

Nürnberg (epd). „Eine der größten Schnittstellen, an der Ungleichheit im Bildungssystem entsteht, ist der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule“, sagt Marisa Neher. Weil das so ist, müsse man die Übertrittsempfehlungen hinterfragen, die oft „von Subjektivität geleitet werden“. Die Fragen stellte Jutta Olschewski.
epd sozial: Frau Neher, wo spielen regionale und soziale Herkunft eine wichtige Rolle in der Bildungsbiografie?
Marisa Neher: Das zieht sich durch die ganze Bildungsbiografie - von Anfang bis Ende. Beim Eintritt in die Grundschule haben Kinder ganz unterschiedliche Voraussetzungen in puncto Sprache oder bei den Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern. Akademikereltern können eher bei einer Mathefrage helfen als vielleicht Eltern, die gar nicht zu Hause sind, weil sie arbeiten müssen oder die Mathefragen nicht beantworten können, weil sie in einem anderen Bildungssystem sozialisiert wurden. Eine der größten Schnittstellen, an der Ungleichheit im Bildungssystem entsteht, ist der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. Es ist erschreckend, dass bei gleicher Leistung Kinder von Nichtakademikereltern eine Empfehlung für die Realschule bekommen und Kinder von Akademikereltern für das Gymnasium. Das haben etliche Studien belegt.
epd: Woran liegt das?
Neher: Es spielt zunächst eine Rolle, dass Lehrerinnen und Lehrer selbst Vorurteile und subjektive Vorannahmen haben. Sie glauben, diese Kinder können vom Elternhaus nicht unterstützt werden, wenn es mal schwieriger wird. Sie denken, vielleicht ist das Kind überfordert und eine leichtere Schule wäre für das Kind besser. Ein wichtiger Punkt ist, dass Akademikereltern in der Schule präsenter sind: Sie sind im Elternbeirat, kommen zu den Elternsprechabenden, holen die Kinder ab und bringen sich engagiert beim Weihnachtsbasar ein. Zu anderen Eltern haben Lehrkräfte keinen Bezug und können nicht einschätzen, ob diese die Kinder unterstützen.
epd: Wie könnte man dieses Problem angehen?
Neher: Man muss diese Übertrittempfehlungen hinterfragen. Es kann nicht sein, dass sie von Subjektivität geleitet werden. Man könnte beispielsweise Psychologen in die Schule einladen, die die sozio-emotionale Entwicklung der Kinder bewerten und mit einem objektiven Leistungstest die schulischen Kenntnisse und Fähigkeiten abfragen.
epd: Welche Vorschläge hätten Sie noch, damit sich die Startbedingungen für Kinder aus ärmeren Familien an die anderer angleichen ließen?
Neher: Man muss bereits vor der Schulzeit anfangen, in Kita und Kindergarten sehr gehaltvoll zu betreuen und zu bilden. Natürlich wird das heute von vielen Fachkräften gemacht, die da Tolles bewirken. Aber in Finnland bekommen sie es gut hin, dass die Kinder mit ziemlich gleichen Voraussetzungen und Vorwissen in das Schulsystem hinübergehen. Es wäre schön, wenn man in Deutschland auch schon in diesem Alter anknüpfen würde. Denn mit der frühkindlichen Bildung gibt es viele Möglichkeiten, der Chancenungleichheit im weiteren Leben entgegenzutreten. Ich wundere mich sehr, dass die Politik da so wenig unternimmt.
epd: Sie selbst sind ja für die Organisation der schulischen Ganztagsbetreuung bei der Evangelischen Jugendsozialarbeit zuständig. Welche Rolle spielt der Ganztag für die soziale Bildungsgerechtigkeit?
Neher: Der Ganztag bietet den Kindern zunächst Freizeitangebote, zum Beispiel Sport oder Musikunterricht, die Kinder aus nicht so wohlhabenderen Familien oft nicht hätten. Eine Mitgliedschaft im Fußballverein oder Klavierstunden sind teuer. Kindern, die nicht die Muttersprache Deutsch haben, bekommen Hilfe bei Hausaufgaben, für die im Elternhaus die Möglichkeit oft nicht vorhanden ist. Wenn die Kinder acht Stunden am Tag betreut sind, ein Essen bekommen und spielen können, entlastet das die Eltern, die beide Vollzeit arbeiten oder alleinerziehend sind, dann am Abend mit ihren Kindern etwas unternehmen können und ihre Kinder in guter Betreuung wissen.