft - Grundlagen für Akteure in Kirche und Diakonie“

der Akademie für Kirche und Diakonie

Tel.: 03361/710 943

13.-27.1.:

Online-Seminar „Macht und Machtspiele“

der Paritätischen Akadmie Süd

Tel.: 030/2758282-11

Januar

15.1.:

Online-Fachveranstaltung „Soziale Arbeit über Grenzen hinweg: Internationale Familienstreitigkeiten: Sorge- und Umgangsrechtskonflikte sowie Kindesentführungen mit Auslandsbezug“

der Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge

Tel.: 030/62980-424